Cover

Über dieses Buch:

Drei berührende Frauenschicksale im Frankreich des 18. Jahrhunderts: Um sie vor dem drohenden Hungertod zu retten, verschafft der Bauer Cotin seinen Töchtern Anstellungen in Paris – aber während Madeleine und Marianne in gut gestellten Häusern unterkommen, muss Jeanne vor den Misshandlungen ihres schmierigen Dienstherrn fliehen. Ganz auf sich allein gestellt, nimmt sie ihr Leben selbst in die Hand und baut sich Schritt für Schritt eine eigene Zukunft auf. Immer wieder führt das Schicksal die drei Mädchen in die Nähe der anderen – doch nie treffen sie aufeinander. Trotzdem geben Marianne, Madeleine und Jeanne die Hoffnung nicht auf, sich wiederzufinden. Doch dann bricht die Revolution aus und stürzt das Land ins Chaos …

Über die Autorin:

Erfolgsautorin Sibylle Baillon wurde 1966 in Frankfurt am Main geboren und lebt heute teils an der Côte d'Azur, teils in Frankfurt am Main. Seit sie mit sieben Jahren ihren ersten historischen Roman verschlungen hat, ist sie fasziniert von Geschichten vergangener Epochen – als Leserin wie auch als Autorin. Mit der Veröffentlichung ihrer Romane erfüllte sie sich einen großen Traum. Wenn sie also nicht gerade in Büchern schmökert, gilt ihre Leidenschaft dem Schreiben romantischer, historischer, manchmal auch dramatischer sowie fantastischer Geschichten.

Die Website der Autorin:

www.sibyllebaillon.wixsite.com/sbittnerbaillon

Sibylle Baillon veröffentlichte bei dotbooks bereits ihren historischen Roman »Die zweite Braut«.

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Aktualisierte Originalausgabe April 2018

Dieses Buch erschien bereits 2017 unter dem Titel »Schwestern im Sturm« bei dotbooks.

Copyright © der aktualisierten Originalausgabe 2018 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Sabine Zürn

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/FlexDreams; Gemälde »Sturm auf die Bastille«

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-95824-946-2

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Sibylle Baillon

Die Töchter des Sturms

Historischer Roman

dotbooks.

Für Tristan und Roméo

»Was ist die Zukunft?

Was ist die Vergangenheit?

Was sind wir?

Was ist die magische flüssige Substanz, die uns umgibt und vor unseren Augen die Dinge versteckt, die wir dringend benötigen, um zu erkennen?

Von Wundern umgeben,

leben und sterben wir.«

Napoleon Bonaparte (1769–1821),

französischer Feldherr und Politiker, Kaiser der Franzosen

Prolog

Brienne-le-Château, 1784

Der kalte Herbsttag ging seinem Ende zu. Bunte Blätter säumten die breite Allee der Militärschule und die Luft roch nach Schnee. Zu früh, fuhr es ihm durch den Kopf, abseits auf einer Bank sitzend. Er beobachtete seine Mitschüler, die, wie es für junge Männer in seinem Alter wohl üblich war, herumalberten und sich prächtig zu amüsieren schienen.

Er seufzte. Er hatte dieses dumme Jungengeplänkel noch nie verstanden und fühlte sich, wie so oft, anders. Er war erst neun Jahre alt gewesen, als man ihn hierher geschickt hatte, und trotz der vielen gemeinsamen Jahre hatte er kaum Freunde.

Man hänselte ihn oft wegen seiner geringen Körpergröße und seines starken Akzents. Er beherrschte die hiesige Sprache, doch würde er seine Herkunft wohl nie verleugnen können. Das wollte er eigentlich auch nicht. Im Gegenteil, er war sehr stolz darauf.

Was die anderen jedoch am meisten störte, waren sein Hang zum Befehlen und sein aufbrausendes Naturell. Hinter seiner ernsten Fassade konnte man den brodelnden Vulkan, der in ihm schlummerte, erahnen.

Sein düsterer Blick schweifte über das Gelände hinüber zum Übungsplatz für die Reiter. Er liebte Pferde, und deshalb begeisterte er sich für diese Schule, auch wenn er anfangs sehr unglücklich gewesen war. Man hatte ihn drangsaliert, herumgeschubst und ihm Streiche gespielt, bis er sich endlich einmal richtig gewehrt hatte.

Seitdem war er es, der das Kommando übernahm, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab, und so manche anfänglich harmlose Schneeballschlacht ähnelte einem strategisch geplanten Militärangriff.

Seine Mitschüler hatten begriffen, dass man besser für als gegen ihn kämpfte. Ansonsten ließen sie ihn in Ruhe und hielten respektvoll Abstand zu ihm. Er bemerkte sehr wohl ihr Getuschel, sobald er ihnen den Rücken zukehrte. Unter seinen Kameraden hatte er nur zwei wirkliche Freunde.

Früher hatte ihn die ablehnende Haltung seiner Mitschüler belastet. Doch darüber war er längst hinweg. Sie mochten ihn nicht, sie fanden ihn zu ernst und überheblich. Doch was wussten sie schon von Karl dem Großen, dessen Wesen und Persönlichkeit er sich so nahe fühlte, oder von Rousseau, dessen Werke er verschlang?

Er schaute seinen Mitschülern teils mitleidig, teils verächtlich zu, wie sie ihre freie Zeit mit Weibergeschichten, Weingelagen und Klatsch verbrachten.

Frauen, dachte er wehmütig. Sie sahen durch ihn hindurch, als wäre er unsichtbar. Auf seiner Insel hatte er als Junge heimlich ein Mädchen geliebt. Sie war so schön wie der Morgentau gewesen, wie eine Rose, wie die aufgehende Sonne. Ihre blauen, runden Augen strahlten pure Lebensfreude aus, und ihr Puppengesicht ließ alle Jungen in seinem Alter dahinschmelzen. Jeden Morgen hüpfte sie auf dem Schulweg vergnügt an ihm vorbei, doch nie grüßte sie ihn, nie schaute sie ihn an. Jeden Abend vor dem Einschlafen nahm er sich vor, mit ihr zu reden, malte sich aus, was er sagen könnte, was sie antworten würde. Doch er verlor vorher immer wieder den Mut. Was sollte ein so schönes Mädchen, von allen begehrt, an ihm, dem schmächtigen Jüngelchen, schon finden? Bei diesen Gedanken hatte sich sein Magen immer schmerzhaft verkrampft.

Doch dann kam der Tag, an dem er einem anderen Mädchen begegnete, welches seinem Kindheitsschwarm aufs Haar glich. Vor zwei Jahren, als er mit seinem Vater auf der Rückreise vom Heimaturlaub in die Militärschule war, hatte ihn dieses Mädchen angesehen, mit ihm gesprochen und sich für ihn interessiert. Sie konnte nicht ahnen, wie sehr ihn ihre Aufmerksamkeit berührte, doch er hatte so getan, als wäre es ihm gleichgültig. Wenn ihn in der Schule die Einsamkeit schier erdrückte, schrieb er Gedichte und dachte dabei an sie. Sie gab ihm Mut und wurde sein Schutzengel. Ob er sie wohl je wiedersehen würde? Es war sehr unwahrscheinlich. Sie befand sich damals mit ihren Eltern auf dem Weg Richtung Paris, und dort gab es so viele Menschen wie Sterne am Himmel. Doch er wollte sie nie vergessen. Für diesen kurzen Augenblick der Zuwendung, für den lieben, neugierigen Blick aus ihren großen, blauen Kulleraugen und für die Tatsache, dass er für sie nicht unsichtbar gewesen war, würde er ihr ewig dankbar sein.

In der Zwischenzeit zog er es vor, zu lesen und zu studieren, was immer er zwischen die Finger bekam. Ja, sollten diese dekadenten Taugenichtse von Kameraden nur weiter über ihn lachen, denn morgen würde das anders aussehen. Sie hatten ja keine Ahnung, mit wem sie es zu tun hatten!

Denn in einem war er sich sicher, und mit seiner ganzen Seele strebte er nach dieser noch in ferner Zukunft liegenden Zeit mit einer Mischung aus unerklärlicher Vorahnung, Vorfreude, zügelloser Ungeduld und Lust: Er würde alles tun, um es seinem Idol Karl dem Großen nachzutun, und un grand homme werden.

Erstes Kapitel

Cholet, 1782

Morgentau lag wie kleine Perlen auf den Wiesen und Feldern. Die Luft war, trotz der schon aufgehenden Sonne, eisig kalt. Jeanne zog fröstelnd ihren dicken Wollschal enger um die Schultern. Sie lag zusammengekauert mit ihren Schwestern im hinteren Teil des Fuhrwerkes. Ihr Vater, Jean-Louis Cotin, ein bretonischer Bauer, lenkte den alten Ackergaul, und die Mutter saß stumm und eingemummt neben ihm auf dem Bock. In der Ferne verkündete ein Hahn den Tagesanbruch.

Sie sprachen kein Wort. Den Kindern war am Vorabend eine wichtige und vielversprechende Reise nach Paris angekündigt worden und am Morgen hatten die Eltern sie früh aus dem Bett gescheucht. Sie hatten sich angezogen und waren auf den Wagen geklettert. Jede der drei Schwestern durfte nur das Nötigste mitnehmen.

Jeanne, mit zehn Jahren die Jüngste, hatte die von ihrer Mama angefertigte Stoffpuppe mitgenommen. Ein hübsches Püppchen mit einer für die Gegend typischen traditionellen Bauerntracht, die ihre Mutter aus Lumpen und den Stoffresten von einer Schneiderin genäht hatte. Das Häubchen mit dem zurückgeschlagenen Rand war mit einer gestärkten, aus zarter Spitze gefertigten Krone besetzt, und das weite rote Kleid wurde von einer breiten, gelben Schürze mit großen Taschen überdeckt. Jeanne drückte das Püppchen wie einen Schatz an sich.

Sie verstand die überstürzte Reise nach Paris nicht, vermutete aber, dass sie mit ihrer Armut und dem Hunger, den sie litten, zu tun hatte. Vielleicht hatte Papa eine Arbeit in Aussicht? Oder wollte er zum Militär? Aber warum mussten dann ihre Mutter und die Kinder mit? So viel sie auch grübelte, sie konnte sich den Grund dieser Reise nicht erklären. Aus ihrem um den Kopf gebundenen Schal lugte sie zu ihren großen Schwestern hinüber, die nur stumm vor sich hinstarrten. Ob sie mehr wussten?

Marianne, mit vierzehn noch nicht verheiratet, war eine brünette Schönheit mit dunklen Augen. Ihre Liebe zum Nachbarsjungen Jacques wurde von dessen Eltern unterbunden. Sie seien nicht gewillt, einer Heirat zuzustimmen, denn sie könnten nicht noch mehr Münder stopfen, gaben sie als Erklärung.

Die zwölfjährige Madeleine mit ihren hellblonden, langen Locken und den blauen Augen galt als die Hübscheste von ihnen. Sie sprühte vor Lebensfreude. Jeannes Augen waren ebenfalls blau, ihr Haare dafür dunkelblond. Sie mochte Madeleines Sonnenhaar – wie sie es zu nennen pflegte – lieber. Oft hatte sie Stunden damit verbracht, wie bei einer Puppe das Haar ihrer Schwester zu bürsten, die es gern über sich ergehen ließ.

In dem Fuhrwerk roch es stark nach frisch gepflügten Feldern. Jeanne spürte jedes Schlagloch in der Straße und litt. Sie durchquerten Wälder, Felder und fuhren durch viele Dörfer. Jeanne entdeckte in der Ferne ein Gehöft, das wie ihr eigenes aussah.

Wo sie auch vorbeikamen, starrten sie ausgemergelte Gestalten mit müden und abgekämpften Gesichtern an. Jeanne stellte fest, dass ihre Familie es noch verhältnismäßig gut hatte.

Nach Stunden kamen sie an ein Rasthaus und hielten an. Der Vater machte den Gaul los und führte ihn an die Tränke. Die Mutter teilte die noch verbliebenen Wurzeln unter ihnen auf, und die Mädchen knabberten lustlos darauf herum.

Die heruntergekommene Gaststube schien gut besucht. Viele Gefährte und Pferde standen davor, und Lärm drang aus den Fenstern.

Neben ihnen hielt eine Kutsche und ein vornehmer Herr mit gepuderter Perücke stieg aus. Er wurde von einem jungen Soldaten begleitet, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um seinen Sohn handelte, wie Jeanne mutmaßte. Der Herr entfernte ein Haar von seinem Rock. Der Junge schaute zu ihnen herüber. Seine grauen, ernsten Augen schienen die ihren durchbohren zu wollen. Beschämt senkte Jeanne den Blick. Sie wusste, dass ihre blauen Augen so manchen Betrachter irritierten.

Ihre Großmutter – die nun im Himmel war – hatte immer gesagt, dass diese Augen noch viel Ärger mit sich bringen würden, und alle hatten gelacht. Jeanne verstand den Witz nicht. Ob ihre Schwestern den Scherz verstanden hatten oder nur so taten als ob, wusste sie nicht.

Das war vor der großen Hungersnot gewesen. Viele Bauern mussten wegen des zurückliegenden harten Winters und den Überschwemmungen hungern, so wie auch ihre Familie. Es hieß, die Wölfe seien schon in die Dörfer und Höfe gekommen, um Vieh zu reißen. Jeanne hatte oft abends die Eltern belauscht, als diese sie schlafend glaubten. Ihre Familie hatte länger durchgehalten als die Nachbarn. Doch es dauerte nicht lange, und der Hunger hatte auch ihre Familie heimgesucht – wie eine Krankheit, die sich wie ein Ungeheuer durch die Wälder, Felder und Höfe fraß, unvermeidlich, unumgänglich und alles zerstörend: den Mut, die Kraft und zuletzt die Hoffnung.

Jeanne folgte ihren Schwestern zum Brunnen und stellte sich in die Warteschlange. Als sie an die Reihe kam, war der Kübel leer. Hilfesuchend sah sie sich um. Ihre Familie stieg bereits wieder auf den Wagen. Ihr Vater überprüfte die Achse und die Räder des Gefährtes. Jeanne ließ die Schultern hängen.

Da trat der junge Soldat an sie heran. »Darf ich?« Er nahm ihr den Kübel behutsam aus den Händen und ließ ihn geschickt in den Brunnen gleiten. Die Kordel schlängelte sich wie ein Wurm hinterher, bis ein dumpfes Platschen ertönte.

Jeanne lächelte. Der Knabe, der nicht viel älter sein mochte als sie selbst, roch frisch nach Lavendelwasser.

»Wie heißt du?«, fragte er.

»Warum willst du das wissen?«

»Du bist frech für ein Mädchen«, antwortete er. »Ich helfe dir, also darf ich wohl deinen Namen erfahren!«

»Ich heiße Jeanne. Warum starrst du mich seit vorhin so an?«

»Weil du mich an jemanden aus meiner Heimat erinnerst.« Die Wangen des blassen Jungen färbten sich leicht rot.

»Eine Liebste?« Jeanne kicherte.

Mühsam zog der junge Soldat den nun schweren Kübel wieder nach oben.

»Für solche Fragen bist du noch zu klein.« Prüfend schaute er sie an.

»Bin ich nicht«, erwiderte Jeanne patzig. »Ich bin zehn!«

»Bist du dann nicht zu alt für so etwas?« Der Junge deutete mit einer Kopfbewegung auf ihre Puppe. Unwillkürlich presste sie diese fester an sich und kam sich tatsächlich auf einmal kindisch vor. »Nein«, flüsterte sie. Er schien so weltgewandt und sie so lebensfremd. Doch schnell gewann ihre Neugier wieder die Oberhand. »Also? War sie nun eine Liebste oder nicht?« Jeanne lächelte ihn verschmitzt an.

»Nein, sie war eine Spielgefährtin aus Kindertagen. Jetzt hör auf zu plappern und trink.«

Jeanne trank in schnellen Zügen, setzte den Kübel ab, wischte sich den Mund am Ärmel sauber, bedankte sich und ging weg. Auf halbem Weg wandte sie sich noch einmal um. Er hatte das Gefäß angesetzt und trank.

»Und du? Wie ist dein Name?«

Er trank gierig weiter und achtete nicht auf sie. Als sie sich beleidigt wegdrehte, rief er ihr hinterher: »Napoleon. Napoleon Buonaparte. Merke ihn dir!«

Als die Eltern die Reise wieder aufnahmen, verweilte Jeanne noch in Gedanken bei dem jungen Mann. Zu ihrer Verwunderung schaute er ihr nachdenklich hinterher. Sie flüsterte leise seinen Namen.

»Napoleon. Napoleon Buonaparte. Merke ihn dir, merke ihn dir …« Warum hatte er das gesagt? Gern wäre sie zurückgelaufen, um ihn zu fragen.

Nach mehreren Tagesreisen ohne Zwischenfälle kam die Familie Cotin erschöpft in Paris an.

Von Mutter wusste Jeanne, dass sich ihr Vater in der Vergangenheit oft in Paris aufgehalten hatte, kannte den Grund dafür aber nicht. Sie vermutete, dass sie – wie so oft – zu klein war, um das zu verstehen.

Als sie in die Straßen der großen Stadt einfuhren, staunten die Kinder. Ein unerträglicher Gestank hüllte sie ein. Sie hielten sich die Schals vor die Nase, um die schlechte Luft nicht einatmen zu müssen. Es nützte nicht viel.

Menschen rannten durcheinander, beladene Fuhrwerke ratterten durch die engen Gassen und Zeitungsjungen priesen ihre Blätter um die Wette an.

»Die Dysenterie hat wieder zugeschlagen. Schon 500 Tote!«

Am Rande der Stadt schien das Elend ähnlich groß wie auf dem Land. Doch je mehr sie sich dem Kern der Stadt näherten, umso edler wurden die Gebäude. Auf den großen Boulevards fuhren kostbare sechsspännige Kutschen an ihnen vorüber.

Riesige Paläste säumten die Straßen und Damen in märchenhafter Kleidung flanierten über das Kopfsteinpflaster. Jeanne blieb der Mund offen stehen. Großmutter hatte ihr oft Märchen von schönen Prinzessinnen erzählt, doch die Realität übertraf Jeannes Fantasien noch und lenkte sie von ihrer inneren Unruhe ab.

Ihr Vater bog in eine größere Straße ab und hielt vor einer vornehmen Villa. Hoffnung keimte in Jeanne auf. Würden sie nun hier wohnen, in diesem schönen Haus?

»Marianne?«, forderte die Mutter ihre Älteste auf. Marianne schluckte. Mutter und Tochter erhoben sich. Marianne warf einen Blick zu ihren Schwestern und stieg gefasst vom Wagen. Sie drückte die Hand ihrer Mutter, die den Druck erwiderte und mit ihr zum Tor schritt. Das ärmliche und vernachlässigte Aussehen der beiden stand im schrillen Kontrast zur hochherrschaftlichen Umgebung. Marianne läutete an der Glocke am Tor und wartete. Ein edel gekleideter Page öffnete ihr. Er musterte sie stirnrunzelnd von Kopf bis Fuß. Nach einem kurzen Wortwechsel ließ er sie sichtlich unwillig und naserümpfend ein. Mutter und Tochter verschwanden im Inneren des pompösen Gebäudes.

Nach einiger Zeit kam die Mutter alleine zurück, stieg ohne ein Wort auf das Fuhrwerk, und der Vater gab dem Gaul das Zeichen weiterzufahren. In Jeanne rebellierte es.

»Mutter, wann sehen wir Marianne wieder?«, fragte sie. »Was macht sie in diesem Haus?« Doch die Mutter saß nur weiter steif auf dem Kutschbock, schaute stur geradeaus und antwortete nicht. Jeannes Kehle schnürte sich zu.

Warum antwortete ihr keiner?

Die Straßen wurden wieder enger und belebter. Im Erdgeschoß vieler Häuser befanden sich vornehme Geschäfte und Läden.

Jeanne vergaß fast ihren Kummer und staunte über die Vielfalt der Waren, die angeboten wurden. Hüte, Schuhe, Körbe, Töpfe … Es war überwältigend. Sie schaute an sich hinunter auf ihre nackten Füße und stellte sich vor, die vornehmen Schuhe aus der Auslage zu tragen. Sie kicherte bei dem Gedanken in sich hinein.

»Schau, Madeleine, die Schuhe«, stupste sie die Schwester an. Madeleine zwang sich zu einem halbherzigen Lächeln.

»Was ist nur los?«, flüsterte Jeanne. Madeleine setzte zu einer Erklärung an, doch ihr traten Tränen in die Augen und sie schluckte die Worte hinunter. Sie schüttelte den Kopf und blieb Jeanne die Antwort schuldig.

Der nächste Halt wurde bei einer großen, vornehmen Schneiderei gemacht. Das Aushängeschild des Ladens war mit großen Buchstaben beschrieben und mit feinen orientalischen Zeichnungen verziert, die Kleidungsstücke aus fernen Ländern darzustellen schienen. Jeanne konnte nicht lesen. Das Schaufenster war mit Kleidermodellen, Perücken und Hüten in den buntesten Farben ausstaffiert, die selbst die Ausstattung der auf den Straßen flanierenden Damen an Pracht übertraf. Gab es Menschen, die solche Kleider trugen?

Mutter sah Madeleine an.

»Nein, Mutter, bitte nicht …«, wimmerte diese.

Jeanne verstand nicht. Warum wollte ihr keiner sagen, was hier vor sich ging? Warum weinte ihre Schwester? Instinktiv rückte Jeanne näher an Madeleine heran, die nun völlig die Beherrschung verlor. Die Schwestern klammerten sich aneinander, wimmerten und zitterten.

Der Vater stieg vom Kutschbock und kam nach hinten. Mit strengem Blick trennte er die Mädchen. Sein Gesicht war mit tiefen Furchen durchsetzt, die Jeanne vor diesem Winter noch nicht an ihm aufgefallen waren. Er zog Madeleine in seine Arme.

»Bitte, mein Täubchen, wir haben darüber gesprochen. Du weißt, dass wir keine andere Wahl haben. Sei doch vernünftig.«

Die ruhige, dunkle Stimme des Vaters verfehlte ihre Wirkung nicht. Madeleine straffte sich, trocknete die Tränen und ging mutig auf die Ladentür zu.

»Madeleine, Madeleine …«, kreischte Jeanne ihr verzweifelt hinterher. Doch ihre Schwester drehte sich nicht mehr um.

Ein grün gekleideter Lakai öffnete mit erhobenem Haupt die Tür.

Als Madeleine eintrat, war ein Läuten zu hören, und Jeanne sah, wie eine streng wirkende Dame auf ihre Schwester zukam und mit ihr sprach.

Ein rosafarbenes, gestreiftes Kleid mit einem Reifrock gab dieser Unbekannten etwas Märchenhaftes. Passende rosa Bändchen hingen in ihren zu Ringellocken gedrehten Haaren. Madeleine knickste, die Dame schaute zu Vater hinaus und nickte, legte ihre Hand auf Madeleines Rücken und führte sie behutsam, aber bestimmt hinter die Ladentheke.

Der Vater kehrte seufzend auf den Kutschbock zurück und fuhr wieder an. Jeanne zitterte am ganzen Leib. Eine furchtbare Ahnung stieg in ihr hoch. Würden ihre Eltern sie auch wie einen Sack Kartoffeln abliefern?

»Mutter, bitte sag, was wird aus mir?«, flüsterte sie und drückte ihre Puppe fester an sich. Doch ihre Mutter schien sie nicht zu hören.

»Worüber habt ihr schon gesprochen? Warum sagt mir denn keiner etwas?« Tränen der Angst und der Wut liefen Jeanne über die Wangen. Die Mutter presste die Lippen aufeinander.

Sie hielten vor einem Krämerladen an. Jeanne blickte wie ein gehetztes Tier vom Laden zu den Eltern und wieder zurück. Die Mutter hob sie sanft aus dem Wagen und trug sie in das Geschäft.

Es roch muffig, nach ungewaschener Kleidung, ranzigem Fett und Zigarrenrauch. Sie setzte Jeanne behutsam ab und nahm sie schluchzend in die Arme. Die Krämerin, eine gedrungene Frau, grinste sie mit faulen Zähnen an.

Jeanne verstand nicht und musste nun auch weinen. Die Mutter drückte sie und schob sie mit den Worten »Sei artig, meine Jeanne, und gräme dich nicht. Wir haben dich sehr lieb, vergiss das niemals, hörst du? Es muss sein« von sich.

»Maman«, rief Jeanne, »wo geht ihr hin? Wird es lange dauern? Darf ich nicht mitkommen?«

Sie hielt ihre Mutter am Rock fest und umklammerte ihre Beine, um sie am Gehen zu hindern. »Lass mich nicht alleine, Mutter, lass mich bitte nicht hier. Bitte, bitte …« Jeanne heulte und zitterte.

Die Mutter machte sich los und lief zur Tür. Jeanne wollte hinter ihr herlaufen, doch die Krämerin hielt sie grob an ihrem fleckigen Umhang fest.

»Nun bleib mal schön hier. Du wirst dich schon daran gewöhnen«, blaffte die Frau.

Jeanne schrie herzzerreißend auf, weinte und wollte sich losreißen. Doch sie hatte keine Chance gegen die Frau, die sie fest im Griff hielt. Ihre Mutter drehte sich nicht mehr zu ihr um und der Wagen fuhr davon.

Jeanne wurde mit einem Kanten Brot und einem Glas Milch in die Dachkammer gescheucht. Diese roch noch muffiger als das Geschäft. Durch ein kleines Dachfenster konnte sie die hereinbrechende Abenddämmerung wahrnehmen. Sollte sie hier etwa leben?

Das Brot sah verschimmelt aus, doch es war besser als nichts. Sie hoffte, nicht zu lange auf die Rückkehr ihrer Eltern warten zu müssen, denn sie mochte diese Frau nicht. Sie war unförmig und hatte ein böses Gesicht, fand Jeanne. Nachdem sie gegessen hatte, weinte sie sich auf dem vermoderten und feuchten Strohlager in den Schlaf, ihre Puppe unter ihrem zerlumpten Kleidchen eng an sich gepresst.

»Wo ist diese Göre?« Eine männliche Stimme donnerte durch das Haus.

Jeanne erschrak, setzte sich auf und horchte auf die polternden Schritte, die immer näher kamen. Ihr Haar stand wild vom Kopf ab und bildete einen imponierenden Kontrast zu ihren weit aufgerissenen blauen Augen.

Die kleine Tür zu ihrer Kammer flog knarrend auf und ein dicker Mann, eine Öllampe vor sich haltend, stand im Türrahmen und starrte sie an. Sein kugelrunder Bauch passte kaum durch die Tür. Was er sah, schien ihm zu gefallen, und er kam näher.

»Na, da haben wir dich ja. Wie heißt du denn, Kleine?«

»Jeanne«, flüsterte sie und der Mann brummte zufrieden.

»Jeanne. Das ist ein hübscher Name.«

Er setzte sich keuchend vor Anstrengung zu ihr auf das Lager und sackte bis zum Boden ein. Fast hätte Jeanne darüber gekichert, doch sie nahm sich zusammen. Das musste sie unbedingt ihren Schwestern erzählen, die würden sich die Bäuche halten vor Lachen, wie sie es immer taten, wenn Jeanne witzelte.

»Wie alt bist du denn, Jeanne?«

»Zehn.«

»So, so … zehn Jahre alt. Dafür bist du aber schon groß.«

»Das sagt meine Mutter auch immer.«

»Steh mal auf und dreh dich langsam im Kreis.«

Jeanne stand auf und drehte sich wie zum Tanz einmal um sich selbst.

»Wann kommt denn meine Mutter wieder?«

Der Mann antwortete nicht und stierte sie mit glasigen Augen an. Er griff nach dem Lumpen, der ihr als Kleid diente, hob ihn hoch und starrte ungeniert darunter. Er leckte sich die Lippen.

»Ich werde dir ein neues Kleid schneidern lassen und ein Bad brauchst du auch. Du bist ja völlig verlaust und stinkst. Dann wirst du mit uns im Laden arbeiten. Ein wenig hergerichtet, wirst du den Kunden schon gefallen.« Er räusperte sich.

Du stinkst aber auch, dachte Jeanne eingeschnappt. Aus dem Mund und auch sonst. Der alte Mann ekelte sie an.

»Bitte antworten Sie mir doch, wann kommt meine Mutter wieder?«, greinte sie bebend.

»Deine Maman kommt nicht wieder, Kind. Finde dich damit ab.«

»Sie lügen«, wimmerte Jeanne.

»Sie können dich nicht mehr gebrauchen. Du hast jetzt hier dein neues Zuhause, Kind. Sei vernünftig.«

Jeanne spürte seinen aufkeimenden Ärger. Ihre Unterlippe schob sich vor und sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich will hier nicht bleiben, ich will zu meinen Schwestern, zu meiner Maman.« Jeanne warf sich heulend auf das Strohlager. Sie wollte sterben. Hier konnte sie nicht bleiben, auf keinen Fall.

»Meine Frau braucht Hilfe, deswegen waren wir so freundlich, dich aufzunehmen, also sei artig und gehorche, und du brauchst nie wieder zu hungern.«

Der Krämer hievte sich mühsam aus dem Stroh und ging an die Tür.

»Und dann weißt du hoffentlich, wem du das alles zu verdanken hast, und wirst besonders nett zu mir sein.«

***

»Morgen früh wirst du beim ersten Hahnenschrei geweckt und kommst direkt in die Küche. Dann wäschst du dich im Hof und fragst die Haushälterin nach einem abgelegten frischen Kleid in deiner Größe.« Mademoiselle Bertin, die Herrin des Hauses, musterte Madeleine von Kopf bis Fuß.

»Ja, da dürften wir etwas Passendes finden.« Sie klimperte mit den Wimpern. »Ich stelle dreißig Mädchen an und kann mich leider nicht lange mit dir befassen. Die meisten wohnen auswärts, doch du wirst dir ein Zimmer mit Louisa teilen.« Sie schien zufrieden. »Ach, und Madeleine, verstecke deine Haare unter einer Haube.« Rose Bertin machte eine Handbewegung, als wollte sie Madeleine wegscheuchen.

Ein angenehmer Hauch von Rosenwasserduft stieg Madeleine in die Nase. Das Mädchen knickste artig und zog sich zurück. Erschöpft schleppte sie sich zum Küchengebäude im Hinterhof, entschied sich dann aber anders. Sie hatte keinen Appetit. Komisch, dachte sie, über Wochen habe ich vom Essen geträumt und jetzt … Sie seufzte. Müde erklomm sie die Stufen ins Dachgeschoß.

Das Mädchen, mit dem sie die Kammer teilte, schien freundlich zu sein und plapperte fröhlich drauflos: »Ich bin Louisa und du bist Madeleine, ja?«

Madelaine nickte.

»Es wird dir hier gefallen, da bin ich mir sicher«, setzte Louisa erneut an. »Die Bertin ist in Ordnung, streng, aber gerecht. Wusstest du, dass sie zur Modeministerin der Königin ernannt wurde? Ach, und hier, das ist dein Bett.«

Madeleine nickte abermals. Sie betastete das hübsche Himmelbett.

»Oh, die Modeministerin von Marie-Antoinette?«, fragte sie ehrfürchtig. Sie würde noch mehr Angst haben, alles falsch zu machen.

Louisa bejahte gewichtig. »Bist du gerade erst von zu Hause fort?«

Madeleine nickte beklommen. Als Louisa merkte, wie müde und einsilbig Madeleine ihr antwortete, ließ sie verständnisvoll von ihr ab.

Wahrscheinlich weiß sie, wie einem zumute ist, wenn man sich neu einleben muss, dachte Madeleine und war ihr dafür dankbar. Sie hatte den halben Abend zwischen Stoffballen verschiedenster Art und Größen in einem riesigen Lager hinter dem Laden verbracht und sich bemüht, sich so viel wie möglich zu merken von dem, was man ihr beibrachte. Die Begriffe waren ihr alle fremd, und sie hatte Schwierigkeiten, einen Brokatstoff von Damast, Organza oder Tüll zu unterscheiden.

Louisa, ihre Zimmergefährtin, war eine schon erfahrene Näherin in ihrem Alter und hatte ihr aufmunternd zugelächelt, wobei sich ihre kleine, mit Sommersprossen übersäte Nase niedlich gekräuselt hatte. »Keine Bange. Das wirst du schon noch lernen. In einer Woche kennst du die Namen und Bezeichnungen auswendig«, hatte Louisa ihr zugeflüstert.

Warum sollte sie das alles nur auswendig lernen? Madeleine sehnte sich nach ihren Schwestern, nach ihren Eltern. Dieses neue Leben gefiel ihr überhaupt nicht.

Sie dachte darüber nach, einfach fortzulaufen. Und dann? Ihre Eltern hatten ihr und Marianne die Situation erklärt.

»Meine lieben Mädchen«, hatte Mutter eines Abends gesagt, als Jeanne, die Jüngste, schon geschlafen hatte. »Wir müssen mit euch reden. Es wird nicht einfach werden, doch erwarte ich von euch, dass ihr tapfer seid.« Dann hatten ihnen die Eltern gesagt, was sie eigentlich schon wussten: Noch ein paar Wochen ohne Nahrung, und die ganze Familie würde verhungern.

Die beiden Mädchen wussten halbwegs über den Salzschmuggel des Vaters Bescheid. Mariannes Freund Jacques hatte ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit davon berichtet. Er meinte, dass viele Bauern in der Bretagne sich in dieses Geschäft stürzten, um ihre Familien zu retten.

Ihr Vater hatte über seine Beziehungen in Paris Anstellungen für seine Töchter gefunden. Madeleine nahm an, dass diese Bekanntschaften im Zusammenhang mit den dubiosen Geschäften standen.

Sogar die kleine Jeanne wäre versorgt, hatte die Mutter den beiden versichert und ihre kühle Hand beruhigend auf Madeleines zitternde Hände gelegt. Marianne hatte geweint, sich dann aber bald wieder beruhigt. Sie wolle stark sein, versprach sie ihrer Mutter.

»Ach, Mama, ich weiß, dass ihr es gut meint. Aber was wird aus euch? Werden wir uns je wiedersehen?«

Die Mutter hatte den Vater flüchtig angeschaut und den Blick dann gesenkt. »Gott allein kennt die Antwort, mein Kind, Gott allein …«

Zweites Kapitel

Das erste Tageslicht fiel durch das kleine, schmutzige Dachfenster. Ein Schwarm Schwalben zog vorüber. Jeanne streckte sich und setzte sich auf. Sie fror. Ihr knurrender Magen trieb sie zum Aufstehen.

Schüchtern öffnete sie die quietschende Tür und lugte vorsichtig hinaus. Aus dem Erdgeschoss vernahm sie ein lautes Klappern, das aus der Wohnstube kommen musste. Trotz der Kälte tappte Jeanne bibbernd und barfuß über den Flur. Die Wände des düsteren Treppenhauses waren mit verstaubten und schief hängenden Gemälden dekoriert. Ausgefranste Teppiche lagen auf den Dielenbrettern. Die knarrenden Stufen ließen sie zusammenfahren, als sie die Treppe hinunterschlich. Behutsam öffnete sie die Tür zur Wohnstube. Es roch nach Äpfeln und gebratenen Eiern.

Sie sah die furchterregende Frau von gestern und eine Küchenmagd mit Geschirr herumhantieren. Ein Teller Pfannkuchen stand neben dem Herd. Jeanne starrte ihn hungrig an.

Bei ihrem Anblick hielt die Händlerin inne, rümpfte die Nase und gab der Magd eine Anweisung. Diese kam auf Jeanne zugeeilt, nahm sie bei der Hand und führte sie zu einem dampfenden Waschzuber. Jeanne riss entsetzt die Augen auf und stemmt die Füße in den Boden.

»He, Kleine«, sagte die Magd und beugte sich zu ihr, ohne sie loszulassen. »Ich bin Lisbeth, und du bist Jeanne, nicht?«

Ein Nicken.

»Wenn du etwas zu essen haben möchtest und ein neues Prinzessinnenkleid … das möchtest du doch, nicht wahr …?«

Abermals ein Nicken.

»Dann musst du dich jetzt waschen lassen.«

Resigniert entkleidete Jeanne sich schüchtern und ließ alles über sich ergehen. Ob das mit dem Prinzessinnenkleid stimmte? Sie dachte an die vornehmen Damen des Vortages und an das Geschäft, in dem Madeleine untergebracht worden war.

Lisbeth bemühte sich, sie beim Waschen nicht den Blicken der anderen Anwesenden auszusetzen. Jeanne war ihr dankbar.

»Der Hausherr ist zum Glück schon unterwegs«, sagte Lisbeth leise mehr zu sich selbst, während sie versuchte, mit einem Kamm Jeannes zerzausten Haaren Herr zu werden.

Ohne einen Mucks von sich zu geben, stand Jeanne die Qualen des Waschens und Kämmens durch. Lisbeth kleidete sie in ein ältlich wirkendes, doch sauberes Kleid.

»Das ist aber kein Prinzessinnenkleid.« Jeanne verschränkte schmollend die Arme vor der Brust. Warum mussten Erwachsene immerzu lügen?

Lisbeth grinste und gab ihr einen Stups auf die Nase. »Das muss doch erst angefertigt werden, Fräulein Naseweis. Aber lass das bloß nicht die Herrin hören.«

Lisbeth schaute sich ängstlich um, doch die Herrin hatte die Stube bereits verlassen. Jeanne bekam von Lisbeth eine Schüssel mit Grütze vorgestellt und schlang die pampige Masse gierig in sich hinein, bis ihr Bauch zu schmerzen begann. Von den Pfannkuchen war nichts mehr zu sehen.

Die Schneiderin kam am frühen Vormittag und nahm Jeannes Maße. Sie hieß Louisa und Jeanne fand sie sehr schön. Sie roch wundervoll nach frischen Blumen und trug ein herrliches hellrosafarbenes Kleid mit einem dazu passenden Hut. Ihre Taille war eng geschnürt und ihre schmalen Schultern zierte ein weißer Schal, der sich über ihrem Mieder kreuzte und im Rücken zu einer Schleife gebunden war. Wenn ich erwachsen bin, werde ich auch so aussehen, dachte Jeanne verträumt.

Schon am frühen Nachmittag kam Louisa mit dem neuen Kleid zurück. Jeanne staunte. Es war aus einem festen, steifen Stoff mit einem Blumenmuster gefertigt, mit Rüschen besetzt und hatte einen dazu passenden Schal, den sie auch kreuzen durfte. »Das nennt man Fichu«, erklärte ihr Louisa. Jeanne stülpte das Kleid über. Wenn mich doch meine Mami so sehen könnte, dachte sie aufgeregt.

Jeanne wurde in den Laden zur Herrin bestellt, um ihr zuzuschauen und die Höflichkeitsfloskeln zu lernen, zu lächeln und zu knicksen. Der muffige Laden ließ nichts von der Verwahrlosung des restlichen Hauses ahnen.

Es kamen viele Kunden, manche ließen anschreiben, andere zahlten gleich. Jeanne sah das Treiben mit Gleichmut, denn sie wollte hier nicht lange bleiben. Aus purer Neugier beobachtete sie das Verhalten der Kunden und das aufgesetzte falsche Lächeln der Krämerin. Es muss aufregend sein, einen eigenen Laden zu besitzen, dachte Jeanne. Sie würde vieles besser machen als die dicke Frau, spann sie ihre Gedanken weiter. Sie würde die Kunden mit ernsthafter Zuneigung behandeln. Aber trotz des unerwarteten Anfluges von Sympathie für den Krämerberuf, würde sie ihrer Mutter, wenn sie wiederkam, nachdrücklich zu verstehen geben, dass sie hier nicht bleiben konnte.

Am Abend wurde sie wieder mit einem Brotkanten und ohne ein freundliches Wort in ihre Kammer geschickt. Allein in diesem dunklen Loch sitzend, brach der ganze Kummer plötzlich mit solcher Wucht aus ihr heraus, dass sie vor Schluchzen fast keine Luft mehr bekam. Sie schlug die Hände vors Gesicht und vergoss bittere Tränen. Die Erkenntnis, von ihrer Familie verlassen worden zu sein, machte sie todunglücklich. Erschöpft schlief sie ein, ohne auch nur das schimmelige Stück Brot angerührt zu haben.

Es musste tief in der Nacht sein, da hörte sie wieder die polternden Schritte auf der Treppe. Diesmal sah sie den Mann nur schemenhaft, denn er ließ die Öllampe im Treppenhaus auf einem wackeligen Tischchen stehen. Doch sie erkannte ihn an seinem unangenehmen Schweißgeruch. Wieder ließ er sich auf das Strohlager plumpsen, und auch diesmal nahm Jeanne sich zusammen, um nicht kichern zu müssen.

Der Mann tastete im Halbdunkeln nach ihr.

»Hat dir das Kleid gefallen?«

Jeanne versteifte sich. »Ja, Herr.«

»Schön. Weißt du noch, was ich dir gestern gesagt habe?«

»Ja, Herr, ich erinnere mich immer an alles, was man mir sagt.«

»Dann wiederhole es mir jetzt, meine Hübsche.«

»Ich soll nett zu Ihnen sein …«

»Genau!«

»Was soll ich denn machen, Herr? War ich heute denn nicht nett im Laden?«

»Ja, doch, sicher, das denke ich schon …« Er fing an zu stöhnen.

»Geht es Ihnen nicht gut, Herr, soll ich Ihre Frau holen?«

»Nein, komm her. Ich zeig dir, wie du nett zu mir sein kannst.« Er hatte ihre Hand genommen und angefangen, diese an seiner Hose zu reiben. Jeanne bekam vor Schreck weiche Knie, er aber schien ihre Angst zu genießen.

Sie verstand nicht, was er da machte, aber sie fühlte, dass es nicht richtig war. Ihr Herz raste und sie rief mit piepsiger Stimme: »Lassen Sie das!«

Doch er band seinen Latz auf und steckte ihre Hand hinein. Jeanne weitete vor Schreck die Augen. Sie wollte den alten Mann da nicht anfassen. Ihm schien es wirklich nicht gut zu gehen, denn er atmete immer heftiger. Jetzt griff er unter ihr Kleid.

Jeanne schrie auf. Sie wollte sich losreißen, doch er hielt sie fest im Griff. Sie schrie abermals in der Hoffnung, die Krämerin würde sie hören und herbeieilen, doch nichts geschah. Sie strampelte, doch er ließ sich seitlich auf sie fallen und blockierte ihr rechtes Bein. »Wirst du wohl stillhalten, du Biest«, schimpfte er vor Anstrengung keuchend.

Jeanne war ihm völlig ausgeliefert.

***

»Marianne, komm nur herein, geniere dich nicht«, meinte Madame Necker, die Hausdame, belustigt, als das Mädchen unsicher vor der geöffneten Flügeltür stehen blieb.

»Sie ist heute erst eingetroffen«, erklärte sie ihren Gästen entschuldigend, die mit ihr am reichlich gefüllten Büfett standen.

»Unsere Marianne ist noch ein wenig unbeholfen, aber das wird sich legen … nicht wahr, Marianne?« Madame Necker setzte ein übertrieben süßes Lächeln auf.

»Jawohl, gnädige Frau«, antwortete Marianne höflich und knickste. Die Gäste betrachteten sie wie ein Tier auf dem Jahrmarkt. Man hatte sie in ein von der Tochter des Hauses abgelegtes Kleid gesteckt, bis sie ihre eigene Garderobe bekäme. Marianne fühlte sich wie ein Esel in einem Zuchtstutenstall – fehl am Platz. Ein älterer Herr mit einem vornehmen Redingote – einem langen, vorne bis zum Bauch zugeknöpften Mantel – und einem weißen, hoch gebundenen Halstuch setzte sich seinen Zwicker auf die Nase, um sie besser mustern zu können. Es wurde getuschelt und gekichert. Marianne fühlte sich äußerst unwohl.

Bei ihrer Ankunft hatte man ihr das Zimmer neben der Tochter des Hauses, Anne-Louise-Germaine, zugewiesen. Marianne sollte ihre Gesellschafterin werden. Man erklärte ihr, dass sie keine Gesellschafterin im üblichen Sinne sei – diese seien normalerweise gebildet –, sondern aus reiner Herzensgüte aufgenommen worden wäre. Sie sollte eine Spielgefährtin für die schnell gelangweilte Tochter sein.

Die Herrin hatte ihr weiter erläutert, dass sie ebenfalls unterrichtet werden würde. Sie unterstrich, dass diese Privilegien einer aus ihrem Stand eigentlich nicht zuständen. Aber weil ihre Tochter schnell ihrer Gesellschafterinnen überdrüssig werde und der Herr Vater sich einem Bekannten aus Dank verpflichtet fühle, der wiederum Mariannes Vater noch etwas schuldig sei, hätte sie sich dazu bereit erklärt, mit Marianne einen Versuch zu unternehmen.

»Setze dich bitte zu Anne-Louise.« Madame Necker deutete auf den freien Platz am Ende des Tisches. Marianne gehorchte. Sie wünschte sich weit weg. Anne-Louise sah sie neugierig an. Die Tochter des Hauses schien ein aufgewecktes Mädchen zu sein. Sie hatte kluge Augen, eine spitze Nase – die sie wohl vom Vater geerbt hatte – und einen sehr blassen Teint mit geröteten Wangen. Ihre dunkelgelockten Haare fielen ihr in einem mit Blumen, Federn und Fäden durchsetzten Geflecht über den Rücken. Marianne bewunderte ihre Frisur.

Anne-Louises Aufmachung war nichts gegen die der anderen Herrschaften mit ihren gepuderten Perücken und Hüten, die atemberaubende Ausmaße erreichten. Die Damen trugen ausgepolsterte Turnüren und breite Reifröcke und die Kleider schienen sich gegenseitig an Farbenvielfalt, Bänderreichtum und Perlenbesatz überbieten zu wollen.

»Sei gegrüßt«, flüsterte Anne-Louise und lächelte sie verschmitzt an.

Marianne lächelte schüchtern zurück. Den großen, ovalen Mahagonitisch zierte eine weiße, fein gestickte Leinentischdecke, und er war reich mit Blumenarrangements und riesigen, mehrarmigen Kerzenleuchtern geschmückt.

Die Teller aus feinem Porzellan und die vielen Bestecke machten sie ganz schwindelig. Auf einem ebenfalls imposant dekorierten Tisch standen auf Sockeln Schalen mit Gerichten in großer Auswahl, die einen herrlichen Duft verbreiteten.

Eine Bauernfamilie könnte sich drei Monate von diesen Mengen ernähren, ging es Marianne spontan durch den Kopf. Sie verscheuchte den Gedanken. Ihr Magen knurrte peinlich laut.

»Hab keine Angst«, wisperte Anne-Louise ihr zu. »Wir essen hier noch auf französische Art.« Als sie Mariannes fragendes Gesicht sah, musste sie lachen.

»Das heißt, jeder bedient sich selbst an dem großen Tisch.« Sie zeigte hinter sich auf die Tafel, auf der die Gerichte aufgereiht standen. »Aber heute werde ich das für dich erledigen.«

Marianne stellte erleichtert fest, dass die Gäste mittlerweile ihre Gespräche wieder aufgenommen hatten und sie nicht länger beachteten.

»Haben Sie schon das Neueste über diesen Prince de Rohan-Guémené gehört, Madame Necker?«

Die Dame des Hauses hatte ihre Tochter aus dem Augenwinkel beobachtet und nicht ohne Erleichterung und auch etwas Verwunderung festgestellt, dass sie auf die neue Gesellschafterin mehr ansprach als auf die vorherigen. Sie wandte dem Fragenden langsam den Kopf zu. »Nein, was ist mit ihm, lieber Baron?«

»Der Mann hat Bankrott gemacht, und Hunderte von Dienstboten, aber auch Händler, die ihm ihr Geld anvertraut hatten, sitzen nun auf der Straße.«

»Oh, wie schrecklich …« Ein Aufschrei des Entsetzen ging durch den Raum, und die Anwesenden redeten aufgeregt durcheinander.

»Wie ist das möglich, er schien doch immer so vornehm und erhaben?«

»Die armen Menschen!«

»Es soll sich um dreiunddreißig Millionen Livre handeln …«

»Wie entsetzlich!«

»Man sollte den Handel mit Geld unterbinden …«

Marianne schaute sich um. An der Decke des hohen Raumes hing ein riesiger Kronleuchter, der offenbar mit Edelsteinen übersät war. Die Kerzen ließen ihn funkeln wie einen übergroßen Diamanten. Gewaltige Doppeltüren säumten die lange Fensterseite des Speisesaales und schwere rote Damast-Vorhänge brachten die Öffnungen besonders zur Geltung. Der mit Parkett ausgestattete Fußboden glänzte, und ein großer gewebter Teppich und wunderschöne Gemälde, die edle Damen und Herren darstellten, vollendeten das Bild.

»Madame Necker, was gibt es Neues von Ihrem Herrn Gemahl?« Um die Hausdame am anderen Ende des Tisches besser sehen zu können, beugte sich eine dickliche Dame vor, und ihr üppiger Busen schien aus dem engen Ausschnitt heraushüpfen und sich auf ihrem Teller ausbreiten zu wollen.

»Vielen Dank der Nachfrage, Frau Gräfin. Nun, er erholt sich von den Geschehnissen in unserem Schloss Saint-Ouen in der Schweiz.«

»Das ist gut, die Schweizer Luft wird ihm guttun, nach all der Aufregung mit dem König.«

»Er hat sich so ins Zeug gelegt, Ihr werter Gemahl, Madame Necker. Mit seinen Reformen und seiner Politik war er endlich mal ein Direktor des Trésor Royal, der diesen Namen auch verdiente«, fiel ein Herr neben der Gräfin – der ihr Mann zu sein schien – in das Gespräch ein. »Zu dumm, dass unser König es nicht so sah.«

»Das würde ich nicht behaupten, doch passten ihm vielleicht einige Reformversuche nicht«, warf ein anderer Herr ein.

»Nicht doch«, die Hausdame winkte mit der Serviette in der Hand ab. »Nachdem er dem König über die finanzielle Lage der Staatskassen Bericht erstattet hatte und das Dokument veröffentlicht wurde und viel Aufhebens verursachte, zog er es vor, zu gehen.«

»Traurige Entscheidung. Ein wertvoller Mann, Ihr Jacques«, nickte ein anderer Herr mit einer besonders dicken Nase anerkennend. »Immerhin hat er den höchsten Preis der Académie française erhalten. Wie kann man so einen Mann gehen lassen?«

»Auch die Folter hat er abgeschafft.«

»Ach, was denn«, fiel ein Herr mit einem riesigen Doppelkinn kauend und schmatzend ein, »war es nicht eher Marie-Antoinette, der Jacques nicht in den Kram passte? Er schien ihre Pläne zu durchkreuzen bezüglich eines gewissen Herzogs von Guînes …« Zustimmendes Gelächter machte sich breit.

Marianne staunte. Nicht nur, dass sie nicht viel davon verstand, was gesprochen wurde, denn ihre Kenntnisse von solchen Belangen waren sehr gering. Ihr wurde außerdem allmählich bewusst, dass sie sich in einem sehr bedeutenden Haus befand. Doch sie wunderte sich über die Redefreiheit der Frauen, die sich an politischen Gesprächen beteiligten, ohne dass dies Anstoß erregte.

»Es sieht schlecht aus. Wer weiß, wo uns das alles noch hinführen wird«, fiel nun ihr Tischnachbar ein. Ein zustimmendes Nicken ging durch die Runde.

»Nun, auf seine baldige Rückkehr an den Hof«, beendete der Graf feierlich das Gespräch, als ob er vermeiden wollte, dass sich doch noch jemand zu unpassenden oder gar verräterischen Bemerkungen hinreißen ließ, und erhob sein Champagnerglas.

»Auf Monsieur Necker! Und auf unseren König!«, rief die Tischgesellschaft im Chor.

Marianne schwirrte der Kopf. Sie hob mechanisch ihr Glas, nippte am Champagner und versuchte dabei, nicht das Gesicht zu verziehen, was Anne-Louise erheitert kichern ließ.

Beeindruckt wandte Marianne sich den Speisen zu. Ihr Magen war keine großen Mengen gewohnt, und sie schlang die Nahrung in sich hinein, bis sie zu platzen glaubte. Anne-Louise beendete ihr Mahl und bat ihre Mutter um Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen. Die Mädchen knicksten artig vor den Gästen und verschwanden. Marianne atmete erleichtert aus. Sie hatte Bauchschmerzen.

»Ich habe wohl bemerkt, dass du es nicht mehr aushältst«, kicherte Anne-Louise. »Komm mit, ich zeige dir etwas.«

In Anne-Louises Gemach angelangt, griff Mariannes Gastgeberin unter das breite Himmelbett und holte ein dickes Buch hervor.

Marianne bestaunte das Zimmer. Der ihr zugewiesene Raum erschien ihr schon wie ein Königinnengemach, doch Anne-Louises Schlafzimmer überstieg alle ihre Vorstellungen.