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Simone Dorra

Das Haus des Friedens

Roman

Band I der Kashmir-Saga

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© 2017 Simone Dorra

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Umschlaggestaltung: Kai S. Dorra

Coverfoto: Napapat Kulsomboon/Shutterstock.com

Ornament: iStock.com/AnnaPoguliaeva

www.kashmirsaga.de

www.simonedorra.de

ISBN

Paperback: 978-3-7345-9718-3
e-Book: 978-3-7345-9719-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

»Wer mir einen Helden zeigt, dem zeige ich eine Tragödie.«

F. Scott Fitzgerald

Ingrid Zellner gewidmet – die mir am 30. April 2012 geschrieben hat, für sie sei diese Geschichte goldrichtig, und sie wollte sie irgendwann einmal komplett lesen.

Denn damit hat alles angefangen.

Vorwort

Kashmir hat mich fasziniert, seit ich Palast der Winde von M.M. Kaye gelesen habe. Die Autorin wurde in Indien geboren und hat mehrere Jahre auf einem Hausboot auf dem Dal-See in Kashmir gelebt. Als ich ihr berühmtes Buch zuerst in die Finger bekam, war ich vierzehn und auf der Stelle begeistert; diese Begeisterung hat bis heute nicht nachgelassen. Und als ich anfing, Das Haus des Friedens zu schreiben, begann ich auch zum ersten Mal, mich näher mit der Geschichte von Kashmir zu beschäftigen.

Wer einen Roman schreibt, der in Kashmir spielt, hat es nicht nur mit einem spektakulär schönen Tal zu tun, sondern auch mit einem Krisengebiet. Seit 1947, als Indien seine Unabhängigkeit erlangte und Pakistan entstand, liegt Kashmir an der Nahtstelle zwischen beiden Ländern, wurde von beiden Nationen besetzt und wird von beiden als Eigentum beansprucht. Eine von den Vereinten Nationen geplante und zugesicherte Abstimmung, in der die Kashmiris über ihre Unabhängigkeit entscheiden können, hat es nie gegeben.

Die insgesamt sieben Bände der von mir und Ingrid Zellner größtenteils gemeinsam verfassten Kashmir-Saga erstrecken sich über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren. Wir schreiben schon seit einiger Zeit an unseren jeweiligen Geschichten; der erste Band spielt im Jahr 2012, in dem ich ihn geschrieben habe, und die Erzählung in dem zweiten Band (von Ingrid Zellner) beginnt sogar bereits im Jahr 2009. Ein Gutteil der Kashmir-Saga in den weiteren fünf Büchern findet demnach zwangsläufig in der Zukunft statt. Wir haben keine Kristallkugel und wissen nicht, was in den nächsten dreißig Jahren in Kashmir geschehen wird. Deswegen haben wir uns nach gründlicher Überlegung entschieden, unsere Saga nicht allzu genau historisch zu »verorten«; sonst wären wir nämlich gezwungen, die Manuskripte bei jeder aktuellen Entwicklung anzupassen und umzuschreiben (wobei alle historischen Ereignisse, die vor 2012 stattfanden und in den Büchern erwähnt werden, natürlich unverändert bleiben).

Die Kashmir-Saga erzählt vom Dar-as-Salam (arabisch: Haus des Friedens), in dem ein ehemaliger indischer Geheimagent Waisenkinder aufnimmt, um ihnen ein neues, sicheres Zuhause und eine Zukunft zu schenken. Dieses Haus ist der Dreh- und Angelpunkt in sechs der sieben Romane, seine Bewohner sind die Helden der Geschichte. Dabei werden die Konflikte im Tal, die gewaltigen Probleme dort und die generelle Situation nicht ausgeblendet; sie bestimmen immer wieder entscheidend die Handlung der Bücher und das Leben der Menschen, die darin vorkommen. Wir haben weder zeitgeschichtliche Sachbücher noch politische Doku-Thriller geschrieben. Das konnten und wollten wir nicht. Aber wir haben die schwierige Lage Kashmirs keine Sekunde vergessen.

Vielleicht ist die Kashmir-Saga gewissermaßen trotz aller Dramen, die sich darin abspielen, wenigstens teilweise ein Märchen oder eine Utopie vom Frieden, den es so in dem hinreißend schönen Tal im Himalaya nicht gibt und noch lange nicht geben wird… ein Traum von dem Salaam, den die Menschen dort so unendlich nötig haben, und den wir ihnen von ganzem Herzen wünschen.

Simone Dorra

Vorspiel

Im Paradies

»Sameera… äh… Sullievahn

Die Dame am Einreiseschalter des Sheikh-ul-Alam-Flughafens in Srinagar trug einen himmelblauen Hijab und eine Kunststoffbrille in bunten Frühlingsfarben; sie studierte den Pass vor ihr wie ein geheimnisvolles Dokument voller rätselhafter Botschaften. Sameera stellte fest, dass sie das Passbild besonders genau unter die Lupe nahm. Vielleicht hätte sie statt des konservativen Kostüms beim Fotografen doch lieber einen Salwar Kameez oder einen Sari tragen sollen. Den Salwar Kameez trug sie jetzt, zusammen mit einer warmen Jacke und einem wollenen Kopftuch; im Gegensatz zu Delhi mit seinen fünfundzwanzig Grad war es in Kashmir im Februar verblüffend kalt.

Sie war sich überdeutlich der Tatsache bewusst, dass ihr Aussehen eigentlich nicht ganz zu ihrem Vornamen passte. Ihr Haar reichte nur bis knapp über die Schulterblätter und war nicht schwarz, sondern von einem rötlichen Kastanienbraun (genetisches Geschenk von Patrick Sullivan, ihrem Vater, gemeinsam mit der langen Nase und dem Grübchen im Kinn). Ihre Mutter – Bodhi – war klein und zierlich gewesen. Sameera war zu groß für ihre Anmut oder ihren puppenhaften Charme; dafür hatte sie ihr ovales Gesicht, ihre dunklen Augen und ihre Hände geerbt.

»Sullivan«, sagte sie freundlich. »Vater Ire, Mutter Inderin. Kein Wunder, dass Sie verwirrt sind. Manchmal bin ich das auch.«

»Sie haben ein Visum und eine Arbeitserlaubnis für ein Jahr, und Sie sind für Medical Relief Worldwide hier, Dr. Sullievahn?«, sagte die Dame. Sie hatte den Pass zugeklappt und ging methodisch den Stapel Papiere durch, die Sameera ihr gegeben hatte.

»Das ist richtig. Psychologische Betreuung und Trauma-Therapie«, sagte Sameera, die sich zunehmend vorkam wie in einem Examen. Jetzt wird sie mich gleich fragen, ob ich einen Übersetzer brauche, um mich mit meinen Patienten zu verständigen.

»Sie sprechen nur Englisch?« Ein kritischer Blick über den Rand der bunten Kunststoffbrille.

Bingo.

»Hindi und Urdu spreche ich auch«, erwiderte Sameera und wechselte rasch zur Sprache ihrer Kindheit. »Außerdem werde ich mir jemanden suchen, der mir Kashmiri beibringt. Möchten Sie sonst noch etwas wissen, Miss…« Sie suchte und fand das Namensschildchen auf dem Schalter. »… Miss Avapuri?«

»Nein, nichts. Das war’s.« Miss Avapuri lief rot an und knallte einen Stempel auf das oberste Dokument. »Ich wünsche Ihnen einen guten Aufenthalt in Kashmir.«

»Dankeschön.« Sameera sammelte ihre Unterlagen ein und verstaute sie in ihrer Umhängetasche. Sie zog den großen Trolley hinter sich her und erreichte ein paar Minuten später die riesige, helle Schalterhalle mit dem gewölbten Dach. Als sie die ersten Bilder des Flughafens gesehen hatte, war sie erstaunt gewesen – großzügige Fensterflächen, geschwungene Linien, runde Bögen und alles sehr modern. Absolut nicht das, was sie erwartet hatte.

Draußen vor dem Terminal entdeckte sie sofort den Mann mit dem großen Pappschild. Unter dem silbernen Logo von Medical Relief Worldwide stand ihr Name in knallroten Großbuchstaben. Ihr Ein-Personen-Empfangskomitee trug ebenso wie die kritische Miss Avapuri eine Brille, allerdings eckig und schwarz (was ihn aussehen ließ wie einen zerstreuten Professor). Er war mittelgroß und ein wenig rundlich; sein tiefdunkles Haar hatte er zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zurückgebunden. Als sie ihm erleichtert zuwinkte, strahlte er und winkte zurück.

Jetzt hatte sie ihn erreicht und wurde mit einem festen Händedruck begrüßt.

»Schön, dass Sie da sind, Dr. Sullivan«, sagte er. »Ich bin Prem Ghanand; wir werden im nächsten Jahr zusammenarbeiten. Soll ich Ihren Koffer nehmen?«

»Nicht nötig.« Sameera grinste. »Der hat Rollen. Aber für eine Dusche und eine Tasse Kaffee würde ich einen Mord begehen. Und für etwas zu essen auch.«

»In der Reihenfolge?« Ghanand grinste ebenfalls. Das Englisch, das er sprach, klang ausgesprochen britisch. Sameera tippte auf ein Studium in Oxford.

»Ich bringe Sie jetzt erst mal zu Ihrem Quartier«, sagte er, »damit Sie auspacken und sich frischmachen können. Ob ich einen Kaffee für Sie finde, weiß ich nicht, aber das mit dem Essen kriege ich schon hin – wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich mitesse.«

»Das ist sehr in Ordnung.« Sameera folgte ihm, während er einen Parkplatz überquerte und zielsicher auf einen Jeep zusteuerte, der genau wie ihr Begrüßungsschild das Logo von Medical Relief Worldwide trug.

»Heute kriegen Sie die große Tour durch das Hospital«, plauderte Ghanand, während er vom Parkplatz fuhr. »Sie werden bald reichlich zu tun haben – wir haben viele Patienten hier. Gut, dass Sie da sind.«

Sie schaute aus dem Fenster und sah die schneebedeckte Straße rasch an sich vorübergleiten. Kein Grund zur Nervosität. Dies hier war immerhin nicht ihr erster Einsatz in einem Krisengebiet.

Sie dachte an die Romane von M.M. Kaye, die in Shimla aufgewachsen war und sieben Jahre in einem Hausboot hier auf dem Dal-See gelebt hatte. Willkommen im Paradies, Sameera, sagte sie zu sich selbst. Und khuda hafiz.

Kapitel 1

Erste Schritte

»Dr. Sullivan«, sagte die Frau hinter dem Schreibtisch, »Sie sind ein Sonderfall. Aber das wissen Sie, oder?«

»Definieren Sie Sonderfall«, antwortete Sameera und trank einen Schluck Chai. Die Frau, die ihr gegenübersaß, trug das grau gesträhnte Haar zu einem strengen Knoten zurückfrisiert und war schon die dritte Person mit Brille, die ihr heute begegnete. Erstaunlicherweise leuchtete das Gestell in einem fröhlichen Tomatenrot. Ihr Salwar Kameez war dagegen blütenweiß und unter der rechten Schulter mit einem Metallschildchen versehen, auf dem DR. SHETTY zu lesen stand.

»Die Statuten von Medical Relief Worldwide besagen normalerweise, dass internationale Mitarbeiter im Therapiebereich bei Traumata und psychischen Störungen lediglich einheimische Kräfte beraten und unterstützen dürfen. Der direkte therapeutische Umgang mit Patienten ist eigentlich nicht gestattet.«

»Das ist mir bekannt«, sagte Sameera. »Normalerweise sind aber auch weder die nötigen Sprachkenntnisse noch der kulturelle Hintergrund vorhanden. Und das ist bei mir nun einmal anders.«

Sie stellte fest, dass sie drauf und dran war, sich für diese Tatsache zu entschuldigen – was daran liegen mochte, dass die Frau hinter dem Schreibtisch ganz offensichtlich Sonderfälle nicht schätzte.

»Die Tatsache, dass Sie Urdu und Hindi wie Ihre Muttersprache beherrschen, wird Ihnen außerdem Möglichkeiten eröffnen, die andere Mitarbeiter nicht haben«, fuhr Dr. Shetty fort. »Freundschaften sind üblich und unter den Kollegen sogar erwünscht, aber Sie sollten sich nicht über Gebühr engagieren.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Außerhalb der Klinik und des Personals sollten Sie Ihre Kontakte auf ein absolutes Minimum beschränken«, sagte Dr. Shetty in einem Ton, der so sanft war, als spräche sie mit einem begriffsstutzigen Kind. »Angesichts der Lage in Kashmir ist das einfach sicherer.«

»Das ist nicht mein erster Einsatz mit Medical Relief Worldwide«, konterte Sameera ebenso sanft. »Ich bin den Weg durch Minenfelder gewohnt.«

»Vorsicht ist ein Wort, das mir in diesem Zusammenhang gut gefällt, denn Minenfelder gibt es hier wirklich«, sagte Dr. Shetty. »Aber da Ihre Referenzen und die Empfehlungen den Zentrale ansonsten makellos sind, bin ich sehr froh, Sie hier zu haben. Sie werden therapieren, aber auch für Konsultationen der Kollegen zur Verfügung stehen und beratend tätig sein. Damit sind Sie doch sicher einverstanden?«

»Natürlich.« Sameera erhob sich von ihrem Stuhl und wurde mit einem festen Händedruck entlassen. Draußen wartete Prem auf sie und grinste, als er sie sah.

»Man kommt sich vor wie ein ungezogener Schüler, der nach einem Streich zur Direktorin zitiert wird, oder?«

»So ähnlich«, gab Sameera zu. »Aber sie ist eine sehr kompetente Frau. Und ich verstehe, dass sie sich absichern will und muss.«

»Klar.« Prem ging neben ihr den Gang hinunter. »Sie muss mit der allgemein sehr schlechten Lage im Gesundheitssystem von Kashmir zurechtkommen – zu wenige Gelder von der Regierung, schlecht ausgebildetes oder erst gar nicht vorhandenes Personal, viel zu wenige Fachärzte. Und trotzdem hält sie diese Klinik am Laufen und schafft es sogar, ausländische Hilfsorganisationen wie MeReWo ins Boot zu holen.«

Er warf ihr einen leicht verlegenen Seitenblick zu, als wollte er sich entschuldigen.

»Weißt du, viele politische… äh… Kräfte hier im Tal sehen es überhaupt nicht gerne, wenn sie von internationaler Seite allzu gründlich unter die Lupe genommen werden. Und Medical Relief Worldwide ist zwar nicht die UNO und hat mit deren Friedenssicherungseinsatz nicht das Geringste zu tun, aber die Ausländer, die dort arbeiten, werden, wenn es hart auf hart kommt, schon mal gern mit indischen Spitzeln in einen Topf geworfen. Von denen gibt es im Tal sowieso schon viel zu viele.«

Er wandte sich nach rechts und schloss eine Tür auf. Dahinter befand sich ein kleines, helles Büro mit einem Schreibtisch, einer Sitzgruppe und einem Kühlschrank in der Ecke.

»Das ist dein Sprechzimmer«, sagte er. »Hier hältst du deine Therapiestunden ab, berätst die Mitarbeiter und veranstaltest Meetings. Und an diesem Schreibtisch wirst du abends Berichte verfassen, bis du mit dem Kinn auf dein Keyboard fällst.«

»Was für herrliche Aussichten!« Sameera lachte.

»Mich berätst du übrigens auch«, sagte Prem und griff nach einem Aktenordner. »Die Fälle hier sind vor allem deswegen schwierig, weil das, was die seelischen Probleme in fünfundneunzig Prozent der Fälle verursacht hat, immer noch anhält. Das Tal ist und bleibt unruhig.«

Er schlug die Akte auf.

»Mustafa Ali Khan und seine Frau Zobeida«, las er. »Es ist drei Jahre her, da verschwand ihr achtjähriger Sohn Mahmoud spurlos. Der Vater wollte ihn von der Schule abholen, aber irgendwo zwischen Klassenzimmer und Schulhof hatte er sich in Luft aufgelöst. Die Polizei vermutet, dass man ihn für die Lashkar zwangsrekrutiert hat. Seither leidet vor allem die Mutter an zunehmenden Depressionen. Vor sechs Monaten hat sie das erste Mal versucht, sich umzubringen.«

»Kein Wunder.« Sameera schüttelte den Kopf. »Wie lange kommt sie schon zu dir?«

»Vier Monate«, sagte Prem. Er reichte ihr die Akte und sie setzte sich zum ersten Mal hinter den Schreibtisch. Am Deckblatt der Akte war mit einer Büroklammer ein Foto befestigt… ein hübscher Junge in Schuluniform, das Gesicht zu einem Grübchenlächeln verzogen. Überhaupt kein Wunder.

Sie fing an zu lesen.

***

Zwei Monate später betrat Sameera ihr Büro und holte eine Coladose aus dem Kühlschrank. Heute war definitiv nicht ihr Tag; sie fühlte sich reizbar und dünnhäutig, und Kopfschmerzen hatte sie obendrein. Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel halbfertiger Berichte; vielleicht waren die für das quälende Pochen hinter ihren Schläfen verantwortlich.

Prem hatte recht gehabt – es gab sehr viel zu tun. Die Tage waren mit Therapiesitzungen, Konsultationen und Meetings ausgefüllt. An den Wochenenden brachte ihr eine der jungen Krankenschwestern Kashmiri bei; sie hieß Divvya Kapoor, war immer gut gelaunt, sehr engagiert und lebte bei ihrer Mutter fünf Meilen außerhalb von Srinagar an der Straße nach Baramulla. Wenn Sameera nicht Vokabeln lernte und ihre Aussprache übte, vollendete sie die Berichte, die sie unter der Woche nicht mehr zustandebrachte oder machte mit einigen der heimischen Mitarbeiter kurze Ausflüge zu Sehenswürdigkeiten in der Nähe.

Die Landschaft hatte sich seit den Zeiten von M.M. Kaye nicht verändert, sie war so spektakulär schön wie eh und je; aber Stacheldraht, Maschinengewehre und ein endloser, zermürbender Krieg hatten eine Atmosphäre der Anspannung und Verzweiflung geschaffen, die noch schwerer abzuschütteln war als die Geschichten, die ihre Patienten ihr erzählten.

Zobeida Ali Khan war nicht die einzige Mutter, die das Verschwinden ihres Kindes um den Seelenfrieden brachte. Es gab Schuljungen, die auf dem Heimweg erst in eine Demonstration gerieten und dann verhaftet wurden, weil sie angeblich Steine geworfen hatten; der jüngste, von dem Sameera hörte, war gerade einmal neun. Es gab Mütter, die seit zwanzig Jahren auf ihre Ehemänner warteten, die für ein Verhör abgeholt worden waren und nie wiederkamen, und Töchter, die beim Anblick von Armeeuniformen aus gutem Grund in panische Starre verfielen. Zum Glück hatten fünfzehn Jahre Einsatz in Krisengebieten sie gelehrt, ihre Seele und ihr Herz weitestgehend gegen die Albträume anderer abzuschirmen; müde war sie trotzdem. Sie brauchte eine Pause.

Erst jetzt bemerkte sie das Mädchen, das auf ihrem Schreibtischstuhl saß. Sie hatte ein Blatt Papier vor sich liegen. Daneben stand ein Becher voller Buntstifte, und sie malte, die Stirn konzentriert gerunzelt und die Zunge im Mundwinkel.

»Hallo!«, sagte Sameera. »Wen haben wir denn hier?«

Der Kopf der Kleinen zuckte hoch. Ängstliche, schokoladendunkle Augen starrten sie an, und der Buntstift klapperte erst auf den Tisch und rollte dann auf den Boden.

»Hoppla!« Sameera bückte sich und hob den Stift auf. Die Kleine fixierte sie immer noch wie das Kaninchen die Schlange.

»Das ist Sameera«, sagte Divvya Kapoor, die in diesem Moment hereinkam. Und, an das Kind gewandt: »Schau mal – die Frau Doktor heißt genau wie du.«

»Ist das wahr?« Sameera lächelte. »Endlich ein Name, den ich mir ganz einfach merken kann!«

Noch kam kein Lächeln zurück, aber das Mädchen entspannte sich sichtlich. Divvya legte eine Liste auf den Schreibtisch.

»Das sind die Therapiepläne für nächste Woche«, sagte sie. »Und wunder dich nicht, dass du Besuch hast – ihr Taxi hat sich verspätet.«

»Ihr Taxi?«

Sameera nahm die Liste vom Tisch und warf gleichzeitig einen unauffälligen Blick auf die Zeichnung. Eine kugelrunde, gelbe Sonne am Himmel, darunter eine Wiese mit einer kunterbunten Vielfalt von Blumen und ein braunes Haus mit einer blauen Tür.

»Sie stammt aus einem Waisenheim eine halbe Stunde von hier. Es wird von einem Inder geleitet, der es erst vor zwei Jahren aufgemacht hat. Er bringt sie immer her und holt sie auch ab… aber es hat gestern eine Schießerei am Stadtrand gegeben. Wahrscheinlich ist er in einer Straßenkontrolle der Armee hängengeblieben. Das passiert immer wieder mal.«

»Vikram b-baba«, kam eine leise Stimme. »Im D-Dar-as-S-S-Salam. D-da w-wohn ich.«

»Da wohnst du?« Sameera deutete auf das Bild. »Sieht es da so aus?«

Die Kleine nickte.

»Das ist aber schön… und sogar der Name. Dar-as-Salam – Haus des Friedens. Ich glaube, dort würde es mir auch gefallen.« Sie warf Divvya einen neugierigen Blick zu. »Ein Inder, sagst du? Jemand, der nicht aus dem Tal stammt?«

»Ursprünglich kam er aus Delhi«, meinte Divvya. »Für das Militär. Aber das ist eine lange Geschichte, und keine sehr schöne, glaube ich – frag ihn besser nicht danach, wenn du ihn kennenlernst. Jedenfalls hat er vor knapp drei Jahren seinen Abschied genommen, kam her und kämpfte sich durch eine Flut von Anträgen. Er kaufte das Haus des Friedens – das damals nicht viel mehr war als eine Bruchbude – und brachte ein paar Leute dazu, ihm beim Renovieren zu helfen. Seit zwei Jahren nimmt er Kinder auf – zehn sind es bis jetzt. Er arbeitet eng mit der Klinik hier zusammen, und als er von dem Therapieprogramm von Medical Relief Worldwide hörte, hat er sofort einen seiner Schützlinge angemeldet.«

»Er hat aber keine pädagogische und psychologische Ausbildung, oder?«, sagte Sameera.

»Nein, die hat er nicht. Aber weißt du was? Für einen alten Ex-Soldaten macht er einen verdammt guten Job. Ich bin öfter am Wochenende dort, um kleine Wehwehchen zu behandeln – wenn ich nicht gerade halbindischen Ärztinnen beibringe, wie man Kashmiri spricht.« Divvya grinste.

Die Tür ging auf und vom Schreibtisch kam ein entzücktes Quietschen. »

Vikram baba! Da b-bist du ja – und D-Divvya r-redet gerade ü-über

d-dich!«

Ein amüsiertes, basstiefes Glucksen. »Hoffentlich komme ich gut weg dabei, mein Herzchen. Hallo, Divvya.«

Sameera drehte sich um und sah den Mann, der auf der Schwelle stand.

Sie schätzte ihn auf Anfang Fünfzig. Sein Haar war kurz geschnitten und grau meliert, ebenso wie der Vollbart, der die Wangen und einen Teil des Kinns freiließ. Der Körper war breitschultrig und so massiv gebaut wie der eines ehemaligen Boxers.Offenbar jemand, der sich zwar pflegte, dem es sonst aber ziemlich egal war, wie er aussah. Die Kleidung, die er trug, sprach jedenfalls dafür – ausgebeulte, abgewetzte Twillhosen, ein Hemd, das über den Bund hing und eine verblichene Jeansjacke. Um den Hals hatte er ein Baumwolltuch gebunden.

Die Augen unter den kräftig geschwungenen Brauen waren von einem durchsichtigen Lohbraun. Tiefe Falten kerbten sich in die Stirn und von den breiten Nasenflügeln hinunter bis zu dem Mund, der mehr Sensibilität verriet, als es diesem Mann vielleicht guttat. Was hatte er gesehen, das so schrecklich war, dass es ihn dazu trieb, den Dienst zu quittieren?

Sameera verspürte einen jähen Stich heftiger Neugier; unwillkürlich wandte sie den Blick für ein paar Sekunden ab, bis ihre Professionalität wieder fest an Ort und Stelle saß. Gleichzeitig rutschte das Mädchen neben ihr vom Schreibtischstuhl, rannte dem Mann entgegen und schlang ihm die Arme um die Mitte.

»Ich h-hab auf d-dich gewartet! W-wo warst d-du denn?«

»Straßensperre«, sagte der Mann. »Die Jungs sollten mein Gesicht inzwischen auswendig kennen, aber sie filzen mich fast jedes Mal.« Er fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. »Man könnte fast meinen, es macht ihnen Spaß.«

Er rückte sanft den Hijab zurecht, der bei der begeisterten Begrüßung auf dem Kopf des Kindes verrutscht war, dann blickte er auf und bemerkte zum ersten Mal, dass sich außer Divvya noch eine andere Frau im Raum befand.

»Entschuldigen Sie bitte – wir sind uns noch nicht begegnet, oder?«

Sameera streckte ihm die Hand entgegen. »Nein, aber das tun wir ja gerade. Hallo… ich bin Dr. Sullivan.«

»Vikram Sandeep.« Ihre Finger verschwanden buchstäblich in seiner großen Hand, während er sie einer blitzschnellen Musterung unterzog. »Amerikanerin?«

»Irin – wenigstens zur Hälfte. Mein Vater stammt aus Belfast. Und meine Mutter wurde in Ladakh geboren. Man könnte sagen, ich bin ein schwerer Fall von ZAS.«

»ZAS?« Er runzelte leicht verwirrt die Stirn.

»Zwischen allen Stühlen.«

Seine Augenbrauen zuckten überrascht nach oben, dann lächelte er. Das verwitterte Gesicht leuchtete auf und strahlte eine Wärme aus, die so unmittelbar und unwiderstehlich war wie ein loderndes Kaminfeuer. »Dann sind Sie in Kashmir absolut richtig – das geht uns hier allen so.«

Sameera zog die Hand zurück und fühlte sich zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten seltsam unsicher. Was zum Teufel war heute eigentlich los mit ihr?

»Ihre Kleine wird hier behandelt?«, hörte sie sich selbst fragen.

»Ja. Dr. Shetty beschäftigt in dieser Klinik eine sehr gute Logopädin.

Sameera hat in dem halben Jahr, seit sie regelmäßig herkommt, große Fortschritte gemacht. Als sie zu mir gebracht wurde, hat sie noch so stark gestottert, dass sie keinen verständlichen Satz herausbringen konnte.«

»Ist sie das einzige Kind in Ihrem Heim mit diesem Problem?«

»Probleme haben sie alle«, erwiderte Vikram Sandeep nüchtern, und die Wärme in seinem Gesicht erlosch. »Aber zum Glück bin ich nicht allein damit. Divvya hier« – und damit legte er kurz den Arm um die junge Krankenschwester – »verbringt viele ihrer freien Sonntage im Dar-as-Salam. Ich kenne ein paar Frauen in der Gegend; viele von ihnen geben hervorragende Teilzeit-Ersatzmütter ab. Es gibt noch andere, die saubermachen, unsere Wäsche waschen und den größten Teil des Essens kochen. Und manchmal koche ich sogar selbst – ich habe mir sagen lassen, mein Chicken Biryani wäre ziemlich essbar.«

»Ch-Chicken B-Biryani? K-Kochst du n-nachher für uns, Vikram b-baba?« Das war die kleine Sameera, die offenbar genug davon hatte, dass die Erwachsenen sich die ganze Zeit über ihren Kopf hinweg unterhielten.

»Heute nicht, Herzchen.« Sandeep schaute auf sie hinunter. »Keine Sorge, wir gehen gleich.«

Das Mädchen zupfte ihn am Ärmel seiner Jeansjacke.

»Ich h-heiße g-genau wie die F-Frau Doktor«, erklärte es ernsthaft.

»Ach was!« Die Augenbrauen schossen erneut nach oben. »Aber doch nicht Sullivan, oder?«

Die kleine Sameera kicherte, und die große musste an sich halten, um nicht dasselbe zu tun. Der Mann mochte herumlaufen wie ein ungemachtes Bett, aber er hatte eindeutig Charme.

»Ich heiße auch Sameera«, sagte sie, und dann, kurz entschlossen: »Ich würde mir Ihr Heim gerne einmal aus der Nähe ansehen. Wäre Ihnen das recht?«

Er betrachtete sie aufmerksam, und sie hatte das Gefühl, schon wieder gründlich unter die Lupe genommen zu werden.

»Keine schlechte Idee«, sagte er endlich. »Eins meiner Kinder kommt demnächst sowieso zu Ihnen. Divvya?«

»Ja, Vikram?«

»Bring Dr. Sullivan am Sonntag mit. Bis dann.«

Er ging hinaus, das Mädchen im Schlepptau. Sameera sah, wie die Kleine im Flur nach seiner Hand griff.

Das wird ein interessantes Wochenende, dachte sie.

Kapitel 2

Das Haus mit der blauen Tür

Der Sonntag kam. Sie fuhren in Divvyas uraltem Ambassador. Allerdings saß nicht Divvya am Steuer, sondern Hamid Mafous, der Hausmeister der Klinik; für Frauen war es im Tal allgemein sicherer, nicht allein unterwegs zu sein, sondern sich von einem Mann begleiten zu lassen. Das Auto hatte eindeutig schon bessere Tage gesehen und ging unter der Last, mit der es beladen war, gefährlich in die Knie.

»Was ist das denn alles, um Himmels willen?«, wollte Sameera wissen.

»Oh – ordentlich Obst und Gemüse für die Kinder und ein großer Kessel; der alte im Kinderheim ist nicht mehr zu gebrauchen. Dazu zwei neue Matratzen, die die Klinik gespendet hat…«

»… und die du so auf den Rücksitz geklemmt hast, dass Hamid im Rückspiegel wahrscheinlich überhaupt nichts mehr sieht. Hat das Heim eigentlich einen Anschluss an die Stromleitung?«

»Ja, aber der fällt immer wieder mal aus«, erklärte Hamid. »Deshalb hat sich Vikram einen Generator besorgt, und der funktioniert normalerweise. Allerdings nicht immer. Ich sehe übrigens trotzdem genug. Ich hab auch noch einen Seitenspiegel, weißt du.«

Sameera quetschte sich mit einem zweifelnden Blick auf das blockierte Heckfenster neben eine der Matratzen und schloss die Tür. Divvya ließ sich schwungvoll auf dem Beifahrersitz nieder; Hamid legte krachend den Gang ein und fuhr los.

»Hast du Dr. Shetty gesagt, wo du heute hin willst?«, erkundigte sich Divvya.

»Ja, sicher. Ich habe ihr erklärt, dass ich meine zukünftige Patientin in ihrem normalen Umfeld erleben möchte.« Sameera grinste. »Von unpassender Verbrüderung mit den Eingeborenen kann also wohl kaum die Rede sein.«

»Warte, bis du auf Kashmiri fluchen kannst – dann bist du von uns ›Eingeborenen‹ nicht mehr zu unterscheiden.« Divvya wandte sich zu ihr um. »Du würdest jetzt schon kaum noch auffallen.«

Der Wagen schlingerte nach rechts, und Sameera schloss die Augen. Offenbar betrachtete Hamid die Straße als sein Eigentum und andere Verkehrsteilnehmer als potentielle Gegner. Zehn Minuten später hatten sie die Stadtgrenze hinter sich gelassen, und Sameera wagte es endlich, sich ein ganz klein wenig zu entspannen. Keine Straßensperre heute, keine Soldaten, die mit vorgehaltener Waffe verlangten, ihre Papiere und den gesamten Wageninhalt zu sehen – das war ihr bisher zum Glück nur einmal passiert, bei ihrem einzigen längeren Ausflug mit Prem Ghanand nach Verinag. Und hoffentlich würden sie nicht um einen Baum gewickelt enden, noch ehe sie das Kinderheim erreicht hatten.

Tatsächlich kam das Dar-as-Salam eine knappe halbe Stunde später in Sicht. Es war ein großes, zweigeschossiges Holzgebäude in altem Stil, mit einem schrägen Schindeldach, einer schmalen Veranda und einem Balkon, der die gesamte Vorderfront einnahm und von reich geschnitzten Säulen gestützt wurde. Davor befand sich eine struppige Rasenfläche mit einem großen Gemüsebeet, und rechts von dem Haus ein kleiner Schuppen, der scheinbar aus jüngster Zeit stammte. Als Hamid Mafous den Wagen parkte und den Motor abstellte, waren aus diesem Schuppen abwechselnd kräftige Hammerschläge und ebenso kräftige Flüche zu hören, ausgestoßen von einer tiefen, gereizten Stimme.

»Wusste ich’s doch«, sagte Divvya in aller Gemütsruhe, öffnete die Tür und stieg aus. »Der Strom ist ausgefallen und der Generator spinnt mal wieder.«

Sie verfrachtete zwei riesige Körbe voller Lebensmittel ins Haus, dann kam sie zurück. Hamid zerrte eine der Matratzen aus dem Auto, Sameera und Divvya schleppten die zweite. Sameera ging einen langen Korridor hinunter und fand sich in einer Küche wieder. Es gab einen großen, wenn auch vorsintflutlichen Kühlschrank, eine Steinspüle, einen Gasherd und ein gewaltiges Buffet voller Metallschüsseln, -teller und -becher. Der Tisch war aus Holz, die Tischplatte offenbar schon unzählige Male geschrubbt worden; überhaupt wirkte alles so sauber, als würde regelmäßig mit Feuereifer geputzt. Nur Strom gab es im Moment ganz offensichtlich keinen. Und von den Kindern, die Vikram Sandeep hier betreute, war auch nichts zu sehen.

Sameera verließ die Küche und trat wieder hinaus ins Freie. Nach dem kühlen Dämmer des Hauses war es jenseits der Schwelle sehr hell. Sie musste blinzeln… und jetzt hörte sie die Kinder, auch wenn sie sie nicht sah. Sie beschirmte ihre Augen und sah den massiven Umriss des Mannes, der gebückt aus dem niedrigen Schuppen kam und versuchte, das Durcheinander aus lauten, aufgeregten Stimmen zu beschwichtigen, das ihn umgab.

»Nein, Zooni, das Kochen muss noch warten, ich brauche ein Ersatzteil für diesen verflixten Generator… Yussuf, lass los, meine Finger sind schmutzig… und Sameera, das hab ich gehört. Noch so ein Ding, und heute Abend ist der Nachtisch gestrichen.«

Die zweite Sameera konnte einfach nicht widerstehen. »Wieso, was hab ich denn gesagt?«

Schlagartig herrschte Stille. Die Sonne verschwand hinter einer Wolke und sie wurde von elf verblüfften Augenpaaren angestarrt. Eines davon gehörte Vikram Sandeep. Sein Haar war zerzaust, sein Hemd hatte einen langen Riss am Kragen und beide Hände waren schwarz von Schmieröl.

Vikram und Sameera lachten beide fast gleichzeitig.

»Das, ihr Räuber, ist Dr. Sameera Sullivan«, sagte er. »Ich hab sie für heute eingeladen, damit sie euch kennenlernen kann. Und das hier ist meine Bande. Divvya, kannst du mal mit dem Vorstellen anfangen? Ich muss mir unbedingt die Hände waschen.«

Er ging Richtung Haus, und Divvya wurde von sämtlichen Kindern umringt.

»Das hier ist unsere Sameera«, meinte sie, »die kennst du ja schon. Dies ist Zooni; sie ist zwölf Jahre alt und seit einem halben Jahr bei uns. Du wirst sie in Zukunft zweimal in der Woche in Srinagar sehen.«

Das Mädchen war hübsch, mit tiefschwarzen, dicken Zöpfen und Augen von einem sonnigen Honigbraun. Als Sameera sie anlächelte, kam ein winziges, schüchternes Lächeln zurück.

»Und hier sind Ahmad… Yussuf… Maryam… Zeenath… Ibrahim… Firouzé… Anjali…«

Die Namen rauschten an ihr vorbei, und sie versuchte, sie den jungen Gesichtern zuzuordnen. Die Kinder trugen ordentliche Kleidung, waren gut genährt und zeigten zwar eine gesunde Scheu, aber keine Angst… ein sehr gutes Zeichen.

»Und das hier ist Moussa.«

Ein dunkler Lockenschopf, ein schmales Gesicht und zusammengepresste Lippen, dazu ein Blick, der sie nur ganz kurz und flüchtig musterte, ehe er wieder abirrte. Die Unsicherheit und der Schrecken, die von ihm ausstrahlten, waren mit Händen zu greifen.

»Hallo, Moussa.«

Sie machte einen kleinen Schritt auf ihn zu; er wich sofort zurück. Sie überlegte kurz, dann ließ sie sich im Schneidersitz auf dem Rasen nieder und sah statt des Jungen Divvya an.

»Er kann mir ja später Guten Tag sagen, wenn er mag«, meinte sie lächelnd. »Bleibt das ganze Essen auch ohne Kühlschrank frisch?«

»Das Gemüse wird so schnell nicht schlecht«, meinte Divvya heiter. »Und eine der Frauen, die hier regelmäßig das Essen zubereitet und sauber macht, bringt gleich frisch geschlachtetes Lamm vorbei. Wir schneiden alles in der Küche klein, dann können wir den Kessel aus dem Auto aufsetzen und hier draußen an der frischen Luft Rogan Josh machen.«

Der Junge hielt sich halb hinter Divvya versteckt, aber er beobachtete Sameera verstohlen. Sie zog sich den Schal vom Kopf; es war ein überraschend warmer Tag für April, und ein paar Strähnen klebten ihr am Nacken. Die kleine Sameera wagte sich näher heran.

»In der Sonne sind deine Haare so rot wie Muawal«, sagte sie. »Warum hast du denn keine Zöpfe?«

»Das habe ich heute Morgen doch glatt vergessen«, meinte Sameera, suchte in der Tasche ihres Kameez und förderte zwei Haargummis zutage. »Magst du mir welche flechten?«

Es endete damit, dass ihre Namensvetterin ihr einen Zopf auf der linken Seite flocht, während Zooni dasselbe auf der anderen Seite tat. Damit war das Eis gebrochen, und als Vikram Sandeep gesäubert und umgezogen zurückkam, hockte der siebenjährige Yussuf auf Sameeras Schoß und alles schwatzte und lachte durcheinander… abgesehen von Moussa, der immer noch Abstand hielt. Hamid war bald nach ihrer Ankunft im Schuppen verschwunden, um dem streikenden Generator zu Leibe zu rücken.

»Zuleema müsste gleich mit dem Lamm hier sein«, meinte Divvya, an Vikram gewandt. »Du kannst ja mit Sameera in der Küche das Gemüse schneiden, während ich die Feuerstelle aufbaue und schon mal das Fleisch anbrate.«

»So bossy ist sie ständig.« Vikram grinste. »Kein Wunder, dass sämtliche jungen Männer im Großraum von Srinagar Angst vor ihr haben. Wieso darf ich kein Feuer machen?«

»Weil du der Frau Doktor ganz bestimmt das eine oder andere über ihre zukünftigen Patienten zu erzählen hast, und wenn die inzwischen was anzünden dürfen, dann sind sie dabei nicht im Weg«, sagte Divvya trocken.

Offenbar lag sie ganz richtig; die Kinder waren davongestürmt und schleppten jetzt ganze Arme voll Feuerholz heran. Also saß Sameera ein paar Minuten später mit Vikram Sandeep an dem Tisch in der Küche und würfelte Tomaten, während er Cashewnüsse kleinhackte.

»Man sieht, dass es Ihren Kindern gutgeht«, sagte sie. »Sie fühlen sich hier zuhause.«

»Das hoffe ich.« Er schenkte ihr ein halbes Lächeln. »Meine erste Zeit im Dar-as-Salam war ein kompletter Blindflug. Mittlerweile habe ich viele Helfer und weiß weit besser, was ich tue.«

»Was ist mit Moussa?«, fragte sie. »Die anderen sind zugänglich, aber der Junge macht den Mund nicht auf.«

»Kein Wunder«, antwortete Vikram, »weil er gar nicht spricht. Ich kümmere mich jetzt seit fast einem Jahr um ihn, und solange ich ihn kenne, hat er noch nicht ein Wort gesagt.«

Sameera starrte ihn verblüfft an. »Wissen Sie, warum er stumm ist? Haben Sie untersuchen lassen, ob eine physische Ursache vorliegt?«

Vikram fegte die kleingehackten Nüsse mit einer ungeduldigen Handbewegung in die Schüssel. »Natürlich. Körperlich ist alles in Ordnung. Es muss etwas anderes sein – er war zuerst in einer Klinik in Baramulla untergebracht, aber dort ist er ständig durchgedreht.«

»Durchgedreht? Wie meinen Sie das?«

»Er hat um sich geschlagen, die Pfleger und Schwestern gebissen – solche Sachen. Die Krankenhausleitung war drauf und dran, Moussa in eine Anstalt einzuweisen, aber glücklicherweise wusste eine der Ärztinnen dort von meinem Heim. Sie rief mich an und ich kam, um mir den Jungen anzusehen. Ich fragte ihn, ob er mitkommen wollte in das Dar-as-Salam, und aus einem Grund, den ich bis heute nicht begreife, stieg er so friedlich wie ein Lamm in meinen Wagen. Ich denke, er war einfach erleichtert, die Klinik hinter sich zu lassen.«

»Angst vor Ärzten… oder davor, eingesperrt zu sein?«, fragte Sameera.

»Letzteres, würde ich sagen«, erwiderte Vikram. »In der ersten Zeit hier konnte er keine verschlossene Tür ertragen, und bei plötzlichen, lauten Geräuschen verkroch er sich in irgendeinem dunklen Winkel und kam stundenlang nicht mehr heraus.«

Sein Gesicht verdunkelte sich. Sie hatte sehr wohl gemerkt, dass ihm ihre erste Frage nach dem Grund für Moussas Schweigen gegen den Strich ging, aber offenbar rührte die Geschichte des Jungen bei ihm generell an irgendeinen wunden Punkt.

»Wie kommt er mit den anderen Kindern zurecht?«, fragte sie.

»Er bleibt für sich«, sagte Vikram. »Inzwischen isst er zwar mit den anderen, aber spielen tut er nach wie vor allein. Das heißt, wenn er spielt. Meistens hat er die Nase in einem Buch.«

»Das heißt, er war zumindest lang genug in der Schule, um lesen zu lernen. Wie alt ist Moussa?«

»Er war geschätzte zehn, als er zu mir kam. Die vom Krankenhaus in Baramulla haben ihn aufgelesen, als er den Müll nach etwas Essbarem durchwühlt hat. Er war total ausgemergelt und verwildert.«

»Dann haben Sie schon einiges erreicht«, meinte Sameera sanft. »Er braucht einen Ort, der ihm Sicherheit gibt, und den hat er gefunden, glaube ich.« Sie hielt seinen Blick fest. Ich bin nicht der Feind, sagten ihre Augen. Ich komme, um zu helfen.

»Ich gebe mir Mühe.« Vikram holte einen Mörser aus dem Regal, warf eine Handvoll Kardamomkapseln hinein und fing an, sie zu zerstoßen. Der Geruch stieg auf wie eine Wolke… eine berauschende Aromen-Mischung aus Anis, Muskat und Pfeffer, üppig und wunderbar. Sameera atmete tief ein und lächelte.

»Meine Mutter liebte Kardamom«, sagte sie. »Unser ganzes Haus roch danach, wenn sie kochte. Meine Freundinnen in Dublin fanden ihre Currys furchtbar exotisch… genau wie ihre Buddha-Statue.«

Vikram schaute auf. »Ich dachte, Sie kommen aus Belfast.«

»Mein Vater wurde in Belfast geboren. Er studierte in Dublin Medizin und begegnete meiner Mutter dort zum ersten Mal.«

»Und wie kommt eine Frau aus Ladakh nach Dublin?«

»Anfang 1970 wurde in der Hauptstadt von Ladakh ein Elektrizitätswerk gebaut, und man holte sich ausländische Ingenieure zu Hilfe. Einer davon war Martin O’Keefe aus Irland, der damals meinen Großvater kennenlernte, Hari Sankoo. Er war für die Überwachung der Baumaßnahmen zuständig, und die beiden wurden gute Freunde. Haris Tochter Bodhi sollte die freie Wahl haben, was sie mit ihrem Leben anfing; sie wollte unbedingt etwas von der Welt sehen. Und als sie sich entschied, Medizin zu studieren, bemühte sich Onkel Martin für sie um einen Platz am Trinity College. Während des gesamten Studiums wohnte sie in seinem Haus und blieb für ihn immer so etwas wie eine Adoptivtochter; er wurde später mein Taufpate.«

»Leben Ihre Eltern noch?«

»Nein.« Sameera nahm eine Handvoll Chilischoten aus der Schale neben sich. Sie schlitzte sie der Länge nach auf, entfernte die Häutchen und schabte die winzigen Kerne heraus. Sie merkte, dass Vikram ihr auf die Hände sah. Als sie aufblickte, zuckte es um seine Mundwinkel.

»Angst vor zuviel Schärfe?«, fragte er.

»Ich liebe den Geschmack«, meinte sie, »aber dabei muss ich mir nicht unbedingt den Gaumen versengen. Meinen Sie, es sind genug Tomaten, oder brauchen wir noch mehr?«

»Ich gehe Divvya fragen.« Er verschwand nach draußen.

Sameera wusch das Schneidebrett ab – mit der Wasserleitung gab es offenbar kein Problem – und schrubbte sich mit einem Stück Seife den Chilisaft von den Fingern. Das verschlossene, furchtsame Gesicht von Moussa ging ihr nicht aus dem Kopf. Wo mochten seine Eltern sein – hatte ihr Tod ihn verstummen lassen?

Ihre Gedanken wanderten zu dem Mann, der ihr bis eben gegenübergesessen hatte. Vikram Sandeep kam ihr vor wie ein kompliziertes Puzzle… eines, das aus so vielen Teilen bestand, dass es unmöglich war, sie zusammenzusetzen. Manchmal war er offen, zugänglich und vollkommen entspannt – aber sie wusste, dass sie heute mindestens einmal einen Punkt berührt hatte, der wehtat. Er war in Abwehrstellung gegangen… und das konnte sie nicht riskieren, wenn sie mit ihm zusammenarbeiten und seinen Kindern helfen wollte.

Vielleicht braucht er ja auch Hilfe, dachte sie. Und wieder kam ihr die Frage in den Sinn, wieso er wohl seinen Dienst bei der indischen Armee quittiert hatte. –––

Der Tag verging wie im Flug. Noch bevor das Rogan Josh richtig im Kessel kochte, lief der Generator wieder; außerdem meldete Hamid triumphierend, dass die defekte Überlandleitung, die für den Stromausfall verantwortlich war, spätestens Montag früh repariert sein würde.

Die Kinder spielten mit Hamid und Vikram auf dem Rasen Fußball. Sameera überprüfte die Vorräte in den Schränken und beschloss, Payasam zu machen. Inzwischen hatte sie auch Zuleema kennengelernt, die das Lammfleisch gebracht hatte und dazu einen Stapel selbstgebackener Chapatis. Sie stellte sich als alte, aber überaus rüstige Frau mit lachenden Vogelaugen und faltigem Großmuttergesicht heraus, die sich wortreich über diese Frau Doktor wunderte, die zwar Englisch sprach, aber doch keine richtige angrezi war.

Als Vikram gegen sechs hereinkam, um mitzuteilen, dass das Rogan Josh fertig sei, roch die ganze Küche nach Rosinen, süßen Milchnudeln und Gewürzen, und er platzte mitten in eine hitzige Lektion darüber, dass eine Frau wie Sameera in ihrem Alter längst einen guten Mann und mindestens vier stramme Söhne haben sollte.

»Stell dir vor, sie ist doch tatsächlich unverheiratet!«, krähte Zuleema empört und stieß den Rührlöffel wie bei einem Ausfall mit dem Degen in seine Richtung. »Das kommt davon, dass man ihre Mutter aus den Bergen in fremde Länder geschickt hat. Aber du bist ja auch nicht besser, beta… vielleicht solltest du sie nehmen. Immerhin kann sie kochen!«

»Ich denk drüber nach«, sagte Vikram grinsend.

»Wenn ich meine Urgroßmutter Tashi wäre, würden Sie allein mir vielleicht gar nicht reichen«, warf Sameera ein; ihre Augen funkelten vor Mutwillen. »Sie war die Tochter eines Hirten, der im Grenzgebiet zu Tibet Kashmirziegen hütete, und sie hat gleich zwei Männer geheiratet. Einen für die Herde, einen für die Jurte soll sie immer gesagt haben.«

Zuleema stieß ein entsetztes Schnauben aus und warf beide Hände in die Luft. Vikram wandte sich hastig ab, täuschte einen Hustenanfall vor und hob den Deckel vom Topf. »Was ist das?«

»Payasam«, sagte Sameera. »Ich dachte, ich sollte für einen Nachtisch sorgen, damit Sie tatsächlich etwas haben, das Sie meiner Namensvetterin streichen können. Reine pädagogische Schützenhilfe.«

»Aha.« Ihre Augen trafen sich. »Sie hören aber genau zu.«

Da war sie wieder – die instinktive Vorsicht und Abwehr in seinen Augen. Ein alter, erfahrener Krieger, der einen Verbündeten suchte und doch einen Gegner witterte.

»Sie doch auch«, sagte Sameera gelassen. »Ich habe Ihnen vor fünf Tagen in einem einzigen Halbsatz gesagt, dass mein Vater aus Belfast stammt und meine Mutter aus Ladakh, und vorhin haben Sie mich darauf angesprochen.«

»Fünfundzwanzig Jahre Training«, antwortete Vikram; er betrachtete sie, als versuchte er jetzt seinerseits, ihr Bild wie ein kompliziertes Puzzle zusammenzusetzen. »Man lernt, sich bestimmte Dinge zu merken. Reine Überlebensstrategie.«

»Bei mir ist es eine Berufskrankheit. Irgendwann müssen Sie mir mal erzählen, wofür genau Sie diese Strategie gebraucht haben.« Sie holte eine große Schüssel aus dem Schrank und fing an, das heiße Payasam hinein zu füllen. »Aber nicht jetzt. Jetzt habe ich Hunger.«

»Ich auch.« Die Spannung wich aus den breiten Schultern und aus dem wachsamen, müden Gesicht mit den Löwenaugen. »Ich soll Schüsseln, Becher und Löffel mitbringen. Wenn wir einen Korb nehmen, müssen wir nicht so oft laufen.« –––

Es waren insgesamt fünfzehn Menschen, die im Dar-as-Salam gemeinsam unter freiem Himmel aßen, und für Sameera blieb dieser Abend aus vielerlei Gründen unvergesslich. Abgesehen davon, dass das in einem Kessel über offenem Feuer gekochte Rogan Josh vielleicht das beste war, das sie je bekommen hatte und dass die Erwachsenen sich über den unerwarteten Nachtisch mindestens ebenso freuten wie die Kinder, wirkte die ganze Stimmung wie die bei einem spontanen, mit großer Freude improvisierten Fest.

Sie saß im Schneidersitz auf einer Decke und wischte mit einem Chapati den Rest der würzigen Sauce aus ihrem Teller. Sie verteilte das Payasam und lauschte mit den anderen, wie Hamid Mafous mit überraschend schöner Singstimme erst Filmsongs, dann Volkslieder aus Kashmir zum Besten gab.

Inzwischen war es fast dunkel. Divvya legte die letzten Holzscheite auf die Feuerstelle und schürte die Glut noch einmal. Es wurde dringend Zeit, aufzubrechen, und Sameera stellte fest, dass sie am liebsten noch geblieben wäre. So entspannt und im Reinen mit sich selbst hatte sie sich schon seit Wochen nicht mehr gefühlt. Yussuf war wieder auf ihrem Schoß gelandet und dort eingedöst; er hatte noch den Daumen im Mund. Plötzlich beugte sich jemand über sie.

»Ich bring ihn ins Bett«, sagte Vikram leise und hob das warme Gewicht des Kindes aus ihren Armen. »Das war ein guter Tag, Dr. Sullivan – kommen Sie bald wieder.«

»Mach ich«, antwortete Sameera. »Ganz sicher.«

Hamid setzte Divvya auf der Heimfahrt zuhause ab und nahm Sameera mit nach Srinagar; eine knappe Stunde später war sie in ihrem Zimmer. Sie legte sich schlafen, den Geruch nach Gewürzen und Holzrauch noch in Haaren und Kleidung. Als sie die Augen schloss, sah sie den hochgewachsenen, bärtigen Mann vor sich, der den schlafenden Jungen behutsam an sich drückte und ins Haus trug.

Sankt Christophorus, dachte sie und musste unwillkürlich lächeln.

Kapitel 3

Hausbesuche

»Und Sie sind sicher, dass man das Kind nicht zur Therapie hierher bringen kann?«

Sameera befand sich im Büro von Dr. Shetty, erfüllt von dem eindeutigen Gefühl, sich in die Nesseln gesetzt zu haben.

»Ich habe mich bei den Ärzten der Klinik in Baramulla erkundigt – Moussa hat eine schwere Phobie vor fremden, verschlossenen Räumen und verfällt bei Menschen, die er nicht kennt, unmittelbar in Panik. Wenn ich seine Sprachblockade lösen und herausfinden will, wieso er sich so sehr fürchtet, werde ich das nicht hier tun können; ich muss dort mit ihm reden, wo er sich sicher fühlt.«

»Also müssen Sie hinausfahren zu diesem Kinderheim.«

»Muss ich wohl, ja.«

Dr. Shetty fingerte nervös an ihrer tomatenroten Brille herum. »Und das heißt auch, dass Sie die Regeln für internationale Mitarbeiter ad absurdum führen – wieder einmal.«

»Tut mir leid, dass ich Ihnen Ärger mache.« Sameera seufzte. »Wenn Sie darauf bestehen, kann ein einheimischer Therapeut Moussas Fall übernehmen.«

»Die sind mehr als ausgelastet, Dr. Sullivan. Deshalb haben wir Sie doch hergeholt.«

»Ich weiß.« Sameera beugte sich vor. »Ich könnte die Gespräche mit Moussa auf das Wochenende legen und stünde dadurch der Klinik die Woche über vollständig zur Verfügung.«

»Wie stellen Sie sich das mit der Fahrt vor? Ich kann Sie nicht allein in der Gegend herumkutschieren lassen – Sie kennen die Statistiken.«

Sameera kannte sie nur zu gut. Mehr als jede zehnte Frau in Kashmir wurde mehr als einmal in ihrem Leben sexuell massiv belästigt.

»Divvya Kapoor würde mich jeden Sonntagmorgen gemeinsam mit Hamid Mafous abholen – sie ist an den Wochenenden sowieso oft dort. Und abends würde mindestens ein Ehemann der Frauen, die Sandeep sahab unterstützen, so lange bleiben, bis der mich nach Srinagar gefahren hat und wieder zurück ist.«

»Sie haben das Ganze ja schon generalstabsmäßig geplant.« Das war deutlich mehr als nur ein Hauch von Ironie.

»Ich habe Ihnen schon gesagt, dass ich den Weg durch Minenfelder gewohnt bin«, konterte Sameera. »Und ich möchte vor allem eines: dem Jungen helfen.«

»Das glaube ich Ihnen.« Dr. Shetty warf ihr einen scharfen Blick zu. »Ich möchte nur, dass Sie sich darüber im Klaren sind, dass Sie als Ausländerin – noch dazu eine mit familiären Wurzeln in Ladakh – ganz genau beobachtet werden. Und dass Sie hier nur ein Gastspiel geben. Sie können weder Wunder bewirken noch die Welt verändern.«

»Das ist mir klar. Kann ich Sandeep sahab sagen, dass er mich nächsten Sonntag erwarten soll?«