1.  

Der lange Weg nach Tlalocán

 

»Dann sagen Sie ihnen alles, Willard,

alles was ich getan habe...«

Apocalypse Now

 

Majestätischer konnte man den Tag nicht beginnen. Es war zwölf Uhr mittags, und am Tresen standen nur die fanatischsten Getreuen des Centenario: Der Polizeifahnder Gaspar mit den ausgemergelten Wangen, dem Günter-Netzer-Schnitt und der Kellerporno-Brille; Humberto der Ex-Ringer, der jeden Gast aufgekratzt an seinen Brustkasten quetschte und mit »Monsieur, welch große Ehre!« anredete; der kleinwüchsige Makler Pepe del Díaz, der in seinem gemütlichen, nordmexikanischen Dialekt am liebsten von den Schlägereien seiner Jugend erzählte und jeden einzelnen Leberhaken liebevoll detailliert nachstellte. Sie alle waren Menschen, die sich eher die Hand hätten abhacken lassen, als auch nur eine Stunde von den Öffnungszeiten des Centenario zu verpassen. Ich setzte mich an einen freien Tisch, zündete mir ein Zigarette an und pustete den Rauch zur Decke hoch, wo er sich mit der Qualmwolke vereinigte, die die anderen Gäste seit Stunden produzierten.

»W-w-was t-trinkst du?«, fragte der Geschäftsführer des Centenario. Sein Indianergesicht war wie immer lila angelaufen, die Augen von einer Schilddrüsenkrankheit aus den Höhlen getrieben. Vom Geschäftsführer desCentenario war bekannt, dass er keine – wie auch immer gearteten – Fähigkeiten besaß und sich in seine Position vermutlich hochgesoffen hatte. Normalerweise stand er in einem abgetragenen Anzug neben der Bar und kontrollierte die Kasse, doch heute hatten die Gäste die Ehre, von ihm persönlich bedient zu werden. Ich warf einen Blick auf die Preistafel an der Wand. Mit Steckbuchstaben stand da D-m-cq S-l-ra 30$ und C----s R-ga- 45$, was irgendwann einmal Domecq Solera und Chivas Regal geheißen haben mochte, aber so raffinierte Spirituosen bestellte im Centenario schon lange niemand mehr. Ich entschied mich für einen »Bull« – ein Glas Bier mit einem Schuss Irgendwas, je nach Gusto des Barkeepers Zuckerrohrschnaps, Tequila, Rum, Brandy oder Anis, oft auch alles zusammen kombiniert.

»B-B-BULL!«, schrie der Geschäftsführer in Richtung Bar. Binnen Sekunden stand der Bull auf meinem Tisch, ich nippte am Glas und bekam eine Gänsehaut: Der Barkeeper war ein Freund der Kombination.

Zur Mittagszeit herrschte im Centenario eine ganz besondere Atmosphäre: Das leise Klirren der Gläser, die Gedämpftheit der Geräusche, das intime Flüstern der Gäste – alles hatte etwas Unschuldiges, Jungfräuliches, Morgendliches. Außer den Trinkern am Tresen versammelten sich mittags vor allem Menschen, die sich durch Höflichkeit und Ruhe auszeichneten: Politiker aus den umliegenden Ministerien, die Dominosteine auf die Tische klopften und sich einander mit zuvorkommender, fast tuntiger Zärtlichkeit behandelten. Geschäftsmänner mit altmodischen Anzügen, die unter den Tischen die Händchen ihrer Sekretärinnen hielten und mit ihnen Cuba Libres und Brandy Colas vertilgten. Journalisten der angrenzenden Verlagshäuser, die das Weltgeschehen erörterten und sich beim Sprechen gegenseitig den Vortritt ließen. Liebenswürdigkeit, Eintracht und Streicheleinheiten, wohin man blickte... Und was das Bild des Friedens krönte: All diese Menschen tranken. Jeder hatte hochprozentige Gemische vor sich stehen, und jeder wirkte entschlossen, die nächsten Stunden stetig nachzubestellen.

Während ich knappe Schlucke von meinem »Bull« nahm, dachte ich an die grauenvolle Woche, die ich einmal in San Antonio, Texas, verbringen hatte müssen. Schon in der ersten Nacht hatte ich einen Kulturschock erlitten: In San Antonio trank niemand, egal zu welcher Uhrzeit und an welchem Wochentag. Ich klapperte dort jedes Pub, jede Bar und jedes Ale-House ab, doch nirgendwo saß ein Mensch, der einem beim Trinken Gesellschaft geleistet hätte. Nach zwei Tagen war ich so verzweifelt, dass ich schon das Telefonbuch auf der Suche nach Zechkumpanen durchblätterte und kurz davor stand, mir unbekannte Bürger wie Biersack Robert (Timberwild Drive 1001), Saufwein Ginna (Montford Road 622) oder Trinklein Timothy (Settler’s Valley 2883) anzurufen, um sie zu einer Kneipentour zu beschwatzen.

Mexiko dagegen wimmelte von Männern und Frauen, die ein klares, deutliches Ja zur Sucht sprachen. Die befreiende Heiterkeit, mit der in den Cantinas die Mittagspausen angegangen wurden, gab jedem Tag ein Urlaubsflair. Sicher, gegen Abend wandelte sich die Atmosphäre: Konflikte kochten hoch, die Handlungen der Gäste entgleisten und die Gesichter ähnelten immer mehr den Fratzen eines Höllensturzes von Pieter Breughel. Doch in den Mittagspausen waren Cantinas wie der Centenario ein Ort tantrischer Ruhe.

Zugegeben: Vielleicht waren all die anwesenden Politiker korrupte Ausbeuter, die das Land molken und sich mit schmutzigen Tricks auf den Thron gehievt hatten, vielleicht waren all die Geschäftsmänner unfähige Betrüger, die nur durch Nepotismus ihre Posten ergattert hatten. Aber andererseits: Waren wir wirklich fähiger und rechtschaffener? Befummelten wir nicht irgendwelche Mätressen in roten Bums-Kostümchen, unter denen sich Fettschwarten abzeichneten, kurz nachdem wir unsere Freundinnen mit denselben Phrasen von ewigwährender Liebe ruhiggestellt hatten, die Luis Miguel gerade aus der Musikbox sang? Es war der Waffenstillstand zwischen uns und dem Schmutz des Lebens, der den Centenario mittags so kostbar machte. Mittags im Centenario zu sitzen – das bedeutete das größtmögliche Einverständnis mit der Welt.

Diese Wurstigkeit, die man hier spürte, war im selben Maß schon bei den Azteken und ihrer Jenseitsvorstellung zu finden. Die Bevölkerung von Tenochtitlán glaubte an drei verschiedene Bereiche für die Seelen der Toten. Die Zugangsberechtigung entschied sich dabei nicht durch das Verhalten im Leben, sondern allein durch die Todesart: Das Gros der Menschen siedelte nach dem Tod in eine obskure, ereignislose Geisterwelt über, in der man sein Dasein als Schatten fristete. Die Menschen, die a) im Krieg fielen, b) vom Gegner geopfert wurden oder c) als Spione starben, durften mit dem Gott Tezcatlipoca um die Sonne kreisen – ein ebenso elitäres wie langweiliges Vergnügen. Das wirkliche Paradies dagegen war das Unterweltreich Tlalocán, das der Regengott Tlaloc verwaltete. Es winkte denen, die am flüssigen Medium zugrunde gingen: Ertrunkene, vom Blitz Erschlagene und, so durfte man ergänzen, die Trinker des Centenario.

Bei diesem Gedanken bestellte ich einen neuen Bull. Schwer vorstellbar, dass es während meines Aufenthalts in Mexiko einmal eine Zeit ohne den Centenario gegeben hatte. Und doch war das der Fall gewesen. Es hatte Monate gegeben – Monate der Düsternis! –, in denen ich vom Centenario noch nicht einmal etwas geahnt hatte. Auf diese bitteren Monate war eine Periode gefolgt, in der ich zwar schon von seiner Existenz wusste, aber noch nicht reif für die Mitgliedschaft war. Denn das Recht auf den Centenario musste erkämpft werden! Man musste sich freimachen von all den Mächten, die einen vom Centenario abhalten wollten! Man musste die vielfältigen Fallstricke zerhacken, die auf dem Weg zum Centenario auslagen! Man musste die Ketten sprengen, die einen wie in Platons Höhlengleichnis in einer Scheinwelt festhielten, in der der Centenario nicht die Hauptrolle spielte. Da gab es soziale Zirkel – hier schnaubte ich unwillig auf –, die alles verabscheuten, wofür der Centenario stand! Da existierten Institutionen wie die Universität, das Deutsche Konsulat oder der Deutsche Akademische Austauschdienst, die einem Leben im Centenario diametral entgegenstanden! Da lauerten alle Arten von verrückten Egozentrikern, die durchsetzen wollten, dass man IHNEN und nicht dem Centenariohuldigte. Mit aller Sachlichkeit durfte ich sagen, dass ich mir den Weg in den Centenario Schlacht um Schlacht erfochten hatte. Wie zur Siegesfeier brachte mir der Geschäftsführer den neuen Bull, und mit dem überschwappenden Schaum malte ich gekreuzte Säbel und die Daten der Siege auf den Tisch:

10. Juni 1998: Die Schlacht bei Mirtila, die früheste Proklamation meiner Unabhängigkeit, das Fanal für weitere Feldzüge! Mirtila war das bisexuelle Mädchen, bei dem ich die ersten drei Monate nach meiner Ankunft zur Untermiete gewohnt hatte. Mirtila besaß ein kleines Häuschen in Fovissste, einem Viertel am äußersten Südrand der Stadt, das ihren verstorbenen Eltern gehört hatte. Fovissste hörte sich an wie »Bovist« und hatte denselben Charme. Hauptsächlich wohnten dort kleinbürgerliche Bauspar-Lemuren, die nach Einbruch der Dunkelheit keinen Schritt mehr vor ihr umzäuntes Wohn-Silo machten. Die Woche nach meiner Ankunft wurden in Fovissstes Hauptstraße sieben Passanten in Taxis ermordet, deren Fahrer mit den Banden der angrenzenden Slums zusammenarbeiteten. Die nächste Bar lag Kilometer von Fovissste entfernt, deshalb versammelte Mirtila ihre Freunde immer bei sich zuhause. Es waren bemerkenswerte Menschen, denn niemals zuvor hatte ich so kristalline Verlierer gesehen: Sie alle hatten Studienabschlüsse, sie alle stammten aus sogenannten kleinen Verhältnissen, sie alle saßen finanziell in der Tinte. Zuerst dachte ich noch, dass ihre traurige Lage der Ungerechtigkeit eines Drittwelt-Landes zuzuschreiben sei. Doch bald änderte ich meine Meinung: Es war unmöglich, diese Leute irgendwo einzustellen, weil sie verbitterte Furien waren, die jede halbwegs solidarische Gemeinschaft aufrollten wie einen Schützengraben. Die Umtrünke in Mirtilas Haus mündeten nach einer Phase überspannter Fröhlichkeit stets in Tränen und spielten sich immer nach folgendem Schema ab:

 

Ort: Mirtilas Haus.

Personen:

Mirtila: Dünne, maskuline Mexikanerin mit Männerbrille und Ess-Störungen.

Carmelia: Dicke Indianerin mit Mandelaugen und großem Kopf.

Agata: Weiße, deutschstämmige Mexikanerin mit Tränensäcken und Sorgenfalten.

Richy: Dünner, blasser Mestize mit melancholischem Blick.

Heriberto: Großer, deutschstämmiger Mexikaner mit dröhnender Stimme.

 

20 Uhr: Heriberto tritt auf, lacht, dass der Speichel spritzt, und ahmt das Geräusch eines Kawasaki-Motors nach. »Wrumm-Wrumm!«, schreit Heriberto, »Heut lassen wirs wieder richtig krachen!« Carmelia tritt auf, gibt Mirtila einen Zungenkuss und wirft mir dabei einen scheelen Blick zu, weil ich niemals versucht habe, mit ihr ins Bett zu gehen. Agata tritt auf, wischt sich die Haarsträhnen aus ihrem verblühten Gesicht und sagt, sie müsse »erst mal ankommen«.

21 Uhr: Richy tritt auf, präsentiert zwei Päckchen Kokain, die er am anderen Ende der Stadt ergattert hat, und fragt, ob sich die Anwesenden finanziell beteiligen wollen. Mirtila, Carmelia und Agata weigern sich empört. Mirtila begründet dies damit, dass Richy »froh sein« solle, überhaupt in ihr »Haus eingeladen zu werden«. Agata führt als Argument an, dass der »Hurensohn Marcos« immer noch ihre Ölquellen in Chiapas beschlagnahmt habe – sonst würde sie jederzeit Geld beisteuern. Seufzend überlässt Richy die Päckchen der Allgemeinheit und legt zwanzig Lines. Die Frauen koksen nun, was das Zeug hält.

22 Uhr: Mirtila legt in den CD-Player Prodigys Smack My Bitch Up ein – für sie der »beste Rave-Track aller Zeiten«. Mit rudernden Armbewegungen ziehen sich die Frauen in die Küche zurück, um Geheimgespräche zu führen. Richy und Heriberto äußern währenddessen starke Zweifel an der Existenz von Agatas Ölquellen.

23 Uhr: Unter den Frauen ist ein Streit um ihre soziale Hierarchie entbrannt: Carmelia behauptet, einen edleren Stammbaum als Mirtila und Agata zu besitzen und praktisch direkt vom Konquistador Hernán Cortés abzustammen. Während Carmelia kurz die Toilette aufsucht, mutmaßen Mirtila und Agata, dass sie wohl eher von Montezumas Hund abstammt.

24 Uhr: Mein Versuch, statt Prodigy eine Hip-Hop-CD einzulegen, scheitert. Die CD wird von Carmelia aus dem CD-Player genommen und auf den Boden geschmissen, weil es sich um »Negermusik« handle.Smack My Bitch Up läuft von nun an für den Rest der Nacht. Agata schlägt vor, dass man Richy doch besser zu »Jody« (jodido: »gefickt«) umtaufen sollte, weil er ein ständig abgebrannter Versager sei. Richy wird nun bis zum Morgengrauen »Jody« genannt.

1 Uhr: Eine Päckchen Koks ist verschwunden. Carmelia fällt ein, dass sie das Päckchen eventuell mit dem Inhalt des Aschenbechers in den Müllkübel geworfen hat. Richy alias »Jody« wird von Mirtila dazu verdonnert, dreimal den Müllkübel zu durchwühlen. Während Richy auf dem Küchenboden herumrobbt, melde ich Bedenken gegen eine solche Behandlung an, werde aber von Mirtila zurechtgewiesen, dass ich »hier auch nur Gast« sei und mich »an die Spielregeln zu halten« habe.

2 Uhr: Erstaunlich gutgelaunt kehrt Heriberto vom Klo zurück und verkündet, dass er mit dem Rennrad jetzt eine Nachtfahrt ins 100 Kilometer entfernte Cuernavaca unternehmen werde. Heriberto verabschiedet sich und lacht wieder, dass der Speichel spritzt. Die Frauen äußern den Verdacht, dass sich das verschwundene Koks-Päckchen in Heribertos Besitz befindet. »Jody« legt mit dem verbliebenen Päckchen neuerlich zwanzig Lines.

3 Uhr: »Jody« kündigt an, im 7-11-Supermarkt Bier einzukaufen, wenn sich die Frauen finanziell beteiligen würden. Die Frauen lehnen dies empört ab. Mirtila und Carmelia streicheln sich gegenseitig den Nacken und ziehen sich ins Schlafzimmer zurück, um der Allgemeinheit die Größe ihrer Leidenschaft vor Augen zu führen. »Jody« versucht, Agata (die seine Umbenennung durchgesetzt hat) in der Küche zu küssen. Er fängt sich dafür eine Ohrfeige ein und macht ein Gesicht wie ein frühchristlicher Märtyrer.

4 Uhr: »Jody« ist von seinem Gang zum 7-11 nicht zurückgekehrt. Agata vermutet, dass er und Heriberto gemeinsame Sache machen und das Koks nun ungestört an irgendeinem geheimen Ort vertilgen. Agata beschwatzt mich, am anderen Ende der Stadt für sie neues Koks zu kaufen. Als ich mich weigere, bricht sie in Tränen aus und verlässt zeternd das Haus.

5 Uhr: Im Haus ist es jetzt ganz still. Auf dem Weg in mein Zimmer ertappe ich Mirtila, wie sie mit einem riesigen Doppel-Dildo in der Hand über den Flur huscht. Für den Rest der Nacht werden nun unvorstellbar abartige lesbische Handlungen begangen.

 

 

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich vollgepumpt mit Drogen in mein Zimmer zurückgezogen, um aus dem Fenster über die Dächer der Kolonie zu starren. Ich WUSSTE, da draußen, jenseits dieses Meeres der Lego-Häuschen und Nervensägen, musste es Hoffnung geben. Etwas unbeschreiblich Großartiges und Schönes lag da draußen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, welche Beschaffenheit dieses ETWAS haben könnte, doch eines war klar: Keiner der Menschen, die sich in Mirtilas Salon gegenseitig zerfleischten, würde mich dorthin führen. Ein paar Mal schlug ich ihnen vor, diese existenzialistische Tragödie zu beenden und sich mit mir auf die Suche nach diesem Etwas zu machen. Doch ein soziales Leben außerhalb der Mauern von Mirtilas Haus war für diese Leute undenkbar. Mir blieb also nur eine Wahl: Mich weiterhin auf Mirtilas Partys peinigen zu lassen oder auf eigene Faust nach dem sagenhaften Ort zu suchen, der irgendwo in Mexiko City auf mich wartete. Ich entschied mich für den Ausbruch. Selbst das Risiko, bei der Flucht aus Fovissste in einem Taxi erschossen und in die Grube gekippt zu werden, schien mir gering gegenüber den Qualen, die ich bei Mirtila zu ertragen hatte. Rastlos wie ein Hai zog ich also jede Nacht los, zu einer Jahreszeit, in der sintflutartige Regenfälle über Mexiko City niedergingen. Und während wie in einem rabenschwarzen Zeichentrickfilm täglich neue Leichen in die überschwemmten Gossen von Fovissste geworfen wurden, erreichte ich mit dem Taxi die Innenstadt und fand dort schließlich das, was ich drei Monate lang gesucht hatte: einen kahlen, gekachelten Raum, in dem ein Mann namens Frazetti, ein zweiter namens Gregorio und ein dritter namens David saßen – die schweinscoolen Hedonisten des Centenario, verwegen, edel, freigebig und blitzend vor Geist. Ich erinnerte mich noch, dass Frazetti eben seine Kunstbuchpräsentation beendet hatte, bei der Gregorio die Laudatio hielt, und mit seinem kaugummifarbenen Hemd und seiner Sonnenbrille gockelhaft über irgendeinen Witz lachte und zu mir nur den Satz »Setz dich her!« sagte, und ich wusste, bei diesen Menschen wollte ich bleiben. Mirtila sah meinem Ausbruch aus ihrem Kreis natürlich nicht tatenlos zu: Wenige Tage nach der Entdeckung des Centenario schmiss sie mich aus ihrer Wohnung, worauf ich mir ein Hotel suchen musste. Wie ich später erfuhr, hatte mein Umzug zumindest einen therapeutischen Effekt: Eine Zeitlang ruhten nun die Streitereien, weil Mirtilas Freunde ihre ganze Energie darauf verwandten, ausschließlich über mich zu lästern.

Mit meinem Ausbruch aus Mirtilas Kreis war die erste Schanze in Richtung Centenario genommen, doch die entscheidendste Schlacht für den Centenario schlug ich im Januar 1999, und zwar auf den Feldern der Autonomen National-Universität Mexikos (UNAM). Für die ersten zwei Jahre meines Aufenthalts in Mexiko hatte mir der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) ein Auslandsstipendium verliehen – unter der Bedingung, hier eine Doktorarbeit zu schreiben. Der Fluss der Gelder war an regelmäßige Gutachten gekoppelt, die ein beliebiger ortsansässiger Professor nach Deutschland zu schicken hatte. Schon bei meinem ersten Besuch der UNAM hatte ich allergrößte Zweifel, ob meine in Deutschland abgegebenen Beteuerungen, hier täglich irgendwelchen sinnlosen Forschungen nachzugehen, nicht ein schwerer Fehler gewesen waren. Die Institutsgebäude der UNAM lagen am Südrand der Stadt, in einer verdorrten Wüste zwischen Autobahnringen, Kakteenfeldern und Lavabrocken. Nicht nur geographisch wirkte die Universität wie eine Konklave, die mit der Wirklichkeit Mexikos schon lange nichts mehr zu tun hatte. Auf die Studenten der UNAM, fast alles Mestizen der Unterschicht, wartete nach ihrem Studienabschluss die Arbeitslosigkeit. Jobs gab es in Mexiko City nur noch für Abgänger der kostspieligen Privat-Unis, die Studiengebühren bis zu 3000 Dollar pro Semester forderten. Einem jeden Studenten der UNAM wurde daher schnell klar, dass das »Autonom« in ihrem Kürzel nur mehr für die relative Autonomie stand, die ein Geisteskranker gegenüber der Realität an den Tag legte. Doch um an die Stipendiengelder des DAAD zu kommen, musste ich mich an der UNAM um einen Betreuer für meine Forschungen bemühen.

Die ersten drei Monate nach meiner Ankunft in Mexiko hatte ich damit verplempert, mein gesamtes Dissertationsexposé von 100 Seiten ins Spanische zu übersetzen, weil dies für einen Forschungsaufenthalt von den mexikanischen Behörden zur Vorschrift gemacht worden war. Weitere drei Monate vergeudete ich damit, den verschiedensten Koryphäen der UNAM hinterherzutelefonieren, um sie für meine Forschungen zu gewinnen. Doch es war wie verhext: Einen ausländischen Studenten zu betreuen, schreckte die Ordenarien wie Weihwasser den Teufel. Ein Professor delegierte mich an den nächsten weiter – mit der Begründung, dieser sei noch spezialisierter, noch firmer, noch geeigneter, mein Forschungsvorhaben zu betreuen. Ich wurde an Professoren weitergeleitet, von denen sich herausstellte, dass sie schon seit Jahren verstorben, ausgewandert oder dem Wahnsinn anheim gefallen waren. Ich wurde Dozenten vermittelt, die sich nach langem telefonischen Hin und Her mit mir trafen, sich 200 Pesos von mir liehen und dann auf Nimmerwiedersehen im Labyrinth der Universität verschwanden. Ich hatte verschiedene Geschäftsessen mit Assistentinnen, die statt über mein Forschungsvorhaben weitläufig über ihre Probleme als alleinerziehende Mütter sprachen und sich dabei durch die halbe Speisekarte futterten. Durch diese ganzen fruchtlosen Treffen ging kostbare Zeit verloren, und der Fluss der Gutachten hatte sich inzwischen so verzögert, dass meine ganzen Stipendiengelder, die ich im Centenario zu verprassen gedachte, immer stärker in Gefahr gerieten.

Nach einer endlosen Kette von Vermittlungen wurde ich schließlich an einen gewissen Professor Bockberg de Sánchez verwiesen. Professor Bockberg de Sánchez war – so versicherten mir die letzten Kettenglieder – für mein Thema genau der richtige Mann. Da Professor Bockberg de Sánchez in seinem Institutsbüro kein Telefon besaß, gab man mir seine Privatnummer. Ich rief ihn umgehend an, und er hob den Hörer so schnell ab, als hätte er vor dem Telefon auf der Lauer gelegen.

»So, so, ein neuer Schüler!«, rief Professor Bockberg de Sánchez mit einer Stimme, die vor Erregung vibrierte. Er klang wie ein Vampir, der nach Jahren des Wartens und Darbens eine frische Blutquelle nahen sah. »Gleich morgen stellen Sie sich persönlich bei mir vor! Ich erwarte Sie Punkt acht Uhr in meinem Büro. Ich hoffe doch, Sie bringen eine deutsche Auffassung von Pünktlichkeit mit...«

Der Wintermorgen, an dem ich mich aus dem Bett quälte und die Expedition zu Professor Bockberg de Sánchez unternahm, war kalt und grau. Raureif verkrustete das Fenster meines Hotelzimmers, auf der Straße schlugen mir die Abgase und das infernalische Getute der morgendlichen Autokarawanen entgegen. Da ein Bus erfahrungsgemäß zwei Stunden brauchte, um in den Süden zur UNAM zu gelangen, nahm ich ein Taxi. Selbst das Taxi benötigte eine halbe Stunde, bis es mich am Ring des Geländes absetzte.

In dieser Herrgottsfrühe war ich der einzige Mensch, der über die Betonplanierung des Uni-Geländes schritt. Nur ein paar Händler bauten im Schutz der Vorhallen Buden auf, an denen sie zerlesene Bücher, warme Limo, CD-Raubkopien und Wimpel des universitären Fußballclubs verkauften. Ich trat ins Institut, an dem Professor Bockberg de Sánchez lehrte, und studierte den Raumplan. Den Fahrstuhl besteigend und mehreren Korridoren folgend, stand ich nach wenigen Minuten pünktlich um acht vor Professor Bockberg de Sánchez’ Büro. Im Vorzimmer auf einem Gesundheitssessel saß eine junge indianische Sekretärin, die das grellste, türkiseste Make-Up seit der Popgruppe Baccara und ihrem Hit Yes Sir, I Can Boogie aufgetragen hatte. Dazu trug sie eine violette Strickjoppe mit überdimensionalen Schulterpolstern und eingenähten Perlen-Imitaten, die ihrer Erscheinung vermutlich zusätzliche Raffinesse verleihen sollten. In ihren Händen hielt sie ein Buch mit dem Titel Rasputin – Der Hexer des Zaren, doch ihre Aufmerksamkeit war gerade von anderen Dingen eingenommen: Auf ihrem Schreibtisch lehnten zwei Studenten und sprachen mit samtenen, schmeichlerischen Stimmen auf sie ein, wobei die Blicke der beiden sanft über die Strickjoppe glitten. Soweit ich das Gespräch verstand, ging es um die Bewilligung irgendeines amtlichen Schreibens. Die Sekretärin genoss das Buhlen der Studenten mit tiefem Behagen, wahrte aber einen strengen, unnachgiebigen Gesichtsausdruck. Eine Weile wartete ich an der Türschwelle, ohne dass mich jemand beachtete.

»Guten Morgen!«, sagte ich. »Ist denn der Herr Professor Bockberg de Sánchez zu sprechen?«

Die Studenten flöteten weiterhin auf die Perlen-Strickjoppe ein, und niemand blickte hoch.

»Guten Morgen!«, wiederholte ich. »Ich soll mich hier bei Professor Bockberg de Sánchez vorstellen!«

Mit einem unwirschen Ruck fuhr die Sekretärin auf, so als gefährde ich die hypnotische Wirkung ihrer Strickjoppe.

»Der Professor ist noch nicht da!«, herrschte sie mich an. »Warten Sie in Aufenthaltsraum 701 auf ihn! Der Professor wird dann kommen und sich mit Ihnen beschäftigen.«

»In Aufenthaltsraum 701?«

»So ist es«, sagte sie. »Der Professor sitzt sehr gerne in Aufenthaltsraum 701!«

Ich nickte und machte mich auf die Suche nach Aufenthaltsraum 701, in dem Professor Bockberg de Sánchez sehr gerne saß. Im siebten Stock neben dem Treppenhaus fand ich Aufenthaltsraum 701. In seiner Mitte stand eine bronzene Büste des Nationalphilosophen José Vasconcelos, die mit grüner Sprühfarbe beschmiert war. Eine Plakette, auf der Kaugummis klebten, zitierte José Vasconcelos’ Sinnspruch Durch unsere Rasse wird der Geist sprechen. An der Wand entzifferte ich ein paar Kritzeleien wie Roberto = Kinderficker! und Ich trink Tequila Glas für Glas, den Kopf den hab ich nur zum Spaß!, die vermutlich nicht aus Vasconcelos’ Zitatschatz stammten. Zerquetschte Cola-Dosen, unzählige Zigarettenkippen und eine blutige Monatsbinde am Boden vervollständigten Aufenthaltsraum 701. Ich setzte mich auf das ausrangierte, geplatzte Sofa, das in der Ecke stand, und dachte darüber nach, wie jemand beschaffen sein musste, der in Aufenthaltsraum 701 gerne saß.

Ganze zwei Stunden ließ mir Professor Bockberg de Sánchez Zeit, über dieser Frage zu brüten. Nachdem ich Aufenthaltsraum 701 mit einem Dutzend weiterer Zigarettenkippen den letzten Schliff verpasst hatte, ballte ich die Fäuste, erhob mich und ging den Weg zum Büro des Professors zurück. Gerade, als ich in den Korridor zu seinem Büro einbog, sah ich vom anderen Ende des Ganges eine Gestalt mit schulterlangem, nach hinten gekämmtem Haar, die sich auf einen Stock stützte, auf das Büro zuhinken. Die Gestalt war groß und etwa siebzig Jahre alt, sie trug eine schwarze Loden-Pelerine und den exzentrischen Knebelbart eines spanischen Granden. Als die Gestalt mich näherkommen sah, flüchtete sie humpelnd in das Büro. Nach allem, was ich von diesem Institut bisher gesehen hatte, stand zu vermuten, dass es sich bei der Gestalt um Professor Bockberg de Sánchez handelte.

Wenige Sekunden hinter der Gestalt trat ich ebenfalls in das Vorzimmer und suchte den Raum nach dem Professor ab, der mich um zwei Stunden versetzt, sich nun trotz seines Hinkens mit erstaunlicher Geschwindigkeit meinem Zugriff entzogen und in einem Zimmer hinter der Sekretärin verschanzt hatte. Die Sekretärin richtete sich auf, straffte ihre Joppe und schob sich wie ein Schutzschild zwischen mich und die Zwischentür zu seinem Büro. Offenbar hatten meine Augen bereits ein fiebriges, unberechenbares Glimmen angenommen.

»Gerade eben ist der Herr Professor angekommen!«, rief mir die Sekretärin entgegen.

»Das gibt mir Grund zur Freude!« sagte ich. »Ich hätte ihn nämlich wie gesagt gerne gesprochen.«

»Aber ich sagte Ihnen doch schon: Warten Sie in Aufenthaltsraum 701! Dort wird er Sie umgehend aufsuchen!«

Fünf Minuten später hinkte Professor Bockberg de Sánchez in den Aufenthaltsraum 701. Nachdem er mir seine Hand mit dem Rücken nach oben zum Gruß gereicht hatte, ließ er sich neben mir auf dem Sofa nieder. Sein steifes Knie schlug er über das Gesunde und lüpfte dabei sein Hosenbein mit einer fast delikaten Geste.

»Kommen wir zur Sache!«, sagte er und rammte den Spazierstock auf den Boden. »Sie sind also dieser ausländische Student, der hier am Institut für seine Doktorarbeit forschen will. Über welches Thema dissertieren Sie denn?«

Für mehrere Sekunden verschlug es mir die Sprache. Zwar war ich sonderbare Gerüche aus der Mundhöhle gewohnt – Frazetti, Gregorio und ich rochen spätnachts aufgrund der Mengen an Tequila und Kokain, die wir in unsere Körperöffnungen hineinsogen, grundsätzlich nach einer Mischung aus Industriealkohol, Kerosin und Formaldehyd, so dass feinere Nasen auf unseren Atem reagierten, als ob ein genmutierter Lindwurm sie anhauche. Aber aus Professor Bockberg de Sánchez’ Mund quoll ein Odem, der unbeschreiblich war. Drogen, Speisen oder Alkoholika, die einen solchen Geruch hervorriefen, war ich noch nie begegnet. Es war ein Geruch, der an Pestbandagen, Tiermehlfabriken oder das Truppenklo der zehnjährigen Belagerung von Troja erinnerte.

»Über... über... die Essayistik... der Hiperión-Gruppe!«, presste ich heraus, bedacht darauf, nur mehr durch den Mund zu atmen.

»Wie bitte?«, fuhr Professor Bockberg de Sánchez auf. »Aber dabei handelt es sich ja um ein mexikanisches Thema!«

Der Gasausstoß bei dieser Aufwallung ließ mich fast ohnmächtig werden.

»Eben deshalb«, stieß ich hervor, »hat man mir... für dieses Thema... ein Stipendium in Mexiko gegeben.«

Professor Bockberg de Sánchez hieb wieder unwirsch seinen Stock auf den Boden.

»Aber wie wollen Sie denn eine Doktorarbeit über ein mexikanisches Thema schreiben? Sie sind doch gar kein Mexikaner! Sie kennen doch die ganze Diskussion nicht, die wir hier geführt haben!«

»Doch...«, stöhnte ich. »Drei Jahre lang... habe... habe ich diese Diskussion... von Deutschland aus verfolgt.«

Drei Jahre, schwirrte es mir durch den Kopf, um nun in Aufenthaltsraum 701 einem Erstickungsanfall zu erliegen.

»Ich halte Ihr Vorhaben für ein großes Problem!«, rief der Professor und durchsäbelte mit dem Stock die Luft. »Ein Fremder kann doch nicht einfach daherkommen und sich in die laufende Diskussion einmischen! Unsere genuin mexikanischen Identitätsentwürfe, unsere Erforschung des nationalen So-Seins – das können Sie als Außenstehender doch gar nicht beurteilen! Ich könnte es gerade noch gutheißen, wenn Sie einen deutschen Aspekt der Hiperión-Gruppe zum Zentrum Ihrer Untersuchungen machen, aber...«

Einen kurzen Augenblick überlegte ich, ob ich mich nicht mit einem Sprung durch die Glastüre an die frische Luft retten solle. Doch da waren die Stipendien-Konten, die der DAAD in Deutschland eingefroren hatte, bis ich einen mexikanischen Betreuer vorweisen konnte. Da waren die ganzen in Bonn gehorteten Gelder, auf die ich nur Zugriff hatte, wenn jemand wie Bockberg de Sánchez sein Placet gab. Ich versuchte, meine letzten Kräfte zu bündeln.

»Sehen Sie, Herr Professor..., ich habe doch... in Deutschland... auch Ihr Buch über Heidegger gelesen. Es war... eine – echte Enthüllung!«

Professor Bockberg de Sánchez federte sich mittels des Stocks vom Sofa hoch und warf seine Pelerine zurück.

»Natürlich, Heidegger, oder Meister Martin, wie wir ihn oft nannten!«, rief Bockberg de Sánchez und stakste vor mir auf und ab. »Ich habe ihn ja noch persönlich kennengelernt, damals 1959, als er mich zu mehreren Seminaren nach Todtnauberg eingeladen hat. Wir verehrten ihn schließlich auch in Mexiko als heimlichen König der Philosophie. Wie dieser unerbittliche Seher und Frager uns jungen Studenten den Sprung ins Ungewisse wies – das waren Erschütterungen, die man heute gar nicht mehr nachvollziehen kann!«

Bockberg de Sánchez schüttelte den Kopf und stieß Atem aus.

»Doch«, versicherte ich, »man kann!«

»Immer war sein Denken so bodenständig, so grundverwurzelt, so tief!«, sagte Professor Bockberg de Sánchez, stemmte sich auf seinen Stock und beugte sich zu mir herab. »Ich erinnere mich, einmal, als wir, seine Schüler, im Waldstüble saßen und mit ihm – wie sagt man gleich? – ein Glas Achtele tranken, da rückte ich neben ihn und fragte, in welcher Beziehung denn sein Satz von der Kehre zu seinen Gedanken über die Härte des Schicksals stünde. Da war Heidegger plötzlich wie versteinert, wandte seinen Kopf ab und starrte mit weitgeöffneten Augen zum Herrgottswinkel. Dann sagte er in diesem tiefen, alemannischen Ton: Die in die Kehre gelangen, sind gerettet! Denn in der Kehre ist das Denken ist ein Danken!«

»Niemand kam je der Wahrheit näher«, sagte ich und presste meine Gesichtshälfte gegen die Wand.

Professor Bockberg de Sánchez lächelte versonnen.

»Also gut«, schloss er. »Ich bin geneigt, Ihre Forschungen zu betreuen. Aber eines stellen wir von vornherein klar! Sie müssen Ihre Doktorarbeit auf Spanisch schreiben und mir jede Woche einen Bericht abfassen, den ich persönlich entgegenzunehmen wünsche. Am besten eignen sich dafür die Abendstunden.«

»Die Abendstunden«, schreckte ich auf. »Aber da bin ich doch im Cente–...«

»Und natürlich ist der Besuch all meiner Vorlesungen obligatorisch«, unterbrach mich Bockberg de Sánchez. »Morgen um acht Uhr werde ich das Hauptseminar Mexikanische Metaphysik von Bruder Fray Servando bis zu Bockberg de Sánchez abhalten, übermorgen zur gleichen Zeit den Grundkurs Heideggers Rezeption in Mexiko – Unterwegs zur Erfassung von 5 Millionen Sekundärtiteln. Lassen Sie sich von Señorita Montezuma die Listen mit der Pflichtlektüre geben.«

»Selbstverständlich«, nickte ich.

»Günstig wäre es ohnehin«, fuhr der Professor fort, »wenn Sie ein Zimmer in der Nähe der Universität beziehen, statt jeden Tag aus der Stadtmitte anzureisen. Die Nähe zur Universität wird die Fortschritte Ihrer Studien entscheidend fördern. Ich erwarte Sie also morgen um acht am Institut!«

»Natürlich«, sagte ich. »Ich werde zur Stelle sein.«

Bockberg de Sánchez hob zum Abschied resolut den Arm und hinkte davon. Mit zitternden Beinen wankte ich zum Ausgang des Instituts und sog gierig frische Luft ein, die wie eine Erlösung durch meinen Körper strömte. Ich wusste schon jetzt, dass mich keine zehn Pferde jemals wieder in dieses Institut oder auch nur in die Nähe der UNAM bringen würden. Allein die Vorstellung, zusammen mit irgendwelchen 18-jährigen Studienanfängern um die Gunst von Señorita Montezuma zu buhlen – zweifellos die perlenbestickte Strickjoppe –, rief bei mir eine so drastische Gehbehinderung wie die von Bockberg de Sánchez hervor. Doch die Klimax des Horrors war der Gedanke, mich in dieser Wüste ansiedeln zu müssen, um jeden Morgen die Pflichtseminare des Professors zu besuchen, von denen eines abschreckender als das andere klang.

Auf dem Weg zur Busstation spielte ich kurz den Plan durch, Professor Bockberg de Sánchez mit einer Gruppe der beherztesten Schurken des Centenario aufzulauern – Frazetti, Gaspar und Humberto würden zweifellos Teil der Gruppe sein – und ihn – natürlich gesichert mit Atemmasken! – zu zwingen, einen Stapel Blanko-Gutachten zu signieren, die ich dann allmonatlich an den DAAD senden konnte. Doch ich verwarf den Plan und beschloss, mit all den monströsen Wesenheiten wie der Universität, dem DAAD und der gesamten Professorschaft Mexikos einfach radikal zu brechen und die Gelder für den Centenario aus Quellen zu beziehen, über die ich mir selbst noch nicht genau im Klaren war.

Aber wie durch ein Wunder löste sich mein Problem von selbst: Zwei Wochen nach dem Treffen mit Bockberg de Sánchez trat die gesamte UNAM, in die ich nie wieder einen Fuß gesetzt hatte, in einen einjährigen Generalstreik. Tausende von Studenten, in Aufruhr wegen einer angedrohten Studiengelderhöhung, verbarrikadierten das Gelände, nahmen die Institute ein und legten das universitäre Leben vollständig lahm. Stacheldrahtverhau wurde ausgerollt, die Institutsmöbel wurden zu Schanzen umfunktioniert, Wachpatrouillen kontrollierten den Campus Tag und Nacht, um die Polizei an der Stürmung des Geländes zu hindern. Rädelsführer mit Rastafari-Zotteln, glasigen Augen und sagenhaften Semesterzahlen wie »El Mosh« (21. Semester Physik), »El Mufti« (25. Semester Völkerkunde) oder »El Fumaporros« (Zahntechnik als dritter, unabgeschlossener Studiengang) setzten sich an die Spitze der Bewegung und hielten monatelang die mexikanische Presse in Atem. Mit bekifften Gesichtern und Fingern, die zu Victory-Zeichen erhoben waren, zierten sie fast täglich die Titelseiten. Ich schnitt mir ihre Fotos aus den Zeitungen aus, rahmte sie ein und richtete ihnen in meinem Hotelzimmer einen kleinen Hausaltar her, den ich jeden Tag mit Blumen und Opfergaben versah. Denn sie waren zweifellos die Numen, die mich aus meiner misslichen Lage gerettet hatten.

Die soziale Gerechtigkeit und ich hatten gesiegt. Irgendwelche Gutachten konnten nun rein technisch gar nicht mehr angefertigt werden, weil »El Moshs« und »El Muftis« Jünger die amtlichen Stempel beschlagnahmt und die Verwaltungsdokumente einkassiert hatten. Selbst wenn meine Dissertation – und das war für mich schon ausgemacht – niemals zu einem Ende kommen sollte, konnte mir keiner mehr einen Strick daraus drehen. Ich kappte alle noch bestehenden Verbindungen zu Professoren und Assistenten, mit denen ich bis dahin telefonisch Kontakt gehabt hatte. Die monatlichen Rechenschaftsberichte an den DAAD in Bonn schrieb ich weiterhin, aber sie nahmen schon bald die Form eines Märchens an. Die Stipendienbezüge begannen zu fließen, und ich leitete sie schnurstracks um in Etablissements wie das Rexo, das Barracuda, das Cicero und das Tony Roma’s. Weitere Nutznießer waren die Dealer Mexiko Citys, vor allem das Dreigespann Daniel, Rosso und das »Großmütterchen«. Das war mein endgültiges Entrée in den Club des Centenario.

Dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging, kam dem DAAD natürlich zu Ohren. Die Herren in Bonn hatten ihre Informanten in der Botschaft, am Goethe-Institut und an der Universität, die regelmäßig in Briefen und Telefonaten Rapport erstatteten. Begegnungen mit diesen Spitzeln waren unvermeidlich, wenn man auf den Vernissagen die Freigetränke dezimierte oder – just aus der Cantina getaumelt – die Kunstpartys unsicher machte. Ich konnte daher bildlich vor mir sehen, wie die Vorsitzenden des DAAD im Bonner Universitätsclub eine Krisensitzung vor den Jurymitgliedern einberiefen, die mir seinerzeit das Stipendium zuerkannt hatten. Alte Fotos und Bewerbungsunterlagen von mir auf dem Tisch ausbreitend, würden die Anwesenden dann irgendeinen subalternen Ministerialbeamten vorladen – vermutlich einen Mann mit einem so nichtssagenden Namen wie Dr. Willhardt – und ihn mit den notwendigen Maßnahmen beauftragen:

 

 

ERSTER VORSITZENDER: Dr. Willhardt, haben Sie schon mal von Stipendiat Ingo W. Falkenhorst gehört?

ZWEITER VORSITZENDER (schnippt einer Hilfskraft zu): Luke, würden Sie bitte das Tonband abspielen? Hören Sie gut zu, Doktor. Die Stimme wurde als die des Stipendiaten Falkenhorst identifiziert.

(Interferenz- und Spulgeräusche.)

STIMME FALKENHORSTS VOM TONBAND (stumpf, schleppend, debil): Ich werde... alle Eure... Finanzen... im Centenario verprassen! Stipendium für Stipendium... Forschungsgeld für Forschungsgeld... Bücherzuschuss für Bücherzuschuss...! Und MICH nennen sie einen Irren. Wie heißt das, wenn Irre Irre anklagen...? (Band bricht ab.)

ZWEITER VORSITZENDER (nachhaltig erschüttert): Ingo W. Falkenhorst war einer der hervorragendsten Stipendiaten, die dieses Land je hervorgebracht hat. Er war hochbegabt, herausragend in jeder Beziehung. Dann meldete er sich nach Mexiko, und von da an wurden seine Ideen irgendwie... (reibt sich angewidert die Stirn) – krankhaft!

ERSTER VORSITZENDER (eifernd): Er ist jetzt dort unten bei seinen Saufkumpanen, die ihn geradezu verherrlichen, anbeten wie einen Gott, und jede Bestellung befolgen, mag sie noch so lächerlich sein!

ZWEITER VORSITZENDER: Sie sehen, Dr. Willhardt, in diesen Forschungsprojekten verwirren sich da draußen ein bisschen die Dinge. Dort unter den Eingeborenen ist es bestimmt eine große Versuchung, Gott zu werden. Und jeder Mensch hat seinen Zerreißpunkt, Sie und ich ebenfalls... Ingo W. Falkenhorst ist an seinem angelangt – und offensichtlich ist er dabei geisteskrank geworden.

ERSTER VORSITZENDER (hüstelnd): Dr. Willhardt, Ihr Auftrag lautet, mit einem Patrouillenboot die Kloake von Mexiko City hochzufahren, die Spur von Stipendiat Falkenhorst im Centenario aufzunehmen und Schluss zu machen mit seinem Kommando!

DR. WILLHARDT: Schluss machen mit – dem Stipendiaten?

ASIATISCHER GASTDOZENT (drakonisch): Velstehen Sie, Sluss machen mit dem Stipendialten! Und zwal um jeden Pleis!

ZWEITER VORSITZENDER (bietet Dr. Willhardt Zigarette an): Ihnen ist klar, dass dieser Auftrag nicht existiert und auch nie existieren wird.

 

 

Es war also lediglich eine Frage der Zeit, bis der vom DAAD entsandte Vollstrecker durch die Schwingtür des Centenario treten und mich absägen würde. Doch bis dahin, das wusste ich, war an den Biertischen alles in bester Ordnung.

 

 

 

Inhalt
Der lange Weg nach Tlalocán
Der König von Mexiko City
Der große Job
Ein bisschen Frieden
Das Jahr des Busenmagazins
Meine wundersame Zeitreise
Danksagung
Infos und Impressum
  1.  
  2.  
  3.  
  4.  
  5. STEFAN WIMMER
  6.  
  7.  
  8. Der König
  9. von Mexiko
  10.  
  11.  
  12.  
  13. BLOND VERLAG
  14. MÜNCHEN
  15.  
  16.  
  17.  
  18.  
  19.  
  20. Dieses Buch ist
  21. den Farrelly-Brüdern gewidmet.
  22.   
  1.  
  2.  

 

Der König von Mexiko City

 

»Was gilt’s, dachte er sich, ich brauche mich gar nicht erst umdrehen,

es ist ohnehin niemand anders als Walther.«

Der blonde Eckbert

 

»Bätoo! Komm her, wenn ich rufe! Bätooooo!«, quäkte eine Frauenstimme über den Tresen des Rexo. Die Stimme hätte aus der Audioshow des Escorial-Schlosses stammen können – Schallbeispiel: Infantin, auf dem Bidet nach ihrem Hofzwerg rufend –, aber da mich degenerierte Stimmen bisweilen interessierten, drängelte ich mich in ihre Richtung. Die Stimme stammte von einem Mädchen mit eingeföntem Pony, millimeterdickem Lippgloss auf dem Mund und einer Solariumsbräune, die Hunger auf Grill-Hähnchen machte.

»Bätooooo! Maaaach mir noch einen Saaaake-Martini!«, quäkte sie wieder. Beto, der Barkeeper, setzte eine beflissene Miene auf, mixte einen Sake-Martini und schob ihn ihr über die Theke.

»Daaanke, mein Schääätzchen!«, sagte sie und drehte Beto so schnell den Rücken zu, dass er keine Gelegenheit mehr hatte, von ihr die Zeche zu fordern. Das Mädchen schlabberte an dem rosa schimmernden Martini und verschluckte fast die Cocktailkirsche. Beto begrüßte mich mit Handschlag.

»Wie geht’s?«, fragte ich.

»Zum Kotzen!«, sagte er und steckte sich seinen Finger in den Rachen. »Bohemia und Ultramarino?«

Ich nickte. Beto schenkte Ultramarino ein und nahm eine Flasche Bohemia aus dem Eisfach. Ich überflog eine Weile die Gäste, dann zischte ich den Ultramarino runter.

Das Rexo – ein großer Glas-Kubus mit zwei Plateaus für Steh- und Restaurant-Bereich – war der angesagteste Laden der Stadt. Wer von Mexiko Citys Society etwas auf sich hielt, nahm im Rexo sein Dinner ein – vorzugsweise direkt an der Glasfront zur Straße, um sich von denen begaffen zu lassen, die der Türsteher nicht hineinließ. Zusammen mit einer Reihe weiterer In-Restaurants gehörte das Rexo drei Brüdern aus der reichen jüdischen Gemeinde Mexiko Citys. Der älteste Bruder, Nestor, hatte einen Vollbart, ein dramatisch gefurchtes Gesicht und mit vierzig noch eine Zahnspange mit Gummibändern. Nestor war der Mächtigste der drei. Er rührte im Rexo niemals einen Finger, sondern saß meist neben der Kasse und ließ sich von seinen weiblichen Angestellten den Nacken massieren. Seinen linken Arm trug er seit ein paar Wochen in einem Gips, der so schmutzig war, dass es aussah, als sei Nestor Kanalreiniger. Der zweite Betreiber des Rexo war Diego, ein Telenovela-Schauspieler mit eisigen, emotionslosen Hai-Augen. Der Jüngste der Brüder hieß Jorge, war sehr klein und schielte. Jorge hatte die Aufgabe, die prominenten Gäste persönlich an der Tür zu empfangen und unter zwergenhaften Verneigungen zu den Tischen zu geleiten.

Da mich zwei Drittel der Brüder meiner Nationalität wegen hassten, war es für mich gar nicht so einfach, ins Rexo eingelassen zu werden. Doch der indianische Türsteher hatte mich in sein Herz geschlossen, nachdem ich einmal mit einem weißen PRI-Politiker aneinander geraten war, der den ganzen Abend lang die dunkelhäutigen Barmänner beleidigt hatte. Gegen einen Politiker trauten sich die Angestellten nicht so recht vorzugehen. Lediglich die drei Brüder würden vielleicht etwas unternommen haben, doch sie waren an diesem Abend absent. Nestor hätte den Politiker vielleicht mit seinem dreckigen Gipsarm bedrängt, Diego hätte ihn mit seinem Vereisungs-Blick eingefroren, Jorge hätte ihn durch Schielen zu Boden gezwungen. Aber die drei waren nicht da, und so blieb es blöderweise an mir hängen, den Mann niederzuschlagen, nachdem er im Rexo auf mich losging.

Natürlich fragte ich mich manchmal, warum ich überhaupt um drei Uhr nachts in einem Laden wie dem Rexo herumstand und den Brüdern mein Geld in den Rachen warf. Die Erklärung war einfach: Das Rexo befand sich nur einen Steinwurf vom Centenario entfernt. Wenn der Centenario zusperrte, konnte man selbst in stark benebeltem Zustand sofort ins Rexo weiterziehen. Der zweite Vorteil des Rexo war, dass sich dort die Silberrücken der mexikanischen Medienwelt tummelten: Leute wie der auf Lebenszeit eingesetzte Excelsior-Chefredakteur Edgar Domínguez, der zu fortgeschrittener Stunde von seiner Kindheit unter den Drogenzaren Sinaloas schwärmte. Oder Naty Soza, die Herrscherin über das Feuilleton des Observador, die einem Viehzüchter-Klan aus Chihuahua entstammte. Oder Emilio Krautweg, Bankierssohn und Verleger des Dreigestirns Conspiración, Mundo Libre und Obsesiones, der keine einzige Textsorte schreiben konnte – seien es Weihnachtsgrüße, Stierkampf-Impressionen oder Restaurantkritiken –, ohne darin mehrere Attacken gegen den »Comandante Marcos« und die Zapatisten zu verpacken.

In den Centenario setzten diese Leute nie einen Fuß, im Rexo dagegen konnte man sie greifen. Menschen mit einem vernünftigen Beruf hätten es natürlich als vollkommen unwesentlich erachtet, ob sich im Nachtclub ihrer Wahl ein Herr Domínguez, ein Herr Krautweg oder ein Fräulein Soza aufhielt. Doch für uns Mediensklaven war es eine Frage des Überlebens, diese Menschen abzufangen und ihnen Texte und Themen aufzuschwatzen. In ihren Büros waren diese Menschen unansprechbar – so sie denn überhaupt im Verlagsgebäude saßen und nicht bei irgendwelchen Empfängen, Banketten und Geheimunterredungen zugange waren. Im Rexo traf man sie dagegen in weitaus empfänglicherer Laune, nämlich betrunken und vollgekokst. Dann konnte passieren, was auf offiziellem Weg niemals passiert wäre: Nach dem fünften Martini Dry und der zehnten Line umarmten sie einen und gaben den Zuschlag für die Story – die dann je nach Auftraggeber natürlich die Drogenwirtschaft in ein mildes Licht rücken, Hiebe gegen Zapatisten verteilen oder die prallen, unerschöpflichen Kuheuter Chihuahuas preisen musste.

Doch um gerecht zu bleiben: Nicht alle Medienköpfe waren so leicht manipulierbar. Es gab es auch Leute, die sich gegenüber den Auswirkungen von Alkohol und Drogen absolut immun zeigten: Augusto Anz beispielsweise, der Herausgeber von Diacrítica, benahm sich IMMER daneben, ganz gleich ob er stocknüchtern oder total zugedröhnt war. Augusto ließ IN JEDEM ZUSTAND die elementarsten Höflichkeits- und Verhaltensregeln außer Acht. Auch wenn man bereits Dutzende Artikel für Augusto geschrieben hatte, grüßte er einen weder dicht noch nüchtern. Traf man ihn in dichtem Zustand, war der einzige Unterschied, dass er einen minutenlang mit einem schizoiden Blick fixierte, bevor er sich dann wegdrehte – und wieder nicht grüßte.

Ich lachte verzweifelt auf, bestellte bei Beto zwei weitere Drinks und starrte mein bleiches Gesicht in der Glasscheibe an, das sich umringt von weiteren Fratzen dort spiegelte. Die allgemeine Lage war beschissen, aber noch viel beschissener war, dass ich seit Monaten keine Freundin hatte. Mittlerweile war der Winter mit seinem panzergrauen Himmel über Mexiko City hereingebrochen, und in meiner Hinterhof-Wohnung herrschte eine Kälte, dass ich mein Bier nicht mehr in den Kühlschrank zu stellen brauchte. Mangels anderer Tröstungen war ich die letzten Nächte bibbernd in meinem Bett gelegen und hatte den Schicksalsschlagern des Vollalkoholikers José José gelauscht, der sich von einem Trauerakkord zum nächsten kämpfte. Und obwohl ich Einsamkeit und Verwahrlosung durchaus gewohnt war, musste ich zugeben: Jemand, der nächtelang José Josés Konzeptalben Sie sagen, ich bin ein Clown (1975), Zerronnen (1977) und Gefangener der Totalverzweiflung (1979) laufen ließ, der WAR psychisch nicht mehr auf der sicheren Seite, der BRAUCHTE DRINGEND eine weibliche Hand, die ihn bemutterte, der tat gut daran, sich SCHLEUNIGST nach einer Freundin umzusehen, wenn er nicht den Verstand verlieren wollte.

Doch damit begannen schon die nächsten Schwierigkeiten: Denn selbstverständlich musste eine solche Freundin die edelsten Charakterzüge haben – musste heiteren Liebreiz mit Sittsamkeit, Demut und Maß verbinden... Selbstverständlich durfte eine solche Freundin kein Mädchen sein, das sich eigenwillig, vorlaut und naseweis in die Privatangelegenheiten eines Mannes einmischte, das diesen Mann zu verändern, zu verdrehen oder GAR ZU VERBIEGEN versuchte... Nein, es musste ein Mädchen sein, das diesen Mann zärtlich hätschelte, wenn ihm von den Kokainpartys der vergangenen Nacht der Kopf zerbarst, ein Mädchen, das ihn mit tausend Streicheleinheiten verwöhnte, wenn er ausgewrungen von der Arbeit und den anschließenden Cantina-Exzessen nach Hause torkelte, kurz: ein Mädchen, das diesen Mann bei all seinen Missetaten treu unterstützte.

Ein wenig stellte ich mir dieses Mädchen immer so vor wie die junge, blonde Jan Gabrial, die Malcolm Lowry während seiner Alkoholdelirien in den Kneipen von Cuernavaca zugeflüstert hatte: »Hör mir zu, sieh mich an! Du brauchst nie wieder einsam zu sein! Wir ziehen uns zusammen aus der Welt deiner Spukgestalten zurück! Die Dunkelheit wird von jetzt ab eine glückliche Zeit sein, weil ich auf dich warte... – nämlich exakt solange, bis im Farolito der Alkohol alle ist und der Wirt zusperrt!« Und obwohl ich mich für die Authentizität des letzten Nebensatzes nicht völlig verbürgen konnte – so jedenfalls sollte im Großen und Ganzen der Geist beschaffen sein, der auch meine