Förg, Nicola Scharfe Hunde

PIPER

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Für Iris aus der Schweiz und Nico aus Holland

 

ISBN 978-3-492-97669-5

März 2017

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin

Covermotiv: Bodo Schieren und Andy Crawford/Getty Images

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Es wird ein Tag kommen, an dem die Menschen über die Tötung eines Tieres genauso urteilen werden, wie sie heute die eines Menschen beurteilen.

Leonardo da Vinci, italienischer Maler und Universalgenie (1452–1519) – bis heute ist dieser Tag nicht gekommen.

Prolog

Es wurde jeden Tag beschwerlicher. Ihr Gesicht zuckte. Die Knie sackten ihr weg. Das Fieber kam und ging. Allzu oft wollte sie nicht zum Arzt gehen. Schnell galt man als verrückt. Sie war nicht verrückt. Oder doch?

Von irgendwoher ertönte ein Knarzen. Oft hörte sie Geräusche, die nicht real waren, und sah Doppelbilder, verschwommene Schemen. Wie jetzt. Jemand war durch die Terrassentür hereingekommen. Aber dieser Mann konnte doch kein Trugbild sein. Er redete auf sie ein. Schnell, laut, aggressiv. Sie wich langsam zurück.

Ein Schlag traf sie ins Gesicht. Ihr Vater hatte sie einmal geschlagen, aber das lag ewig zurück. Ihr Schulranzen war in den Dorfweiher gefallen, sie hatte das nicht gewollt, aber ihr Vater hatte zugeschlagen mit den Worten: »Du dumme Pute!« Dabei war es der Lois aus ihrer Klasse gewesen, der sie getriezt hatte und ihr den Schulranzen entrissen. Dann war die Tasche in den Weiher geflogen, selbst der Lois hatte das nicht gewollt. Aber für ihren Vater hatte das nicht gezählt, sie war immer schuld gewesen. Mädchen hatten zu kuschen. Recht hatten die Jungs, die Lehrer, der Herr Pfarrer, der Herr Doktor und der Zahnarzt, der so entsetzlich aus dem Mund roch, wenn er sich über einen beugte.

Das alles schoss ihr durch den Kopf. Dann folgte ein zweiter Schlag, und sie fiel auf die Couch.

»Bitch!«, brüllte der Mann. »Don’t even think about it!«

Er fluchte in einer Sprache, die sie nicht verstand. Dann riss er ein paar Bücher aus dem Regal und drosch mit einem Baseballschläger in die Vitrine mit dem Meißner Porzellan, wo die Tänzerinnen standen und die schönen Tierfiguren. Das schmerzte sie mehr als die Schläge.

»I’ll be back«, sagte er. Im Hinausgehen trat er noch gegen eine große Bodenvase. Wasser ergoss sich über den Teppich, die langstieligen Sonnenblumen fielen auf den Boden. Ihr kam es so vor, als schnappten die Blumen nach Luft, als würden ihre schweren Köpfe augenblicklich altern.

Sie ging langsam ins Gäste-WC und sah in den Spiegel des Alliberts. Blut lief aus dem Mundwinkel, doch es schmerzte kaum. Im Spiegelschrank stand eine Flasche mit Jod, das brannte nicht. Es waren auch nicht die Schmerzen der Erniedrigung, die sie quälten.

Nein, ihre Schmerzen waren anderer Art. Sie hätte jemanden ins Vertrauen ziehen müssen – keinen Arzt, aber doch eine ihr vertraute Person. Gab es so jemanden überhaupt? Und auch diese Person hätte sie wahrscheinlich für verrückt erklärt. Doch wenn sie das Ungeheuerliche, das Dunkle ausgesprochen hätte, dann hätte sie ihm Platz eingeräumt.

Ihr graute es hinauszugehen, zu hell war es im Garten. Und nachts waren dort die Geister. Sie kamen aus ihren kleinen Gräbern.

1

»Und hier eine echte Rarität: ein Lanz HL, Baujahr 1928. Schon mit Allrad und Knicklenker!«, rief der Ansager. »Und dahinter gleich ein Lanz HR 2, beide vorgestellt vom Mair Franzl hier aus Ohlstadt.«

»Ist der schön!«, rief Jens entrückt. »Weißt du, der junge Kaufmann Heinrich Lanz war ein echter Visionär. Er hat Rundschreiben verfasst, um den Bauern klarzumachen, wie viel effektiver die maschinelle Landwirtschaft sei. Und im Jahr 1921 wurde dann der Urbulldog vorgestellt, großartig!«

Irmi lächelte. Irgendwie bezaubernd, dass ein Mensch, der mit Landwirtschaft so viel zu tun hatte wie ein Nilpferd mit Spitzentanz, eine solche Begeisterung für Bulldogs entwickelte.

»Muss ich mir Sorgen machen? So schön find ich den Mair Franzl eigentlich gar nicht. Mir ist er zu klein und zu dünn.«

»Nicht der Fahrer, sondern sein Ackerschlepper!«

»Ach so«, meinte Irmi und lachte.

Der Ansager blätterte in seinem Manuskript. »Und jetzt kimmt a Stihl.«

»Haben die etwa mal Bulldogs gebaut?«, fragte Irmi verdutzt. Beim Thema Stihl konnte sie mitreden, schließlich hatte sie eine heiß geliebte Motorsäge von dieser Firma, die sie nie verlieh. Getreu dem Motto, dass eine Frau ihren Mann, ihr Pferd und ihre Motorsäge besser nicht aus der Hand gab. Nun ja, der Mann war eigentlich nur in Teilzeit ihrer, Pferde waren ihr unheimlich – aber die Stihl, das war ihre Leidenschaft.

»Ja, zwischen 1948 und 1963 hat Stihl auch Traktoren gebaut«, erklärte Jens. »Allerdings nur insgesamt zweitausend Stück.«

Wieder was gelernt, dachte Irmi. Und das von einem Fischkopp, der keine Ahnung hatte, wie man mit einer Stihl-Motorsäge umging.

»Und jetzt kimmt a Porsche P 111 vom Feistl Sepp aus Sindelsdorf!« Der Ansager gab wirklich alles, so frenetisch wie er bei jedem Teilnehmer brüllte.

»Mir gefällt die elegante rote Schnauze«, meinte Jens.

»Ich weiß nicht, rot ist nicht meine Farbe«, sagte Irmi.

»Och, ich erinnere mich da an so einen roten BH …« Jens grinste anzüglich.

»Ja, ja, brüll noch lauter, damit das ganze Oberland meine Dessous kennt«, zischte Irmi.

»Schau, da kommt der Bernhard«, lenkte Jens von der Unterwäschedebatte ab.

Irmis Bruder Bernhard tuckerte mit seinem Kramer KL 180 heran. Der Schlepper war unverwüstlich und zum Kreiseln und Schwadern immer noch im Einsatz.

»Also, der hat wirklich eine schöne Schnauze«, befand Irmi. »Die Bulldogs von Kramer schauen einfach am nettesten aus. Grün ist eine so dezente und freundliche Farbe.«

»Also, dass ihr Bayern einem Schwaben zujubelt?« Jens grinste.

»Es ist doch nur ein Bulldog aus Schwaben, der schwätzt ja it«, konterte Irmi. »Und der Rost macht ihn sexy, find ich. Traktoren sind schöner, wenn sie nicht so gelackt und restauriert sind.«

»Ach, das beruhigt mich! Ich bin ja auch schon etwas rostig und unrestauriert«, behauptete Jens. »Und wenn du lieber einen grünen BH in Kramergrün …«

»Ich lass dich gleich hier zurück, allein unter Fremdsprachlern!«, drohte Irmi.

Im nächsten Moment wurde sie durch den Ansager unterbrochen, dessen Mikro pfiff wie eine Maus, die gerade von einer Katze gefangen wurde und um ihr Leben quiekte. »Des is a Güldner vom Geisler Willi … naa … des is ja die Nummer 98, des is der … ah ja … der Mangold Bernhard aus Schwaigen. Burschen, warum haltets eich ned an die Reihenfolge! Da wird ma ja ganz damisch!«

Ja, bei so einem Oldtimertreffen hielt man tunlichst die Regeln ein, insbesondere wenn es einen derart beherzten Ansager gab. Mittlerweile waren schon hundert Oldtimer an ihnen vorbeigeschnauft, -geschnaubt und -gescheppert. Fünfzig Jahre und älter waren sie. Am besten gefielen Irmi die Exemplare, die von einem langen harten Arbeitsleben erzählten – so wie ihr Kramer.

Oldtimer-Bulldog-Treffen waren »in«, und das heutige in Ohlstadt war ganz besonders gut besucht. Es war ein perfekter Tag, nicht zuletzt, weil die Landwirte guten Gewissens freimachen konnten – es war ein Sonntag im Herbst, und die Hauptarbeit des Jahres war getan. Nachts hatte es noch geschüttet wie aus Kübeln, doch in der Früh hatte es aufgerissen. Es war ein kühler Morgen gewesen, Nebel waren aus dem Moor gestiegen, die Sonne hatte mit den Wassertropfen in den Spinnennetzen Ringelreihen getanzt. Inzwischen waren die Temperaturen angenehm lau mit einem leichten Windchen.

Die Lederhosen- und Dirndldichte war hoch auf der Veranstaltung. Obwohl Jens sich wie ein Schnitzel über Irmi im Dirndl gefreut hätte – den Gefallen tat sie ihm nicht. Sie hatte eh nur ein Exemplar, das sie vor Jahren mal erstanden hatte, und das war so eng, dass sie sich beim Verschnallen wahrscheinlich ein paar Rippen gebrochen hätte. Mal ganz davon abgesehen, dass sie keine Luft bekommen hätte. Irmi war sich sicher, dass Menschen weder über Kiemen atmen noch auf Porenatmung umstellen konnten. Sie hasste Dirndl, insbesondere weil man dann noch eine Strumpfhose benötigte, die in den Hüftspeck einschnitt und deren Zwickel immer zu tief saß, auch wenn man die Nylonwurstpelle zwei Nummern zu groß kaufte. Dafür endete die Dirndlbluse kurz unter der in ihrem Fall durchaus üppigen Oberweite. Zwischen Bluse und Strumpfhose blieb immer ein Stück frei, was ungut ins Kreuz zog.

Nein, Irmi war eine ganz schlechte Vertreterin ihrer Heimat. Sie konnte auch nicht Ski fahren, aß nie Kesselfleisch und konnte sehr gut ohne Schweinshaxn leben. Außerdem sprach sie kaum Dialekt. Bei Befragungen kam es einfach besser an, wenn man ansatzweise Hochdeutsch konnte. Generell wurde man von Menschen aus dem restlichen Deutschland besser verstanden, was allerdings manchen Bayern und speziell den Werdenfelsern eher unwichtig war. Eher im Gegenteil. Nur manchmal lockerte ein Dialektwort zur rechten Zeit verstockte Bauernschädel.

Aber heute hatte Irmi frei, es war sowieso recht ruhig gewesen die letzten zwei Monate. Bei der anhaltenden Hitze hatten alle Schwerkriminellen wahrscheinlich reglos im Keller gesessen und auf Abkühlung gehofft. Gut, es waren zwei junge Männer ertrunken, es gab die üblichen Bergabstürze – aber nichts, was die Mordkommission mehr zum Schwitzen gebracht hatte als diese Saharahitze.

Jens war wie immer auf der Durchreise, er musste morgen nach Mailand weiter. Dennoch war es natürlich Schwesternpflicht, Bernhard beim Bulldogtreffen zu applaudieren. Eigentlich mochte ihr Bruder solche Events nicht, aber der Mann und die drei Söhne der Nachbarin Lissi hatten ihn zum Mitmachen überredet. Lissis Männer waren Mitglieder bei den Eicherfreunden und hätten die Firmengeschichte des Traktorunternehmens selbst im Schlaf heraussprudeln können. Die vier Eicher-Freaks hatten mit zwei Tigern, einem Panther und einem Leopard gleich vier der blauen Raubkatzen am Start. Auf Bulldogtreffen heimsten sie Preise ein für die längste Anreise oder die stärkste Gruppe und waren auch schon dreimal zur Traktor-WM nach Bruck/Fusch am Großglockner gefahren.

»So, und jetzt für die, die sich ned so auskenna«, erklärte der Ansager. »Bulldog hoaßt der Traktor, Trecker oder Ackerschlepper, seit die Firma Heinrich Lanz Mannheim die legendären Lanz Bulldog Ackerschlepper herstellt hot. Der Name is von dene ersten Motoren kemma, die Ähnlichkeit mit dem Gesicht einer Bulldogge g’habt ham solln. Andre sogn, des lag daran, dass der Motor bellt hot als wie a Bulldogge. Der Fendt im Allgäu hingegen hot seine ersten Schlepper Dieselross g’nannt, um dem skeptischen Landwirt zum vermitteln: Der is bräver als dei Ackergaul, is leichter zum pflegen, und statt Heu frisst er halt Diesel. Des stimmt ja aa!«

In Zeiten von Autos, die vor Elektronik strotzen und beim leisesten Pieps den Dienst versagen, wecken solche Motoren irgendwie archaische Sehnsüchte, dachte Irmi.

»Der Bulldogkonstrukteur Fritz Huber hat schon recht«, meinte Jens noch immer ganz verzückt. »Ein Schlepper kann nicht einzylindrig genug sein.«

Irmi lächelte in sich hinein. Männer – da waren sie alle gleich. Ob studierter Preiß oder Werdenfelser Bauernschädel.

Die Karawane der Bulldogs schien gar kein Ende nehmen zu wollen. Es waren auch Exoten dabei: ein Normag-Zorge, ein tschechischer Zetor, ein McCormick aus einer seltenen Baureihe, ein Bührer aus der Schweiz. Und auch einen Hatz TL 24 von 1956 sah man eher selten im Oberland. Sein Fahrer verzog keine Miene, sondern saß etwas vornübergebeugt auf dem grünen Gefährt. Na, der hat ja wenig Spaß, dachte Irmi. Jens schoss ein weiteres Foto. Von ihm aus hätte man wahrscheinlich noch ein paar Hundert Modelle ansehen können. Irmi hingegen befand, dass ihr Bier in der Flasche langsam lack wurde. Nach inzwischen 123 Bulldogs hätte man sich eigentlich mal ein neues holen und sich hinsetzen können. Das lange Stehen bekam ihrem Kreuz nicht wirklich.

Den Platz hatte Jens ausgesucht: Sie standen in einer Kurve, wo die Route einen scharfen Knick machte. Hier hatte man einen besonders guten Blick – erst von vorne, dann von der Seite – auf all die alten Ackerschlepper.

Irmi sah dem knatternden Hatz hinterher. Plötzlich veränderte sich etwas in den Augen der Leute auf der anderen Straßenseite. Rufe, Flüche, Menschen, die zur Seite sprangen – der Hatz fuhr weiter stur geradeaus. Er hüpfte über die Bordsteinkante und tuckerte hinein in eine Garageneinfahrt. Irgendwie geriet der Fahrer nun in Schräglage und verriss das Steuerrad. Anstatt frontal in das Garagentor zu brettern, ging die unruhige Fahrt quer durch ein Blumenbeet, durch den ganzen Garten und endete im Zaun, wo der Hatz feststeckte und seine Räder durchdrehten. Der Mann war zur Seite gekippt.

Sekundenlang passierte nichts. Die Blicke der Menschen hatten sich festgesogen an dem Geschehen. Doch dann brandete auf einmal eine Woge an Geräuschen heran. Irmi war als eine der Ersten losgelaufen, und sie war auch zusammen mit einem jungen Mann als Erste bei dem Fahrer, der leblos am Boden lag.

Irmi ertastete einen schwachen Puls. Die Gesichtsfarbe des Mannes war ungut bläulich. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn.

Der junge Mann hatte schon den Notarzt alarmiert und brachte den Mann nun in stabile Seitenlage.

»Ich bin Sanitäter«, sagte er. »Sind Sie Ärztin?«

»Nein, Polizistin.«

Der junge Mann sah überrascht auf.

Irmi zuckte mit den Schultern und betrachtete den Fahrer genauer. Dass ein Mann mittleren Alters einen Herzinfarkt erlitt, kam vor in der Sonne. Doch irgendetwas in ihrem Inneren war auf einmal hellwach, die leichte Biermüdigkeit verflogen. Irgendetwas stimmte nicht.

Der Sanka hatte sich inzwischen durchgearbeitet, die Sanitäter hantierten, der Notarzt brauste heran. Irmi kannte ihn. Er war gebürtiger Pfälzer, lebte in Peißenberg und schien ständig im Einsatz zu sein. Er war einer von denen, die bereit waren, überall auszuhelfen. Ein Workaholic, der dem Leben und dem Nachgrübeln darüber Arbeit entgegenstemmte. Er dürfte in Irmis Alter sein. Anscheinend verbrachte er wenig Zeit daheim, verbrämte womöglich seine Flucht vor dem Privaten mit dem Dienst an der Menschheit. Dass er nun bald aufhören würde, wie Irmi gehört hatte, war ihr unheimlich. Sie selbst war auch so ein Workaholic – würde sie jemals aufhören können?

Auf der Rückseite des Gartens, an den eine Kuhweide anschloss, schwebte der Hubschrauber ein. Die Kühe buckelten davon, in einem gewissen Sicherheitsabstand hielten sie an, drehten sich fast synchron um, als hätten sie das einstudiert, diese tierische Drehung nach links im Herdengleichklang – und glotzten zurück. Der Traktorfahrer wurde verladen, und das gelbe Luftinsekt entschwebte schnell. Der Notarzt kam zurück und grinste Irmi schief an. »Schlechte Werbung fürs Oldtimerfahren«, bemerkte er.

»Na, der Bulldog hat ja gut durchgehalten«, sagte Irmi mit einem Seitenblick auf den Oldie, den irgendjemand ausgemacht hatte. Er stand da, die Schnauze unschuldig in den etwas verbeulten Jägerzaun gesenkt. »Herzinfarkt?«

»Zumindest mal massive Herzrhythmusstörungen. Was mich allerdings stört …« Er zögerte.

»Ja?«

»Der Schweiß und na ja … die Tatsache, dass er sich eingenässt hat.«

Irmi suchte den Blick des Arztes, der auffällig leise sprach. »Sie meinen …?«

»Unkontrollierter Harndrang, außerdem muss er sich vor oder während der Ausfahrt übergeben haben, es waren da so allerlei Reste an der Jacke.«

Mit dem Pfälzer Dialekt klang das Unerhörte immer noch ganz harmlos, aber von der Leichtigkeit des Familiensonntags war nichts mehr übrig.

»Das heißt konkret …?«

»Er könnte etwas gegessen haben, was ihm gar nicht gutgetan hat«, sagte der Pfälzer mit einem leichten Lächeln, das seine Augen jedoch nicht erreichte.

»Reden wir jetzt von einem schlechten Tiramisu oder was Dramatischerem?«

»Eine Salmonellenvergiftung ist auch dramatisch. Ich war da mal am Gardasee, als ich …«

»Danke, ersparen Sie mir die Details. Reden wir von Gift?«

»Sie wissen doch, die Dosis macht das Gift. Vierzehn Bier am Tag sind unter Umständen tödlich. Langfristig, meine ich. Aber dieser Mann hatte was im Körper, was da überhaupt nicht hingehört. So, und jetzt empfehle ich mich, schöne Frau.« Der Notarzt ging davon. Irmi sah ihm nach. Er blieb noch hie und da stehen, plauderte kurz, augenscheinlich kannten ihn viele hier, bevor er schließlich in seine Notarztkarosse stieg und losfuhr.

Die Schaulustigen verzogen sich allmählich. Die Veranstalter hatten schnell reagiert, indem sie die Route umgelenkt hatten, denn es waren insgesamt 303 Fahrzeuge gewesen. Irmi war davon überzeugt, dass viele der Fahrer und Zuschauer gar nicht mitbekommen hatten, was passiert war. So ein Hubschrauber landete gerne mal, weil sich der Gottfried nebenan in der Tenne erhängt hatte oder die alte Zilli einem Schlaganfall erlegen war oder der Flori, der Sohn vom Schwager, wieder mal eine Alkoholvergiftung hatte. Solche normalen Begebenheiten in den Familien brachten einen Werdenfelser nicht gleich in ungebührliche Wallung.

Jens hatte ein Stück entfernt auf sie gewartet und kam nun näher. Irmi versuchte auf Privatmodus umzuschalten. »Jetzt hab ich dir den Tag verdorben. Hast du gar nicht mehr zugeschaut?«

»Ach, die Bulldogs stehen alle auf der Festwiese. Ich kann mir jeden einzelnen noch ansehen, wenn ich das möchte. Ich sehe aber lieber dich an, und du siehst … na ja …«

»Na ja was? Beschissen? Verschwitzt? Alt? Faltig?«

Jens schüttelte nachsichtig den Kopf. »Dass ihr Frauen immer gleich so negativ seid. Du siehst nie beschissen aus. Nein, du hast das Knobelgesicht. Du rätselst über diesen Mann, und sein Abgang macht dir Kopfzerbrechen. Weil du glaubst, der wird dich noch beschäftigen?« Das war eigentlich mehr eine Feststellung als eine Frage.

»Das kann sein. Ich hoffe nicht. Ich weiß nicht.« Himmel, sie hatte sich auch schon intelligenter ausgedrückt. Aber ihr Gehirn war immer noch im falschen Modus.

»Trinken wir ein Bier? Ein kaltes?«, fragte Jens.

»Unbedingt.«

Die beiden gingen nebeneinanderher, ein unsichtbares Band verknüpfte sie zu einer Einheit. Irmi hätte niemals Händchen gehalten oder sich untergehakt. Schon gar nicht hier, wo man sie kannte. Solche raren Momente hob sie sich für anderswo auf. Und Jens hatte das über die Jahre gelernt. Er übte Zurückhaltung. Sie hatte ihn in der Vergangenheit ein-, zweimal so rüde und barsch abgewehrt, dass man als Mann hätte beleidigt sein können. Doch Jens war nicht so, er schloss solche Dinge irgendwo ein. Irmi wusste, dass sie es nicht überreizen sollte. Zu viel Ballast, der aufgehäuft war und immer mehr wurde, konnte auch schwere Türen sprengen.

Vor dem Festzelt waren Bänke aufgestellt, man musste nicht im stickigen Inneren sitzen, wo die Luft stand und die Musikanten gerade Dem Land Tirol intonierten. Irmi und Jens quetschten sich zu Lissi und ihren Männern auf die Bierbank. Natürlich wurde über den Unfall gesprochen, aber es war Jens, der mit Traktorfragen ablenkte vom Bruchpiloten. Irmi wusste, dass er das für sie tat. Für so etwas liebte sie ihn. Auch für so etwas.

Schließlich war Aufbruch. Irmi und Jens schlenderten zu den Bulldogs. Um einen Lanz Baujahr 1938 stand eine Schar von Zuschauern und verfolgte die Prozedur am Glühkopfmotor, einem ventil- und vergaserlosen Zweitaktdiesel mit Kurbelgehäuse-Aufladung. Zum Starten musste erst mal die Glühnase im Zylinderkopf mit einer Lötlampe erhitzt werden. Nach etwa fünf Minuten wurde das Lenkrad entfernt, seitlich eingesteckt und diente als Schwungrad. Und dann grummelte er los, der Lanz! Das Volk applaudierte.

Zwei Männer neben Irmi redeten über einen absoluten Raritätenbulldog, der siebzigtausend Euro eingebracht hatte.

»Leck mi fett. Für siebzigtausend würd ich sogar mei Alte hergeben, nein, für weit weniger!«, rief der eine und sah Irmi dann gleich entschuldigend an.

Jens wurde schließlich eingeladen, mit einem von Lissis Söhnen mitzufahren, was er dankbar annahm. Er warf Irmi einen Seitenblick zu. Ihm war klar, dass Irmi ins Büro fahren würde. Mal kurz nachfragen. Nur mal so.

 

Im Büro erfuhr Irmi, dass der Mann in die Unfallklinik Murnau eingeliefert worden war. Dort bekam sie nur die Auskunft, dass er auf der Intensivstation des UKM lag, mehr war nicht zu erfahren. Beim Veranstalter fand sie den Namen des Fahrers heraus. Der Bulldog mit der Nummer 123 gehörte einem gewissen Julius Danner. Der Name sagte ihr irgendetwas, doch ihr wollte ums Verrecken nicht einfallen, woher.

Da würde sie wohl den Computer bemühen müssen. Über die Jahre hatte sie sich zähneknirschend mit der Computerarbeit abgefunden, doch sie wäre nie auf die Idee gekommen, in einem Forum mitzublubbern und sich einen albernen Namen wie kätzchen352, hexe55 oder mausezähnchen zu geben. Und wie Mausezähnchen in Wirklichkeit aussah, wollte sie sich lieber gar nicht vorstellen. Die Menschheit verblödete galoppierend, die Hirne weichten auf.

Sich jenseits des Büros einem Computer auch nur auf weniger als einen Meter zu nähern war Irmi so fern wie der Südpol. Sie bestellte auch keine Kleidung im Internet. Das überließ sie Bernhard, dessen Helden Engelbert Strauss, Siepmann und Grube hießen. Und da gab es auch für sie feine Fleecepullover.

Bei ihrer Recherche nach Julius Danner stieß Irmi auf eine Agentur namens Skydreams, deren Betreiber er war. Die Homepage zeigte opulente Bilder, eine Diashow lief durch. Die Vita von Julius Danner war umfangreich: Er war fünfundvierzig Jahre alt, hatte Sport studiert und war mehrere Jahre als Guide der Explora-Hotels in Chile gewesen. Als zertifizierter Ballonfahrer verfügte er sogar über eine Lizenz, um die Ballone anderer deutscher Ballonunternehmen kontrollieren zu dürfen. Außerdem war er Gleitschirm-Fluglehrer, staatlich geprüfter Bergführer und entführte offenbar Touristen in Südamerika auf himmelhohe Gipfel. Vulkane waren sein Spezialgebiet – rund um Klassiker wie den Aconcagua oder den Popocatepetl hatte er seine Programme gesponnen, die so klangen, als müsse man für die Teilnahme über eine gewaltige Fitness verfügen.

Da dürfte der Verunglückte selbst doch auch gute Lungen gehabt haben, oder etwa nicht? So einer war doch sicher absolut durchtrainiert? Natürlich verstarben auch und gerade junge Hochleistungssportler an Herzinfarkten, aber die hatten vorher meist tief in die Chemiekiste aus dem weiten Reich des Dopings gegriffen. Oder war sie da schon auf einer Spur? Der Peißenberger Pfälzer hatte Gift angedeutet.

Irmi betrachtete das Foto von Julius Danner. Irgendetwas in ihr wehrte sich, diesem Mann Drogenmissbrauch zu unterstellen. Sie fuhr den Computer herunter, unzufrieden, unruhig, getrieben – ohne genau zu wissen, was da in ihr wühlte.

 

Als sie daheim ankam, lag da nur ein Zettel, dass alle noch bei Lissi seien. Die Nachbarin hatte aufgetischt, bei ihr sah Essen immer wie ein Kunstwerk aus. Sie arrangierte banalen Käse und Aufschnitt mit ein paar Kräutern und Blumen auf wertigen Keramikplatten, und schon hatte man den Eindruck, als wäre man mittendrin in einem Food-Fotoshooting für eines dieser Landmagazine, die nur Städter lasen.

Es wurde spät und ein klein wenig feuchtfröhlich. Zu Hause schlief Jens binnen Sekunden ein. Kein Abschiedssex mehr.

 

Am nächsten Morgen stand Irmi um fünf auf und braute Jens einen starken Kaffee. Als er um halb sechs vom Hof fuhr, horchte sie seinem Auto nach. Dann war es auf einmal still. Nur aus dem Stall hallten ein paar Geräusche herüber. Der ältere Kater sprang auf Irmis Schoß und gab einen Laut von sich, der wie »Ähh« klang. Sie hatte von ihm noch kein einziges Miau gehört – immer nur dieses »Ähh«. Dafür konnte er es variieren, von anklagend bis schmeichelnd. Die jetzige Tonlage vermeldete eindeutig: »Hunger.« Irmi füllte ihm einen Napf und trank ihren Kaffee auf dem Hausbankerl vor der Tür.

Jedes Mal, wenn Jens wieder weg war, fühlte sie sich leer – und ein kleines bisschen erleichtert. Sie war nun wieder frei, »ich« zu sagen. Sie fühlte sich wohl im »wir«, aber lieber nur temporär.

 

Als Irmi ins Büro kam, traf sie Sailer auf dem Gang.

»Gestern hots aan derbröselt, hört ma. Und Sie waren vor Ort?«, sagte der ohne eine Begrüßung oder sonstiges unnötiges Beiwerk.

Sailer, dessen Verwandtschaft das ganze Werdenfels, bis weit in den Pfaffenwinkel und den Landkreis Tölz hinein mit einem Spinnennetz überzogen hatte, wo an den Knotenpunkten irgendwo Kusinen, Vettern, Groß-, Klein-, und Mittelneffen saßen, der wusste immer alles.

»Der Schwoger is mitg’fahrn, er sammelt Dieselrösser«, schickte Sailer noch zur Erklärung hinterher.

»Aha. Und allwissend, wie Ihre Anverwandten so sind, Sailer, wissen Sie sicher auch, wen es derbröselt hat?«

»Den Danner, den Julius.«

»Und zu dem Mann haben Sie irgendwas zu sagen?« Das drohte mal wieder so ein typisches Sailer-Gespräch zu werden, wo man dem Kollegen mühevoll dünnere und dickere Würmer aus der Nase ziehen musste.

»Der Danner …« Sailer rollte mit den Augen.

»Den Namen kennen wir ja nun. Und weiter?«

»Oiso der Danner …«

»Sailer!«

»Wissen S’, Frau Mangold, erinnern S’ Eahna no an den Fall mit dem Buchwieser, den wo ma auf der Kandahar derschussn hot?«

»Ja«, sagte Irmi und versuchte ruhig zu bleiben. Buchwieser war Lehrer in der Eliteschule des Klosters Ettal gewesen und erschossen auf der Kandahar-Piste aufgefunden worden. Ja, sie erinnerte sich.

»War der auch Traktor gefahren, oder was, Sailer?«

»Mei, der Buchwieser war a ähnlicher Typ wie der Danner. Kopf durch die Wand. Laut. Rigoros. Verstehen S’?«

»Nicht so ganz.«

»Der Julius Danner is aa a Querulant. Der schadt dem Tourismus.«

»Inwiefern?«

»Der mog die CoolCard ned.«

Allmählich wurde es Irmi nun doch zu bunt. »Sailer, Sie reden in Rätseln. Julius Danner mochte was für ein Dingsbums nicht? Ich kenn nur ein Coolpack!«

»Ned a Coolpack. Des is a Card. A Karte hoit. Die Ilse, was mei Cousine zweiten Grades …«

»Sailer, können Sie heute noch zum Punkt kommen?«

»Es gibt im Loisachtal, im Ammertal, in Murnau und im Allgäu draußen die sogenannte CoolCard. All inclusive oder wie des hoaßt. Und da kann der Gast dann alles umsonst machen – Bergbahnen und Schifflefahren und ins Museum.«

»Das klingt doch eigentlich gut.«

»Ja, aber der Danner und ein paar andere meng des wohl ned, zwengs der Wettbewerbsverzerrung. War aa vui in der Zeitung, der Danner.«

Irmi erinnerte sich vage, hatte aber maximal die Überschriften der Artikel gelesen.

»Ich darf zusammenfassen, Sailer: Julius Danner ist ein Querulant, und er liegt mit einer All-inclusive-Karte im Zwist? Warum denn das?«

»Weil er hot a Flugschule für Gleitschirme, Sie wissen scho, die mit dene Lappen in der Luft rumfliagn. Ja mei, aber des kann uns ja egal sein«, beendete Sailer seine wirre Rede.

Was die Flugschule mit der Karte zu tun haben sollte, erschloss sich Irmi nicht. Sie beschloss, lieber nicht nachzufragen. Dennoch wollte ihre unbestimmte Unruhe nicht weichen.

»Um auf Ihre Frage zurückzukommen, Sailer. Ja, ich war vor Ort, ich stand zufällig genau daneben. Ich hab sogar mit dem Notarzt gesprochen und gewartet, bis dieser Julius Danner im Heli war.«

»Und des ham S’ ned g’macht, weil Eahna fad war, sondern weil Sie was wittern.« Sailer versuchte sich an einer merkwürdigen Nasenbewegung, wie ein Riesenkaninchen mit Zuckungen sah das aus.

Irmi ließ ihn einfach stehen. Warum unterstellten ihr alle, sie sei quasi scharf darauf, einen Fall an Land zu ziehen? Sie war doch nicht in der Eifel, wo sich diese Kommissarin mit dem fragwürdigen Modegeschmack mehr »Action« für ihren Polizeialltag wünschte. Eine Serie, die nicht mal in der Eifel gedreht worden war, sondern bei Siegburg. Aber egal, sie lebte auch nicht in Hängarsch, das korrekt natürlich Hengasch hieß, und ihre Mitarbeiter waren ein bisschen pfiffiger als die der Fernsehkollegin.

Apropos Mitarbeiter – wo steckte eigentlich Kathi? Als hätte diese Irmis Überlegungen gespürt, trampelte die jüngere Kollegin ins Zimmer. Kathi war blass und zaunrackendürr wie immer, doch irgendwas sah anders aus als sonst. Sie hatte die Haare schwarz gefärbt.

»Machst du auf böse Hexe oder auf schwarz wie Ebenholz? Was soll diese Typveränderung?«, erkundigte sich Irmi.

»Hör mir bloß auf! Drum bin ich auch zu spät. Ich hab einen Kupferton draufgetan, und das Ergebnis war Karottenorange mit Lilastich. Ich also was Dunkelbraunes drüber, dann war’s komplett lila. Da half nur noch schwarz, oder?«

Irmi grinste. »Hat was von Cher.«

»Na toll. Die ist ja fast hundert und dreißigmal operiert. So will ich nicht enden. Gibt’s sonst was Neues?«

Irmi erzählte vom Bulldogtreffen und von den Andeutungen, die der Notarzt und Sailer gemacht hatten.

Kathi stieg überraschenderweise ein. »Klar, die CoolCard. Die gibt es im Außerfern auch. Die Ruine Ehrenberg ist drin, glaub ich, der Hahnenkamm und das Schiff am Heiterwanger See. In der Tiroler Zeitung war erst kürzlich wieder ein Artikel drin. Es hat sich nämlich die WmC! formiert.«

»Ist das eine Diätpille?«

»Weg mit der CoolCard! heißt das. WmC – Ausrufungszeichen.«

»Das klingt wirklich wie eine Abnehmpille. Weg mit dem Hüftspeck. Ausrufungszeichen.« Im Gegensatz zu ihrer Kollegin könnte sie diese Pille durchaus gebrauchen. »Okay, Kathi, es weiß also jeder, dass es so eine Karte gibt, bloß ich nicht?«

»Du musst nur die Äuglein aufsperren, Irmi. Am Eingang vieler Gemeinden, die da mitmachen, steht ein Schild mit dem Motto ›Nebenkostenfrei ins Urlaubsglück‹. Hast du das noch nie gesehen? Mit einem blöden Steinbock drauf, der ein noch blöderes Krönchen trägt?«

Irmi überlegte. »Na ja, jetzt, wo du es sagst. Ich hatte aber nicht den Eindruck, das müsse mich interessieren.«

»Die Frau Hauptkommissar beherrscht eben die Kunst der Ausblendung. Immer nur den aktuellen Fall im Blick.« Kathi knuffte Irmi in den Oberarm. »Und wird dieser Dingsbums ein Fall?«

»Woher soll ich das denn wissen?«

»Indem wir in Murnau im Klinikum anrufen!«

»Wie willst du das machen? Dich als seine Gattin ausgeben? Warum interessiert uns ein verunfallter Traktorfahrer?«

»Weil du diesen besonderen Blick draufhast. So … so …«

»Nicht du auch noch! Raus!«, rief Irmi und wedelte mit den Armen. Sie musste unbedingt an ihrem Pokerface arbeiten. Offenbar sah man ihr jede Gefühlsregung an.

Dann beugte sie sich über ein paar Unterlagen. Sie hatte zu tun, und darüber vergaß sie schließlich auch den Herrn Danner.

 

Als sie am Abend heimfuhr, nahm sie zum ersten Mal das Schild wahr, das am Ortseingang von Oberau stand. Ein Pfeil zeigte nach links. »Noch 7 Kilometer zum Urlaubsglück.« Der Steinbock hatte Glupschaugen und stand auf einem stilisierten Bergkamm. Das Krönchen saß ihm keck und albern zwischen den Hörnern. Die Schrift war rot und aggressiv, eigentlich hätte ihr das wirklich auffallen müssen.

Langsam fuhr sie weiter, bis sie das Schild passierte, das den Weg zu Lissis Hof wies: »Urlaub auf dem Bauernhof«, darunter das Biokreis-Schild. Und der Steinbock. Sie bog spontan ab und traf auf Lissi, die in ihrem Gemüsegarten werkelte.

»Irmi, wie schön! Sonst seh ich dich tagelang gar nicht und nun so oft! Ist Jens wieder weg?«

»Ja, heute ganz früh.«

Lissi nickte. In dieser Geste lag große Zuneigung zu Irmi und tiefes Verständnis. »Magst was trinken?«

»Gern.«

Während Lissi im Haus verschwand, setzte sich Irmi in das Salettl, das nach Westen ging und gerade von der Abendsonne beschienen wurde.

Der ganze Hof war ein Ort, der Lissis Erdverbundenheit widerspiegelte. Ihre Bodenhaftung, ihr Geschick mit Pflanzen, ihrer Gabe, aus alten Wurzeln Kunstwerke zu schaffen, aus alten Klematisranken Kränze zu winden. Lissis Kreativität entlockte ganz einfachen, alltäglichen Dingen neues Leben. Irmi bewunderte das sehr, denn sie selbst hatte eher den braunen Daumen der Dörrnis. Dementsprechend sah der Hof von ihr und ihrem Bruder so aus wie viele Höfe hier: in erster Linie zweckmäßig.

Lissi kam mit zwei Hugos wieder. »Ist zwar angeblich schon wieder out, schmeckt mir aber immer noch am besten. Ist viel Mineralwasser drin, kaum Prosecco. Ich glaub, ich hatte gestern etwas viel erwischt.«

»Jens auch.« Irmi prostete Lissi zu und schloss die Augen. »Ich glaub, ich sollte mal bei dir Urlaub machen.«

»Bitte sehr, eine unserer Ferienwohnungen ist grad frei«, bemerkte Lissi lächelnd.

Ihre Nachbarin vermietete zwei Wohnungen, das wusste Irmi, aber sie hatte nie näher nachgefragt oder sich gar eine der Wohnungen angesehen. In dieser Region vermietete man eben an Fremde, früher war das ein Zubrot für die Hausfrau gewesen, doch in der Nachfolgegeneration hatten viele die Vermietung aufgegeben. Zu aufwendig, zu wenig Verdienst, zu hohe Kosten. Eher ein Klotz am Bein als eine Geschäftsidee.

Zum zweiten Mal heute erfasste Irmi eine leise Betroffenheit. Sie war wohl wirklich viel zu sehr auf ihren Job fokussiert, um das Leben um sich herum wahrzunehmen. Das lag sicher auch daran, dass sie nicht neugierig war. Neid war ihr immer fremd gewesen. Irmi schaute nur dann argwöhnisch auf andere, wenn es um einen Fall ging. Wenn sie auf der Hut sein musste, um nicht in einen Strudel von Lügen hinabgezogen zu werden. Außerhalb ihrer Fälle huschte das Leben der anderen vorbei wie Schilder auf einer schnellen Autofahrt – verschwommen und unlesbar.

Irmi schlug die Augen wieder auf. »Lissi, was ist eigentlich diese CoolCard?«

Viele andere hätten nun gefragt: Warum willst du das wissen? Lissi hingegen beantwortete Fragen nur selten mit Gegenfragen. Sie nahm die Menschen ernst, und sie war nicht zynisch. Genau das zog Irmi so an. Manche hätten Lissi als naiv bezeichnet, aber Lissi war einfach ein klarer Mensch, dessen Weg klar war. Sie musste nicht allzu viel fragen.

»Das ist eine All-inclusive-Karte. Wir gehören auch zu diesem Verbund.«

»Und wie funktioniert das?«

»Wenn du als Vermieter da mitmachst, erhalten deine Gäste diese Karte. Wir müssen pro Tag und Gast einen Obolus abgeben an die Cool GmbH. Aus diesem Pool werden dann die Anbieter von hundertfünfzig Aktivitäten bezahlt.«

In dem Moment wurden sie vom heranstürmenden Sohnemann Felix unterbrochen. »Mama, die Lisa kalbt, der Papa braucht Hilfe!«

Es war immer überraschend, wie flink Lissi trotz ihrer Rundlichkeit war. Schon war sie aus dem Liegestuhl gesprungen. »Irmi, ich muss. Gruß an den Bernhard.«

Mutter und Sohn sausten davon, der Sohn hoch aufgeschossen, die Mama ein Kugelblitz. Alle drei Söhne hatten die hagere Statur des Vaters geerbt, auch Nachzügler Felix, aber er hatte außerdem Lissis Kreativität und ihre Tierliebe mitbekommen.

Irmi fuhr nach Hause, wo sie allein mit dem wie immer fast leeren Kühlschrank war. Wenigstens enthielt er noch einen Kräuterquark und zwei Karotten. Knäckebrot gab es in der Speis, ein Bier auch.

2

Es war Sailer, der den Dienstagmorgen von gemächlichem Erwachen auf Alarm katapultierte. Er hatte ein ziemliches Organ, so wie er in Irmis Telefon röhrte.

»Der Danner is verstorben. Heut früh.«

»Woher wissen Sie das?«

Diese Frage hätte Irmi sich schenken können. Von einer Verwandten natürlich, die als Intensivschwester arbeitete und auch erzählt hatte, dass die Frau von Julius Danner in der Klinik zusammengeklappt sei und immer nur gebrüllt habe, dass ihr Mann ermordet worden sei.

»Ja, und was soll ich jetzt machen?«, fragte Irmi.

»Nach Murnau ins UKM fahren. Ein Dr. Weidenhof hat angerufen und gesagt, dass er Sie sprechen will. Und Sie san ja no dahoam, da ham Sie’s ned so weit.«

Irmi kannte Dr. Weidenhof, er war trotz seines illustren Berufs ein Bekannter von Bernhard und spielte in derselben Musikkapelle wie er. Auch wenn der Doc, wie ihn alle nannten, wenig Zeit hatte – das Flügelhorn war seine Passion. Er war kein Halbgott in Weiß, sondern ein bodenständiger Werdenfelser, wie Bernhard auch.

Irmi runzelte zunächst die Stirn, doch bevor sie nun weiß Gott wie lange herumtelefonierte, fuhr sie wirklich besser ins Unfallklinikum in Murnau. An der großen Tankstelle am Ortseingang war die Hölle los, weil der Sprit heute besonders günstig war. Geiz war in Deutschland geil – da stellte man sich auch mal eine Dreiviertelstunde in die Schlange, um drei Euro zu sparen.

Beim Betreten der Klinik schauderte Irmi. Der Besuch von Krankenhäusern verursachte bei ihr gewisse Beklemmungen. Zugleich wurde ihr bewusst, wie gut es ihr eigentlich ging. Eine schnatternde Gruppe verschleierter Frauen kam ihr entgegen, auch das war hier ein alltägliches Bild. Viele Ölbarone ließen Familienmitglieder hier behandeln und waren dann monatelang mit der ganzen Entourage vor Ort. Es ging um viel Geld, ganze Geschäftszweige rund um Murnau lebten davon. Sollte das Öl eines Tages einbrechen, die Wolkenkratzer versanden, das Meer sich das abgerungene Land zurückholen und die Saudis wieder in Zelten sitzen, würde das für die Region empfindliche Einbußen bedeuten.

Irmi fragte an der Pforte nach und wurde ins verwirrende System der Aufzüge entlassen.

Dr. Uwe Weidenhof saß in seinem Büro.

»Irmi, wie schön, dass du so schnell da bist. Gut schaugst aus!«

»Mein Kollege hat sich etwas kryptisch geäußert. Julius Danner ist tot, das ist natürlich traurig, aber …«

»Ich weiß, dass du vor Ort Erste Hilfe geleistet hast. Deshalb wollte ich dich informieren, bevor das alles richtig offiziell wird. Ich habe seiner Frau gesagt, dass wir obduzieren wollen. Sie war auch dafür, ich habe mich sonst aber sehr bedeckt gehalten. Denn wir tippen auf eine Vergiftung.«

»Vergiftung? Das hat auch der Notarzt angenommen.«

»Ich bin mir sicher, dass es Eisenhut war. Die Obduktion wird das wohl bestätigen.«

»Eisenhut?«

»Eisenhut ist die giftigste Pflanze Europas. Alle Teile sind giftig, vor allem die Wurzel und die Samen. Schon fünf Blütenblätter können zum Tode führen. Darum heißt er im Volksmund auch Würgling oder Ziegentod. Früher verwechselte man die Knolle öfter mal mit Sellerie- und Meerrettichwurzeln. Man verarbeitete die Blätter, und es kam zu Vergiftungen.«

»Das ist mir bekannt. Wir hatten auch mal ein paar Pflanzen hinterm Haus. Mein Bruder hatte Bedenken wegen der Tiere und hat sie ohne Handschuhe rausgerissen. Hinterher hatte er massive Taubheitsgefühle.«

Der Arzt nickte. »So was passiert an den Hautstellen, die mit dem Eisenhut in Kontakt kommen. Nach der Einnahme leidet man zunächst an Kältegefühlen, nervöser Erregung, Übelkeit, Krämpfen und Herzrhythmusstörungen. Eine Vergiftung erkennt man an mehrfachem Erbrechen, an kolikartigen Durchfällen, kalten Schweißausbrüchen und einer fahlen oder marmorierten Haut. Vergiftete beschreiben ein verändertes Wärmeempfinden, und zwar so, als hätten sie statt Blut Eiswasser in den Adern. Außerdem wird von Mundtrockenheit oder einem Brennen und Kribbeln im Mund, den Fingern und in den Zehen berichtet.«

Uwe Weidenhof betrachtete Irmi, die weiter schweigend zuhörte.

»Zusätzlich tritt häufig Ohrensausen auf. Und der optische Bereich ist durch ein seltsames Gelbgrünsehen beeinträchtigt. Der Vergiftete hat Krämpfe und starke Schmerzen, bleibt aber noch lange bei Bewusstsein. Der Tod tritt schließlich durch Atemlähmung oder Herzversagen ein.«

Das klang grausam.

»Ahnt man denn nicht, dass man vergiftet wurde?«, wollte Irmi wissen.

»Anfangs nicht. Man tippt wohl eher auf eine Magen-Darm-Erkrankung. Bei einer schweren Salmonellenvergiftung würfelt es einen ja auch ganz gehörig.«

»Aber wann treten diese massiven Symptome ein?«

»Meist innerhalb von drei Stunden.«

Irmi dachte nach. »Dieser Danner war auf einem Bulldogtreffen. Die Fahrzeuge haben sich ab neun Uhr aufgestellt, und um dreizehn Uhr hat die Rundfahrt begonnen. Wenn es ihm daheim schon so schlecht gegangen wäre, dann wäre er doch kaum hingefahren. Bei seinem Zusammenbruch war es kurz vor zwei, das heißt …« Irmi versuchte ihre Gedanken zu sortieren.

»Die letale Dosis muss er also gegen zehn oder elf Uhr eingenommen haben. Und zwar auf dem Treffen«, sagte der Arzt.

»Freiwillig?«, fragte Irmi leise.

»Irmi, das ist dein Gebiet. Ich glaube allerdings, dass ein Selbstmörder, der zu so was Fiesem wie Eisenhut greift, das woanders einnimmt. An einem Ort, wo er nicht gefunden wird, und nicht vor Hunderten von Menschen.« Er schüttelte den Kopf.

»Wann habt ihr das endgültige Ergebnis?«

»Ich möchte eine Obduktion in der Gerichtsmedizin in München veranlassen. Du kannst das doch bestimmt abklären, Irmi?«

Das war nicht der ganz offizielle Dienstweg, aber Irmi nickte. Auf dem Totenschein stand »Todesursache unbekannt«, und mit ihrem Auftauchen war die Polizei ja informiert. Sie würde die Staatsanwaltschaft verständigen, und diese würde eine Obduktion anordnen müssen.

»Wie soll ich weiter verfahren? Was sage ich der Ehefrau, wenn sie anruft? Sie wollte wissen, wann sie ihren Mann beerdigen kann. Bisher habe ich mich der Gattin gegenüber – wie gesagt – etwas bedeckt gehalten. Ich wollte erst mit dir reden. Frau Danner sprach die ganze Zeit davon, dass ihr Mann ermordet worden sei. Sie kam mir erst etwas hysterisch vor, aber nun?«

Irmi überlegte kurz. »Das ist sehr umsichtig von dir. Kannst du warten, bis das endgültige Ergebnis vorliegt?«

»Ja, von mir aus. Ich …« Sein Pager ging. »Ah, es eilt. Ich darf mich verabschieden, Irmi, wir haben ja ohnehin bald Gewissheit.«

Irmi stand bedröppelt am Gang. Eisenhut! Wie war der in den Körper von Julius Danner gelangt? Hatte er das Gift freiwillig eingenommen und durch diese ganze Öffentlichkeit womöglich irgendwas erreichen wollen? Hatte er sich einfach in der Dosierung vertan? Hätte das ein Statement werden sollen? Oder war er ermordet worden? Doch dann hätte ihm jemand auf dem Bulldogtreffen das Gift verabreicht haben müssen! Vor Hunderten von Menschen, wie der Arzt ganz richtig gesagt hatte. Wie sollte man da einen Verdächtigen ausmachen? Die Polizei würde rekonstruieren müssen, wen er getroffen hatte. Ein problematisches Unterfangen inmitten der bierseligen Traktorgemeinde.

Und waren Giftmorde nicht immer Sache von Frauen? Steckte womöglich Danners eigene Frau dahinter? Aber die sollte doch von Anfang an vermutet haben, dass ihr Mann ermordet worden sei. Andererseits gab es auch gute Schauspielerinnen …

Das fing gar nicht gut an.

Langsam fuhr Irmi ins Büro zurück. Es kam ihr alles so unwirklich vor. Spätestens heute war sie vom sonntäglichen Bulldogtreffen in ihren Polizeialltag zurückkatapultiert worden.

 

Es war siebzehn Uhr, als Uwe Weidenhof Irmi die Nachricht überbrachte: Es war tatsächlich Eisenhut gewesen.

»Ich habe Frau Danner, die gerade hier war, noch ein bisschen vertrösten können. Sie will natürlich wissen, was los ist. Eine sehr vehemente Dame ist das.«

»Danke, wir werden Frau Danner in jedem Fall aufsuchen. Du kannst aber nicht … ich meine, es ist unmöglich …«