Sommer 1972. Benjamin ist vor einigen Wochen elf geworden. Im nächsten Schuljahr wird er ein Herrenrad bekommen, eine Freundin und vielleicht eine tiefe Stimme. Doch dann stirbt sein kleiner Bruder Jonas. Nachts sitzt Bens Mutter auf einer Heizdecke und weint. Ben kommt nun extra pünktlich nach Hause, er spielt ihr auf der C-Flöte vor und unterhält sich mit ihr über den Archaeopteryx. An Jonas denkt er immer seltener. Ben hat mit dem Leben zu tun, er muss für das Fußballtor wachsen, sein bester Freund erklärt ihm die Eierstöcke, und sein erster Kuss schmeckt nach Regenwurm. Mit seiner neuen Armbanduhr berechnet er die Zeit.

Voller Empathie und mit anrührender Komik erzählt Stephan Lohse in seinem Debütroman vom Aufwachsen Anfang der Siebzigerjahre, von Teenagernöten und dem Trost der Freundschaft. Vor allem aber erzählt er vom Mut und dem Einfallsreichtum eines Kindes, das seine Mutter das Trauern lehrt und ihr zeigt, dass das Glück, am Leben zu sein, auch noch dem größten Schmerz standhält.

Stephan Lohse wurde 1964 in Hamburg geboren. Er studierte Schauspiel am Max-Reinhardt-Seminar in Wien und war unter anderem am Thalia Theater in Hamburg, an der Schaubühne in Berlin und am Schauspielhaus in Wien engagiert. Ein fauler Gott ist sein Debütroman. Stephan Lohse lebt in Berlin.

STEPHAN LOHSE

EIN FAULER GOTT

Roman

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der Ausgabe: Erste Auflage 2017

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

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Umschlaggestaltung: Miriam Bloching, Berlin

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eISBN 978-3-518-75094-0

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Meiner Mutter

EINS

ES WÄRE BESSER, die Raufaserkrümel bewegten sich. Wenn sie an den Rand auswichen, könnte die Tapete in der Mitte reißen und die Decke dahinter gleich mit. Das Dach würde einstürzen. Der Dachstuhl würde sich durchs Haus bohren. Die Ziegel würden in den Garten fallen und die Büsche zerhauen. Man könnte den Himmel sehen.

Die Maschine würde starten. Sie würde Impulse vom Bauchnabel durch Lichtkabel an die Oberfläche senden. Die Relaisplatten unter der Haut würden klicken. Der Unterdruck in den Gehirnfunkschläuchen würde sie vibrieren lassen. Die Zentrale Verwaltung würde übernehmen.

Er würde fliegen, das kaputte Haus hinter sich lassen, den zerstörten Garten, die Siedlung, den Wald. Die Wiesen und die Wege. Die Bundesstraße. Die Welt.

Ben ist krank, ohne wirklich krank zu sein. Der Platz hinter seiner Nase ist durchs Weinen gewachsen und stößt von innen gegen seine Augen. Eigentlich müsste er aufstehen. Doch er traut sich nicht. Gestern ist sein Bruder gestorben. Ab heute ist Ben ein Einzelkind und mit Mami allein. Sein Bruder hieß Jonas. Er war acht und in der Dritten, und Ben hat ihn Piepmanscher genannt. Wie sein Bruder jetzt heißt, weiß Ben nicht, die Seelen haben lateinische Namen.

Irgendwo im Haus geht eine Tür. Dann noch eine. Mami lebt. Sie war zu gleichen Teilen seine und Jonas’ Mutter. Was mit Jonas’ Teil geschieht, ist unklar. Vielleicht bekommt Ben ihn. Vielleicht nicht.

Als Ben gestern aus der Schule kam, war Mami bereits aus dem Krankenhaus zurück. Er wollte ihr von dem Wunderschwimmer Mark Spitz und seinen bisher sechs Goldmedaillen erzählen und dass Mark Spitz in den letzten vier Jahren um zehn Jahre klüger geworden sei und nun vorhabe, Zahnarzt zu werden.

Doch Mami flüsterte ihm zitternd ins Ohr, dass sie ihm etwas sehr Trauriges sagen müsse. Dass sie im Krankenhaus erfahren habe, dass Jonas am Morgen seiner Krankheit erlegen sei und dass dies gestorben bedeute. Dass es offenbar schnell gegangen sei und bestimmt nicht wehgetan habe. Dass sie glaube, dass Gott nach Hilfe gesucht und sich für Jonas entschieden habe. Dass sie aber trotzdem traurig sein dürften und dass Jonas jetzt eine Seele sei.

Gott ist eine Art Herr Behrends des Himmels, der die Seelen an ihren Armen packt, bis der Schmerz in ihnen pocht, und sie zum Arbeiten in die äußersten Ecken des Himmels verbannt, wo sie nackt und mit verdreckten Gesichtern aufräumen müssen und putzen und Gottes Sachen durch die Gegend schleppen. Gott selbst ist faul in seiner Allmacht, und es bereitet ihm Freude, den Brüdern die Brüder zu stehlen und den Müttern ihre Kinder. Er ist unersättlich. Es gibt im Himmel mehr Tote als Lebende auf der Erde. Während Gott wie Herr Behrends, sein Sportlehrer, die Seelen machen ließ, weinte Mami und hatte zum Sprechen keine Luft mehr. Ben weinte auch. Er konnte nicht mehr aufhören.

Später starrte Mami ewig lange die Küchentür an. Es sah aus, als verwüchsen ihre Augen mit ihrem Gesicht, als sei ihr Gesicht aus Holz und die Augen die Astlöcher und die Haare die Fusseln auf den Wurzeln und die Haut die Rinde, die sich furcht und faltet und keine Blätter und kein Spechtloch. Wie von einem plötzlichen Wind gekrümmt, stand Mami auf und nahm Jonas’ Stundenplan von der Küchentür. Sie fuhr mit den Fingern über die Stunden und sagte, sie müsse in der Schule anrufen.

Zum Essen gab es Nudelauflauf. Mami aß nichts und Ben die Nudeln mit viel Rotze. Den Pudding durfte er auf Mamis Schoß essen. Er weinte noch immer und machte Mamis Blusenkragen nass mit Tränen und Nachtisch. Es störte Mami nicht. Ben schloss die Augen und machte sich schwer, um für Jonas mitzuwiegen. Dann schlief er an Mamis Schulter ein.

Heute Morgen schämt er sich. Er findet sich nicht traurig genug. Die Zeit, die Jonas im Krankenhaus war, hatte ihm gefallen. Er hatte sich vorgestellt, Mamis Ehemann zu sein, ein Ehemann, der die elektrischen Kontakte im Toaster putzt und die Serviettenringe geradebiegt. Der die Nägel, die in alten Babybrei-Gläsern im Heizungskeller aufbewahrt werden, ihrer Größe nach ins Regal sortiert, der für seine Frau ein schönes Muster ins Kaleidoskop schüttelt und kenntnisreich am Cognac nippt. Der sich, wenn sich Mami nach dem Krankenhaus erschöpft aufs Sofa legt, in den Sessel gegenübersetzt und mit ihr klönt. Spätestens am Dienstag hätte Jonas nach Hause kommen sollen.

Doch stattdessen hat seine Seele seinen Körper verlassen. Sie ist aus ihm herausgeweht, hat auf ihn hinuntergesehen und sich gewundert, dass man seinem Körper die Hände gefaltet hat. Es sieht aus, als bete er und als sei er ein Heiliger. Doch Jonas betet nicht. Beten ist ihm zu langweilig, und Achtjährige können nicht heilig sein, dafür sind sie zu jung. Eine Haarsträhne liegt verirrt auf seinem Gesicht und sticht in sein linkes Auge. Sie wird nach seinem Tod noch etwas wachsen, das hat Ben einmal in einem Was-Ist-Was über Menschen gelesen. Jonas hätte die Strähne weggeblasen, doch als Seele fehlt ihm die Kraft dazu. Nach einiger Zeit weht Jonas’ Seele durch ein offenes Fenster. Ben schätzt ihre Geschwindigkeit auf die eines Vogels. Auf dem Weg in den Himmel könnte sie mit einem Flugzeug kollidieren, einer Boeing von Lufthansa oder Condor. Dem Flugzeug würde der Zusammenstoß nichts ausmachen, doch die Seele könnte auseinanderreißen und zerflattern, denn sie besteht hauptsächlich aus Luft. Die Seelenteile müssten sich dann wiederfinden. Schafften sie es nicht, dürften sie nicht in den Himmel. Jonas konnte gut Rad fahren und ziemlich gut schwimmen. Warum sollte er nicht auch gut fliegen können? Von Mami weg und von ihm, an den Flugzeugen vorbei und in den Himmel. Ben weint. Er ist nun doch traurig genug. An der Tür klopft es.

»Darf ich reinkommen?«, fragt Mami.

»Ja«, sagt Ben und wischt seine Tränen ins Bettzeug.

»Ich habe dir Kakao gemacht.«

»Danke.«

»Hast du Hunger?«

»Nein. Es ist immer noch Nudelauflauf drin.«

»Später solltest du aber etwas essen.«

Der Kakao hat eine Haut. Sie ist eklig, doch Ben trinkt sie mit, ohne das Gesicht zu verziehen.

»Lässt du mich unter deine Decke?«

»Ja«, sagt Ben.

Mami legt sich in sein Bett mit allem, was sie anhat. Ihrem Rock und der puddingverschmutzten Bluse von gestern. Nur die Hausschuhe zieht sie aus. Sie legt ihren Arm auf ihr Gesicht, und Ben hört sie atmen. »Möchtest du mit mir über Jonas sprechen?«

Ben weiß nicht, was er sagen soll. Er übt mit einem Ford Capri Autobahnpolizei an der Kante des Kopfkissens einparken.

»Jonas hat dir im Krankenhaus ein Bild gemalt. Es zeigt eine Rakete. Ich habe es mitgebracht und auf den Küchentisch gelegt. In dem Fenster der Rakete steht eine Blumenvase, und an ihrem Eingang wacht ein Hund. Jonas’ Bettnachbar hat sich über die Farbe des Raketenfeuers beschwert. So ein Feuer sei nicht grün. Ich finde das grüne Feuer aber schön.«

»Weißt du, dass Jonas nicht gewusst hat, dass Astronauten ihr Essen aus der Tube essen? Ich habe es ihm gesagt. Dass bei den Nudeln auch die Tomatensoße mit drin ist, und dass Schnitzel ein bisschen flüssiger sind, damit sie vorne durch den Ausgang passen. Jonas wollte dann Astronaut werden und Gerald mitnehmen. Ich habe ihm gesagt, dass Hunde nur in russischen Raketen erlaubt sind. Auch Spielzeughunde nur.«

Mami weint unter ihrem Arm. »Komm her«, sagt sie.

Sie verbringen den Nachmittag unter der Decke wie in einer Höhle und unterhalten sich über Jonas und die Kinder, die er im Krankenhaus kennengelernt hat, über das Mädchen ohne Haare, dessen Geschlecht man nur daran erkenne, dass es ein Album mit Pferdeglanzbildern mit sich herumtrage, über den großen Jungen, dem ein Bein fehle bis unters Knie und der deswegen den ganzen Tag heule, und über die asiatischen Zwillinge, von denen nur einer krank sei, der andere aber nicht gehen wolle und angedroht habe, loszuschreien, sobald man ihn zwinge. Sie erinnern sich, dass Jonas im letzten Winter nicht mehr Schlitten fahren wollte, weil ihm der Schnee leidtat, wegen des Rostes von den Kufen, und dass er als Papst dauernd über sein Messgewand aus Badezimmervorleger gestolpert ist. Sie sprechen über Rex Gildo und sein schönes Lied Fiesta Mexicana und über den bemerkenswerten Umstand, dass das Orchester Kurt Edelhagen bei der olympischen Eröffnungsfeier zum Einmarsch der Nationen Stücke mit Takten von 114 Schlägen pro Minute gespielt habe, weil der Mensch dann am lockersten gehe, und dass dies mit seiner Größe zusammenhinge und den Auswirkungen der Erdanziehungskraft auf ihn. Sie unterhalten sich auch über die Farbe von Jonas’ Haut, die in den letzten Tagen etwas gelb war.

»Hat Jonas geschlafen, als er gestorben ist?«, fragt Ben.

»Ja, bestimmt«, sagt Mami. »Da bin ich mir sicher.«

»Das habe ich mir gedacht«, sagt Ben. Er beginnt zu weinen und schlägt mit der Faust aufs Bett.

Am Abend zünden sie für Jonas eine Kerze an. Es ist wie Weihnachten in klein. Die Flamme zittert auf dem Docht, und die Schatten der Gegenstände flattern über die Wände. Ben erinnert sich, dass Jonas wegen seines Namens manchmal geglaubt hat, in einem Wal zu leben. Er erzählt es Mami.

»Das habe ich nicht gewusst«, sagt sie.

»Ja«, sagt Ben. »Er hat gedacht, dass er im Magen von dem Wal lebt. Und dass die Wände des Magens sich bewegen können und man aufpassen muss, dass man nicht hinfällt und im Magenschleim landet, weil der nach Fischkotze schmeckt. Deshalb hat der Piepmanscher Ersatzwände aus Lego gebaut, die den Walmagen abstützen, damit er sich nicht zusammenziehen kann oder in der Mitte durchhängt.«

»Das habe ich nicht gewusst«, sagt Mami.

»Ja«, sagt Ben.

Als er müde wird, fragt Ben, ob er Träumerle haben dürfe. Träumerle ist seine Puppe. Sie ist glatzköpfig, sie war schon zu oft beim Friseur.

»Wo ist sie?«

»Bei Jonas. In seinem Zimmer.«

Mami gibt Ben einen Kuss. »Es tut mir leid, Ben. Ich kann das nicht. Nicht heute.«

»Ja«, sagt Ben und nickt.

»Gute Nacht«, sagt Mami. Sie zögert, dann sagt sie: »Gute Nacht, Jonas.«

»Gute Nacht, Jonas«, sagt Ben.

Nachdem Mami gegangen ist, verzieht Ben sein Gesicht, wegen der Haut auf dem Kakao von vorhin.

BEN HAT GENUG VOM FALSCHEN KRANKSEIN. Er zieht sich an und geht hinunter. Er muss heute nicht zur Schule und morgen auch nicht. »Das kann warten«, hat Mami gesagt, »du gehst erst wieder, wenn du möchtest.« Er darf sich selbst aussuchen, wann er zur Schule gehen möchte, und findet, dass das ruhig mal richtig lange warten kann. Mami ist im Wohnzimmer. Sie hat die Sessel aufs Sofa gestellt, die Vorhänge abgenommen und die Zimmerpflanzen auf die Terrasse getragen. Sie hat die Bücher aus dem Regal geräumt und sie stapelweise gegen die Wand gelehnt. Sie steht auf Zehenspitzen auf einem Stuhl, besprüht die oberen Regalbretter mit einem Putzmittel und wischt sie ab. Nach jedem Wischen untersucht sie den Schmutz auf dem Wischlappen. Dann schüttelt sie den Kopf und wischt noch einmal.

»Hallo«, sagt Ben.

Ohne sich umzudrehen, sagt Mami: »Du kannst hier jetzt nicht rein, ich mache hier sauber. Geh in die Küche. Dort steht Frühstück für dich.« Als Ben gehen will, sagt sie: »Gib mir noch den Poliboy.«

Ben weiß nicht, was sie mit Poliboy meint, und gibt ihr einen Schwamm.

»Den Poliboy, Benjamin, die Flasche auf dem Fensterbrett, du kannst doch lesen. Und nimm die Vorhänge mit, die kannst du die Kellertreppe hinunterwerfen.«

Ben muss zweimal gehen, die Vorhänge sind schwer.

»Später kannst du mir die Leiter halten, wenn ich das Fenster putze.«

Ben toastet eine Scheibe Brot und schmiert Butter darauf. Die Butter ist weich, sie schmilzt und tropft durch das Brot, er hebt es an und sieht kleine Butterseen auf dem Frühstücksbrettchen schwimmen. Er rührt mit dem Messer durch die Kirschmarmelade und drückt die Früchte zur Seite. Er mag nur das Flüssige. Er versucht, es aufs Brot zu schieben, dabei fallen einige Kirschen auf den Tisch. Bens Hände kleben, die Butter auf dem Brettchen riecht sonderbar, und das Wachsmalkreidefeuer auf dem Raketenbild ist wirklich sehr grün.

»Mein Gott, Benjamin, was ist das für ein Schweinkram? Geh ins Wohnzimmer. Ich mache das hier sauber.«

Ben geht ins Wohnzimmer und setzt sich auf das Stück Sofa, auf dem kein Sessel steht. Seine verklebten Hände hält er sich vors Gesicht, damit sie nichts einschmieren.

Aus der Küche ruft Mami: »Pass auf, dass du nichts einschmierst.«

Ben zählt die Hälfte der Kord-Rippen des Stücks Sofa, auf dem er sitzt, und verdoppelt sie. 56 Rippen.

»Bring mir den Wischlappen.«

Ben klemmt den Wischlappen zwischen seine Ellenbogen und trägt ihn in die Küche.

»Sag mal, willst du mich veralbern?«

»Meine Finger sind verklebt.«

Er lässt den Wischlappen fallen und wäscht seine Finger an der Spüle. Er will ins Wohnzimmer zurück, doch Mami sagt: »Nein, da sauge ich jetzt.«

Ben fragt, ob sie eigentlich wisse, wie viele Rippen das Sofa habe. Nein, das wisse sie nicht und das wolle sie auch nicht wissen. »Setz dich hier hin und warte, dass du mir später die Leiter halten kannst.«

Während Mami das Wohnzimmer saugt, bekommt Ben Hunger. Das Frühstück ist mittlerweile abgeräumt, er öffnet den Küchenschrank und findet eine Packung Spaghetti. Er betropft drei Spaghetti mit Ketchup und zerknabbert sie. Mit einer vierten Nudel spielt er Dirigent. Mami kommt in die Küche. »Was soll denn das jetzt?«

Ben weiß nicht, wo er das Spaghetti hinlegen soll.

»Wirf das weg. Und komm mit, mir die Leiter halten.«

Als Mami Wischwasser auf seinen Kopf tropfen lässt, hat Ben auch vom Gesundsein genug. Er geht wieder hinauf. Dabei hält er sich am Treppengeländer fest. Das hat er noch nie gemacht. Er zieht seinen Schlafanzug an, legt sich ins Bett und baut aus einem Stück Decke eine Garage für den Ford Capri Autobahnpolizei und einen Aufenthaltsraum für die Polizisten, wo sie in ihre Funkgeräte sprechen können.

Später kommt Mami ins Zimmer. Sie setzt sich auf die Bettkante und hört auf, sich zu bewegen. Sie verwandelt sich wieder in einen Baum, nur dass der Baum heute nach Polyboy riecht. Ben stellt sich vor, dass es knarren würde, bewegten sich Mamis Astarme oder ihr Hals aus Stamm. Irgendwann zieht Mami ihre Gummihandschuhe aus, und es knarrt dann doch nicht. Sie streicht über Bens Haare und entschuldigt sich bei ihm.

»Wofür?«

Mami legt sich heute nicht mit unter die Decke, aber sie erzählt Ben ein Märchen. Ein Prinz soll eine hässliche Prinzessin mit einer schuppigen Warze im Gesicht heiraten, obwohl er in die schöne Tochter des Schmieds verliebt ist und schon einige Male mit ihr heimlich beim Tanz war. Der Drehorgelspieler auf dem Tanzboden weiß Abhilfe, er ist im Nebenberuf Zauberer und zaubert dem Mädchen einen imposanten Stammbaum mit Baronessen und Baronen als Verwandtschaft. Das Märchen geht gut aus. Der König ist von der erzauberten Herkunft der Tochter des Schmieds so beeindruckt, dass er der Vermählung mit seinem Sohn nicht nur zustimmt, sondern obendrein verlangt, sie in allem Pomp durchzuführen. Die Warzenprinzessin wird aus dem Land gejagt. Sie muss sich künftig in Dänemark jemanden zum Heiraten suchen. Die Stelle mit dem Gestorbensein und dass sie noch lebten, wenn nicht, lässt Mami weg. Sie zieht Ben den Schlafanzug glatt, damit er auf keiner Falte liegt, und wartet, bis er einschläft.

›PIETÄT‹ STEHT IN GOLDENER SCHRIFT auf dem Schaufenster des Bestattungsinstituts. Dahinter ist eine Blechdose ausgestellt, die auf einem samtbezogenen Sockel steht. In den Falten des Samts liegen Kienäppel zur Verzierung. Ben wollte zunächst nicht mitkommen, dann doch, dann wieder nicht. »Ist Jonas da?«, fragte er. Mami beruhigte ihn. Jonas befinde sich nicht im Bestattungsinstitut, man habe einen Raum für ihn gefunden, in dem es angenehm kühl sei, doch sei Jonas’ Seele von dieser Kälte ganz und gar unbeeindruckt.

Im Institut sieht es aus wie in einem Hotel. Von der Decke hängt ein Kronleuchter, der grüne Teppichboden ist so weich, dass man in ihm versinkt, und die Wände sind holzgetäfelt. Herr Pietät, der Inhaber des Instituts, ist sehr klein. Er rutscht von seinem Stuhl, kommt hinter dem Schreibtisch hervor und reicht Mami die Hand: »Frau Schrader, nicht wahr? Nehmen Sie doch bitte Platz.«

Er deutet auf zwei Stühle, die vor dem Schreibtisch stehen. Er wartet, bis Mami und Ben sich gesetzt haben, dann besteigt er seinen Stuhl, indem er sich an der Kante seines Schreibtisches hochstemmt.

»Mein Mann«, sagt Mami. »Mein Mann meinte, ich solle … ich weiß nicht.«

»Ja, Frau Schrader«, sagt Herr Pietät. »Es ist so, dass ich Ihren Gatten gebeten habe, ein Angehöriger möge den Sarg vor Ort auswählen. Es ist doch eine sehr persönliche Angelegenheit.« Während er spricht, wackelt Herr Pietät ununterbrochen mit dem Kopf. »Für die Größe der Grabstätte, die wir in Ohlsdorf erwerben möchten, ist die Sarglänge ausschlaggebend. Bei einer Länge von 1,60 Metern, die ich Ihnen bei einem achtjährig Verstorbenen empfehlen würde, hätte die Grabstätte eine Größe von 2,20 Meter mal 90 Zentimeter. Wenn Sie mir erlauben möchten, Ihnen hierzu unser Sortiment an Kindersärgen vorzulegen …«

Herr Pietät öffnet eine Ledermappe, die wie eine Speisekarte aussieht. Ben zwingt sich, nicht hineinzusehen. Auf der Kommode hinter dem Herrn steht ein ausgestopfter Vogel.

»Dieses wäre dann Kiefer natur, und hier hätten wir Kiefer weiß lackiert.«

»Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht. Vielleicht dieser hier.« Mami tippt auf die Speisekarte.

»Gern. Wünschen Sie Beschläge aus Messing?«

»Ja … Aus Messing.«

Der Vogel ist bunt. Er hat einen blauen Kopf und rote Backen. Sein Gefieder ist braun, übersät von hellen und dunklen Flecken. Er hat einen weißen Kragen und lange Schwanzfedern.

»Und der Grabstein?«, fragt Mami.

»Das hat keine Eile, Frau Schrader«, sagt Herr Pietät. »In frühestens zehn Wochen wird das Grab abgehügelt. Erst dann kann der Stein gesetzt werden. Hierfür gibt es keine verbindlichen Fristen.«

Der Vogel steht auf einem halbierten Ast. Er hat seinen Schnabel geöffnet, als würde er gleich singen.

»Ich empfehle gerne eine Winterabdeckung mit Nordmanntanne. Zur Frühjahrsbepflanzung eignen sich dann Stiefmütterchen, Traubenhyazinthen oder Vergissmeinnicht. – Möchtest du den Fasan einmal aus der Nähe betrachten?«, fragt Herr Pietät. Sein Kopf wackelt in Bens Richtung.

»Nein, danke«, sagt Ben und sieht erschrocken auf den grünen Teppich.

»Ach, und wenn ich Sie daran erinnern dürfte, den Text für die Trauerkarten zu entwerfen, damit ich die Druckerei beauftragen kann.«

»Was, um Himmels willen, soll ich denn schreiben?«, fragt Mami und sieht ebenfalls auf den grünen Teppich.

Herr Pietät erklärt, dass die Metapher des Schlafs sich als zweckdienlich erwiesen habe, etwa in dem Sinne, dass der geliebte Verstorbene sanft entschlafen sei. Er wartet, bis Mami wieder aufsieht, dann sagt er: »Alles Geldliche wurde im Übrigen bereits im Voraus von Ihrem Herrn Gatten im fernen Frankfurt geregelt.«

»Ja … Dann vielen Dank, Herr Freen«, sagt Mami.

Ben wird rot. Er starrt Mami an und denkt: Herr Pietät. Mami steht auf, putzt sich einen unsichtbaren Fussel vom Mantel und fasst nach Bens Hand. Herr Pietät springt von seinem Stuhl und geleitet sie zur Tür. Plötzlich schnappt er nach Luft und sagt: »Oh, bitte warten Sie noch einen Augenblick.«

Er durchquert trippelnd das Institut und verschwindet durch einen Spalt in der Holztäfelung. Ben spürt einen kalten Luftzug. Kurze Zeit später taucht Herr Pietät wieder auf. Er streckt ihnen eine Schallplatte entgegen: »Wohlan denn, mein Herz, nimm Abschied«, liest er vor. »Wir haben unseren Kunden eine Platte mit Musik zur trauernden Andacht zusammengestellt.«

»Vielen Dank, Herr Freen«, sagt Mami und lügt, »wir haben leider keinen Plattenspieler.«

Herr Pietät wackelt traurig mit dem Kopf.

BEN STEHT PÜNKTLICH AUF. Er wäscht sich, putzt seine Zähne und packt seine Sachen. Er wird heute zur Schule gehen.

»Bist du dir sicher?«, fragt Mami.

»Ja«, sagt Ben.

»Sie werden dich dort alles Mögliche fragen. Oder sie werden dich gar nichts fragen und dich nur sonderbar ansehen. Oder sie tun so, als sei nichts geschehen. Sie werden traurig sein, und dann wirst du denken, dass du sie trösten musst. Vielleicht werden sie dir auch helfen wollen. Sie werden auf jeden Fall anders sein als sonst.«

»Macht nichts«, sagt Ben.

Bei den Haferflocken bemerkt Ben, dass Mami ihn beobachtet. Er sieht in die Schüssel und stellt sich vor, dass die Flocken Inseln sind und ihr Rand Strand.

»Weißt du denn, was du heute hast?«

»Französisch, Erde, Mathe, Bio und Sport.«

»Und hast du deine Sachen?«

»Ja.«

»Deine Turnsachen auch?«

»Ja.«

»Gut. Dann bringe ich dich«, sagt Mami. »Und ich hole dich später auch wieder ab.«

Es regnet. Zum ersten Mal seit Jonas gestorben ist, regnet es. Auf dem nassen Asphalt dröhnt der DAF doppelt laut. Mami schafft die Einfahrt zum Schulparkplatz im zweiten Anlauf. Sie parkt den DAF neben dem roten Audi von Herrn Behrends, dreht sich zu Ben und richtet den Kragen an seinem Anorak.

»Willst du wirklich?«, fragt sie. »Du musst nicht.«

»Doch«, sagt Ben.

Mami lächelt aus nassen Augen. Sie streicht ihm komisch übers Gesicht und gibt ihm einen Kuss. »Vergiss mich nicht.«

Ben steigt aus und rennt über den Parkplatz. Hinter einem Mauervorsprung versteckt er sich in einem Hagebuttenbeet. Er hält die Luft an und lauscht. Dabei wischt er sich Mamis Lippenstift vom Mund. Er möchte, dass sie wegfährt, doch er kann den DAF nicht hören, der Regen prasselt auf seine Kapuze. Neben dem Beet gehen Füße vorbei. Füße in Gummistiefeln, in Halbschuhen, zweimal in Turnschuhen und einmal Füße in Sandalen. Das sind die von Guido Borgmann. Ben wartet, bis keine Füße mehr kommen, dann steigt er aus den Hagebutten. Der Platz neben dem roten Audi ist leer. Mami ist weg. Ein Mädchen kommt zu spät. Es läuft an Ben vorüber und sieht ihn sonderbar an, es ist aber nicht in seiner Klasse.

Ben schleicht durch die Flure. Hinter den geschlossenen Türen hört er Lärm. Als er die Tür zur 6 c öffnet, kitzeln seine Zähne. Seine Nase zieht sich zusammen und schiebt etwas nach oben, das von innen Tränen in seine Augen drückt. Tränen kann er jetzt nicht gebrauchen. Er zieht seine Kapuze ins Gesicht und sieht halb zu Boden. Es wird still. Ein paar reden noch, aber leise. Susi Gronewoldt hält ihren Kopf schief. Arno Barkhahn und Oliver Erdmannsdorff sehen sich etwas im Papierkorb an. Matze Schmidt zirpt durch seine Zahnlücke. Dagmar Vollrath liest ein Buch und kitzelt sich mit der Spitze ihres Zopfes im Gesicht. Das ist aber nichts Besonderes, das macht sie jeden Morgen.

Ben überlässt sich der Zentralen Verwaltung. Sie fährt ihn summend zu seinem Platz. Thorsten Mähler, zu blöd für Erdkunde, geht neuerdings in die Realschule und wird wohl doch kein Bundeskanzler. Nach den Sommerferien blieb der Platz neben Ben zunächst leer. Eigentlich sollte dort der Sohn seiner neuen Französischlehrerin Madame Windgassen sitzen, doch man habe ihrem Sohn mehrere Polypen aus der Nase entfernen müssen, »les poulpes«, sagte Madame, und er habe sich deshalb einige Tage Erholung verdient. Inzwischen sitzt der Neue auf Thorsten Mählers Platz. Ben schiebt die Bücher, die er auf Bens Hälfte verteilt hat, auf seine Hälfte zurück und zeichnet wortlos eine unsichtbare Linie über die Mitte des Tisches. Dann zieht er seinen Anorak aus und holt sein Französischbuch aus dem Ranzen.

Madame betritt den Klassenraum.

»Bongschur, Madame Windgassen«, sagt Martina Pölcher.

»Salut, mes enfants. Isch bin schon wieder zu spät. Pardon. Eigentlisch muss isch in die Klassenbuch eingeschrieben werden. Madame Windgassen zu spät. Trop tard. Sie hat ihre Schuhe nischt gefunden. Aber sie sind schön, die Schuhe, n’est pas, Susanne?« Madame zeigt ihre Schuhe. »Les chaussures.« Sie glänzen und haben hohe Hacken. Susi nickt, erst von oben nach unten, dann zur Seite und in Bens Richtung.

»Oh, Benjamin, wie schön, dass du wieder da bist!« Madame Windgassen tritt an Bens Tisch und ordnet seine Haare. »Isch habe dir schon vermisst.« Sie beugt sich vor und flüstert: »Wenn es nischt mehr geht, meldest du disch, schnips, schnips, und wir finden die Lösung, einverstanden?«

»Einverstanden«, sagt Ben, ohne auszuatmen, um nicht aus Versehen Madames vornehmen Duft wegzupusten. Der Neue neben ihm wird knallrot.

Madame tritt vor die Klasse und entrollt ein Schaubild. Es zeigt das Leben einer französischen Familie. Auf dem ersten Bild sitzt die Familie um einen Tisch. La famille. Le table. Die Mutter, der Vater, die Kinder. La mère, le père, les enfants. Madame klopft mit einem Bleistift auf den Kopf der Mutter. »Ça c’est Madame Leroc.« Das ist Frau Leroc. »Et ça c’est Monsieur Leroc.« Herr Leroc.

»Il est au chômage, parce qu’il est stupide«, flüstert der Neue. Er ist immer noch knallrot.

»Ce sont les enfants!«, ruft Madame.

Geschrieben sieht es aus wie Elefanten, es heißt aber Kinder. Das Kind rechts ist Lucien Leroc, das links Nicole Leroc. Nicole ist la sœur von Lucien, und Lucien le frère von Nicole. Frère heißt Bruder. Ben hat das Gefühl, dass ihn alle anstarren, er hält die Luft an und verschwindet mit seinem Gesicht im Ausschnitt seines Nickis. Als er wieder atmen muss, erfährt er, dass Nicole und Lucien la fille et le fils de Madame et Monsieur Leroc sind. Die Kinder eben. Auf dem nächsten Bild sitzt Madame Leroc in einer Konditorei. Die Bedienung sieht aus, als hätte sie was getrunken. »Voulez-vous un café?« Wollen Sie einen Kaffee? »Oui, avec plaisir!« Ja, mit Milch.

Auf dem nächsten Bild geht die Familie am Abend gemeinsam ins Kino. Le soir. Le cinéma. La famille.

In der großen Pause fragt Susi Gronewoldt, ob Ben Lust habe, Gummitwist zu spielen, Beate Seibert und Anke Petersen würden auch mitmachen. Ben sagt, er habe noch nie Gummitwist gespielt. Das mache nichts, sagt Susi Gronewoldt und dreht ihre Arme wie Windmühlenflügel, er könne ja das Gummi halten. Ben sieht sich um, ob Jungs zusehen, dann zieht er das Gummi über seine Knöchel. Die Mädchen hüpfen. Dabei singen sie: »Die Wissenschaft hat festgestellt, dass Rote Beete Gift enthält.« Das ist ja sehr peinlich. Ben sieht, dass der Neue sich an den Mauervorsprung gehockt hat und ihn beobachtet. Er zerreibt eine Hagebutte zwischen seinen Fingern.

»Ich muss den Neuen mal was fragen«, sagt Ben und gibt Susi Gronewoldt das Gummi zurück. Sie hält ihren Kopf immer noch schief. Ben stellt sich vor den Neuen und sieht auf ihn herunter. »Was heißt auf Französisch: Meine Eltern sind geschieden?«

Der Neue sieht Ben lange an, ehe er sagt: »Mes parents sont divorcés.«

»Und was heißt: Mein Bruder ist gestorben?«

»Mon frère est mort.«

Es klingt wie ermordet. »Und wie heißt du noch mal?«

»Christophe.«

»Das ist ja auch Französisch.« Und ein bisschen wie durch Polypen geatmet.

»Du kannst Chrisse sagen, wenn du willst. Die meisten sagen Chrisse.«

»Mal sehen«, sagt Ben.

Nach Sport bei Herrn Behrends wartet Mami auf dem Parkplatz. Sie steht neben dem DAF im Regen und raucht.

»Das ist hier verboten«, sagt Ben.

»Das macht mir nichts«, sagt Mami.

La mère, wundert sich Ben.

IN DER NACHT ERWACHT RUTH durch ein vages sexuelles Verlangen. Es beschämt sie. Sie richtet sich auf und wartet, dass ihr die schmale Lust vergeht, die sie in ihrer Lage für unzulässig tierhaft hält. Nach einiger Zeit geht sie auf den Flur hinaus, lauscht an der Tür zu Bens Zimmer und an der Tür zu Jonas’ Zimmer ebenso.

Sie kehrt ins Schlafzimmer zurück, setzt sich auf eine Heizdecke, schlägt die Enden der Decke um ihre Füße und schaltet die Decke ein. An der Wand gegenüber hängt eine oval gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie ihrer Eltern, die Anfang 1953 am Deutschen Eck aufgenommen wurde. Kurz zuvor hatte Ruth ihren Mann Hans kennengelernt, von dem sie seit etwa einem Jahr geschieden ist. Er hat die Eltern damals fotografiert. Papschs liebes Gesicht, die Augen hinter dem Glas seiner schlecht sitzenden Brille grotesk verzerrt, die Mutter in kalter Distanz zu ihm, in schwarzem Vorkriegspelz. Die unerbittliche Forderung im Blick ihrer Mutter hält Ruth die Stunden bis zum Morgen wach.

DER GRÜNE ANORAK des Piepmanschers ist vom Haken gerutscht. Er liegt als rasenbewachsene Insel im schwarzen Linoleummeer des Flurs. Sein höchster Punkt ist die linke Schulter, dort steht ein Ausflugslokal. Eine Hügellandschaft führt zum Hafen am Reißverschluss hinab. An den Zähnen des Reißverschlusses werden Segelboote vertäut. Bergsteiger klettern über die Kapuze in den Krater eines erloschenen Vulkans. Die Hauptstadt der Insel liegt unterirdisch in der Brusttasche. Auf den Nähten verkehren Taxis und ein Linienbus.

Mami hebt den Anorak auf und bringt ihn nach oben. Die Stelle, wo der Anorak gelegen hat, ist jetzt leer. Die Stelle neben der Terrassentür, wo Jonas’ Gummistiefel gestanden haben, ist auch leer. Mami hat die Gummistiefel schon vor Tagen weggeräumt.

»Gehst du heute wieder zur Schule?«, fragt Mami.

»Ja«, sagt Ben.

»Ich kann dich bringen, aber ich kann dich nicht abholen. Vielleicht ist es vernünftiger, wenn du mit dem Rad fährst.«

Ben weiß nicht, was er sagen soll.

»Wenn du aus der Schule kommst, werde ich noch unterwegs sein. Ich mache Erledigungen in der Stadt und muss danach noch zum Bestattungsinstitut.«

»Warum hast du eigentlich Herr Freen gesagt?«

»Weil der Herr so heißt.«

»Wieso?«

»Weil das sein Name ist.«

»Ich dachte, er heißt Herr Pietät.«

»Wie kommst du darauf?«

»Das steht an seinem Fenster.«

»Das ist der Name des Instituts.«

Mami hängt Ben den Schlüssel um den Hals.

»Und was heißt das?«

Mami denkt nach. »Es bedeutet, dass man sich, wenn ein Mensch gestorben ist, rücksichtsvoll verhält. Zu Jonas’ Beerdigung werden wir schwarze Kleidung tragen. So wissen die anderen, dass wir in Trauer sind. Sie können Rücksicht auf uns nehmen. Das nennt man Pietät.«

»Herr Freen«, sagt Ben.

»Nimm dir heute Mittag was aus dem Kühlschrank, wenn du Hunger hast.«

Nach der Schule durchsucht Ben das Haus nach Stellen, die noch nicht leer sind. Am Türrahmen im Wohnzimmer sind die Striche vom weihnachtlichen Messen. Bens Striche sind blau, die vom Piepmanscher rot. Er hat Ben überholen wollen. Unter der Tischplatte des Esstisches kleben massenhaft Jaffa-Schilder, die sie von den Apfelsinen gepult haben, und ziemlich viele Popel, was Mami nicht wissen darf. Im Teppich ist ein Brandloch. Als Jonas sich mit Pappis Fotolampe den Po aufwärmte, hat er nicht aufgepasst, und die Lampe hat sich durch den Teppich gekokelt. Auf dem Fenstersims liegt ein langweiliger Stein. Weder eingeschlossene Tiere noch Quarzsprenkel. Jonas hat ihn im Garten gefunden. In der Küche hat Jonas, wenn sie allein waren, gekocht. Er hat den Schalter für die Schnellkochplatte so oft hin und her gedreht, bis die Lampe, die den Betrieb der Platte anzeigt, durchgebrannt ist. Er hat Brötchen in Würstchenwasser eingeweicht und sie zum Trocknen in den heißen Ofen gelegt, er hat Kirschen gebraten, Nudeln mit Nutella beschmiert und Maggi darüber geschüttet, und einmal hat er Rosenkohl getoastet. Ein Kollege von Pappi hatte auf einer Jagd einen Hirsch geschossen und Pappi gefrorenes Hirschragout geschenkt. »Das ist ein Hirsch aus dem Hunsrück«, hat Pappi gesagt, »den essen wir an unserem Hochzeitstag.« Doch Jonas hat das Ragout einige Tage später aufgetaut und mit Schokostreuseln gebraten. Es hat abscheulich geschmeckt. Sie haben sich nicht getraut, das Ragout ins Klo zu kippen, also haben sie es im Garten beerdigt, im Grab ihres verstorbenen Goldhamsters Kasimir Kolumbus. Zum Glück hat der Hochzeitstag dann nicht mehr stattgefunden, Pappi war einige Wochen zuvor ausgezogen. In das Zimmer vom Piepmanscher traut sich Ben nicht hinein.

Er geht in Mamis Schlafzimmer und schließt die Tür hinter sich. Es ist kühl. Das Fenster steht offen. Mami hat ihre Seite des Bettes noch nicht gemacht. Die Bettdecke ist von der Matratze gerutscht. Auf dem Laken liegt eine Heizdecke.

Pappis Seite des Bettes ist unberührt. Auf seinem Nachttisch liegt ein Buch. Zur Berechnung der Bruchlast von Trägerrostbrücken aus Stahlbeton. An der Wand über Mamis Nachttisch hängt ein Foto. Mamis Eltern in Schwarz-Weiß. Gegenüber eine Schrankwand. Ben öffnet eine Schublade. Mamis Unterhosen. Sie sehen aus wie Kinderunterhosen mit Verzierung. Hinter ihnen eine vergessene Unterhose von Pappi. Sie ist groß und hat vorne einen Schlitz, aber keine Verzierung. Der Schlitz ist Ben etwas peinlich. In der Schublade darunter Mamis Unterhemden. Sorgfältig gebügelt und ordentlich übereinandergelegt. Hinter einer Schranktür Mamis Röcke und Blusen, auf Bügeln an einer Stange hängend. Ben streicht über den Ärmel einer Bluse, es knistert und fühlt sich kühl an. Er schiebt die Bluse zur Seite und setzt sich in den Schrank. Er streckt sich, zwingt sich zu rücksichtsvoller Pietät und erinnert sich, dass er die Kasperleglocke ins Bestattungsinstitut mitnehmen wollte, um sie in Jonas’ Sarg legen zu lassen. Der Piepmanscher hätte im Fall seines Scheintodes läuten können. Doch seitdem Mami heute Morgen Jonas’ Anorak in sein Zimmer getragen hat, weiß Ben, dass der Piepmanscher wirklich tot ist. Er liegt, verlassen von seiner Seele, die einen lateinischen Namen trägt, im kalten Luftzug hinter der Holztäfelung des Herrn Freen, vor der Ben sich von einem Vogel mit einem blauen Kopf von der Pietät hat ablenken lassen.

Die Tür wird aufgestoßen. Mami kommt herein. Sie trägt eine schwarze Seidenbluse, ein schwarzes Kostüm, Ohrringe, eine Halskette und Schuhe mit hohen Hacken und einem grünen Preisschild auf der Sohle. Sie hat sich Locken machen lassen, die sie hochgesteckt trägt. Sie sieht aus wie zu Besuch. Sie wirft einige Tüten aufs Bett. Aus einer Tüte rutscht ein Karton mit einem gelben Spielzeugkipper. Vielleicht ein Geschenk für Ben zur Beerdigung. Mami setzt sich und zieht ihre neuen Schuhe aus. Sie leckt über ihren Zeigefinger und betupft eine wunde Stelle an ihrem Knöchel. Dabei entdeckt sie Ben im Schrank. Sie springt auf. »Bist du verrückt geworden? Was hast du hier zu suchen? Verschwinde aus meinem Schrank! Das ist mein Schrank! Das sind meine Kleider! Das ist mein Schlafzimmer! Mein Schlafzimmer ist für euch absolut tabu! Raus hier!« Sie zerrt an Bens Arm, und ihre rot lackierten Fingernägel graben sich in seine Haut.

STATT DEN GEWOHNTEN WEG ZU NEHMEN, fährt Ruth abseits der Straße über einen schmalen, unbefestigten Wirtschaftspfad entlang des Moores zum Krankenhaus. Regen prasselt auf die Scheiben, Zweige schlagen gegen die Autotüren, trübes Wasser spritzt aus den Pfützen.

Bei dem Versuch, mit einem Messer ein eingetrocknetes Kaugummi aus dem Führerhäuschen eines Spielzeuglasters zu entfernen, brach Ruth versehentlich dessen Beifahrertür ab. Statt den Laster zu reparieren, zerkratzte sie seine Windschutzscheibe, stach auf die Pritsche ein und schnitt einige Kerben in einen der Hinterreifen. Dann warf sie den Laster in den Müll. Bevor sie Ersatz besorgen konnte, starb Jonas.

Mittlerweile hat sie einen kostspieligen Kipper gekauft, der auf gezacktem Stollenprofil fährt und dessen Mulde aus gelb lackiertem Zinkguss gefertigt ist.

Ruth parkt den Wagen auf dem Bürgersteig. Sie steigt aus, hetzt durch den Regen und duckt sich unter das düstere Portal des Krankenhauses, das dem ersten Bataillon der SS-Standarte Germania 1937 als Festung erbaut worden war. Bruchrauer Sandstein. Ewige Siegeszuversicht.

Einige Augenblicke später steht sie im Flur der Kinderstation vor dem Zimmer Nummer 14, ohne sich erinnern zu können, wie sie dort hingelangt ist. Sie wischt sich den Regen von der Stirn, zwingt sich ein Lächeln aufs Gesicht, klopft an die Tür und tritt unaufgefordert ein.

Jonas’ Bett unter dem Fenster ist abgezogen, ein Nachttisch liegt quer über der Matratze und verdeckt nur unzureichend einen Fleck. Im Bett nebenan liegt ein Mädchen. Es schläft. Seine Zöpfe sind so fest geflochten, dass sie wie struppige Wüstenpflanzen vom Kissen abstehen. Aus einer Infusionsflasche rinnt Flüssigkeit in das Mädchen.

Im Schwesternzimmer trifft Ruth auf die Oberschwester.

»Oh«, sagt die Schwester. Ein Buchstabe ist von dem bunten Namensschild aus gebrannter Knetmasse, das an ihrem Kittel steckt, abgefallen. Gu run.

»Mein Name ist Schrader«, sagt Ruth.

»Ich weiß, Frau Schrader.« Die Schwester stellt ein Tablett ab und fasst Ruth am Arm, eine Geste, die vermutlich freundlich gemeint ist, Ruth jedoch anmaßend erscheint.

»Ich hatte leider keine Gelegenheit, Ihnen mein Beileid auszusprechen. Ihr Sohn ist nicht in meiner Schicht gestorben. Es tut mir aufrichtig leid, Frau Schrader. Was kann ich denn jetzt für Sie tun?«

»Ich habe ein Spielzeug zu viel. Ich habe es gekauft. Um ein kaputtes Spielzeug zu ersetzen. Es ist ein Kipper. Ich habe auch einen Fahrradwimpel gekauft. Vor zwei Wochen schon.« Es ärgert Ruth, dass sie stammelt. »Ich möchte Jonas’ Bettnachbarn, dem kleinen Michael, ein Geschenk machen. Ich habe ihn aber auf seinem Zimmer nicht angetroffen.«

»Er ist längst nicht mehr hier, Frau Schrader. Er hat sich gut erholt und ist jetzt in der Rehabilitation.«

»Er benötigt keine Schläuche mehr?«

»Nein. Alles arbeitet wieder einwandfrei.«

»Ach«, sagt Ruth. Und nach einer Weile: »Ein Sieg, durch Zuversicht errungen.«

Die Oberschwester sieht sie verständnislos an.

Ruth schleicht durch die vertrauten Gänge zum Ausgang. Sie hätte damit rechnen müssen. Michaels Genesung war zu erwarten gewesen. Wo Kinder sterben, überleben auch Kinder. Der Verlust des einen ist der Sieg des anderen. Zuletzt werde die Summe der widerstreitenden Kräfte stets null ergeben, so hatte es ihr Hans einmal erklärt. Sie wirft den Kipper in einen Mülleimer mit Verbandmaterial, der auf Rollen in einer Nische steht.

In der Eingangshalle begegnet sie Jonas’ behandelndem Arzt. Er lehnt an einer Wand, raucht und schnippt die Asche seiner Zigarette in den Kübel einer Zierpflanze. Er wünscht Ruth Kraft auf dem beschwerlichen Weg, der nun vor ihr liege. Die Brille vor seinen reißzweckengroßen Augen gleicht der des IOC-Präsidenten, den Ruth einige Tage zuvor in den Fernsehnachrichten gesehen hat.

Hart lächelnd sagt sie: »The games must go on. Und das tun sie ja letztlich auch.« Dann verliert sie die Kontrolle über ihr Gesicht. Sie lässt den Arzt stehen und läuft durchs Portal des Krankenhauses ins Freie. Der Regen hat nachgelassen.

AUF DEM FRIEDHOF FÄHRT EIN LINIENBUS. Ben sitzt neben Mami und schwitzt seinen Anzug voll. Eine neue Fliege mit Gummizug quetscht ihm den Kehlkopf. Sein Bauch ist mit Wachs gefüllt, das von innen gegen seine Rippen drückt. Seine Schultern sind wie ausgeleiert, die Arme liegen schlaff und ohne Knochen in seinem Schoß. Die Beine funktionieren auch nicht mehr richtig. Sein Kopf rollt zur Seite und gegen Mamis Schulter. Er schließt die Augen. Mami streicht über seinen Rücken. Über jeden Wirbel einzeln wie über die Wachstropfen einer kalten Kerze. »Komm, wir sind da«, sagt sie.

Die Haltestelle heißt Kapelle 12. Pappi wartet auf dem Vorplatz der Kapelle. Er trägt ebenfalls einen Anzug, aber keine Fliege mit Gummizug, sondern einen schwarzen Schlips. Darüber trägt er einen dunklen Mantel. Als Pappi Ben sieht, geht er in die Knie und streckt seine Arme aus. Ben geht langsam auf ihn zu. Pappi umarmt ihn und seine rasierte Haut kratzt über Bens Gesicht. Sie riecht wie früher und ein bisschen nach nichts. Pappi sieht stumm zu Boden, als würde er dort etwas suchen. Einige Schritte entfernt steht eine Frau in einem Mantel aus Pudellocken. Pappi winkt sie heran. »Das ist Maren. Meine Frau. Du kannst ruhig Maren sagen. Oder Tante Maren. Wie du möchtest.« Die Frau hat kalte Hände.

Omis Mantel ist leopardengemustert. Sie ist die Mutter von Pappi und verkalkt. Sie liest die Rundfunkzeitschrift falschrum, fragt sich, was aus dem Hitler geworden ist, und verteilt in ihrem Zimmer zittrig beschriebene Zettel, die sie daran erinnern sollen, Baldrian zu kaufen. Als sie noch in ihrer Wohnung lebte, sind Ben und Jonas manchmal zu Besuch gewesen. Sie haben am Drehaschenbecher gedreht und mit dem Brausekopf telefoniert. Manchmal setzte sich Jonas Omis gesteppten Kaffeekannenwärmer auf den Kopf und spielte Papst. Ben musste ihn dann anbeten. Dafür bekam er eine Backoblate. Seit der Scheidung hat Ben Omi nicht mehr gesehen, und sie scheint ihm geschrumpft, als sie ihn jetzt auf den Mund küsst. In den Falten um ihre Lippen klebt Spucke.

Die übrigen Trauergäste sehen wie lebende Mäntel aus, und Ben kann sie nur schwer voneinander unterscheiden. Die Verwandten von Pappi tragen dunkle Mäntel, Frau Knoll, die Nachbarin von rechts, einen hellen Mantel mit einem schmalen Gürtel, der Mantel von Frau Wagner, der Klassenlehrerin von Jonas, endet über ihrem Knie, und die Mäntel der Kinder aus Jonas’ Klasse haben verknautschte Kapuzen. Die Nachbarsfamilie Berg von links drängt sich neben den Eingang der Kapelle. Sie tragen Mäntel wie zum Wandern, nur ihr behinderter Sohn nicht, weil er mit einem Wandermantel nicht in seinen Rollstuhl passt. Jonas’ ehemalige Kindergärtnerin, deren Schildkröte Jonas füttern und durch den Flur des Kindergartens schlittern durfte, trägt einen Mantel, der durch einen weiteren Mantel vor Nässe geschützt ist. Die Verwandten von Mami leben in der Ostzone, und Ben weiß nicht, ob sie dort auch gute Mäntel haben. Mami streicht über das Gummi von Bens neuer Beerdigungsfliege und sagt: »Jetzt gehen wir hinein.«

Am Ende eines Ganges steht der Sarg, den Mami im Bestattungsinstitut ausgesucht hat. Er ist glänzend weiß und hat Griffe aus poliertem Messing. Eine Seidenschleife schmückt einen Kranz gelber Blüten. Auf der Schleife steht: »In stillem Gedenken. Mami, Papi und Benjamin.« Pappi mit einem P und die Buchstaben von Benjamin kleiner als die übrigen, weil das Wort so lang ist. Im Sarg liegt Jonas, sein toter Bruder. Das lässt sich nicht beweisen, denn der Sarg ist verschlossen. Möglicherweise trägt Jonas einen grünen Anorak, aber ziemlich sicher keinen Mantel. Neben Jonas soll sein Teddy Christian Pauli liegen.

Mami und Ben setzen sich in die erste Reihe, wo außer Pappi sonst niemand sitzt. Die Bank ist hart, und Mami zieht Ben auf ihren Schoß. Leise fragt sie ihn, ob er den kleinen Engel auf Jonas’ Sarg erkennen könne.

»Ja«, flüstert Ben.

Mamis Stimme klingt sonderbar heiser, als sie sagt: »Er soll uns daran erinnern, dass der liebe Gott einen Engel gebraucht hat. Und dafür hat er sich Jonas ausgesucht.«

Fauler Gott. Fauler Kackgott.

Die Orgel spielt ein Kirchenlied und Pfarrer Menke weht durch eine Seitentür in die Kapelle. Er trägt ein Messgewand, das aussieht wie ein Mantel mit heiligen Stickereien. Während er Mami begrüßt, bringt er Bens Haare durcheinander. Dann verneigt er sich vor Jonas’ Sarg, putzt sich mit seinem Schal den Mund und besteigt die Kanzel. Sofort betet er los: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.«

»Amen«, sagt Mami leise.

»Die Gnade des Herrn sei mit euch.«

»Und mit deinem Geiste«, sagt Mami noch leiser.

Pfarrer Menke rollt das R in Schrader, Freunde und Trauergemeinde, in tragen und in Grabe. Er zankt ein bisschen mit Gott, weil dieser sich gegen uns gekehrt und unsere Träume und Hoffnungen zunichtegemacht hat und wir keine Worte finden, um dieses Unglück zu beschreiben. Dann blättert er in seinem Buch und liest ein Gedicht über einen Stecken und einen Stab vor. Er kann die Bibel leider nicht auswendig.

»Mir wird nichts mangeln, beten wir, und wissen doch, dass Jonas uns fehlen wird«, predigt Pfarrer Menke, obwohl er Jonas eigentlich nicht gekannt und er ihm bisher auch nicht gefehlt hat. Doch nun fehlt er ihm, und es graut ihm vor dem finsteren Tal der Trauer, das vor ihm liegt. »Du bist bei mir, beten wir, doch wissen wir es? Ist der Herr bei uns? Ist er bei jedem einzelnen von uns?«

Ben kann hören, dass Mami leise »Nein« weint.

Dann redet Pfarrer Menke von Jesus, und dass er hinabgestiegen sei in die dunkelsten Tiefen, dass es keine Tiefe mehr gebe, in die wir stürzen könnten, ohne zu wissen: Du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.

Den Rest bekommt Ben nur halb mit, das Wachs aus seinem Bauch ist in seine Ohren gestiegen und hat sie von innen verpfropft. Irgendwann drückt Pfarrer Menke seine Handflächen gegeneinander, wie es die Maria in Bens Bibel tut, wenn sie auf einem Esel reitet, dann betrachtet der Pfarrer die Decke der Kapelle und empfiehlt Jonas mit flehentlichem Blick der Gnade seines barmherzigen Gottes.

»Amen«, sagt Mami und bekommt es kaum raus.

»Amen«, sagen auch die anderen Mäntel in der Kapelle.

Die Orgel spielt, und sechs alte Männer schreiten durch den Gang. Ihr Anführer, ein gebückter Greis, sagt: »Danke«, worauf er und seine Kollegen sich vor Jonas’ Sarg verbeugen, was bei dem Greis nicht weiter auffällt. Dann sagt der Greis: »Bitte.« Die Männer stemmen den Sarg auf ihre Schultern und tragen ihn hinaus. Pfarrer Menke folgt ihnen. Mami flüstert Ben ins Ohr, dass es nun draußen weitergehe. Eine ihrer Tränen bleibt an Bens Ohr hängen. Sie rinnt über seine Ohrmuschel und kitzelt am Ohrläppchen. Während er mit Mami durch den Gang geht, starrt er dem alten Mann hinten rechts auf den Absatz seines rechten Schuhs. Dort klebt ein Grashalm.