Mit dem Ende der Sowjetunion feierten die fünf zentralasiatischen Sowjetrepubliken Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan ihre Unabhängigkeit. Sie erstrecken sich von der Wüste bis ins Hochgebirge, verfügen, wie Kasachstan, dank großer Öl- und Gasreserven über beachtlichen Reichtum oder zählen, wie Tadschikistan, zu den ärmsten Ländern der Welt. Was sie eint, ist eine große Zerrissenheit – zwischen jahrzehntelanger Sowjetherrschaft und autonomer Selbstverwaltung; zwischen hypermoderner Großmachtinszenierung und ärmlichen Lebensbedingungen; zwischen diktatorischem Herrscherkult und höchst lebendigen Traditionen und Kulturen.

Voller Fragen und Entdeckerlust machte sich die norwegische Journalistin Erika Fatland auf in diesen so fernab gelegenen Teil der Welt. Sowjetistan ist das Ergebnis dieser Reise: eine beeindruckende Reportage, die einem immer wieder aufs Neue die Augen öffnet.

Erika Fatland, 1983 geboren, ist eine norwegische Journalistin und Autorin. Sie hat einen Masterabschluss in Sozialanthropologie, spricht acht Sprachen, schreibt Reportagen und Artikel für zahlreiche Zeitungen und Magazine und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Sowjetistan wurde 2015 mit dem norwegischen Buchhandelspreis ausgezeichnet und erscheint in zehn Ländern.

Erika Fatland

SOWJETISTAN

Eine Reise durch Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan

Aus dem Norwegischen von
Ulrich Sonnenberg

Mit Fotografien der Autorin

Suhrkamp

Die norwegische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Sovjetistan. En reise gjennom Turkmenistan, Kasakhstan, Tadsjikistan, Kirgisistan og Usbekistan im Kagge Forlag AS, Oslo.

Die deutsche Ausgabe basiert auf der aktualisierten 4. Auflage der Taschenbuchausgabe von Sovjetistan, erschienen 2016.

Der Verlag dankt NORLA – Norwegian Literature Abroad
für die Förderung der Übersetzung.

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 01. Auflage der Ausgabe
des suhrkamp taschenbuchs 4762.

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Copyright © by Erika Fatland 2014

Published by agreement with Copenhagen Literary Agency, Copenhagen

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Umschlaggestaltung: ErlerSkibbeTönsmann

eISBN 978-3-518-75124-4

www.suhrkamp.de

»… the collapse of Russian rule in Central Asia has tossed the area back into a melting pot of History.
Almost anything could happen there now, and only
a brave or foolish man would predict its future.«

Peter Hopkirk, The Great Game.
On Secret Service in High Asia, 1990

Zur Schreibweise

Die zentralasiatischen Personen- und Ortsnamen sind für westliche Leser häufig verwirrend. Zum einen klingen die Namen fremdartig, zum anderen sind viele der Namen in unsere Sprachen über das Russische gekommen, der dominierenden Sprache in der Sowjetunion. Durch die russischen Transkriptionsregeln wurden die Namen zusätzlich verzerrt.

Der Nachname des turkmenischen Präsidenten wird zum Beispiel häufig Berdymukhammedov geschrieben. Der »kh«-Laut ergibt sich daraus, dass das Russische keinen Buchstaben für »h« hat. Turkmenisch, Norwegisch und Deutsch aber schon. Ich habe mich daher entschlossen, seinen Namen so zu buchstabieren, dass er sich mehr an das turkmenische Original anlehnt: Berdimuhamedow.

Noch komplizierter wird es dadurch, dass viele Orte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion neue Namen bekommen haben. Krasnowodsk heißt jetzt Turkmenbaschi, während Frunse, die Hauptstadt von Kirgisistan, zu Bischkek wurde. Mit wenigen Ausnahmen habe ich die neuen Namen verwendet. Eine der wenigen Ausnahmen ist Semipalatinsk in Kasachstan, das heute Semei heißt. Das Kapitel behandelt allerdings Ereignisse aus der Zeit, als die Stadt noch Semipalatinsk hieß. Außerdem ist Semipalatinsk den meisten Europäern bekannter als Semei, daher habe ich in diesem Fall den ehemaligen russischen Namen verwendet.

Erika Fatland

Im Übrigen folgt die deutsche Schreibung von Orts- und Personennamen der deutschen Transkription oder orientiert sich an der gängigen deutschen Schreibweise.

Ulrich Sonnenberg

Inhalt

Das Tor zur Hölle

Turkmenistan

Die Menschen aus dem Kellerloch

Die Marmorstadt

Diktatorstan

Die Wüstenblume

Der Sturz des Diktators

Die letzte Expedition

Die Ära des höchsten Glücks

Im Grenzland

Kasachstan

Eine Oase aus Sushi und Bankautomaten

Auf Schienen

Der verschwundene See

Das Imperium

Kasachisches Polo

Stalins Schachfiguren

Die Hauptstadt

Das große Experiment

Ein schwaches Herz

Der Vater der Äpfel

Der müde Aktivist

Ein harter Schlag

Tadschikistan

Die Mercedes-Benz-Hauptstadt

Außerhalb der Zeit

Die traurige Kellnerin

Gesichter des Krieges

Das Große Spiel

Das Land am Fuße der Sonne

Bekämpfen wir gemeinsam die Korruption!

Kirgisistan

Der Augenblick der Freiheit

Nicht weinen, du bist jetzt meine Frau

Die Adlermänner

Die letzten Deutschen in Rot-Front

Griechische Nüsse

Fünf Tage im Juni

Die Stille des Wartezimmers

Führen Sie Pornos mit sich, Fräulein?

Usbekistan

Die Kunst, die Fassade aufrechtzuerhalten

Der Stoff, aus dem Träume sind

Das Museum in der Wüste

Der Baumwollgott

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

Die Perlen der Seidenstraße

Die Endstation

Nachwort

Danksagung

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Bildteil

Das Höllentor

Ich habe mich verirrt. Die Flammen im Krater haben den Sternenhimmel ausgelöscht und allen Schatten das Licht entzogen. Die Feuerzungen fauchen, es sind Tausende. Einige Flammen sind groß wie Pferde, andere nicht größer als Wassertropfen. Eine enorme Hitze schlägt mir gegen die Wangen, der Geruch ist süßlich und ekelerregend. Ein paar Steine lösen sich vom Kraterrand und fallen lautlos in die Flammen. Ich trete einige Schritte zurück, auf festeren Grund. Die Wüstennacht ist kühl und ohne Geräusche.

Der brennende Krater von Derweze entstand 1971 durch einen Unglücksfall. Sowjetische Geologen vermuteten in der Gegend reiche Gasvorkommen und begannen mit Probebohrungen. Sie stießen tatsächlich auf Gas, auf gewaltige Mengen an Gas, und man plante die Gasgewinnung im großen Stil. Doch eines Tages öffnete sich der Boden unter dem Bohrer wie eine grinsende Kluft: über sechzig Meter lang und zwanzig Meter tief. Und dem Krater entströmte übelriechendes Methangas. Sämtliche Probebohrungen wurden auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, die Forscher packten zusammen, das Lager wurde geräumt. Um die Belastungen der Lokalbevölkerung zu verringern, die sich wegen des ekelerregenden Methangeruchs noch im Umkreis von mehreren Kilometern die Nase zuhalten mussten, wurde beschlossen, das Gas anzuzünden. Die Geologen gingen davon aus, dass die Flammen nach einigen Tagen von allein erlöschen würden.

Elftausendsechshundert Tage später, mehr als drei Jahrzehnte danach, brennt es im Krater noch immer ebenso heftig. Die Einheimischen nennen es das Tor zur Hölle. Die Einheimischen sind im Übrigen fortgezogen, alle bis auf einen. Turkmenistans erster Präsident ordnete an, das Dorf, in dem dreihundertfünfzig Seelen lebten, aufzulösen, er wollte den Kratertouristen den Anblick der erbärmlichen Verhältnisse der Dorfbewohner ersparen.

Auch der erste Präsident ist inzwischen nicht mehr da. Er starb zwei Jahre nachdem er angeordnet hatte, das Dorf zu räumen. Sein Nachfolger, ein Zahnarzt, hat entschieden, den Krater zu verfüllen, aber vorläufig hat niemand auch nur einen Spaten angerührt, um das Tor zur Hölle wieder zu schließen. Das Methangas strömt weiterhin durch Tausende kleiner Löcher aus seiner scheinbar unerschöpflichen unterirdischen Quelle.

Dunkelheit umgibt mich. Alles, was ich sehe, sind die tanzenden Flammen und das wogende, durchsichtige Gas, das wie eine Kopfbedeckung über dem Krater schwebt. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Allmählich gelingt es mir, Steinchen, Höhenzüge und Sterne zu unterscheiden. Reifenspuren! Ich folge ihnen hundert Meter, zweihundert Meter, dreihundert Meter; ich taste mich voran, vorsichtig, ich sondiere.

Aus der Entfernung wirkt der Krater beinahe schön: Tausende von Flammen verschmelzen zu einem langen, orangefarbenen Feuer. Ich gehe langsam weiter, folge den Spuren, und plötzlich stoße ich auf eine weitere Reifenspur, und auf noch eine, sie verlaufen kreuz und quer, es sind so viele, dass ich es aufgebe, sie voneinander unterscheiden zu wollen: frische, tiefe, feuchte ebenso wie trockene, verwischte und abgerissene Spuren. Von den Sternen, von denen es am Himmel jetzt wie Feuerfliegen wimmelt, ist nur wenig Hilfe zu erwarten. Ich bin kein Marco Polo, ich bin eine Reisende des 21. Jahrhunderts und kann allenfalls nach dem GPS meines Mobiltelefons navigieren. Das iPhone steckt aber tot in der Hosentasche, es kann mir nicht helfen. Doch selbst mit Batterie und Netzabdeckung hätte ich mich verlaufen. Denn es gibt keine Straßennamen in der Wüste, keinen Punkt, an dem man sich auf dem Display orientieren kann.

Zwei Scheinwerfer flackern durch die Nacht. Das Auto kommt rasch auf mich zu, das Geräusch des Motors hört sich beinahe brutal an. Hinter den dunklen Fensterscheiben erkenne ich Schirmmützen und Uniformen. Haben sie mich gesehen? In einem Anfall von Paranoia bin ich überzeugt, dass sie hinter mir her sind. Ich bin in diesem Land, einem der abgeschlossensten der Welt, nur aufgrund falscher Papiere. Obwohl ich stets auf meine Worte geachtet und niemandem erzählt habe, warum ich wirklich hier bin, haben sie es vermutlich längst durchschaut. Kein Student begibt sich hier allein auf eine Rundreise. Nur ein kleiner Stoß und ich wäre weg für immer, verschwunden und verkohlt im Vorhof der Hölle.

Die Frontscheinwerfer blenden mich, dann sind sie ebenso schnell wieder fort, wie sie gekommen sind.

Schließlich mache ich das einzig Vernünftige. Ich suche mir den höchsten Höhenzug aus, den ich erkennen kann, und klettere in der grauen Dunkelheit auf den Kamm. Von hier aus sieht das Höllentor aus wie ein glühender Mund. Vom Krater erstreckt sich die Karakum-Wüste wie ein melancholischer Flickenteppich in alle Richtungen. Einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, der einzige Mensch auf der Welt zu sein. Es ist ein seltsam ermunternder Gedanke.

Dann entdecke ich das Lagerfeuer, unser kleines Feuer, und gehe direkt darauf zu.

TURKMENISTAN

Fläche | 491 210 km²

Bevölkerungszahl | 5 171 943 (2014)

Hauptstadt | Aschgabat

Präsident | Gurbanguly Berdimuhamedow

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Die Menschen aus dem Kellerloch

Ausgang 504. Es musste sich um einen Fehler handeln. Alle anderen Ausgänge hatten 200er-Nummern: 206, 211, 242. War ich im falschen Terminal? Oder noch schlimmer – im falschen Flughafen?

Auf dem Flughafen Atatürk in Istanbul begegnen sich der Osten und der Westen. Bei den Reisenden handelt es sich um eine selige Mischung aus Pilgern auf dem Weg nach Mekka, sonnengebräunten Schweden mit Taxfree-Tüten voller Absolut Vodka, Geschäftsleuten in Anzügen aus Massenanfertigung sowie weißgekleideten Scheichs mit schwarzgekleideten Frauen, die mit Tüten voller exklusivem europäischem Design beladen sind. Keine andere Fluggesellschaft der Welt fliegt in so viele Länder wie Turkish Airlines, und diejenigen, die in seltsame Hauptstädte mit fremd klingenden Namen reisen, müssen hier in der Regel mit einer Zwischenlandung rechnen. Turkish Airlines fliegt nach Chisinau, Dschibuti, Ouagadougou und Ussinsk. Und nach Aschgabat, meinem Reiseziel.

Am Ende eines langen Korridors entdeckte ich endlich die gelobte Zahl. 504. Auf meinem Weg zum Gate, das, je näher ich kam, immer weiter entfernt zu liegen schien, löste sich die Menschenmenge nach und nach auf. Schließlich war ich allein, am Rand des Terminals, in einem entlegenen Winkel des Flughafens Atatürk, den nur die wenigsten kennen dürften. Der Korridor endete an einer breiten Treppe. Ich eilte die Stufen hinunter und betrat eine Welt bunter Kopftücher, brauner Schaffellmützen, Sandalen und Kaftane. Hier war ich es, die mit meiner Allwetterjacke und den Sportschuhen nicht ins Bild passte.

Ein schwarzhaariger Mann mit schmalen Augen kam auf mich zu. In den Händen hielt er ein Päckchen von der Größe eines Sofakissens, sorgfältig verschlossen mit braunem Klebeband. Ob ich es für ihn tragen könnte? Ich tat so, als verstünde ich kein Russisch; sorry, sorry, murmelte ich und ging weiter. Was war das für ein Mann, der sein Gepäck nicht selbst tragen konnte? Ein paar Frauen um die vierzig in bodenlangen lila Baumwollröcken und großen, dazu passenden Tüchern, die sie um die Köpfe gewickelt hatten, verteidigten den Mann: War das etwa zu viel verlangt? Konnte ich ihm nicht einfach helfen? Ich schüttelte den Kopf, no, sorry, sorry, und hastete weiter. Es kam überhaupt nicht in Frage, einem wildfremden Turkmenen mit einem suspekten Päckchen zu helfen. Alle Warnleuchten blinkten.

Ich kam fünf, sechs Meter weit, bis ich erneut angehalten wurde. Eine gertenschlanke Frau in einem bodenlangen roten Rock, die etwas über zwanzig Jahre alt sein mochte, griff mir an den Arm. Ob ich nicht so nett sein und ihr mit ihrem Gepäck ein wenig behilflich sein könnte? Nur ein bisschen?

Njet!, erwiderte ich energisch und riss mich los.

Im eigentlichen Wartebereich wurde mir schließlich klar, worum es hier eigentlich ging: Sämtliche Passagiere hatten zu viel Handgepäck, und auf dem Weg zum Gate standen Angestellte der Fluggesellschaft mit Badezimmerwaagen und strengen Mienen. Sobald die Passagiere die Maschine betraten, rissen sie sich die Päckchen vom Körper, die sie unter den Kleidern festgeklebt hatten.

Es schien offensichtlich unbegrenzt, was diese Frauen unter ihren langen Röcken verstecken konnten. Kichernd befreiten sie sich von ihren Lasten, ohne sich nennenswert darum zu kümmern, dass das Kabinenpersonal ihnen dabei zusah. Sie waren ja jetzt im Flugzeug.

Das Hauptmysterium war allerdings noch immer ungelöst: Warum um alles in der Welt hatten alle so viel Handgepäck? Eine der Flugbegleiterinnen schien bemerkt zu haben, wie verwirrt ich aussah, denn sie nickte mir verständnisvoll zu und gab mir ein Zeichen, näherzukommen.

»Es sind Geschäftsfrauen«, erklärte sie. »Sie fliegen mindestens einmal pro Monat nach Istanbul und kaufen Waren, die sie dann auf dem Markt von Aschgabat mit Profit wieder verkaufen. Fast alles, was in Turkmenistan angeboten wird, wird in der Türkei produziert.«

»Und warum packen sie die Sachen nicht in Koffer? Haben sie Angst, dass das Gepäck unterwegs verschwindet?«

Die Flugbegleiterin lachte. »Koffer haben die auch, glauben Sie mir.«

Das Besteigen der Maschine war umständlich. Die Passagiere, die überzähliges Handgepäck mit sich führten – und das traf auf die meisten zu –, mussten die billigen Plastiktüten mit Tape zukleben und als normales Gepäck aufgeben. Im Flugzeug herrschte Chaos. Die Frauen setzten sich, wohin sie wollten – unter dem lautstarken Protest der weißbärtigen Männer im Kaftan. Und jedes Mal, wenn ein Fluggast sich beschwerte, mischten sich zwanzig andere Passagiere, Männer wie Frauen, in die Diskussion ein.

»Bitte rufen Sie das Kabinenpersonal, wenn es Unstimmigkeiten über die Sitzplatzierung gibt«, forderte eine der Flugbegleiterinnen über die Lautsprecheranlage auf, aber niemand kam auf die Idee, es zu rufen. Eingeklemmt zwischen Kaftanen und Baumwollröcken hatte ich keine andere Wahl, als dem stockenden Fluss durch den Mittelgang zu folgen. Eine Stewardess presste sich mit verdrehten Augen an diesem Meer aus Körpern vorbei.

Auf meinem Platz, Sitz 17F, saß eine Autorität ausstrahlende Frau von Mitte vierzig in einem lila Rock.

»Hier muss ein Irrtum vorliegen, dies ist mein Platz«, sagte ich auf Russisch.

»Sie wollen doch nicht etwa drei Schwestern auseinanderreißen?«, erwiderte die Frau und wies mit dem Kopf auf die beiden Matronen auf den Sitzen neben ihr. Sie sahen ihr unglaublich ähnlich. Alle drei blickten mich aufmerksam an.

Ich zog meine Bordkarte heraus, zeigte auf die Nummer und auf den Sitz. »Dies ist mein Platz«, erklärte ich.

»Sie wollen drei Schwestern auseinanderreißen?«, wiederholte die Dame.

»Und wo soll ich sitzen? Dies ist, wie gesagt, mein Platz.«

»Sie können sich dort hinsetzen.« Sie zeigte auf einen freien Platz vor uns. Als ich den Mund öffnete, um zu protestieren, sah sie mich mit einem Blick an, der offenkundig ausdrückte: Wollen Sie etwa drei Schwestern auseinanderreißen?

»Das ist kein Fensterplatz«, murmelte ich, setzte mich jedoch gehorsam auf den Sitz, auf den die Autorität Ausstrahlende gezeigt hatte. Nein, ich wollte die drei Schwestern nicht auseinanderreißen. Und vor allem wollte ich nicht vier Stunden neben zweien von ihnen sitzen. Als der rechtmäßige Inhaber des Platzes, auf den man mich verwiesen hatte, auftauchte, verwies ich ihn an die drei Schwestern hinter mir. Der Mann gab sofort sämtliche Verhandlungsversuche auf und sah sich nach einem Platz weiter hinten um. Und als das Flugzeug schließlich zur Startbahn rollte, liefen vier verwaiste Männer auf der Suche nach freien Plätzen durch den Mittelgang.

Normalerweise schlafe ich, sobald die Räder von der Startbahn abheben, doch diesmal bekam ich kein Auge zu. Mein Nebenmann stank nach altem Suff und schmatzte lautstark im Schlaf. Die aufrecht sitzende Frau am Fenster drückte ungeduldig auf den Bildschirm vor sich. Obwohl sie kein interessantes Programm fand, gab sie nicht auf und drückte hektisch weiter.

Um mir die Zeit zu vertreiben, blätterte ich in dem hübschen kleinen turkmenischen Wörterbuch, das ich mitgenommen hatte. Für die Sprachen der anderen vier Länder, in die ich wollte, gab es umfangreiche Selbstlernkurse mit dazugehörigen Textbüchern, Übungsheften und DVDs, und in einem Anfall von Übermut hatte ich alles gekauft. Für die turkmenische Sprache dagegen hatte ich lediglich dieses bescheidene Büchlein gefunden, das zur einen Hälfte aus einem Wörterbuch und zur anderen aus einer Überlebensanleitung bestand. Letztere war so nützlichen Phrasen gewidmet wie: Bist du verheiratet? Nein, ich bin Witwe. Ich verstehe nicht. Bitte sprechen Sie langsamer. Stück für Stück führte der Autor den Leser an Eventualitäten und Probleme heran, die einen auf Reisen in diesem Land womöglich ereilen könnten: Wie viele Stunden Verspätung hat das Flugzeug? Funktioniert der Aufzug? Fahren Sie bitte langsamer! Der Abschnitt über Hotels gab Anlass zur Sorge: Die Toilette ist verstopft. Das Wasser ist abgestellt. Der Strom ist ausgefallen. Das Gas ist abgestellt. Es gibt keine Möglichkeit, das Fenster zu öffnen/zu schließen. Die Klimaanlage funktioniert nicht. Nach diesen generellen, aber ungefährlichen Problemstellungen beschäftigte sich der Autor mit einer Reihe potenziell auftauchenden Krisensituationen, von Haltet den Dieb! und Rufen Sie einen Krankenwagen! bis zu eher allgemein nützlichen Phrasen wie Ich war das nicht! und Ich wusste nicht, dass ich das nicht darf! Ganz am Ende nahm ein wichtiges Kapitel sich des Themas Checkpoints an. Ich prägte mir Nicht schießen! und Wo ist die nächste internationale Grenze? ein und legte das Buch beiseite.

Die Frau auf dem Fenstersitz hatte es aufgegeben, etwas Interessantes auf dem Bildschirm zu finden, und schnarchte mit offenem Mund. Ich schaute hinaus auf den sich rötenden Abendhimmel. Im Laufe der nächsten acht Monate wollte ich fünf der jüngsten Länder der Welt besuchen: Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan. Als sich die Sowjetunion 1991 auflöste, wurden diese Länder zum ersten Mal in der Geschichte selbstständige Staaten. Seither haben wir nur wenig von ihnen gehört. Obwohl die fünf Länder zusammen ein Areal von über vier Millionen Quadratkilometern abdecken, in dem mehr als fünfundsechzig Millionen Menschen leben, ist diese Region den meisten von uns vollkommen unbekannt.

Der größte Einsatz, diese Region im Westen »bekannter« werden zu lassen, ist paradoxerweise dem britischen Komiker Sacha Baron Cohen zu verdanken. Sein Film Borat – Kulturelle Lernung von Amerika, um Benefiz für glorreiche Nation von Kasachstan zu machen trat 2006 einen Siegeszug durch die Kinos von Europa und den USA an. Cohen ließ Borat aus Kasachstan kommen, gerade weil im Grunde niemand je von diesem Land gehört hatte – was ihm volle künstlerische Freiheit verlieh. Die Teile des Films, die angeblich in Borats Heimatstadt in Kasachstan spielen, wurden allerdings nicht dort aufgenommen, sondern in Rumänien. In Russland war Borat der erste nicht-pornographische Film, der nach der Auflösung der Sowjetunion verbotenerweise gezeigt wurde. Die Regierung Kasachstans drohte, die Filmgesellschaft zu verklagen, sah aber letztlich ein, dass eine Klage dem Ruf des Landes noch mehr schaden würde. Dass eine lächerliche Komödie zu unserer wichtigsten Referenz für die gesamte Region wurde, sagt ziemlich viel darüber aus, wie unbekannt die Gegend ist: Kasachstan ist immerhin das neuntgrößte Land der Welt, aber noch viele Jahre nach der Filmpremiere wurde das Land als »Borats Heimatland« bezeichnet, auch von seriösen Medien.

Als die postsowjetischen Staaten in Zentralasien zum ersten Mal erwähnt wurden, behandelte man sie in der Regel wie ein Land: Sie wurden als »Turkestan« – unter diesem Namen war die Region im 19. Jahrhundert bekannt –, als die »Stans« oder mit dem von Donald Duck inspirierten Namen »Weitwegistan« bezeichnet. Stan kommt aus dem Persischen und bedeutet Ort oder Land. Turkmenistan bedeutet also Land der Turkmenen, während Turkestan als das Land der türkischen Volksstämme übersetzt werden kann. Trotz des gemeinsamen Suffixes unterscheiden sich die fünf Stans geradezu auffallend voneinander: Turkmenistan besteht aus über achtzig Prozent Wüste, während über neunzig Prozent der Fläche Tadschikistans Bergland sind. Kasachstan wurde durch die Gewinnung von Öl, Gas und Mineralien so reich, dass es sich 2013 um die Ausrichtung der Winter-Olympiade beworben hat. Auch Turkmenistan sprudelt über vor Öl und Gas, während Tadschikistan arm ist wie eine Kirchenmaus. In vielen tadschikischen Städten und Dörfern verfügen die Einwohner im Winter nur wenige Stunden am Tag über Elektrizität. Die Regime in Turkmenistan und Usbekistan sind so autoritär und korrupt, dass man sie mit der Diktatur in Nord-Korea vergleichen kann: Es gibt keine freie Presse, und der Präsident ist allmächtig. In Kirgisistan hingegen hat das Volk bereits zwei Mal die amtierenden Präsidenten gestürzt.

Obwohl die fünf Länder in vieler Hinsicht grundverschieden sind, teilen sie das gemeinsame Schicksal ihres Ursprungs: Nahezu siebzig Jahre lang, von 1922 bis 1991, waren sie ein Teil der Sowjetunion, eines einmaligen, gigantischen gesellschaftlichen Experiments der Weltgeschichte. Die Bolschewiken hoben das private Recht auf Eigentum und andere individuelle Freiheiten auf. Ihr Ziel war eine klassenlose, kommunistische Gesellschaft, und es wurde kein Mittel gescheut, dieses Ziel zu erreichen. Jedes einzelne gesellschaftliche Feld erlebte radikale Veränderungen. Die Wirtschaft wurde nach ambitionierten Fünfjahresplänen organisiert, die Landwirtschaft wurde kollektiviert und die Schwerindustrie von Grund auf neu aufgebaut. Die sowjetische Gesellschaft war ein schwindelerregendes, umfassendes System. Das Individuum hatte sich dem Wohl der Gemeinschaft unterzuordnen: Ganze Völkerstämme wurden zwangsumgesiedelt, Millionen von Menschen aufgrund ihres religiösen, intellektuellen oder ökonomischen Hintergrunds zu »Volksfeinden« erklärt. Sie wurden entweder hingerichtet oder an die Ränder des Reiches in Arbeitslager verbannt, in denen die Überlebenschancen gering waren.

Es herrschte vielerorts großes Leid, und ökologisch war das sozialistische Experiment eine Katastrophe. Dennoch war nicht alles in der Sowjetunion schlecht. Die Bolschewiken legten großen Wert auf Schulen und Ausbildung, und es gelang ihnen, die Analphabetenrate erheblich zu reduzieren, die in Teilen der Union, zum Beispiel in Zentralasien, sehr hoch war. Mit einem gewaltigen Einsatz wurden Verkehrswege und Infrastruktur ausgebaut, und man sorgte dafür, dass alle Sowjetbürger zum Gesundheitssystem ebenso wie zu Oper und Ballett und anderen Wohlfahrts- und Kulturgütern Zugang hatten. Überall, von Karelien im Westen bis in die mongolischen Steppen im Osten, konnte man sich auf Russisch verständigen, und überall, wohin man kam, wehte die rote Fahne des Kommunismus an den Fahnenstangen. Von der Ostsee bis zum Stillen Ozean war die Gesellschaft nach einem einheitlichen ideologischen Modell organisiert – mit den Russen als Herrenvolk in den Führungspositionen. Die Sowjetunion bedeckte ein Siebtel der Erdoberfläche, und über einhundert ethnische Gruppen hatten ihre Heimat innerhalb dieser Grenzen.

Ich bin in den letzten Tagen der Sowjetunion aufgewachsen. Als ich in die zweite Klasse der Grundschule ging, begann die gewaltige Union an den Rändern zu bröckeln und löste sich dann sehr rasch auf. Im Herbst 1991 veränderte sich die Weltkarte: Die fünfzehn Republiken, die zusammen die Sowjetunion gebildet hatten, auch als Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken oder UdSSR bezeichnet, brachen aus der Union aus und wurden sozusagen über Nacht unabhängige Staaten. Innerhalb weniger Monate bekam Ost-Europa sechs neue Länder: Estland, Lettland, Litauen, Weißrussland, Ukraine und Moldawien. In Zentralasien entstanden fünf neue Staaten: Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan. Im Kaukasus erblickten drei neue Länder das Licht der Welt: Georgien, Aserbaidschan und Armenien.1

Am 26. Dezember 1991 wurde die Sowjetunion offiziell aufgelöst.

Die alten Karten hingen während meiner Schulzeit noch an der Wand. Regelmäßig zeigte uns der Lehrer die neuen Länder, die noch nicht durch irgendwelche Grenzen gekennzeichnet waren. Jahr für Jahr beschäftigten wir uns mit den fiktiven Grenzen der gewaltigen Supermacht, die es nicht mehr gab, und mit den unsichtbaren, aber durchaus realen Grenzen der neuen Länder. Ich erinnere mich, wie fasziniert ich von der Größe und der geographischen Nähe war. Die Sowjetunion – ein Name, bei dem alles nach Vergangenheit klang, ebenso wie bei »Jugoslawien« und »Zweiter Weltkrieg« – war unser nächster Nachbar gewesen.

Meine erste Begegnung mit der ehemaligen Sowjetunion hatte ich in Gesellschaft einer großen Gruppe finnischer Rentner. Ich ging das letzte Schuljahr auf ein Gymnasium in Helsinki und hatte mir ein billiges Ticket für eine Busreise nach Sankt Petersburg gekauft. Schon die Grenzkontrolle zeigte den Ernst der Angelegenheit: Gleich fünf Mal bestiegen bewaffnete Soldaten den Bus, um sämtliche Pässe und Visa zu kontrollieren. Als wir in Wyborg zum Mittagessen hielten, brachen einige der finnischen Rentner in Tränen aus.

»Es war immer eine so schöne Stadt«, klagte eine Frau.

In der Zeit zwischen den Weltkriegen war Wyborg die zweitgrößte Stadt Finnlands gewesen, doch nach dem Zweiten Weltkrieg mussten die Finnen diesen Teil von Karelien an die Sowjetunion abtreten. Der Verfall war überall sichtbar. Die Farbe fiel in großen Placken von den Fassaden ab, die Fußgängerwege waren voller Löcher, die Menschen wirkten verbittert und ernst und trugen dunkle, triste Kleidung.

In Sankt Petersburg wurden wir in einem Betonklotz untergebracht. Mit den breiten Straßen, den heruntergekommenen Trolleybussen, den pastellfarbenen klassischen Häusern und den unhöflichen Fahrkartenverkäufern war die Stadt zutiefst berührend und menschenfeindlich zugleich; sie war hässlich und schön, abstoßend und verlockend. Ich dachte, ich würde nie wieder dorthin fahren, doch kaum war ich wieder in Helsinki, kaufte ich mir Russisch-Lehrbücher. Im Laufe der nächsten Jahre paukte ich Vokabeln und Deklinationen, kämpfte mit den perfekten und imperfekten Aspekten und übte vor dem Spiegel die weichen und stimmhaften Konsonanten. Es kam zu weiteren Reisen nach Sankt Petersburg und Moskau, aber auch in die Randgebiete der alten Sowjetunion, in den Nord-Kaukasus, die Ukraine und Moldawien, und in die nicht als souveräne Staaten anerkannten Republiken Abchasien und Transnistrien. Überall, vom bergigen Ossetien bis zu den Palmen der Krim-Halbinsel, vom verschlafenen Chisinau bis zu den Verkehrsstaus in Moskau waren Reste der Sowjetunion zu finden. Sie hatte ihre Spuren in den Gebäuden und den Menschen hinterlassen und ließ die Städte überall gleich aussehen, egal wie viele Hundert Kilometer zwischen ihnen lagen.

Obwohl der Blick auf Putin und das damalige Russland von tiefer Bewunderung bis zu Ohnmacht und Abscheu variierte, begegnete mir überall die gleiche Sowjetnostalgie. So gut wie alle, die sich an die Sowjetunion erinnern konnten, sehnten sich in diese Zeit zurück. Anfangs überraschte es mich, denn in der Schule hatten wir nur von Arbeitslagern und Deportationen, von Überwachung, dem hoffnungslos ineffektiven wirtschaftlichen System und den Umweltkatastrophen gehört. Niemand hatte uns von billigen Flugreisen erzählt, die beinahe umsonst waren, von subventionierten Kuraufenthalten am Meer für altgediente Arbeiter und von Gratis-Kindergärten und -Schulen für alle, und nicht zu vergessen: all die guten Nachrichten. Bis Gorbatschow an die Macht kam, waren die Zeitungen und Nachrichtensendungen voll von erfreulichen Nachrichten und positiven Meldungen. Den staatlichen Medien zufolge lief in der Sowjetunion alles bestens, Kriminalität gab es nicht, Unglücksfälle passierten nie und jedes Jahr kam es zu neuen Triumphen und Höhenflügen.

Je mehr ich durch Russland und die ehemalige Sowjetunion reiste, desto neugieriger wurde ich auf die Außenränder des Imperiums. Viele Völker, die von Russland im 19. Jahrhundert kolonisiert und später der Sowjetunion zugeschlagen wurden, waren vollkommen anders als die Russen, nicht nur, wenn es um ihr Aussehen und ihre Sprache ging, sondern auch in ihrer Lebensweise, ihrer Kultur und ihrer Religion.

Dies galt vor allem für die Völker Zentralasiens. In den nördlichsten Gebieten, im heutigen Kasachstan, Kirgisistan und Turkmenistan, lebte der größte Teil der Bevölkerung als Nomaden, bevor die Russen kamen. Hier hatte sich kein eigentlicher Staat herausgebildet – die Gesellschaft war locker nach Klan-Zugehörigkeiten organisiert. Die Völker im Süden, im heutigen Usbekistan und Tadschikistan, waren sesshaft, hatten aber mehrere Hundert Jahre isoliert von ihrer Umwelt gelebt, sodass die gesellschaftliche Entwicklung auf vielen Gebieten stagnierte. Die feudalen Khanate Chiwa und Kokand sowie das Emirat Buchara, die heute alle zu Usbekistan gehören, waren daher eine leichte Beute für die russischen Soldaten. Sowohl die Nomaden wie die Zentralasiaten waren hauptsächlich Moslems. In den Straßen von Samarkand und Buchara bedeckten die Frauen sich traditionell, und Polygamie war eine verbreitete Lebensform, auch unter den nomadischen Völkern. Um das Jahr 1000 waren Städte wie Buchara und Samarkand wichtige wissenschaftliche und kulturelle Zentren gewesen, doch als die Russen kamen, war diese intellektuelle Hochzeit schon lange vorbei: Vor einhundert Jahren konnten nur die wenigsten Menschen in Zentralasien lesen, und die wenigen Schulen, die es gab, beschäftigten sich hauptsächlich mit religiösen Studien.

Im Laufe der Jahrhunderte hatten viele verschiedene Völker Zentralasien2 unterworfen, von den Persern und Griechen bis zu den Mongolen, Arabern und Türken. Diese ständigen Invasionen waren der Preis, den die Zentralasiaten für ihre Lage zwischen Ost und West bezahlen mussten. Genau diese Lage war aber auch der Grund, warum so viele Städte Zentralasiens während des Seidenhandels zwischen Asien und Europa vor über eintausend Jahren in Blüte gestanden hatten.

Dennoch, bis heute hat keine fremde Macht so gründlich und systematisch in das tägliche Leben der zentralasiatischen Volksstämme eingegriffen wie die sowjetischen Machthaber. Zur Zarenzeit waren die Russen hauptsächlich an ökonomischem Profit interessiert, sie wollten die Baumwollplantagen ausbauen und die zentralasiatischen Märkte kontrollieren und mischten sich kaum in die Lebensweise der lokalen Bevölkerung ein. Der Emir von Buchara durfte sogar seinen Thron behalten, solange er tat, was man ihm befahl. Die sowjetischen Machthaber hingegen hatten andere und ambitioniertere Pläne: Sie wollten eine Utopie verwirklichen. Innerhalb weniger Jahre wurden die Völker Zentralasiens gezwungen, den Schritt von einer traditionellen, auf Sippen basierenden Gesellschaft zu einem knallharten Sozialismus zu vollziehen. Alles, vom Alphabet bis zur Stellung der Frau in der Gesellschaft, wurde verändert, wenn nötig mit Gewalt. Während dieser drastischen Umwälzungen verschwand Zentralasien in der Realität von der Landkarte. In der Sowjetzeit waren große Teile der Region für Außenstehende hermetisch abgeschlossen.

Welche Spuren haben die Jahre unter sowjetischer Herrschaft in diesen Ländern hinterlassen, bei den Menschen, die hier leben, in den Städten und in der Natur? Was hat von der ursprünglichen Kultur aus der Zeit vor der Sowjetunion überlebt? Und vor allem: Wie erging es Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan Kirgisistan und Usbekistan in den Jahren nach dem Fall der UdSSR?

Mit diesen Fragen auf dem Notizblock hatte ich mich ins Flugzeug nach Aschgabat gesetzt. Ich hatte mich entschieden, die Reise in Turkmenistan zu beginnen, da dies der unsicherste Kandidat war. Nur wenige Tausend Touristen besuchten das Land jedes Jahr, und die Voraussetzungen für ein Visum waren streng. Ausländische Journalisten durften so gut wie nie ins Land, und die wenigen, die eine Akkreditierung bekamen, wurden rund um die Uhr beschattet. In meinem Visumsgesuch hatte ich angegeben, Studentin zu sein, was eigentlich nicht wirklich gelogen war, da ich tatsächlich an der Universität von Oslo immatrikuliert war. Nach monatelangem Mailverkehr mit dem staatlichen Reisebüro wurde mir zwei Wochen vor der Abreise bestätigt, dass die Einreise genehmigt war. Endlich konnte ich die Flugtickets buchen und mit den Reisevorbereitungen beginnen.

Alle zwei Stunden, die wir durch die Nacht flogen, mussten wir die Uhr eine Stunde vorstellen. Die Sonne glühte rot im Osten, als das Flugzeug die Geschwindigkeit verringerte und mit dem Sinkflug begann. Sowie die Räder den Boden berührten, öffneten sämtliche Passagiere ihre Sicherheitsgurte. Das Kabinenpersonal hatte längst resigniert und machte sich nicht mehr die Mühe, sich mit den kaftanbekleideten Männern anzulegen, die mit unsicheren Bewegungen den Mittelgang entlangschwankten, um ihr Handgepäck zu suchen. Durch das ovale Kunststofffenster sah ich das neue Flughafenterminal, dessen weißer Marmor in der Morgensonne schimmerte und blinkte.

Nie zuvor hatte ich mich weiter von zu Hause weg gefühlt.

Die Marmorstadt

All der Marmor blendete mich. Die Wohnblöcke türmten sich wie ein schneebedeckter Wald vor mir auf, hocherhoben und stattlich, aber ohne Persönlichkeit. Wohin ich mich auch wendete, es war überall das Gleiche: schimmernder, weißer Marmor. Während der Fahrt in die Stadt fotografierte ich wie ein Japaner auf Speed durch das Autofenster. Die meisten Fotos waren nicht zu gebrauchen. Die Straßen zwischen den Wohnblöcken waren eines Ölstaats würdig: acht Spuren breit, erleuchtet von weißen, eigens designten Lampen. Die Autos, die man an einer Hand abzählen konnte, waren alle blitzsauber, Mercedes waren eindeutig in der Überzahl. Auf den breiten Fußgängerwegen sah man keine Fußgänger, nur den einen oder anderen Polizisten, der seinen rotleuchtenden Gummiknüppel dazu benutzte, jeden zweiten Wagen anzuhalten, vermutlich aus Langeweile.

Es schien, als würde alles in dieser Stadt der Zukunft angehören, selbst die Bushaltestellen, die über eigene Klimaanlagen verfügten. Nur die Menschen der Zukunft fehlten. Der Kontrast zu dem Chaos im Flugzeug war auffällig: Bei den teuren Marmorblöcken handelte es sich um leere Hüllen, die Straßen waren verwaist. Lediglich der Straßenrand war belebt. Eine Heerschar von gebückten Frauen, die orangefarbene Westen und zum Schutz vor der Sonne Tücher vor den Gesichtern trugen, arbeiteten verbissen daran, die Stadt sauber und ordentlich zu halten. Sie sahen aus wie Guerilla-Soldaten, so wie sie schnitten, zupften, fegten und gruben.

»Aschgabat ist eine sehr hübsche Stadt geworden, Dank-sei-unserem-Präsidenten«, bemerkte mein Fahrer Aslan, ein blasser Mittdreißiger und Vater eines kleinen Kindes. Die letzten vier Worte kamen schnell, wie ein automatischer Anhang, so wie ein Moslem jedes Mal Friede-sei-mit-ihm anfügt, wenn er den Propheten erwähnt, oder wir unsere Höflichkeitsphrasen herunterleiern wie danke-gleichfalls oder gern-geschehen. Nach und nach fand ich heraus, dass es viele verschiedene Variationen dieser Präsidentenphrase gab, aber alle stets mit dem gleichen selbstverständlichen Ernst ausgesprochen.

Aschgabat wurde gebaut, um jedem Besucher den Atem zu rauben. »Schaut, was wir hier bekommen haben!«, schrien die Marmorbauten. »Seht euch uns an!« Wenn auch die Weltpresse nicht immer genau verfolgt, was in dem kleinen Wüstenland in Zentralasien vor sich geht, hat doch das Guinness World Records-Buch längst ein Auge auf dieses exzentrische Land geworfen. So konnten die Einwohner der Hauptstadt vor einigen Jahren ihren jüngsten Rekord feiern: Aschgabat ist jetzt offiziell die Stadt auf der Welt mit den meisten Marmorfassaden im Verhältnis zur Anzahl Quadratmeter. Es heißt, dass die Marmorsteinbrüche im italienischen Carrara durch die turkmenische Unersättlichkeit nach der weißen Substanz allmählich erschöpft sind. Zuvor konnten die Einwohner Aschgabats sich bereits damit brüsten, in der Stadt mit der größten Springbrunnenanlage der Welt zu leben, und das, obwohl über achtzig Prozent Turkmenistans aus Wüste bestehen. Vor Aschgabats achtspurigen Straßen erstrecken sich unfruchtbare Sanddünen in alle Richtungen, aber innerhalb der weißen Marmormauern fließt das Wasser in nicht versiegenden Strömen. Überall, wo man geht und steht, gluckst und rauscht fließendes Wasser. Außerdem steht in Aschgabat das weltgrößte Riesenrad in geschlossener Bauart, eine 46,7 Meter hohe, märchenhafte Glaskonstruktion mit eingebauten Gondeln, die sich langsam im Kreis drehen. Aschgabats Fernsehzentrum, ein zweihundertelf Meter hoher Turm, ist die weltgrößte Darstellung eines Sterns. Eine Weile stand auch der höchste Fahnenmast der Welt in Aschgabat, aber dieser Rekord ist längst an andere Ex-Sowjetrepubliken gefallen.

Nur die größten Prestigeobjekte sind mit italienischem Marmor verkleidet; bei den luxuriösen Wohnblocks wurde eine etwas schlichtere Marmorsorte verwendet, Marmor ist es allerdings dennoch. Für die verschiedenen Ministerien, die Pracht-Moscheen und Präsidentenpaläste hingegen war nur der teuerste und exklusivste Marmor gut genug. All diese staatlichen Bauten sind von ausländischen Firmen entworfen und konstruiert worden, hauptsächlich von Firmen aus Frankreich und der Türkei. Die Ingenieure haben sich ins Zeug gelegt, um den verschiedenen Ministerien ein jeweils besonderes Aussehen zu verleihen. Auf dem Außenministerium zum Beispiel thront ein blauer Globus, während das Gebäude des Unterrichtsministeriums die Form eines halboffenen Buchs hat. Die zahnärztliche Fakultät sieht aus wie ein Zahn, vermutlich auf Wunsch des Neuen Präsidenten, der ausgebildeter Zahnarzt ist. Auch das Presseministerium hat die Form eines Buchs, hier allerdings eines aufgeschlagenen. Oben an der rechten Buchseite leuchtet das goldene Profil des Ersten Präsidenten wie ein illuminiertes Initial.

Die beiden Präsidenten sind allgegenwärtig in Turkmenistan. In sämtlichen turkmenischen Städten stehen goldene Standbilder von Turkmenbaschi, dem ersten Präsidenten des Landes, der von der Auflösung der Sowjetunion bis zu seinem Tode 2006 im Amt war. Die Hauptstadt ist voll von ihnen, und alle sehen sich zum Verwechseln ähnlich: ein mit Anzug und Krawatte bekleideter Bürokrat, der den Rücken durchdrückt, mit einem stolzen, visionären Ausdruck im Gesicht. Sein Nachfolger, Gurbanguly Berdimuhamedow, bekannter als der Neue Präsident, hat sich für eine modernere Ausdrucksform entschieden: die Porträtfotografie. Überall in der Hauptstadt hängt sein enorm vergrößertes väterliches Gesicht. Auf allen Fotos lächelt er ein mysteriöses, Mona-Lisa-artiges Lächeln. Bereits bei der Visumskontrolle am Flughafen war ich diesem Porträt begegnet, kurze Zeit später sah ich es am Stadttor und daraufhin in der Hotelrezeption, wo eine ganze Wand diesem Zweck geweiht war. In Turkmenistan ist man niemals allein, egal wie menschenleer die Straßen auch sein mögen. Die Präsidenten sehen dich.

Ich hing aus dem Autofenster und knipste, bis der Zeigefinger schmerzte und dann seinen Dienst versagte, ich fotografierte einen halben Globus, Goldkuppeln, öde achtspurige Straßen. Aslan fuhr langsam, hielt aber nicht an. Waren viele Polizisten auf der Straße, bat er mich, die Kamera wegzulegen. Aus obskuren Sicherheitsgründen ist es streng verboten, sogenannte strategisch wichtige Gebäude wie die Präsidentenpaläste oder die üppigen Regierungsbauten zu fotografieren. Es ist auch illegal, Verwaltungsgebäude zu fotografieren, von denen es viele gibt. Denkmäler und Jubiläumsmonumente hingegen durfte ich so viel aufnehmen, wie ich wollte. Jeder einzige Meilenstein als unabhängige Nation ist durch gewaltige Denkmäler und Springbrunnen repräsentiert: Das fünfjährige Jubiläum, das zehnjährige Jubiläum, das fünfzehnjährige Jubiläum und das zwanzigjährige Jubiläum hatten ihre deutlichen Spuren im Stadtbild hinterlassen. Das Unabhängigkeitsmonument symbolisiert die Loslösung 1991, während man mit dem Konstitutionsmonument Turkmenistans junges Grundgesetz feierte. Die Nation hatte viel nachzuholen – und einen großen Stadtraum zu füllen. Die Sowjetmacht in Moskau sah Aschgabat nie als eine vordringliche Aufgabe. Die Russen hatten hier bereits 1881 eine Garnisonsstadt gegründet, die sich nach und nach zu einer modernen Stadt in der Wüste entwickelte. 1948 wurde sie innerhalb von Sekunden durch ein heftiges Erdbeben völlig in Schutt und Asche gelegt, Hunderttausende von Menschen verloren ihr Leben. Die Sowjetregierung baute die Stadt wieder auf, aber ohne besonderen Enthusiasmus. Sie ließ die üblichen Wohnblöcke aus grauem Zement errichten, dazu kamen der obligatorische Vergnügungspark mit Autoscooter und Riesenrad, sie legte ein paar grüne Parks an und veranlasste die Wiedereröffnung des Regionalmuseums mit der üblichen Ausstellung von ausgestopften Tieren und Tonscherben. Heute würde der sowjetische Stadtplaner seine eigene Stadt nicht wiedererkennen.

»Hier ist das olympische Dorf«, erklärte Aslan, als wir an einer weiteren Reihe von Marmorgiganten vorbeifuhren. An den weißen Wänden hingen riesige Plakate von Schlittschuhläufern und Medaillenzeremonien. »Die Schwimmhalle ist bereits fertig, Dank-sei-der-Weitsicht-unseres-Präsidenten. Die Kunsteishalle ist ebenfalls fertig, außerdem die Wohnungen, in denen die Beteiligten wohnen werden.«

»Ich wusste gar nicht, dass Turkmenistan die Olympischen Spiele ausrichten soll«, sagte ich.

Aslan warf mir einen gekränkten Blick zu. »Wir sind 2017 die Ausrichter der asiatischen olympischen Hallenspiele«, informierte er mich.

Mir war nicht klar, dass Asien eigene olympische Spiele hat, sagte aber nichts. Es war noch nicht Zeit zum Mittagessen, aber mir schwirrte bereits der Kopf. Das Batteriesymbol auf dem Kameradisplay blinkte rot. Normalerweise plane ich meine Reiserouten selbst, hier war ich allerdings Sklavin eines vom Reisebüro organisierten Tagesprogramms. Mit Ausnahme derjenigen, die mit kurzen Transitvisa durch das Land hasten, müssen alle Touristen, die Turkmenistan als Ziel haben, die Reiseplanung einem staatlich autorisierten Reisebüro überlassen. Das Büro trägt vierundzwanzig Stunden am Tag die Verantwortung für die Ausländer, die sich im Land aufhalten, und lässt sie selten allein. Nach dem Tod des Ersten Präsidenten sind die Regeln ein wenig aufgeweicht, unter anderem dürfen sich Touristen jetzt unbegleitet durch Aschgabat bewegen. Hier ist die Polizeidichte so groß, dass sie ohnehin unter permanenter Aufsicht stehen. Ansonsten hatte für die drei Wochen meines Aufenthalts mindestens ein Repräsentant des Reisebüros überall und die gesamte Zeit bei mir zu sein, abgesehen von den Nachtstunden. Drei Wochen sind das Maximum. Kein Tourist darf länger im Land bleiben.

Aslan bog auf einen riesigen, menschenleeren Platz, an dessen Ende ein Palast thront. Die überbordende Eingangspartie ruht auf griechischen Säulen, eine blaue Zwiebelkuppel reckt sich gen Himmel. Zwei goldene Pegasus-Figuren grüßen den Besuchenden von der Spitze der Säulen.

»Ist dies die Präsidentenresidenz?«, erkundigte ich mich beeindruckt.

»Nein, sind Sie verrückt? Unser-guter-Präsident wohnt außerhalb der Stadt in einem geschlossenen Bereich. Dies ist das Museum für Geschichte, das 1998 vom Ersten Präsidenten eröffnet wurde.« Aslan besorgte ein Ticket und schickte mich durch die Schiebetüren. Ein Wächter schaltete das Licht ein, als ich die Halle betrat. Das Interieur war braun und sowjetartig und stand in scharfem Kontrast zu dem barocken Äußeren. An den Wänden standen Frauen in langen Kleidern und unterhielten sich gedämpft. Meine Führerin, Aina, war Anfang zwanzig und trug die Uniform einer Studentin: ein rotes, bis zum Boden reichendes Kleid mit Stickereien auf dem Bruststück und eine schwarze, flache Kopfbedeckung. Das lange Haar war zu zwei Zöpfen geflochten, wie es bei jungen turkmenischen Frauen üblich ist. Sie grüßte streng und kommandierte mich in den Fahrstuhl.

»Hat das Museum viele Besucher?«, fragte ich, um überhaupt etwas zu sagen.

»Ja«, antwortete Aina ohne jeden Anflug von Ironie.

»Aber nicht heute?«

»Nein«, erwiderte sie, ebenso ernst.

Aina war eine Maschine. Ausgerüstet mit einem Zeigestock geleitete sie mich effektiv durch Turkmenistans fünftausend Jahre lange Geschichte. Mit monotoner Stimme listete sie in raschem Tempo Jahreszahlen und fremdartige Namen auf. Mehrfach musste ich nachfragen, wann diese oder jene Stadt gegründet worden war, und wann dieses oder jenes Reich existierte. Aina leitete alle ihre Antworten mit einem irritierten »Wie ich bereits sagte …« ein.

Während Aina mich effektiv an Tonscherben, Goldschmuck und verzierten Trinkhörnern vorbeiführte, wurde mir klar, wie wenig ich eigentlich von diesem Teil der Welt wusste. Hier hatte es blühende Kulturen und Städte gegeben, lange bevor die Römer zu Römern wurden. Große Dynastien wie die Meder, die Achämeniden, die Parther, die Sassaniden, die Seldschuken, mächtige Reiche wie Margiana und Choresmien … Und da das Land so exponiert in der Mitte zwischen Osten und Westen liegt, hatte es im Laufe der Jahrhunderte an Machtübernahmen und Invasionen keinen Mangel gegeben, was das Bild natürlich zusätzlich verkomplizierte.

»Waren die Menschen im Osten nicht Buddhisten?«, fragte ich verwirrt, als Aina über eine islamische Keramik aus Ost-Turkmenistan dozierte.

»Wie ich bereits sagte, war das vor der islamischen Invasion im 8. Jahrhundert.«