Buchcover

Nataly von Eschstruth

Jedem das Seine

I

Mit Illustrationen von Fritz Bergen

Saga

I.

Tannenduft zog durch das Zimmer.

Süss und traut wob der Weihnachtszauber seine glitzernden Schleier. Um den grünen Baum, welcher geheimnisvoll seine Nadelzweige über den kleinen Tisch breitete, spann er die Silber- und Goldfäden des Engelhaars, blitzte auf in den bunten Kugeln und weckte kleine blutrote Funken an den Kupfersternen, welche still und feierlich an den schwanken Ästchen herniederhingen.

Die Wachslichte verbreiteten den unbeschreiblichen Duft, welcher sich wie ein Traum über jedes Christzimmer legt, der Geruch frischgebackenen Kuchens mischt sich darein, ein paar Hyazinthen blühen in hohen Gläsern auf dem Fensterbrett, und der Asklepiasstock spinnt seine Zweige mit den süss duftenden Blumen um das breite Holzgitter, welches beinah’ die Scheibe vollständig verdeckt.

Es dämmert bereits.

Weiche, grausammetige Schatten legen sich tiefer in alle Ecken, da, wo der grüne Kachelofen behagliche Wärme ausströmt und wo das altmodische lila Plüschsofa und die steiflehnigen Sessel um den Mahagonitisch herumstehen.

Rechts neben dem Klavier, welches die abgeschabten Reliefbilder von Mozart und Sebastian Bach trägt, steht der Christbaum, und vor ihm steht der schmale Tisch, mit schneeweisser Damastserviette bedeckt, welcher die Geschenke trägt.

Viele und kostbare sind es deren nicht.

Auf der einen Seite liegt der Stoff zu einem dunklen Winterkleid, eine kleine, sehr bescheidene Pelzboa und ein paar warme Buckskinhandschuhe, daneben eine billige Ausgabe klassischer Musikstücke, — auf der andern Seite ruht einsam ein etwas geschmacklos bunter Herrenschlips, ein Karton mit Taschentüchern und ein Uhrhaken. — Aber ein Platz ist frei geblieben, als habe zur Bescherung auch dort noch ein Geschenk gelegen!

Und welch eines!

Das törichte, unglaublich unnütze Kinderbuch, die Märchen aus Tausend und einer Nacht, welche der grosse Schlingel Mortimer, der Herr Tertianer, sich noch als erstes und liebstes Geschenk auf den Wunschzettel geschrieben! Die illustrierten Märchen von Tausend und einer Nacht! —

Sollte man es glauben?

Tante Gustel ist auch sehr ausser sich über solch unsinniges Verlangen gewesen und hat kopfschüttelnd geseufzt: „eins von den teuern Schulbüchern oder ein gutes Geschichtswerk sei doch tausendmal praktischer und nützlicher und der grosse Junge solle etwas Gescheiteres tun, als überspannte Märchen lesen,“ — aber Mortimers sonst so lustige Augen hatten sie gar zu flehend angesehn, und Tag für Tag hatte er versichert: „Nur dies eine Märchenbuch wünsche ich mir noch, Tantchen; dann soll es mit allen Spielsachen vorbei sein, und die nächsten Weihnachten will ich nur noch nützliche Sachen haben!“

Da hatte die Tante schon etwas nachgiebiger geseufzt, und als ihr abends bei dem Zubettegehn ihre Tochter Gretel gutmütig zugeredet und vorgeschlagen hatte: „Wir wollen Onkel Karl bitten, dass er sich mal in der Residenz in Antiquariatläden umsieht, ob er das Buch für billigen Preis dort haben kann!“, da nickte sie einverstanden und meinte: „Das ist ein kluger Gedanke, Mäuschen, — ich werde morgen sogleich schreiben.“ — Onkel Karl hatte schon nach kurzer Zeit ein sehr wohlerhaltenes Exemplar voll der schönsten, buntesten und phantastischsten Bilder geschickt, in welches er mit seiner grossen eckigen Schrift sogar die Widmung geschrieben hatte: „Meinem lieben Neffen Mortimer, Freiherrn von der Marken-Beilstein, von seinem alten Onkel Karl.“

Du liebe Zeit, wie hätte man denken können, dass der grosse Junge solch eine Freude an dem albernen Märchenbuch haben könnte!

Seine Augen strahlten vor Entzücken, als er es unter dem Baum liegen sah, und Tante Gustel war beinah beleidigt, dass ihre so schöne, grossartig ausgedachte Überraschung, das Hauptgeschenk des Abends, beinahe gar nicht beachtet wurde — nur um des leidigen Buches willen!

Und welch ein Geschenk hatte sie dem lieben Jungen gemacht! —

Das ehrwürdige, alte schöne Zylinderbureau seines Grossvaters, welches sie als einzige Tochter ehemals mit der elterlichen Einrichtung geerbt, hatte sie heimlich in die kleine Mansardenstube des Gymnasiasten schaffen lassen, damit er alle Bücher und Hefte nunmehr ordentlich zusammenhaben und so recht gemütlich und bequem sitzen und studieren konnte!

Ja, gefreut hatte er sich ja riesig und hatte das zarte Tantchen und das noch viel zerbrechlichere, elende Cousinchen beinah’ totgedrückt zwischen seinen herkulisch starken Armen, — aber dann hatte er nur noch Sinn und Gedanken für das Märchenbuch, sass unter dem Christbaum und las und blätterte .. und starrte mit dunkelrotem Kopf die Bilder an. — Er bewies es leider allzudeutlich, dass er ein Marken war, ein echter Spross jenes uralten Geschlechts, dessen Söhne sich stets durch phantastischen Sinn, durch eine ans Krankhafte grenzende Vorliebe für alles Fremdartige, Abenteuerliche und Aussergewöhnliche ausgezeichnet hatten! —

Ehemals hatte dieser unruhige Sinn, diese Wanderlust und unstillbare Sehnsucht nach Frau Aventiure die Ritter und Edelherren hinaus in die Kreuzzüge, in Irrfahrt und Kriegsgetümmel getrieben; später hatten sie sich mit Wandern und Reisen begnügt, — ja, der Grossvater hatte es durchgesetzt, Diplomat zu werden, um als Gesandter am besten Gelegenheit zu haben, fremde Länder und Völker kennen zu lernen!

Damals waren die Freiherrn von der Marken-Beilstein noch reiche Grundbesitzer und konnten solchen Passionen huldigen, aber schon Mortimers Vater erschöpfte seine Mittel vollständig, als er auf die unsinnige Idee kam, Afrikareisender zu werden und ohne an Frau und Kind zu denken, sein Hab und Gut bei den Forschungsreisen zuzusetzen, von deren letzter er leider nie wieder heimkehrte, da ein tückisches Fieber ihn in der Blüte seiner Jahre dahinraffte.

Die Mutter starb bald danach an einer Lungenentzündung, und Tante Gustel, die einzige Schwester des Afrikareisenden, nahm den kleinen Mortimer zu sich, ihn so gut es ging mit ihren sehr bescheidenen Mitteln zu erziehen.

Sie hoffte, dass ihr Bruder Karl ihr diese schwere Pflicht erleichtern und sie durch Geldmittel unterstützen würde. Aber wie eine Krankheit, welche früher oder später doch zum Ausbruch kommt, hatte auch diesen plötzlich die Reiselust erfasst.

Er nahm als Major den Abschied und führte ein ruheloses Wanderleben, bis auch sein Vermögen zusammengeschmolzen war und er sich nunmehr darauf beschränken musste, von den Erinnerungen an fremde Länder und Wunderwelten zu zehren.

Es lag bei den Markens im Blut! Dagegen war nicht anzukämpfen, und es deuchte Tante Gustel ein rechtes Glück, dass Mortimer schon von vornherein jede Möglichkeit genommen war, dem Reisefieber zum Opfer fallen zu können. Die Zukunft des heranwachsenden Knaben war trotz seiner knappen Mittel sichergestellt, denn die Familienstiftung gewährte ihm eine anständige Zulage, falls er sich entschloss, Offizier zu werden.

Dies war selbstverständlich.

Tante Gustels Augen leuchteten voll beinah mütterlichen Stolzes, wenn sie die schöne, kraftvoll schlanke Gestalt des Pflegesohnes mit langem Blick umfassten. Ritterlich und schmuck sah er aus, mit dem frischen, stets heiteren, beinah’ übermütig lachenden Gesicht, aus welchem die Blauaugen blitzten und in dessen Stirn die blonden Haarwellen fielen.

Aber das Märchenbuch! —

Ein Tertianer, welcher noch solch alberne Märchen anstatt eines schönen Heldenbuches liest! —

Tante Gustel schüttelte beinah ärgerlich in der Küche, wo sie eigenhändig den Kaffee aufgoss, den Kopf und sagte: „Geh’ mal in die Christstube, Gretchen, und sieh, ob der Junge etwa noch bei diesem Dämmerlicht liest! — Verbiet’ es ihm, er wird sich die Augen verderben!“ Und Gretchen ging, gehorsam und ohne jedwede Entgegnung folgend, wie stets.

Leise, in ihrer stets rücksichtsvollen Art öffnete sie die Türe.

Richtig, da sass der grosse blonde Junge am Fenster, so tief über das offene Buch geneigt, dass seine Stirn sich gegen die blühenden Hyazinthen neigte.

Er hörte nicht Gretes leisen Schritt; erst als die kleine verwachsene Mädchengestalt hinter ihm stand und sanft die Hand auf seine Schulter legte, schrak er empor und starrte in das gelblich blasse, schmale Gesichtchen der Cousine, welche ihn mit den grossen braunen Augen lächelnd ansah.

„Recht so, Mortimer! verbrauch’ du nur deine Augen bis zum letzten Tüpfelchen!“ scherzte sie und fuhr dann ernsthafter fort: „Es ist zu dunkel zum Lesen! Komm und setz’ dich ein bisschen mit mir unter den Christbaum, bis der Kaffee aufgetragen wird!“

Mortimer dehnte lachend die Arme, erhob sich und schritt nach dem Sofa.

„Du hast recht, Gretel, es wird zu dunkel, obwohl ich nicht las, sondern mir lediglich die Bilder besah! Setz’ dich her ... so ...“

Das bucklige Mädchen drückte sich zärtlich in den Arm des Sprechers und die dunklen Augen leuchteten wie verklärt!

„Findest du wirklich, dass ein Tertianer und ein bald sechzehn Jahre altes Fräulein noch solche Babys sind, dass ein Märchenbuch sie tatsächlich begeistern kann?“ —

„Dieses Märchenbuch muss meiner Ansicht nach die Alten noch mehr interessieren als die Jungen!“

Grete schaute ganz betroffen empor. „Mortimer, ist das dein Ernst?“

Da wich das heitere Lachen von dem hübschen Knabengesicht, es ward wundersam nachdenklich, und ein weicher, träumerischer Glanz lag in den Augen.

„Ich will dir mal etwas sagen, Grete ...“ flüsterte er leis und stockend, „dir vertrau’ ich’s an, sonst keinem! .. siehst du, Grete, um die Märchen an und für sich ist es mir weniger zu tun, als um die Bilder; denn die Geschichten kenne ich beinah’ schon alle, aber die Illustrationen sind mir neu, und weil ich hörte, dass sie so vorzüglich seien und tatsächlich Konstantinopel und das echte orientalische Leben spiegeln sollen, darum wünschte ich mir hauptsächlich das Buch! — Ach Grete ...“ und der Sprecher strich die blonden Haare beinah ungestüm aus der Stirn und seufzte schwer auf: „Ach Grete, wie soll ich armer Kerl wohl jemals anders diese Wunderwelt kennen lernen, als wie im Bild!“ —

Das blasse Mädchen lachte ein wenig gewaltsam, dieweil es wie ein jähes Erschrecken über ihr Gesicht ging. „Je nun, das genügt ja auch! Wie viel tausend Menschen gibt es, Mortimer, welche ihr Leben lang auf der engen heimatlichen Scholle sitzen und die weite Welt nur aus Bildern oder Büchern kennen lernen!“

„O diese Unglücklichen!“

„Unglücklich? Nicht im mindesten. Ich glaube fest und sicher, dass ich nie im Leben eine weite Reise machen werde, und doch erachte ich mich als ein sehr glückliches, zufriedenes Wesen!“

„Ja du, Grete! Du bist auch ein Engel an Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit! Du bist ein Mädchen, welches nicht den heissen, leidenschaftlichen Drang in sich fühlt, in die weite Welt hinauszuziehen, zu sehen ... zu erleben ... zu wagen ... zu kämpfen und zu erringen ...“

Beinah’ entsetzt starrte die Genannte in die aufgeregt blitzenden Augen des jungen Marken.

„Mortimer ... wünschst du dir das etwa?“ — Er presste die Hände gegen die Brust. „Ja, Grete, ja!“ —

„Und weisst, dass diese unsinnige Reiselust unsere Familie an den Bettelstab gebracht hat?“ —

„Trotzdem! ja vielleicht gerade darum! Meine Väter und Ahnherrn haben mir nichts weiter vermacht, als das glühende Sehnen nach fremden Wundern!“

„O, welch ein böses Erbe wäre das!“

„Warum?“ — ein beinah’ wehmütiges Lächeln glitt über das Knabengesicht: „Ich habe ja nichts mehr zum Vergeuden! Wenn ich auch wollte — ich kann beim besten Willen kein Vermögen mehr durchbringen!“

„Aber du kannst ein Abenteurer ... ein Mensch werden, welcher ohne Ehr’ und Pflichtgefühl an der Landstrasse stirbt!“

Sie sagte es leise, gepresst, — und er schrak empor und fasste ihre Hand mit beinah’ schmerzendem Druck: „Nein, Grete! das kann ich nicht! Und das glaubst du auch selber nicht von mir! Ich werde vielleicht zeitlebens ein Phantast, ein sehnsuchtskranker Mensch ... aber nie ein ehrvergessener Landstreicher sein!“

„Ein glücklicher Mensch sollst du werden, Mortimer, der solch närrischen Grillen gar nicht Raum in Kopf und Herz gibt!“

Ihre magere, kleine Hand streichelte zärtlich, wie beschwörend seine Wange, und Mortimer lachte wieder heiter auf und zog die Cousine tröstend an sich: „Auch das, so Gott will! brauchst dich nicht um mich zu sorgen, du gutes Gretelein, dein vernünftiger Pflegebruder wird keine dummen Streiche machen! Aber wenn ich je in die Lage komme, eine Reise machen zu können, dann tue ich es sicher! Du liebe Zeit! wenn ich als Leutnant solid und einfach lebe, kann ich wohl schon solch kleine Spritztour nach Konstantinopel heraussparen!“

„Nach Konstantinopel? Warum gerade dorthin?“

„Ja warum?! Das möchte ich selber wissen, Gretel! Auf die Wunder der ganzen übrigen Welt würde ich gern verzichten, wenn ich nur einmal diejenigen des Morgenlandes, der Türkei schauen könnte! Wundert dich das? — Weisst du nicht, dass eine alte Prophezeiung in unserer Familie existiert, dass der Halbmond uns verhängnisvoll sei ...“

„Narrheit!“

„Durchaus nicht! — Tragen wir nicht seit uralten Zeiten den Türkenbund mit dem Halbmond als Helmzier? Und warum? weil einer unserer Ahnherrn ein bildschönes Weib aus des Sultans Harem entführte und sie zur Stammmutter unseres Geschlechtes machte ...“

„Aber Mortimer! Wie kannst du solch eine alte Wappensage ernsthaft nehmen! Du weisst, dass der ‚Türkenbund‘ längst seine Aufklärung gefunden! Jede alte Adelsfamilie, welche sich ehemals an den Kreuzzügen beteiligt, trägt ihn an der Helmzier zum Andenken an diese heldenhafte Zeit!“

Mortimer zuckte etwas ungeduldig die Achseln: „Gewiss! Die Neuzeit geht ja jeder Poesie mit ihren widerwärtigen Forschungen zu Leibe! — Leider geben die frühesten Grabsteine und Urkunden die Namen der Frauen nicht an, sonst würdest du sicher irgendeine Suleika oder Fatima als erste der Freifrauen von der Marken lesen! — Je nun, und abgesehen davon ... wie willst du es erklären, dass Onkel Karl die ganze Welt bereist und gesehen hat mit der einzigen Ausnahme von Konstantinopel? Weil er sagte: „Nein! dahin gehe ich nicht. Der Halbmond ist das Verhängnis der Marken. Kam einer von uns nach der Türkei, so hatte er jedesmal die schönsten oder auch unliebsamsten Abenteuer zu bestehen! Das lässt sich durch Jahrhunderte verfolgen! Grossonkel Karl kam nach der Türkei — im Gefolge des Prinzen Ferdinand. Der Sultan lernte ihn kennen, fand grosses Wohlgefallen an ihm, bestimmte ihn, in türkische Dienste zu treten. Er erwarb Ruhm — Ehre .. grosse Reichtümer. Ihm glückte es, er kehrte als beneidenswerter Mann in sein Vaterland zurück, — sein Vetter, welcher ihm gefolgt war und es ebenfalls zu hohen Würden brachte, blieb dort und wurde zwei Jahre später bei einer Palastrevolution grausam ermordet. Ein Fräulein von der Marken besuchte einst mit ihren Eltern Konstantinopel und war so begeistert von irgendeiner Märchenpracht, dass sie sich nicht von dem Anblick trennen konnte. Es hielt sie wie mit zauberischen Gewalten, und zum grossen Ärger des Vaters versäumte man die Abfahrt des Schiffes. — Noch an demselben Tage verbrannte dieses auf offener See und die Familie Marken war wie durch ein Wunder dem furchtbarsten Tod entgangen!“

Gretel hob abwehrend die Hände —: „Aber von einem Vorfahren erzählt man sich auch, dass er in türkische Dienste trat und, von Gold und Glanz gelockt, Muselman wurde. Die Gewissensbisse aber liessen ihm keine Ruhe, er ward wahnsinnig! — Nun ... und Grosspapa! — denk’ an den armen Grosspapa!“ —

Mortimer neigte sich plötzlich mit grossen, weit offenen Augen näher.

„Gretel ..“ murmelte er, „weisst du, was Grossvater in Konstantinopel erlebt hat? Todunglücklich ist er dort geworden .. Aber warum? Ich habe es nie erfahren, Gretel, man sagte es mir nicht ... aber du weisst es sicher! Erzähle es mir, Gretel, ich bitte, ich beschwöre dich! was ist dem Grossvater dort geschehen?“ —

Das kranke, verwachsene Mädchen verschlang wie in hilfloser Angst die Hände im Schoss. „Ich weiss es nicht, Mortimer ... Ich weiss nur, dass Grosspapa mit irgendeiner Türkin ein Liebesabenteuer hatte, als er in seiner Eigenschaft als Legationssekretär in Konstantinopel war. Sein eigenes Leben soll auch dadurch schwer gefährdet gewesen sein, er ward nur durch den Einfluss des Gesandten gerettet ... die unglückliche Schöne aber musste sterben ... und das hat Grosspapa nie im Leben verwunden! — Obwohl er später heiratete, ist er doch stets ein finsterer, verschlossener und unglücklicher Mann geblieben.“

„So liebte er sicher irgendeine jener zauberischen Holden aus dem Harem?!“

„Wohl möglich!“ —

„Was mag mit ihr geschehen sein? Warum entführte er sie nicht? Ward die Flucht vereitelt?“ — — Mortimer fragte es schnell, atemlos, ohne auf eine Antwort zu warten.

Seine Augen glänzten wie im Fieber, die Lippen zuckten wie in höchster Ungeduld. —

„Still, um Gottes willen, still! Mama kommt!“ flüsterte Gretel; „lass dir um Gottes willen nichts merken, dass wir von dem unglücklichen Türkenthema gesprochen haben, sie will es nicht und wird böse! Und nach Grosspapa frag’ schon gar nicht! — Leg’ auch das Märchenbuch fort und lass nie deine Reisepläne verlauten; Muttchens einziger Trost ist es ja, dass du ein so ruhiger, fleissiger Junge bist und gar keine Anlage zum Ausreisser hast!“

Mortimer lachte etwas nervös und gezwungen, aber er nickte der kleinen Cousine beruhigend zu und drückte ihr abermals die Hand, das war so gut wie ein heiliges Versprechen. — — — — — — — — Es war spät am Abend. Mortimer stand in seinem Mansardenstübchen, pfiff fröhlich vor sich hin und schickte sich an, noch die letzten seiner Bücher und Hefte in das alte Schreibpult des Grossvaters, welches er zum Geschenk erhalten, einzuräumen. Das war ein herrlicher Gedanke von dem guten Tantchen gewesen!

Jede Schublade zog er hervor und bestimmte ihren Zweck, und dann schloss er das mittelste Fach auf und leuchtete hinein, ob es wohl tief und hoch genug sei, sein Tintenfass mit dem Federständer aufzunehmen.

Wie verstaubt und holzwurmzerfressen sah es dahinten aus! — Mortimer steckt die Hand hinein und wischt die Ecken aus ... und plötzlich fühlt er etwas scharfes wie eine Papierkante.

Er leuchtet.

Was ist das? Aus einer schmalen Ritze der Hinterwand ragt ein feines, kaum sichtbares Streifchen Papier.

Wunderlich! — Er fasst es mit dem Nagel und zieht daran, umsonst, es scheint fest eingeklemmt. Das Blut schiesst in die Wangen des Schülers. Ein Geheimfach?

Er neigt das Licht noch weiter vor und lugt scharf in das Schränkchen hinein.

Richtig ... da ... eine feine, kaum merkliche Feder ... Mortimer drückt und schiebt, mit bebendem Finger, er stemmt sein Federmesser dagegen ... und mit leisem Ruck springt eine schmale Holztafel zurück.

Atemlos vor Aufregung starrt der Obertertianer in das sichtbar gewordene Schubfach. Ein Briefumschlag von sehr schwerem, vergilbtem Papier liegt darin. Unverschlossen. Mit bebenden Händen öffnet Mortimer. Eine lange, schwarze Haarlocke, mit verblasstem grünem, golddurchwirktem Florbändchen zusammengebunden, und ein gepresster Orangenzweig, von welchem die weissen Blütenblättchen längst abgefallen sind, liegt darin.

Auf dem Briefbogen, welcher beides umschliesst, steht nur das eine Wort: „Lakmeh“, dahinter ein schwarzes Kreuzchen und das Datum: „19. März 1812. Konstantinopel.“

Wie im Traum starrt Mortimer auf das Rätselhafte hernieder. Zarter Duft, wie ein süsser Hauch längst entflohenen Blumenodems, weht aus den schon halb in Staub zerfallenden Blättern empor und legt sich gleich magischem Schleier über die Augen des einsamen Knaben.

Lakmeh! — Wer war sie?

Jenes glutäugige, berückende Weib aus dem Harem, welches Zum traurigen Schicksal des Grossvaters geworden, welches ihm vielleicht mit bebender Hand die Locke und Blüte zum Abschied gereicht, ehe es in den unheimlichen, geheimnisvollen Tod ging?

Mortimer atmet schwer, stützt das Haupt in beide Hände und starrt in das aufgeschlagene Märchenbuch, welches seitlich neben ihm auf dem Tisch liegt.

Da sieht er ein Bild ... die zauberschöne Prinzessin auf den seidenen Kissen ruhend, die Wasserpfeife in der kleinen Hand, die nackten Füsschen in goldgestickten Pantöffelchen, um sie her die üppige, phantastische, schwärmerische Pracht des Morgenlandes ... und sie blickt den blonden Knaben aus grossen dunkeln Augen todtraurig an und seufzt leise: „Ich bin Lakmeh, welche wegen ihrer Liebe zu dem fremden Manne sterben musste!“ — —

Lakmeh! Ist sie’s wahrlich?

Nein, er täuscht sich ... die reizende Türkin vor ihm sieht nicht traurig aus, im Gegenteil, ihr schönes, stolzes Antlitz lächelt wie in grausamem Spott, und die schwarzen Augen blitzen ihn mitleidlos an, und die roten Lippen lachen kurz und scharf auf: „Ja, sieh’ mich nur an! Ich bin das Schicksal, du Narr, welches dich in die Wunderwelt des Goldenen Hornes lockt! Sieh’, wie das Wasser gleisst und im silbernen Mondschein ein Schifflein trägt! Zurück, Verwegener! Ich bin keine liebeskranke, zage Taube wie Lakmeh — ich bin stark und stolz und werde leben, weil ich dich nicht liebe!“ —

Mortimer schrickt empor.

Hat er geträumt oder sprach das Bild wirklich?

Die geheimnisvolle schwarze Locke ringelt sich wie eine glänzende Schlange über das Papier, und der Knabe starrt mit glühenden, sehnsuchtsheissen Augen darauf nieder. Draussen fällt der Schnee in dichten Flocken. Leise und lind deckt er das nordische Land, die Giebel und Dächer des altmodischen Städtchens, die kahlen Wipfel der frierenden Lindenbäume, — hie und dort ist noch ein Fensterchen hell, und der Nachtwächter stampft mit schwerem Schritt über das holprige Pflaster und singt den trauten alten Vers: „Hört ihr Herrn und lasst euch sagen ...“, dann tutet das Horn ... der Schnee fällt und fällt ... immer höher ... immer dichter ... es ist kalt, bitterkalt ...

Droben aber, in der kleinen Mansardenstube, wachsen schlanke Palmen und eine Wildnis schwül duftender Rosen, Orangen, Flieder und leuchtender Granaten aus den wurmstichigen Dielen empor!

Da glänzen die goldenen Minaretts, da ragen zierliche Kioske, schlanke Türme, Brokatvorhänge rauschen hinter pomphaften Bronzegittern ... und die Wellen des Bosporus spülen mit geheimnisvollem Silberglanz an weisse Marmorstufen ... dort, im Schatten dunkler Zypressen, leuchtet eine weisse Gestalt ...

Schleier wehen ... Geschmeide funkelt ... ein nackter Arm winkt stummen Gruss ... und dann brechen die süssen, berückenden Lieder jäh ab ... eine Stimme lacht hell auf, und zwei dunkle Augen blitzen im Gemisch von Stolz und Spott: „Ich bin nicht Lakmeh, die liebeskranke Taube! Ich werde leben, weil ich dich nicht liebe ...“