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Inhalt

»Geht nicht gibt’s nicht«

Einleitung

Ein lebendiger Ort

Ungünstiger kann ein Sonntagsspaziergang nicht enden. Man schlendert gedankenversunken über den zufällig entdeckten, abgelegenen Dorffriedhof, den keine Karte mehr kennt. Die mächtigen Äste der Bäume beugen sich schattig über die Gräber. Während man die friedliche Stille genießt und sich auf die »ganz andere« Atmosphäre des Ortes einlässt, schiebt sich die Sonne langsam unter den Horizont. Nebel steigt auf. Dann, mit einem Mal, öffnen sich die Gräber, untote, halb verweste Gestalten nähern sich wankend – und beißen zu!

Zum Glück geschieht das ziemlich selten. Aber das Bild des Friedhofs als düsterer, unheimlicher, weltvergessener Ort, der der Alltagssphäre fernsteht und für die unheilvollen Momente des Lebens reserviert ist, scheint in vielen Köpfen verankert zu sein. Der klassische Horrorfilm mit seinen Zombie- und Vampirprotagonisten greift dieses Image schon lange spielerisch auf – und damit auch die Ängste, die viele Menschen mit Tod und Sterben verknüpfen.

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Lebensmotto – und unabsichtlich auch eine Beschreibung moderner Friedhofslandschaften?

Der Friedhof ist tatsächlich eine Schnittstelle zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten, denn nirgendwo sonst sind Arbeitsaufwand, Sorgfalt, inneres Gedenken und durchaus auch Leidenschaft so sehr auf das gerichtet, was »nach dem Leben« kommt. Und nirgendwo sonst wird so deutlich spürbar, dass jede(r) Einzelne dem Tod in jedem Augenblick nahesteht. Das Todesschicksal betrifft – früher oder später – alle! Das Wissen, dass die Zeit kommen wird, in der man selbst nicht mehr ist, sorgt für Verunsicherung. Nicht so sehr das »Nichtdasein« dürfte als problematisch gelten (schließlich war man auch vor der Geburt »nicht da«), als vielmehr der unumkehrbare Abschied aus dem Kreis derer, mit denen und für die man gelebt hat. Dem Tod haftet in vielerlei Hinsicht der Ruf an, unerklärlich und mysteriös zu sein, obwohl es kaum etwas Alltäglicheres gibt. Die besondere Mixtur aus Rätselhaftigkeit und Unausweichlichkeit erklärt aber nicht nur den Schrecken des Todes, sondern auch seine Faszination. Oder weshalb halten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, dieses Buch sonst in Ihren Händen?

Zusammengenommen kann man alle Friedhöfe der Erde als ein großes, zerklüftetes und vielschichtiges Denkmal für die Sterblichkeit des Menschen ansehen. Doch nur auf den ersten Blick handelt es sich tatsächlich um die »Stätte der Toten«. Der Soziologe Norbert Elias hat es in dem schönen Büchlein mit dem Titel Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen auf den Punkt gebracht: »Der Tod ist ein Problem der Lebenden.« Der Friedhof ist letztlich auch eine Einrichtung, die dabei hilft, das Problem des Sterbenmüssens zu verwalten. Eine Lösung verspricht er nicht; doch er erfüllt für die Gesellschaft eine wichtige Funktion, ohne die es nicht geht.

Aber da ist noch mehr; und an dieser Stelle kommen wir ins Spiel. Wir haben uns entschieden, den Spuren nachzugehen, die dafür sprechen, dass der Friedhof mehr ist als lediglich ein Platz, an dem tote Körper aufbewahrt werden. Und wir mussten feststellen, dass seine Geschichte unendlich viel komplizierter ist. Sie lohnt umfangreiche Nachforschungen in Archiven, in der Fachliteratur, mithilfe von Expertengesprächen und vor allem: vor Ort. Wer diese Mühe auf sich nimmt, wird erkennen, dass die Aufgaben des Friedhofs vielfältig sind. Und sie wandeln sich. Der »Totenacker« hält Schritt mit gesellschaftlichen Veränderungen. Er ist kein starres Gebilde, sondern eine kulturelle Einrichtung, die sich weiterentwickelt. Er unterrichtet über die Formen des Zusammenlebens. Er gibt Einblick in die Art und Weise, wie Menschen Abschied nehmen und sich erinnern. Er zeigt, wie sie ihre Trauer ausdrücken und mit einem Verlust umgehen, aber auch, wie sie gelebt haben, was ihnen wichtig war und was von ihnen bleiben soll. Der Friedhof bietet »letzte Ruhestätten«, ist aber selbst nicht tot. Er ist ein lebendiger Ort.

Individualisierung

Und trotzdem wird der Friedhof von vielen gemieden. Wenn man bildlich gesprochen über Dutzende von Leichen wandert, so erinnern die Grabsteine zwangsläufig an die eigene Sterblichkeit – nicht jeder macht sich das gerne bewusst. Wir wissen, wovon wir reden, denn wir haben uns darauf Hunderte Male eingelassen.

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An zeitgenössischen Grabanlagen kann man den Toten auf Augenhöhe begegnen.

Auf dem Frankfurter Südfriedhof fing es an. An einem kühlen Septembertag im Jahr 2010 standen wir auf einem parkähnlich gehaltenen Friedhof am südlichen Stadtrand, im Schatten der Baumreihen und inmitten unzähliger Grabanlagen. Wir, die wir uns bis dahin kaum je auf Friedhöfen hatten blicken lassen, mussten schon nach wenigen Metern einsehen, dass Grab nicht gleich Grab ist. Unser ursprünglicher Ausgangspunkt als Soziologen war es, die gesellschaftliche Bedeutung des Friedhofs unter die Lupe zu nehmen. Dieser Plan wurde nun von der Faszination ergänzt, dass es Gräber und Inschriften gibt, die auf überraschende, erschreckende, ergreifende, skurrile, drastische, provokante, irritierende, aber auch humorvolle Weise von dem abwichen, was wir als »Mainstream« erwartet hatten. Wir kamen zum Südfriedhof, um uns inspirieren zu lassen – und als wir gingen, hatten wir ein Forschungsthema gefunden.

Einige Zeit zuvor hatte der eine von uns (Thorsten Benkel) an der Goethe-Universität in Frankfurt als Dozent ein Seminar zu dem eher unüblichen Themengebiet »Tod und Gesellschaft« angeboten, das der andere als Student besuchte. Ungewöhnlich viele Studierende nahmen an diesem Kurs teil, darunter eben auch Matthias Meitzler, der damals noch nicht ahnte, dass er später seine Magisterarbeit über Vergänglichkeit schreiben würde – und noch später die Hälfte seines Alltags auf Friedhöfen verbringen würde (inklusive Geburtstags»feier« auf dem Friedhof Buxtehude). Auch sein damaliger Dozent hatte noch keinen blassen Schimmer, dass der beiläufig gegebene Hinweis an die Studenten, auch der Friedhof sei vielleicht einmal einen Besuch wert, den Startschuss für intensive Feldforschungen geben würde.

Allein in Deutschland gibt es, fanden wir heraus, ungefähr 32.000 Friedhöfe, aber kaum soziologische Fachliteratur zum Thema. Sollte ausgerechnet der Umgang der Gesellschaft mit ihren Toten kein wissenschaftliches Thema sein? Wir begriffen das als Herausforderung. Mit der spontanen Idee, dem Südfriedhof einen Besuch abzustatten, kam der (Grab-)Stein ins Rollen. Vielleicht würden wir dort ja von der Muse der Wissenschaft überfallen (besser jedenfalls als von blutrünstigen Zombies) und würden von ihr, im Optimalfall, Ideen für eine kleine Publikation erhalten; fünf Seiten in einer Fachzeitschrift, das schien realistisch, und zwei oder drei Friedhofsbesuche würden gewiss ausreichen.

Mittlerweile haben wir über 500 Friedhöfe im deutschsprachigen Raum – von der Nordsee bis zu den Alpen – unter die Lupe genommen, und neben dem Buch, das Sie in Händen halten, noch zwei weitere zum Thema geschrieben, mehrere Aufsätze und Zeitschriftenartikel verfasst, Vorträge gehalten, Gespräche und Interviews geführt und zahlreiche Medienauftritte absolviert. Unsere Forschung reicht bei alldem über die Friedhofsmauer hinaus: Die gesamte Bandbreite des Feldes – sterben, trauern, Tod, Bestattung, Erinnerung – ist zum Gegenstand unseres Projektes geworden.

Interessierte Leser, die neugierig geworden sind, seien auf unsere anderen Veröffentlichungen hingewiesen; eine Liste befindet sich im Anhang. Für alle anderen soll an dieser Stelle kurz die zentrale Überlegung angesprochen werden, die der Bildersammlung in diesem Buch zugrunde liegt. Sie ist ein Erklärungsansatz dafür, weshalb manche Gräber heutzutage »anders« sind und aus der Tradition ausbrechen. Wir haben Tausende dieser Gräber ausfindig gemacht, und so unterschiedlich sie im Einzelnen auch sind, sie alle haben einen spezifischen Hintergrund. Es sind Grabstätten im Zeichen des sozialen Wandels; sie belegen, dass der Friedhof mittlerweile von der Individualisierung eingeholt worden ist.