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Für Susan

Zum Schutz der Persönlichkeitsrechte wurden Namen und Personen verändert. Handlungen und Gespräche beruhen auf wahren Gegebenheiten, sind jedoch aus der Erinnerung rekonstruiert und erheben nicht den Anspruch, die alleinige Wahrheit zu sein.

ISBN 978-3-492-97636-7
März 2017
© Stefanie Giesselbach, Irene Stratenwerth und Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Di Studio und Alhovik/Shutterstock
Datenkonvertierung: Uhl+Massopust, Aalen

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Die Letzten, von denen ich mich in Chicago verabschiede, sind Susan und Kurt. Meine Nachbarin kuriert gerade eine Krankheit aus und ist noch schwach auf den Beinen. Doch für einen kurzen Moment verwandelt sie sich wieder in das quirlige Energiebündel, als das ich sie eigentlich kenne. Sie rappelt sich vom Sofa hoch, springt aufgeregt um mich herum und umarmt mich. »Wir sehen uns wieder!«, versichern wir uns, lachend und zugleich mit Tränen in den Augen. »Schon bald! In Deutschland oder irgendwo sonst auf der Welt!«

Kurt hilft mir, meine beiden Koffer nach unten zu bringen. In Flip-Flops, knielangen Shorts und locker über dem Hosenbund hängendem T-Shirt sehe ich ihn noch in der Auffahrt des Park View Palace stehen und winken, bis er aus meinem Blickfeld verschwindet.

Moritz, mein Vorgesetzter, holt mich ab, um mich in seinem dunkelblauen Firmenwagen zum Flughafen zu bringen. Wir fahren pünktlich los, aber schon auf der Auffahrt zum Highway staut sich der Verkehr. Das Wetter ist frühsommerlich warm an diesem 23. Mai 2008 in Chicago, und bereits Freitagmittag scheinen sämtliche drei Millionen Einwohner der Stadt in ein verlängertes Wochenende aufzubrechen. Am Montag ist Memorial Day, der Feiertag zu Ehren der für Amerika gefallenen Soldaten.

Als wir endlich am Flughafen O’Hare ankommen, ist es schon so spät, dass Moritz gar nicht erst das Parkhaus ansteuert. Er bremst direkt vor dem Abflugterminal und lässt seinen Wagen mit eingeschaltetem Warnblinker stehen. Wir schnappen uns meine beiden Koffer, rennen zum Air-France-Schalter und verabschieden uns mit einer herzlichen Umarmung voneinander. »Wir sehen uns! Vielleicht schon bald in Hamburg!«

Ein bisschen verschwitzt und atemlos reihe ich mich zum Check-in ein. Ich bin froh. In elf Stunden wird Christoph mich am Hamburger Flughafen in seine Arme schließen. Anderthalb Jahre Fernbeziehung liegen dann endgültig hinter uns. Und auch meine Eltern, meinen Bruder und all meine Freundinnen und Freunde kann ich ab morgen endlich wieder sehen, wann immer mir danach ist.

Moritz entdeckt durch die Schiebetüren des Abflugterminals eine grimmig dreinblickende Politesse, die auf seinen Audi zusteuert, und spurtet los. Fast gleichzeitig mit der Ordnungshüterin kommt er bei seinem Auto an. Aus der Ferne beobachte ich, wie er wild gestikulierend auf die Frau einredet, um dann schnell in sein Auto zu springen und wegzufahren.

Meine Reisepapiere halte ich schon in der einen Hand, während ich mit der anderen und einem Knie meine Gepäckstücke vorwärtsbugsiere. Wenig später reiche ich den weinroten Reisepass und den Ausdruck meiner Online-Buchung über den Tresen. Eine freundliche Air-France-Mitarbeiterin beginnt mit dem Check-in, während ich einen der Koffer auf die Gepäckwaage wuchte.

»Stefanie!«, für einen Moment habe ich den Eindruck, dass jemand nach mir ruft. Ich achte nicht weiter darauf. Es ist unwahrscheinlich, dass ich gemeint bin. Wer sollte mich hier auf dem Flughafen schon kennen?

»Stefanie!« Jetzt höre ich es laut und deutlich.

Merkwürdig. Da spricht jemand meinen Vornamen englisch, mit einem spitzen »S-t« aus. Suchend drehe ich mich um.

Ich erkenne die drei sofort: Die beiden Männer und ihre Chefin sind von der amerikanischen Einwanderungs- und Zollbehörde ICE (U.S. Immigration and Customs Enforcement). Es ist knapp zwei Monate her, dass sie mich hier, am Flughafen, unverhofft in Empfang genommen haben, als ich von einem Osterurlaub aus Hamburg zurückkam. In einem ihrer Konferenzräume haben sie mich damals eingehend nach den Geschäftspraktiken meines Arbeitgebers befragt.

Ich starre die drei verständnislos und etwas genervt an. Was wollen sie denn jetzt noch? Auf den letzten Drücker, am Flughafen? Gab es vorher nicht genug andere Möglichkeiten, mich um eine Gespräch zu bitten?

»Stefanie, Sie sind verhaftet!«

Die Stimme der Chefermittlerin klingt feindselig und hart.

Ich reagiere so ungläubig, dass sie sich veranlasst sieht, jedes einzelne Wort ganz langsam und mit sichtlicher Genugtuung zu wiederholen. »Stefanie! Sie. Sind. Verhaftet.«

Für einen Augenblick steht die Zeit still. Verhaftet? Verhaftet? Verhaftet? Nur langsam nimmt mein Gehirn seine Tätigkeit wieder auf.

»Soll das ein Witz sein?«, frage ich gereizt.

»Umdrehen!«, schnappt sie.

Die Frau, die, wie ich mich jetzt erinnere, Mary heißt, will mir Handschellen anlegen. Ich bemühe mich, gelassen zu bleiben, um sie, aber auch mich selbst zu beruhigen.

»Nicht nötig. Ich komme freiwillig mit. Es ist ja nur eine Frage der Zeit, bis sich dieses Missverständnis aufklärt.«

»Umdrehen!«, wiederholt die Ermittlerin herablassend, als habe sie meinen Einwand nicht gehört. Mir bleibt nichts anderes übrig, als meine Arme hinter dem Rücken zu verschränken. Dann höre ich es klicken. Schmerzhaft fest packt sie mich am linken Oberarm und schiebt mich durch die Menschenmenge in der Abflughalle.

Ein paar Tage zuvor habe ich in Chicago eine kleine Abschiedsparty gegeben. Allzu viele neue Freundschaften haben sich hier in anderthalb Jahren nicht entwickelt, aber einige Menschen sind mir sehr ans Herz gewachsen. Allen voran Susan und Kurt, meine Nachbarn im Park View Palace. Und Susans Freundin Terri mit ihrem Mann David, die mit ihrer kleinen Tochter zwei Etagen unter uns wohnen. Eins der netten schwulen Paare, von denen in unserem Hochhaus ziemlich viele wohnen, zählte auch zu meinen Gästen. Und dann noch eine Kollegin aus der Außenhandelsbranche sowie mein Vorgesetzter Moritz mit seiner Ehefrau.

Gemeinsam blickten wir aus meinem Wohnzimmer im 47. Stock auf den Michigan-See hinunter, der sich im Licht der untergehenden Sonne dunkelrot verfärbte, und auf die aufblühenden Bäume. Der Ausblick war fantastisch. Etwas Vergleichbares würde ich in Hamburg wohl kaum finden.

Auch meine Mutter war noch einmal für ein paar Tage zu Besuch in Chicago. Begeistert klapperte sie tagsüber die vielen Museen und Sehenswürdigkeiten der Stadt ab, während ich im Büro über der Abwicklung letzter Geschäftsvorgänge schwitzte. Wahrscheinlich kannte sie die Windy City – die Stadt, in der stets ein Wind weht – inzwischen besser als ich.

Als ich sie zum Flughafen brachte, war sie ungewöhnlich sentimental. Meine Mutter ist sonst keine Glucke, die mir mit ihren Ängsten und Sorgen die Luft zum Atmen nimmt. Aber diesmal schloss sie mich lange und fest in die Arme. »Steffi, ich habe irgendwie ein ungutes Gefühl«, sagte sie. »Willst du nicht lieber sofort mit mir nach Hause fliegen?«

»Jetzt gleich?« Ich sah sie ungläubig an.

»Ja. Sofort«, setzte sie nach und war dabei ein bisschen blass um die Nase. Ich wischte ihre Bedenken mit einem Lachen fort. »Ach, Mama! Ich hab hier doch noch ein bisschen zu tun. Und in einer Woche sehen wir uns schon in Hamburg!«

Mary schiebt mich weiter durch die Abflughalle. »Was ist eigentlich los? Was soll das alles?«, frage ich immer wieder.

»Das werden Sie noch früh genug erfahren!«, gibt sie barsch zurück.

Sobald sie merken, was hier vor sich geht, weichen die Reisenden erschrocken vor uns zurück. Die beiden Männer haben sich mein Gepäck und meinen Ausweis gegriffen und folgen uns unnatürlich dicht. Sie tragen zwar Zivil, aber ihre Handschellen und Waffen am Hosenbund stellen sie offen zur Schau. Erst als wir schon fast am Ausgang sind, kommt Mary auf die Idee, mir meine leichte Sommerjacke so über die Schultern zu legen, dass die gefesselten Handgelenke verdeckt sind.

Vor einem Schild mit dem Schriftzug Welcome to Chicago wartet eine ganze Wagenkolonne auf uns. Homeland Security steht in fetten Lettern auf den Autos.

»Wir fahren zum Gericht. Ins Zentrum«, verkündet Mary.

Bis in die Innenstadt, denke ich verwirrt, das kann ganz schön dauern. Dabei muss ich dringend auf die Toilette. Eigentlich wollte ich das gleich nach dem Check-in erledigen.

»Ich muss mal«, melde ich schüchtern bei Mary an.

Sichtlich genervt geleiten mich die Ermittler zurück ins Terminal. Über Rolltreppen, quer durch die Ankunftshalle und an einem Burger-Restaurant vorbei bringen sie mich zu ihrem Büro. Erst im Vorraum der Toilette nimmt Mary mir die Handschellen ab.

»Lassen Sie die Tür offen stehen!«, ordnet sie barsch an. Mir liegt die Frage auf der Zunge, ob sie mir auch noch den Hintern abwischen will. Aber ich beherrsche mich und halte den Mund.

Zurück vor dem Flughafengebäude, schieben sie mich nicht etwa in eines ihrer Dienstautos, sondern auf die Rückbank von Marys privatem Kleinwagen. Ein junger Ermittler mit Bürstenschnitt setzt sich nach vorne auf den Beifahrersitz. Er war auch bei der Befragung vor zwei Monaten dabei. Als arrogant und anmaßend habe ich ihn in Erinnerung. Er hat damals versucht, mich einzuschüchtern, mir gedroht. Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch mal wiederbegegnen würden.

Mary stellt ein mobiles Blaulicht auf das Autodach, dann rasen wir auf dem Standstreifen an den Verkehrsstaus vorbei. Nach einiger Zeit gehen Funksprüche im Auto ein, aufgeregte Durchsagen wechseln hin und her.

»Wir haben ihn«, verstehe ich als Erstes. Dann schält sich ein Name aus dem Rauschen und Knattern des Sprechfunks heraus: Moritz Böhm.

Ich schlucke. Auch mein Kollege ist verhaftet?

Wie ich später erfahre, haben sie ihn in einer spektakulären Aktion auf der Autobahn gestellt, als er vom Flughafen zurück in die Stadt fuhr: Hände über dem Kopf, Beine gespreizt, den Oberkörper gegen das Wagendach gepresst.

»Und wir haben die Giesselbach!«, ruft Mary triumphierend ins Funkgerät. »Einfache Festnahme. Kein Fluchtversuch, kein bewaffneter Widerstand.«

Ich schüttele den Kopf. Hat etwa jemand damit gerechnet, dass ich einen Revolver ziehe und wild um mich schieße? Und was ist mit meinem Flug? Die Maschine nach Deutschland hebt in einer Stunde voraussichtlich ohne mich ab. Ob ich heute noch wegkomme? Ob ich mein Ticket auf einen anderen Flug umbuchen kann? Erst ganz allmählich dämmert mir der Ernst meiner Lage.

Im Zentrum von Chicago stoppt unser Konvoi vor der Einfahrt zu einer Tiefgarage. Die Ermittler zücken Plastikkarten, die sie als Mitarbeiter von ICE ausweisen. Dann tauchen wir in den dunklen Bauch des Gebäudes ab.

Während die Männer und Frauen aus ihren Fahrzeugen springen, einander auf die Schulter klopfen und sich dröhnend und gut gelaunt zu ihrem Fang gratulieren, muss ich im Auto auf meinen hinter dem Rücken verschränkten, gefesselten Händen sitzen bleiben. Als mich einer der Männer schließlich von der Rückbank des Kleinwagens befreit und auch ich aussteigen darf, entdecke ich Moritz, der in einiger Entfernung zwischen mehreren Agenten steht. Auch ihm haben sie Handschellen angelegt. Es ist merkwürdig und irreal, dass wir uns so schnell und unter diesen Umständen wiedersehen: überrumpelt, hilflos und vorgeführt. Das kann alles nicht wahr sein, signalisieren wir einander mit Blicken. Einzeln werden wir eine Rampe hinaufgeführt.

Im Fahrstuhl mustert mich Mary von oben bis unten.

»Sind die Schuhe und die Tasche echt?«, fragt sie, als hätten wir uns gerade in einer Disco kennengelernt. Ein neidvoller Ton schwingt in ihrer Stimme mit. Ich nicke knapp.

Ich trage sommerlich leichte goldene Sneakers meiner Lieblingsmarke. Die dazu passende Tasche ist mir bereits am Flughafen abgenommen worden und hängt nun über dem Arm des zweiten Ermittlers.

»Waren bestimmt nicht ganz billig«, kommentiert sie.

Ich bin überrascht und irritiert zugleich. Was geht es sie an, wofür ich mein Geld ausgebe? Aber ich schweige. Ich bin zu eingeschüchtert, um mich mit ihr anzulegen.

Durch einen breiten Flur bringen sie mich zu einem Gerichtssaal. Noch immer ahne ich nicht, was mich erwartet. Das riesige Türschild mit der Aufschrift Magistrate Judge Asher nehme ich kaum wahr. Erst später begreife ich, dass dies mein erster Termin vor dem Haftrichter ist.

Moritz ist schon vor mir angekommen. Er ist in dem imposanten Raum an einem der eleganten ovalen Holztische mit ein paar Herren in teuren Anzügen ins Gespräch vertieft.

Neben mir steht ein klein gewachsener Mann von südländischer Erscheinung. Er trägt eine feine Brille mit Goldrand. Vielleicht kann er mir erklären, was hier vor sich geht?

»Entschuldigung … Ich habe eine Frage«, setze ich vorsichtig an, doch da fällt er mir schon ins Wort.

»Sie haben kein Recht, mich anzusprechen!«, bellt er und wendet sich demonstrativ ab.

Ein Uniformierter befreit mich von den Handschellen und schiebt mich zu einem Tisch, an dem ein dicklicher Mann mit dunklem Teint sitzt. Freundlich lächelnd reicht er mir die Hand und stellt sich vor: Jorge Lopez, Public Defender – mein Pflichtverteidiger für heute.

Ich verstehe. Und bekomme es mit der Angst zu tun. Für Moritz ist anscheinend ein ganzes Team hoch bezahlter Anwälte angerückt. Auf mich wartet ein Armenanwalt, der vermutlich den ganzen Tag hier verbringt. Zwar habe ich in Chicago auch einen eigenen Anwalt, aber hat ihn jemand über meine Verhaftung informiert?

Vereinigte Staaten von Amerika gegen Stefanie Giesselbach und Moritz Böhm, steht auf einem eng bedruckten Schriftstück, das mir mein Pflichtverteidiger jetzt herüberschiebt. Schon der Titel erschreckt mich. Ganz Amerika, dieses riesige Land, klagt Moritz und mich an? Mit klopfendem Herzen und weichen Knien lese ich weiter.

Man wirft uns vor, die USA um Zölle geprellt zu haben. Angeblich haben wir außerdem einen Container Honig importiert, der positiv auf ein Breitbandantibiotikum getestet war.

Wütend wende ich mich an den Anwalt. »Was für ein Schwachsinn! Das stimmt doch alles hinten und vorne nicht.«

»Jetzt nicht!«, zischt mein Pflichtverteidiger mir zu. »Halten Sie besser den Mund. Sie werden hier nicht zur Sache aussagen!«

Wann denn dann?, frage ich mich. In was für einem schlechten Film bin ich hier gelandet? Verzweifelt blicke ich mich um. Rechts und links von der Tür stehen ein paar Sitzbänke wie in einem Kirchenschiff. Ganze vorne, in der ersten Reihe, entdecke ich die Ehefrau von Moritz. Sie wirkt angespannt. Wahrscheinlich ist sie direkt von ihrem Arbeitsplatz hierhergehetzt.

Dann bemerke ich einen Mann mit einem akkuraten Seitenscheitel in der zweiten Sitzreihe. »Gut gemacht, Jungs! Super Arbeit!«, dröhnt er quer durch den Saal, lehnt sich breit grinsend zurück und reckt demonstrativ die Daumen in die Höhe. Die Ermittler strahlen wie Schuljungen, die eine gute Zensur bekommen haben.

»Das ist einer der beiden ermittelnden Staatsanwälte«, raunt mir mein Pflichtverteidiger zu. »Der andere wird vermutlich gleich plädieren.«

»Alle aufstehen!«, ruft ein Gerichtsdiener. Ehrfürchtig erheben sich die Männer um mich herum. Richter Asher betritt in einer schwarzen Robe den Raum. Sofort bringt sich die Anwaltstruppe von Moritz in der Mitte des Raums in Stellung, auch Lopez gesellt sich dazu. Uns beiden wird mit einer kurzen Handbewegung signalisiert, wo unser Platz ist.

Vorhang auf, Bühne frei, Auftritt für die Staatsanwaltschaft. Es ist der Mann mit der Goldrandbrille, der mich beim Betreten des Raums so harsch abgebügelt hat. Blitzschnell, redegewandt und aggressiv fasst er jetzt die Straftaten zusammen, derer wir angeklagt werden sollen. Seine Darstellung klingt so, als wären den Fahndern zwei Schwerkriminelle ins Netz gegangen. Er als Vertreter der amerikanischen Regierung werde nun dafür sorgen, dass wir ordnungsgemäß vor Gericht gestellt würden. Sein Plädoyer gipfelt in der Behauptung, dass bei Moritz und mir von höchster Fluchtgefahr auszugehen sei. Schließlich habe man mich erst in allerletzter Minute am Flughafen geschnappt! Was mich außerdem sehr verdächtig mache: Ich sei – genau wie mein Vorgesetzter – im Besitz von zwei Reisepässen.

Auch dieser Vorwurf ist absurd. Meine beiden Ausweise sind völlig legal ausgestellt worden. Viele meiner Kollegen, die im Ausland wohnen und dienstlich viel reisen, haben zwei Pässe. Damit vermeidet man Schwierigkeiten, wenn man abwechselnd in miteinander verfeindete Länder einreist.

Doch ich habe keine Chance, diesen Punkt aufzuklären. Ich komme schlicht und ergreifend überhaupt nicht zu Wort und will nur noch eins: aus diesem Albtraum erwachen.

»Wir bieten an, für unseren Mandanten eine Kaution zu stellen«, erklären Moritz’ Anwälte.

Kaution? Noch wehrt sich mein Gehirn, zur Kenntnis zu nehmen, dass sie uns ins Gefängnis sperren wollen. Trotzdem überlege ich fieberhaft, an wie viel Geld ich auf die Schnelle herankommen könnte. Vermutlich an nicht mehr, als der Dispokredit meines Kontos hergibt.

»Abgelehnt«, erwidert der Richter bereits. »Wir werden uns mit der Frage, ob Sie Sicherheiten anbieten können, erst beim nächsten Termin befassen.«

Die Anwälte scheinen damit gerechnet zu haben, jedenfalls wirken sie nicht besonders empört. Geschäftig zücken die Herren ihre Terminkalender, um einen zweiten Haftprüfungstermin für die nächste Woche zu verabreden.

»Die Angeklagten werden vorerst in die Obhut der Vollzugsbehörden übergeben«, verkündet Richter Asher.

Das ist eindeutig: Sie sperren uns ein.

Mein Blick fällt auf Moritz’ Ehefrau, die wie erstarrt in der ersten Reihe sitzt. Sie ist die Einzige, die Christoph benachrichtigen könnte, schießt es mir durch den Kopf. Er erwartet mich doch in wenigen Stunden am Flughafen Fuhlsbüttel.

Ich muss all meinen Mut zusammennehmen, um mich noch einmal an den kleinwüchsigen Staatsanwalt zu wenden.

»Wäre es möglich, Frau Böhm zu bitten, dass sie meine Angehörigen in Hamburg benachrichtigt?«, frage ich.

Widerwillig nickt er: »Machen Sie es kurz. Und auf Englisch. Keine Privatgespräche!«

Schnell trete ich auf sie zu und diktiere ihr zitternd Christophs Mobilnummer. »Er soll auch meinen Eltern Bescheid sagen!«, füge ich hinzu.

»Versteht sich von selbst. Ich ruf ihn an und sag ihm, was passiert ist.«

Lopez, mein Pflichtverteidiger, hat den Saal schon verlassen. Wahrscheinlich wartet der nächste Fall auf ihn. Mir werden die Handschellen wieder angelegt.

In getrennten Fahrzeugen transportieren die Männer vom ICE Moritz und mich ins Untersuchungsgefängnis von Chicago, das Metropolitan Correctional Center, kurz MCC genannt. Das dreieckige Hochhaus mit den seltsamen schlitzförmigen Fenstern liegt mitten in der Innenstadt. Trotzdem habe ich es noch nie bewusst wahrgenommen.

Nacheinander fahren wir mit unseren Bewachern im Fahrstuhl in den zweiten Stock des Gebäudes. Dort sehen wir uns noch einmal kurz wieder, bevor er nach links abgeführt wird und ich nach rechts. Sie schieben mich in einen kahlen Raum, in dem es nichts als eine Metalltoilette und eine schäbige Sitzbank gibt. Hier ist Platz für bestimmt zwanzig Leute, aber ich bin ganz allein. Eine Klimaanlage bläst eiskalte Luft herein.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als eine schwarze Justizbeamtin mich abholt. Sie bringt mich in einen Umkleideraum mit meterhohen Regalen, in denen Gefängniskleidung in allen erdenklichen Größen lagert.

»Zieh deine Sachen aus und reich sie mir einzeln rüber«, ordnet sie routiniert, fast ein wenig gelangweilt an. Stück für Stück vermerkt sie meine Wäschestücke auf einem Formular und packt sie in einen Karton. Meine Ohrringe tütet sie separat ein, sogar mein Haargummi nimmt sie in Gewahrsam. Schließlich stehe ich mit offenen Haaren und splitternackt vor ihr.

Dann folgt die Leibesvisitation.

»Schüttel deine Haare aus«, verlangt sie. Ich schaue sie ungläubig an.

»Na los, Kopf runter«, sagt sie mürrisch. »Ist das etwa dein erstes Mal?«

Danach inspiziert sie meine Ohrläppchen, schaut mir in den Mund, lässt mich die Füße anheben, damit sie die Fußsohlen sehen kann. Ich muss meine Brüste nacheinander anheben und die Arme in die Luft strecken, damit sie auch meine Achselhöhlen kontrollieren kann. Mir ist bitterkalt, aber ich befolge ihre Anweisungen.

»Squat and cough!«, fordert sie zuletzt.

»Wie bitte?«

»Squat and cough!«

Sie muss sich noch mehrmals wiederholen, bis ich verstehe. Ich soll breitbeinig in die Hocke gehen und husten. Falls ich irgendwelche Schmuggelware in meinen Körperöffnungen mit mir herumtrage, würde diese dabei zutage kommen.

Dann stellt sie mich auf die Waage und greift nach einem prüfenden Blick auf meinen Körper gezielt in verschiedene Regalfächer. Ich bekomme eine knallorange Hose und ein dazu passendes kurzärmliges Oberteil. Beides erinnert an die Arbeitskleidung einer OP-Schwester. Dazu gibt es zwei riesige weiße T-Shirts und Unterwäsche. Die unförmigen Oma-Schlüpfer sind so groß, dass definitiv jede Frau hineinpassen würde, und die Büstenhalter haben keine Metallbügel. Ein paar dünne, schlauchartige Tennissocken und dunkelblaue Billig-Slipper vervollständigen das Outfit.

Meine Habseligkeiten soll ich per Postpaket an jemanden »draußen« schicken lassen.

»Nach Deutschland?«, frage ich naiv.

Nein, das geht natürlich nicht. Ich brauche eine Adresse in den USA. Auf die Schnelle fallen mir Susan und Kurt ein. Ihre Anschrift unterscheidet sich ja nur durch die Apartment-Nummer von meiner.

Zum Schluss muss ich noch meine Fingerabdrücke abgeben. Dann bringt mich die Wache in einen anderen Raum, wo ich fotografiert werde. Ein sogenannter Mugshot, wie sie die US-Strafverfolgungsbehörden zu Zehntausenden im Internet veröffentlichen. Eine halbe Stunde später drückt mir ein mürrischer Wachmann eine kreditkartengroße Plastikkarte in die Hand, die mich als Federal Inmate, als Bundesgefangene Nummer 22604424 ausweist. Ungläubig starre ich in die Kamera, hinter mir eine weiße Wand mit einer Maßtabelle.

Die Tür des Fahrstuhls öffnet sich geräuschvoll in eine Art Aufenthaltsraum. Ich sehe orange gekleidete Frauen in Gruppen beieinandersitzen. Es ist merkwürdig still. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich, dass fast alle Ohrstöpsel tragen und auf einige Bildschirme starren, auf denen verschiedene Programme stumm vor sich hin flackern.

Ich soll mich bei dem diensthabenden Wachmann melden. Sein Schreibtisch steht mitten im Raum und der Weg dorthin ist ein Spießrutenlauf. Etwa zwei Dutzend Augenpaare folgen mir auf meinem Weg. Dass ich ein Neuzugang bin und von draußen komme, erkennen sie vermutlich schon daran, dass ich noch geschminkt und sorgfältig frisiert bin.

Der Wachmann begrüßt mich knurrend, wirft einen kurzen Blick auf den Belegungsplan und nennt mir eine Zimmernummer. Mit dem Kinn deutet er auf eine dicke Frau, die in der Nähe sitzt. »Von der da kriegst du alles, was du für die Nacht brauchst.«

»Siehst du nicht, dass du störst?«, blafft mich die Gefangene entnervt an, als ich sie vorsichtig anspreche. »Kannst wiederkommen, wenn der Film zu Ende ist.«

Mein Bett finde ich in einem seltsam geschnittenen Raum, der mit drei Etagenbetten und den dazugehörigen Spinden und Plastikstühlen vollgestopft ist. An einer Wand ist ein Waschbecken angebracht. Eine Toilette entdecke ich nicht, und darüber bin ich einigermaßen erleichtert: Es scheint jedenfalls separate Klos zu geben.

Alles hier wirkt unhygienisch, abgenutzt und speckig. Die Tür ist zwar nicht vergittert, aber auf einer Seite in Sichthöhe verglast, damit die Wachen jederzeit von außen hineingucken können.

Mir ist eine obere Liege zugeteilt worden. Im Bett darunter liegt eine Frau, die schon zu schlafen scheint. Eine weitere Zimmergenossin schnarcht in einer anderen Ecke. Vorsichtig deponiere ich mein Kleiderbündel auf der dünnen Matratze. Bettzeug habe ich ja noch nicht. Ich kann vorläufig nichts anderes tun als warten.

Nach und nach tröpfeln die anderen Bewohnerinnen herein, holen etwas aus ihren Spinden, putzen sich die Zähne. Niemand nimmt groß Notiz von mir. Nur eine ältere Schwarze starrt mich mit weit aufgerissenen Augen unverhohlen an. Sie ist verwirrt und verwahrlost und sagt kein Wort. Als sie den Mund öffnet, sehe ich, dass sie völlig zahnlos ist. Den penetranten Geruch, den sie verströmt, versuche ich zu ignorieren.

Ich bin die einzige Weiße in diesem Raum, noch dazu blond. Obwohl ich zu Tode erschöpft bin, kann ich mir nicht vorstellen, in dieser Umgebung auch nur ein Auge zu schließen. All diese Frauen sind mir mehr als suspekt. Vorerst starte ich einen zweiten Versuch, an meine Bettwäsche heranzukommen.

»Da bist du ja endlich! Mitkommen!«, herrscht mich die zuständige Insassin an. Keuchend steht sie auf, watschelt zum Wachmann und lässt sich den Schlüssel für ein winziges Kabuff geben. Dort überreicht sie mir missmutig eine kratzige grüne Decke und ein Laken. »Kopfkissen sind aus.«

Außerdem bekomme ich einen speckigen beigen Trinkbecher, ein Stück Billigseife, ein kleines Shampoo-Fläschchen, eine dünne Zahnbürste mit einer Mini-Tube durchsichtiger Zahnpasta und zwei brettharte Handtücher. Und einen Kamm, der so dünn ist, dass er beim ersten Einsatz in meinem langen Haar garantiert brechen wird. Flüchtig wundere ich mich darüber, dass auch zwei Einweg-Nassrasierer zu dieser Erstausstattung gehören. Hat man in dieser Situation keine anderen Sorgen, als sich die Beine und Achselhöhlen zu rasieren?

Auf dem Weg zurück nehme ich meine neue Umgebung vorsichtig in Augenschein. An zwei Seiten der dreieckigen Etage sind die Zellentüren angeordnet. An der dritten, längeren Wand liegen der Eingang zum Fahrstuhl, ein Büro, ein kleiner Sportraum und eine Art Teeküche mit einer Spüle. In der Mitte des Raumes sind einige dunkle Metalltische im Boden verankert, an denen drehbare Hocker befestigt sind. An einer Seite registriere ich flüchtig mehrere Telefonapparate. Und dann stehe ich auch schon wieder vor meiner Zellentür.

Das obere Bett zu beziehen, ohne die Frau unter mir aufzustören, ist fast unmöglich. Ich balanciere auf einem Plastikstuhl und zerre verzweifelt an dem Laken herum, als zwei Latinas den Raum betreten.

»Hi! Ich bin Sandra«, erklärt mir eine der beiden mit einem starken spanischen Akzent. Sie macht einen sehr verhärmten Eindruck und weist mit dem Daumen auf die andere. »Und das ist Nora. Die kann aber kein Englisch.«

»Stefanie«, stelle ich mich unsicher vor. Was wollen die zwei von mir?

»Hast du wirklich vor, in diesem Zimmer zu schlafen?« Niemand benutzt hier das Wort »Zelle«, das werde ich schnell lernen. Angewidert sieht sie sich in dem vollgestopften Raum um. »Hier gibt’s ja noch nicht mal ein Klo. Willst du dich etwa nachts beim Wachmann melden, wenn du mal musst?«

»Kann ich mir mein Bett denn aussuchen?«, frage ich verblüfft.

»Ich könnte schon was Besseres für dich klarmachen«, erklärt Sandra lässig. Am Ende des Flurs gebe es ein Zweibettzimmer, das im Moment nur von einer Frau bewohnt werde. »Brenda ist Mexikanerin, aber sie kann gut Englisch. Ist eine wie du, ihr kommt bestimmt miteinander klar.«

Das Angebot klingt verlockend. Ich weiß trotzdem nicht, was ich davon halten soll. Zum ersten Mal, seitdem dieser Albtraum begonnen hat, ist jemand einfach nett zu mir. Aber warum? Welche Gegenleistung erwarten die Frauen? Und was passiert, wenn ich ihren Vorschlag ablehne?

Ich beschließe, meinem Gefühl zu trauen. Sandra ist mir sympathisch.

»Okay, klar – gerne«, sage ich zögernd.

Sie schleppt mich mit zum Aufseher, damit der meinen Umzug genehmigt. Anscheinend ist es ihm völlig egal.

Auf meiner papierdünnen Matratze friere ich erbärmlich. Ich liege oben im Stockbett, habe meine komplette Häftlingskleidung anbehalten und die grüne Kratzdecke fest um mich herumgewickelt. Dennoch ist mir kalt. Direkt über mir strahlt eine Neonlampe gleißend hell von der Decke. Ich warte sehnsüchtig darauf, dass es dunkel wird. Doch Brenda lässt sich Zeit, räumt und raschelt unten herum, bis endlich um halb zwölf das Licht für alle ausgeht.

Meine Zimmergenossin ist Mexikanerin, eine schwarzhaarige Schönheit und drei Jahre jünger als ich. Sie stammt sichtbar aus einer ganz anderen Welt als die meisten Gefangenen hier, hat studiert und spricht wirklich hervorragend Englisch. »Princess« nennen Sandra und Nora sie ehrfürchtig, Prinzessin. Wir mögen uns auf Anhieb, aber an diesem ersten Abend sprechen wir nicht viel miteinander. Ich stehe unter Schock, bin völlig erledigt und brauche meine ganze Kraft, um nicht zusammenzubrechen. Morgen, rede ich mir unentwegt ein, morgen holt mich jemand hier raus, ganz bestimmt. Oder spätestens nach den Feiertagen.

Die ganze Nacht über rauscht die Klimaanlage und bläst kalte, staubige Luft in das Zimmer. Brenda hat kleine Kartons mit Damenbinden vor den Lüftungsschacht gestapelt, um sich ein bisschen vor diesem Luftstrom zu schützen. Aber das bringt nicht viel.

Zwei oder drei Stunden nachdem ich endlich eingeschlafen bin, werden wir schon wieder geweckt. Jemand bollert laut an die Tür, und das Licht geht an.

Es ist kurz nach fünf. Spätestens um halb sechs müssen wir zum Frühstück im Tagesraum antreten. Schlaftrunken absolviere ich eine flüchtige Morgentoilette. Als ich im T-Shirt aus unserem Zimmer stolpern will, hält mich Brenda erschrocken zurück.

»Du musst die Uniform anziehen! Vollständig! Die schicken dich sonst sofort zurück.«

Dann heißt es Schlange stehen. Die meisten Frauen holen sich nur einen kleinen Becher Cornflakes von den Tabletts, die in einen Wagen gestapelt sind. Dazu gibt es eine Art Milch. Ziemlich wässrig, stelle ich nach einer ersten Kostprobe fest. Viele verzichten anscheinend auf das Zeug. Man darf es im Gegensatz zu den Cornflakes auch nicht mit aufs Zimmer nehmen. Andere Getränke kann man sich aus Wasser und einem der schrill bunten Pulver, die neben der Spüle ausliegen, selbst mixen.

Mit diesem »Frühstück« verschwinden alle schnell wieder in ihren Zimmern. Sich noch mal hinzulegen und weiterzuschlafen ist aber verboten, erklärt mir Brenda. Unsere erste und, wie ich bald lerne, einzige Aufgabe am Vormittag heißt: »Betten machen«, und zwar wie beim Militär. Keine Falte, kein Stück Laken darf zu sehen sein.

Ein Wachmann geht durch die Räume und kontrolliert jedes Bett genau. Was ihm nicht gefällt, zerrt er wieder auseinander, um die Insassin im herrischen Befehlston anzuschreien: »Mach das noch mal! Und dieses Mal ordentlich!« Natürlich trifft es auch mich. Es ist die erste aus einer endlosen Kette von Zurechtweisungen, die noch folgen werden.

Danach haben wir für den Rest des Vormittags nichts zu tun. Und zwar überhaupt nichts. Ich sitze abwechselnd im Zimmer und auf einem der harten Hocker im Aufenthaltsraum herum und starre die Uhr an, deren Zeiger einfach nicht vorrücken wollen. Quälend langsam vergeht jede einzelne Minute, bis gegen elf Uhr das Mittagessen kommt.

Wie auf Kommando fangen alle spanischsprachigen Gefangenen an zu bellen, als sich die Fahrstuhltüren öffnen und der Wärmeschrank mit dem Essen hereingefahren wird. »Perro, perro«, skandierten sie lauthals: Hund, Hund.

Dabei ist dieser Fraß streng genommen noch nicht einmal für Vierbeiner genießbar. Das Fleisch, zäh wie eine Schuhsohle, schwimmt in einer fünf Zentimeter hohen Fettlache. Was für ein Tier »es« einmal gewesen sein soll, ist nicht zu erkennen – wahrscheinlich handelt es sich um ein zusammengeklebtes, elternloses Industrieprodukt. Das Gemüse kommt aus der Dose und schwimmt geschmacklos in den Resten des Kochwassers. »Angerichtet« ist die Plörre in reichlich abgenutzten gelblich braunen Tabletts mit verschieden großen Mulden. Schon allein beim Anblick vergeht mir jeglicher Appetit.

Lustlos kaue ich auf einem labberigen Stück Toastbrot herum. Als die Frauen an meinem Tisch bemerken, dass ich kaum etwas anrühre, nehmen sie sich begeistert und dankend das Essen von meinem Tablett.

Schon seit dem Morgen überlege ich, wie ich Kontakt zu meinen Angehörigen aufnehmen kann. Haben Christoph und meine Eltern schon in Erfahrung gebracht, was überhaupt los ist? Können sie mich hier rausholen? Sie könnten Jim Marcus informieren, den Anwalt, den ich vor ein paar Wochen schon einmal zu Rate gezogen habe! Bestimmt machen sie sich wahnsinnige Sorgen um mich. Ich sehne mich so sehr danach, eine vertraute Stimme zu hören.

Vor den drei öffentlichen Fernsprechern in unserem Aufenthaltsbereich steht fast immer ein Grüppchen Gefangener. Aber was muss ich tun, um sie zu benutzen?

Sandra erklärt es mir: Zunächst muss jemand Geld auf mein Gefangenenkonto einzahlen. Außerdem muss ich jeden Kontakt, den ich wahrnehmen will, vorher beantragen. Sie besorgt mir ein Formular, das mit Nummernreihen bedruckt ist wie ein Lottoschein: In den Kästchen soll ich die Telefonnummern der Personen, die ich anrufen will, »ausmalen«: Für jede einzelne Zahl gibt es einen Ziffernblock von 0 bis 9. Zum Glück habe ich die wichtigsten Anschlüsse in Deutschland im Kopf und nicht nur im Speicher meines Handys. Ich mache mich also an die Arbeit.

Zuständig für die Genehmigung dieser Kontakte ist der Counselor, der Gefangenenbetreuer, dessen Büro auf unserer Etage liegt. Am Wochenende ist er natürlich nicht im Dienst, und am darauffolgenden Feiertag auch nicht. Drei unvorstellbar lange Tage ohne jede Kontaktmöglichkeit nach draußen liegen vor mir und bei der Vorstellung schnürt sich mir die Kehle zusammen.

Umso überraschter bin ich, als ich schon am ersten Nachmittag vom Wachmann ausgerufen werde. »Giesselbach, Besuch für dich!«

Ein Aufseher eskortiert mich in den 2. Stock. In einem separaten Raum muss ich warten, bis eine weibliche Justizangestellte Zeit hat, mich zu filzen. Wieder muss ich mich komplett vor der Angestellten ausziehen, verschiedene Körperteile vorzeigen und mich am Ende breitbeinig hinhocken und husten. Es ist eisig kalt. Völlig durchgefroren führt man mich danach in ein Besprechungszimmer, wo mich Mr. Baker, einer der Firmenanwälte meines amerikanischen Arbeitgebers, schon erwartet.

Die Kanzlei, die er vertritt, habe ich erst vor wenigen Wochen kennengelernt. Sie hat ihren Sitz im 30. Stock eines Hochhauses direkt am Chicago River, in einer der teuersten Lagen der Stadt. Entsprechend edel gekleidet ist auch der Mann, der mir im Besucherraum gegenübersitzt.

Der Anwalt erkundigt sich zunächst freundlich nach meinem Befinden.

»Was glauben Sie denn, wie es mir wohl geht?!«, frage ich pampig. Mich interessiert nur eins: »Wann komme ich hier raus?«

»Keine Sorge, das wird nicht lange dauern.« Er hat einen beruhigenden Tonfall angeschlagen, der mich nur noch mehr auf die Palme bringt. »Die Verhaftung ist geradezu lächerlich. Da haben die Behörden mal wieder ihre Muskeln spielen lassen. Es wird sich alles aufklären …«

»Wo ist mein Anwalt? Hat überhaupt jemand versucht, Jim Marcus zu informieren?«, unterbreche ich ihn gereizt.

»Leider konnten wir ihn noch nicht erreichen«, bedauert mein Gegenüber. »Wir tun natürlich alles, was in unserer Macht steht, um Sie beide hier schnellstmöglich rauszuholen. Der Feiertage wegen stellt sich alles etwas schwieriger dar.«

Ich atme tief durch. »Die Vorwürfe gegen Sie und Ihren Arbeitgeber sind haltlos – und Sie als kleine Angestellte haben am allerwenigsten zu befürchten, machen Sie sich also keine allzu großen Sorgen«, fährt er fort.

Das beruhigt mich nun doch etwas. Aber als er mich nach Einzelheiten fragt, nach den Abläufen in unserer Firma etwa, wird mir schnell klar, dass ich dem Mann nicht vertrauen kann. Was will der Firmenanwalt wirklich von mir? Mich aushorchen? Oder nur sicherstellen, dass ich nicht gegen meinen Arbeitgeber aussage?

»Da die Vorwürfe völlig unbegründet sind, gibt es doch eigentlich nichts, was Sie zur Aufklärung beitragen könnten«, erklärt er mir jetzt eindringlich und fügt suggestiv hinzu: »Hauptsache, Sie wissen, auf welcher Seite Sie stehen.« Dann wechselt er abrupt das Thema. »Wir haben schon mit Ihren Eltern Kontakt aufgenommen und kümmern uns darum, dass Geld auf Ihrem Gefangenenkonto eingeht, damit Sie einkaufen und telefonieren können.«

Ich bin so einsam und verängstigt, dass ich jedes Wort dankbar aufsauge. Gleichzeitig registriere ich, dass der Mann offenbar damit rechnet, dass ich noch ein paar Tage im Gefängnis bleiben muss.

»Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?«, fragt mein Gegenüber höflich.

»Ich will hier nur raus, ich will, dass dieser Albtraum ein Ende hat!«, wiederhole ich nachdrücklich.

Er lächelt ein weiteres Mal begütigend. »Meines Wissens ist für nächste Woche ein Haftprüfungstermin angesetzt. Bis dahin wird Ihr Anwalt bestimmt von seinem Wochenendtrip zurück sein und sich der Sache annehmen.«

Es gibt nichts mehr zu sagen. Wir verabschieden uns.

Während ich in der Großraumzelle auf eine weitere Leibesvisitation und meine Rückführung in die Frauenetage warte, versuche ich, meine Gedanken zu ordnen. Im Grunde weiß ich ja, worum es hier geht.

Seit fast zehn Jahren bin ich bei ein und demselben Arbeitgeber beschäftigt: einem Traditionsunternehmen mit altehrwürdigem Kontorhaus in der Hamburger Innenstadt. Nach meinem Abitur und einem Jahr Fremdsprachenschule habe ich dort eine Berufsausbildung gemacht, mich zur Fachwirtin weitergebildet und bin später als erste Frau in diesem Betrieb zur Leiterin einer eigenen kleinen Abteilung aufgestiegen. Mein Fachgebiet: der Handel mit Honig. Als mein Arbeitgeber mich 2006 fragte, ob ich Lust hätte, für ein paar Jahre nach Chicago zu gehen, freute ich mich sehr. Von einem Job im Ausland hatte ich schon lange geträumt.

In Chicago ging mir dann aber bald auf, dass vieles hier grundsätzlich anders lief als bei der Mutterfirma in Hamburg. Dort hatten wir mit Honig nicht nur gehandelt, sondern waren an dem gesamten Verarbeitungsprozess beteiligt. Wir lieferten Honig als Zusatzstoff für unzählige Produkte, für die Herstellung von Cerealien, Backwaren, Müsliriegeln, Fleisch, Soßen, Keksen, Crackern, Salatdressings, Senf, Eis, Getränken, Nüssen, Joghurt oder Süßigkeiten. Außerdem betrieben wir eigene Produktionsstätten für die Verflüssigung, Reinigung und Homogenisierung des Süßstoffs. Die Rohware bezogen wir aus den verschiedensten Ländern der ganzen Welt und schickten sie zusätzlich zu den staatlichen Lebensmittelkontrollen regelmäßig zur Analyse in Fachlabore, um sicher zu sein, dass unsere Kunden den Naturstoff in stets gleichbleibender Konsistenz und Qualität bekamen. Das kostete viel Geld, doch ich war und bin auch heute noch überzeugt, dass langfristige Kundenbeziehungen eine verlässliche Qualität erfordern.

In Chicago ging es plötzlich nur noch darum, Honigcontainer von A nach B zu verschieben und damit Geld zu verdienen. Qualität spielte in Amerika eine untergeordnete Rolle, Analysen wurden kaum durchgeführt. Hauptsache, viel und billig, lautete das Motto amerikanischer Kunden, an welches sich mein Arbeitgeber angepasst hatte.

Anfangs hieß es noch, ich solle eine eigene Produktionsstätte für Industriehonig in den USA aufbauen, eine fordernde und interessante Aufgabe. Allerdings ließ mich der Juniorchef der Hamburger Mutterfirma in unseren Vorgesprächen im Unklaren darüber, dass dieses Vorhaben von vornherein unrealistisch war. Es gab kein Budget für den Bau oder Kauf einer Fabrik. Man hatte es sich mit dem lukrativen Import-Export-Geschäft viel zu lange bequem gemacht.

Wie das ablief, wurde mir dann in Chicago klar: Besonders preiswert war der Import von Honig aus China in die USA gewesen. Die amerikanische Imkerlobby hatte die Politiker lange bearbeitet und schließlich durchgesetzt, dass der Staat das chinesische Produkt mit extrem hohen Einfuhrzöllen belegte, um diese unliebsame Konkurrenz auszuschalten. Die weltweit tätigen Honighändler hatten ihrerseits Mittel und Wege gefunden, diese Zölle im wahrsten Sinne des Wortes zu umschiffen. Die Chinesen exportierten die Rohware zunächst in Drittländer. Dort wurden neue Begleitpapiere ausgestellt und die Fässer neu gekennzeichnet, um sie als angeblich indische oder malaysische Produkte in die USA einzuführen.

Dass die Dokumente, die am Ende auf meinem Schreibtisch landeten und von mir weiterbearbeitet wurden, einen falschen Ursprung auswiesen und damit bei der Verschiffung getrickst wurde, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Auf den zweiten Blick fand ich es aber merkwürdig, dass in den USA mit Honig aus ganz anderen Herkunftsländern gehandelt wurde als in Europa. Jedes noch so kleine Land in Asien war hier scheinbar Honigproduzent. Nach kurzer Zeit fiel mir auf, dass ich viele der Honiglieferanten, mit denen ich nun korrespondierte, bereits aus meiner Hamburger Zeit kannte – allerdings unter anderen Namen. Die chinesischen Händler hatten sich für den Handel mit den USA eine andere Identität zugelegt und gaben ein anderes Herkunftsland an.

Als sich einer meiner Kollegen wieder einmal selbst als König der Honighändler feierte, platzte mir der Kragen. »Auf welchen Teil des Geschäftes bist du eigentlich so besonders stolz? Den illegalen?«, fuhr ich ihn vor anderen Kollegen an. »Glaubt ihr ernsthaft, dass wir mit diesem Geschäftsmodell eine Zukunft haben?«

»Das machen doch alle so!« Meine Kollegen lachten mich nur aus.