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Für Sophie und Bo:

Mögen Eure Enkel wilde Büffel auf der Prärie sehen.

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer

Mit 26 Abbildungen und zwei Karten

ISBN 978-3-492-97598-8

April 2017

© Michael Punke, 2007

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

Redaktion: Margret Trebbe-Plath, Berlin

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas unter Verwendung eines Entwurfs von HarperCollinsPublishers Ltd 2016

Covermotiv: Shutterstock

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Reglos, den Kopf zurückgeworfen, aufmerksam und still, beobachtete er das Boot, das unter ihm vorüberzog – so schön inmitten der Wildnis vor dem leuchtenden Himmel, dass keine Hand zum Gewehr griff.

Ein Ort bleibt noch, ein letzter Fels, an dem sich diese Woge bricht und vorüberrauscht, ohne ihn mit den Spuren der Zivilisation zu beschmutzen.

 

George Bird Grinnell
1
2

  Prolog
  Der Schießstand

Nachdem ich fünfzehn Kugeln dort gesetzt hatte, wo ich sie brauchte, stand die Herde still, und die Büffel achteten gar nicht mehr auf die weiteren Schüsse.

Victor Grant Smith

Der Jäger hob den Kopf über einen Fels und blickte hinunter in das Tal des Redwater River, wo einige Hundert Büffel standen. Der Winter 1881 in Montana war eisig, und Vic Smith fror umso mehr, als er auf dem Bauch im Schnee lag. Auf einer Decke neben ihm lagen zwei Büffelgewehre und einige Patronengurte. Smith achtete darauf, sich den Büffeln gegen den Wind zu nähern, und hüllte sich in ein weißes Tuch, damit ihn die gut dreihundert Schritt entfernten Tiere nicht bemerkten. Eine ganze Weile lang beobachtete er sie nur. Mit erfahrenem Blick machte er die Leittiere aus, kalkulierte die Bewegungen der Herde und plante sorgfältig seinen ersten Schuss. Es war der perfekte Schießstand.

Schließlich griff Smith nach einem seiner Gewehre, öffnete den Verschluss und legte eine vier Zoll lange Messingpatrone ein. Den kräftigen Lauf über den Arm gelegt, visierte er eine alte Büffelkuh an, die er als eines der Leittiere ausgemacht hatte. Er zielte auf eine Stelle knapp vor der Hüfte, dann drückte er ab.

Der Donner des schweren Gewehrs hallte über die Prärie, und eine Wolke aus beißendem Rauch verdeckte einen Moment lang den Blick auf die Herde. Aber Smith schaute gar nicht, ob er sein Ziel getroffen hatte, er wusste es ganz einfach. Stattdessen legte er die rauchende Büchse auf die Decke neben sich, griff zur zweiten, schob eine Patrone ein und legte an. Nach jedem Schuss wechselte er das Gewehr, damit der Lauf nicht zu heiß wurde und sich verzog. Er hatte gehört, dass die Büffeljäger in Texas manchmal auf ihre Gewehre pinkelten, um sie abzukühlen, aber in Montana übernahm das der Winter.

Mit der zweiten Büchse im Anschlag blickte Smith auf und sah das erwartete Bild. Der erste Schuss hatte die Büffelkuh direkt vor der Hüfte getroffen. Damit konnte sie nicht weglaufen und stand einfach nur da, »vor Schmerz gekrümmt«, wie er später schrieb. Wie beabsichtigt, drängten sich jetzt verwirrt andere Tiere der Herde – »die Kinder, Enkel, Cousins und Tanten der Alten« – heran, und einige beschnüffelten das Blut, das aus der Wunde troff.

Nun nahm Smith eine alte Kuh auf der anderen Seite der Herde ins Visier und richtete den Lauf auf dieselbe Stelle vor der Hüfte. Dann schoss er wieder.

Smith ging wohlüberlegt und ohne jede Hast vor. Alle dreißig Sekunden feuerte er einen Schuss ab. Jede Kugel setzte er ganz gezielt. Zunächst schoss er vor allem auf alte Büffelkühe, nur hin und wieder nahm er sich einen nervösen Bullen vor, der aussah, als wolle er die Flucht ergreifen. »Nachdem ich fünfzehn Kugeln dort gesetzt hatte, wo ich sie brauchte, stand die Herde still, und die Büffel achteten gar nicht mehr auf die weiteren Schüsse«, schrieb er in seinen Erinnerungen. Erfahrene Jäger wie Smith nannten das eine Herde »ruhigstellen« oder »hypnotisieren«.

Eine Stunde später war das Werk vollbracht. Im Tal des Redwater River zu Füßen von Vic Smith lagen 107 tote Büffel. Im Jahr 1881 sollte er rund 4500 Tiere töten.[1]

Die Rettung der Büffel ist eines der großen Dramen des alten Westens. In einem tieferen Sinn markiert sie auch die Geburt des neuen Westens – eine Geburt, deren Nachwehen bis heute zu spüren sind. Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht ein Mann, den heute kaum noch jemand kennt: George Bird Grinnell, Forscher und Journalist, Jäger und Naturschützer. Grinnell war ein Mann mit einer außergewöhnlichen Biografie, der die Abenteuer des alten Westens erlebte und den Boden für den neuen Westen bereitete.

1 Im Wilden Westen

Die Gesellschaft brach Ende Juni in New Haven auf, ihr Ziel: ein Westen, der damals noch wahrhaft wild war.

George Bird Grinnell, Memories

Das Abenteuer, das George Bird Grinnells Leben eine Wende geben sollte, begann mit einer Eisenbahn, und die Gleise, auf denen diese Eisenbahn im Sommer 1870 über die Prärie fuhr, wurden von Büffeln versperrt.

Die neue transkontinentale Eisenbahn hielt sich, genau wie die Planwagen-Trails vor ihr, an die Täler. Die Prärielandschaft, durch die sie führte, ist alles andere als »eigenschaftslos«, wie sie so oft genannt wird. Im Gegenteil, sie hat eine alles beherrschende Eigenschaft: eine Weite, so endlos, dass sie mit nichts vergleichbar ist, was der Neuankömmling je zuvor gesehen hat. Wer wie Grinnell von der Ostküste mit ihren eingeklemmten Horizonten und grünen Parklandschaften kommt, erlebt die Prärie als Schock und völlig fremden Ort. Hinzu kam, dass der Westen im Sommer 1870 tatsächlich noch wild war.

Während die Eisenbahn über die Schienen rollte, hörte Grinnell plötzlich das Kreischen der Bremsen und aufgeregte Rufe. Er blickte aus dem Fenster und sah eine Büffelherde. Nach einem kurzen Halt trottete die Herde weiter, und der Zug setzte seine Fahrt fort. Es dauerte jedoch nicht lange, und die Lokomotive wurde von einer zweiten Herde aufgehalten. »Wir nahmen an, dass die Tiere bald vorübergezogen sein würden«, schrieb Grinnell später. »Doch es kamen immer mehr. Es waren so viele, dass wir sie nicht zählen konnten.« Die Herde benötigte drei Stunden, um die Gleise zu überqueren.[1] In den Anfangstagen der Eisenbahn war das Problem mit Büffeln auf den Schienen so verbreitet, dass einige Lokomotiven mit einer Dampfdüse ausgerüstet wurden, mit der sie die Tiere vertreiben konnten.

Für einen Reisenden des 19. Jahrhunderts gab es kein besseres Symbol für die Ankunft im Westen als die Büffel. Grinnell, der zwei Monate später 21 Jahre alt werden sollte, war in seinem Kindheitstraum angekommen. Es verrät viel über seine Motivation, wenn er später schrieb: »Vom Leiter unserer Expedition einmal abgesehen, hatte keiner einen anderen Grund für die Reise als die Hoffnung auf Abenteuer mit wilden Tieren oder wilden Indianern.«[2]

Grinnell und seine jungen Begleiter erweckten zumindest den Anschein, als hätten sie sich auf Abenteuer eingestellt. Jeder der jungen Männer trug ein nagelneues Henry-Repetiergewehr, eine Pistole, mehrere Patronengürtel und ein Bowie-Messer. Außer Grinnell hatte allerdings kaum einer Erfahrung mit diesen Waffen. In Omaha waren die Männer eigens in die Prärie gegangen, »um unsere Gewehre abzufeuern«. Doch Grinnell machte sich nichts vor: »Die Mitglieder der Gesellschaft wussten rein gar nichts über den Westen und setzten alle Hoffnung auf Professor Mash.«[3]

Den Blick nach Westen gerichtet: George Bird Grinnell mit Anfang zwanzig.3

Die Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts hatten zwar keine Könige, aber eine Aristokratie hatten sie sehr wohl, und dank seiner Herkunft zählte George Bird Grinnell fast schon zur obersten Schicht. Der junge George konnte den Stammbaum seiner Familie bis zu den ersten englischen Siedlern und damit bis zur Mayflower zurückverfolgen. Zu seinen Ahnen gehörte Betty Alden, die erste auf amerikanischem Boden geborene Tochter der Puritaner. Während der Kolonialzeit hatten Grinnells Vorfahren zu den Stützen der Gesellschaft gezählt, aus der Familie stammten ganze fünf Gouverneure. Sein Großvater George Grinnell hatte vierzig Jahre lang als Abgeordneter im Kongress der Vereinigten Staaten gesessen.[4]

George Bird Grinnell kam am 20. September 1849 in Brooklyn zur Welt. Er war das erste von fünf Kindern von Helen A. Lansing und George Blake Grinnell. Sein Vater hatte seine berufliche Laufbahn als erfolgreicher Kurzwarenhändler begonnen und endete als prominenter Handelsbankier – »der wichtigste Wall-Street-Händler von Commodore Cornelius Vanderbilt«.[5]

Wenn der junge George in die Zukunft blickte, schien eine Karriere als Bankier in einer von seiner Klasse beherrschten Welt vorgezeichnet. In diese Richtung drängten ihn zumindest seine Eltern. Stattdessen sollte Grinnell eines Tages genau die Annahmen infrage stellen, auf denen diese Welt ruhte.

Die Ereignisse, die Grinnells Leben in eine andere Richtung lenken sollten, nahmen am Neujahrstag des Jahres 1857 ihren Anfang. Der Junge war gerade sieben Jahre alt geworden, als die Familie aufs Land zog. Zunächst mietete der Vater ein Anwesen, dann baute er eine Villa auf einem Landgut im Norden von Manhattan, das bis heute als Audubon Park bekannt ist. Einst war der berühmte Ornithologe und Künstler John James Audubon Besitzer des Guts gewesen. Später wurde es von New York City verschlungen und liegt heute zwischen der West 158th und der West 155th Street im Norden und Süden und zwischen dem Hudson River und der Amsterdam Avenue im Osten und Westen. Damals war die Stadt jedoch weit weg – mit dem Zug der Hudson River Railroad oder der Kutsche brauchte man anderthalb Stunden bis zur Wall Street.

Als die Grinnells nach Audubon Park zogen, war John James Audubon zwar schon seit sechs Jahren tot, doch die Familie des Künstlers lebte noch dort. Seine beiden erwachsenen Söhne Gifford und Woodhouse führten die Druckerei des Vaters weiter, und jeder lebte mit seiner Familie in einem eigenen Haus auf dem Gelände. Lucy Audubon, die Witwe des Künstlers und inzwischen eine alte Dame, wohnte bei Gifford.

Für einen Jungen war Audubon Park ein idyllischer Abenteuerspielplatz wie aus einem Druck von Currier & Ives. »In unseren ersten Tagen in Audubon Park war noch nichts von dem zu sehen, was man später als ›Fortschritt‹ bezeichnen würde«, erinnerte sich Grinnell später. »Die Felder und Wälder waren im Naturzustand.« In großen Hainen wuchsen Tannen, Kastanien und Eichen. Aus frischen Quellen sprudelte das Wasser und lief in kleinen Bächen zum Hudson hinunter. Es gab Pferdeställe, eingezäunte Weiden für Kühe und Schweine, und Hühner, Gänse und Enten liefen frei herum. Auf dem weitgehend unberührten Land waren Rehe, Sing- und Raubvögel heimisch, und Grinnell erinnerte sich, wie sich einmal auf dem Rasen vor dem Haus drei Adler um einen Fisch balgten.[6]

Die Kinder der Grinnells, Audubons und der wenigen anderen Familien auf dem Gut streunten frei durch Audubon Park. Grinnells Kindheitserinnerungen, die er für seine Nichten und Neffen aufzeichnete, lesen sich wie Geschichten aus Tom Sawyer – es war eine beinahe mythische Kindheit von Abenteuern und unschuldigen Streichen, unberührt von der Erwachsenenwelt. Mit Pfeil und Bogen machten sich die Kinder auf Vogeljagd, bei Ebbe sammelten sie Muscheln im Schlick des Hudson, und manchmal stahlen sie ein Huhn, »das wir heimlich über einem Feuer im Wald brieten«. Sie schwammen in Teichen und im Fluss. Bootsstege boten verlockende Sprungbretter, was dazu führte, dass sich die Fahrgäste der Eisenbahn über nackte Kinder beschwerten, die »auf Erdhügeln tanzten und sich vor aller Welt entblößten«. Grinnell und seine Freunde scherten sich nicht darum, bis ein Polizist sie in Gewahrsam nahm. »In den ein oder zwei Stunden im Gefängnis hatten wir reichlich Gelegenheit, über die Ungerechtigkeiten des Lebens nachzudenken.« Ein Richter schickte die Kinder schließlich nach Hause.[7]

Grinnells Fantasie versorgte ihn schon reichlich mit Ideen für Spiele mit seinen Kameraden, doch daneben fand er zusätzliche Anregung in Abenteuerromanen. Einer der beliebtesten Schriftsteller der Zeit war Thomas Mayne Reid, der heute fast vergessen ist. Reid war in den 1840er-Jahren auf der Suche nach Abenteuern aus Irland in die Vereinigten Staaten gekommen und war fündig geworden. Während des Kriegs mit Mexiko meldete er sich zur Armee, nahm an den Schlachten von Veracruz und Chapultepec teil und wurde verwundet. Nach dem Krieg begann er, Romane zu schreiben, die vor allem auf seiner Zeit im Südwesten der Vereinigten Staaten basierten. Als »Captain« Mayne Reid schrieb er Romane wie The Scalp Hunters oder The War Trail, für die sich vor allem Jungen begeisterten – so auch der junge Grinnell. »Seine Geschichten regten meine Fantasie an«, erinnerte er sich später. Tatsächlich waren viele von Reids Helden Jungen, etwa in dem Roman The Boy Hunters: Adventures in Search of a White Buffalo.[8]

In Audubon Park gab es zwar weder braune noch weiße Büffel, doch Grinnell fand reichlich Gelegenheit, Szenen aus Reids Büchern nachzuspielen. »Mit elf oder zwölf ging ich zum ersten Mal mit dem Gewehr auf die Jagd.« Weil er wusste, dass seine Eltern etwas dagegen haben würden, liehen er und ein Freund sich heimlich die alte Armeemuskete des Dorfschneiders aus. Das Gewehr war größer als die beiden Jungen und so schwer, »dass keiner von uns es auf die Schulter nehmen konnte«. Sie schossen, indem sie die Flinte abwechselnd auf der Schulter des einen auflegten, während der andere abdrückte. Kein Tier war vor ihnen sicher. »Wir jagten vor allem kleine Vögel – Lärchen, Rotkehlchen, Spechte und hin und wieder eine Wildtaube.« Später gab einer von Grinnells Onkeln diesen Unternehmungen den offiziellen Segen, indem er dem Jungen ein kleines Gewehr schenkte.[9]

Kein Thema nimmt in Grinnells Kindheitserinnerungen so breiten Raum ein wie die Jagd. Sie war sein erster Kontakt zur Wildnis, hier lernte er, die Natur genau zu beobachten. Über die Jagd kam er auch den Audubons näher. Mit seinem Freund Jack Audubon, einem Enkel des Malers, entstand eine enge Verbindung. Jack »war privilegiert«, so Grinnell, weil er das Gewehr seines Großvaters benutzen durfte – dasselbe Gewehr, das John James Audubon bei seinen legendären Abenteuern westlich des Mississippi dabeigehabt hatte.[10]

In Audubon Park kam George Bird Grinnell auch mit anderen Ikonen des Westens in Berührung, »einer Gegend, die in diesen Tagen unendlich fern und romantisch schien mit ihren Geschichten von Trappern, Handelsposten und Indianern«. Die Häuser der beiden Audubon-Söhne waren Museen, an den Wände hingen Hirsch- und Elchgeweihe, Pulverhörner und Kugeltaschen. Zwischen Audubons Gemälden starrte ein Porträt des Künstlers in Rehleder von der Wand herunter. In der Scheune, in der die Jungen oft spielten, lagen »riesige Stapel seiner alten, in rotes Leder gebundenen Ornithological Biography und Kisten mit präparierten Vögeln, die der Naturforscher wer weiß wo gesammelt hatte«. Weil seine Söhne die Arbeit des berühmten Mannes fortsetzten, korrespondierten sie mit Naturwissenschaftlern in aller Welt, und »oft kamen Kisten mit neuen Exemplaren«. Grinnell erinnerte sich, wie er und seine Freunde sich um die neuen Lieferungen drängten und atemlos darauf warteten, dass die Kisten geöffnet wurden, um dann ehrfürchtig die »wunderbaren Tiere, die zutage kamen«, zu bestaunen.[11]

Doch keiner der Audubons sollte größeren Einfluss auf den jungen Grinnell ausüben als Lucy, die über siebzigjährige Witwe des Künstlers. Grinnell beschrieb sie als »schöne, weißhaarige Dame von außergewöhnlicher Haltung und Würde: freundlich, geduldig und liebevoll, aber auch eine gestrenge Lehrerin, vor der wir Kinder großen Respekt hatten«. In ihrem Schlafzimmer hatte sie eine Schule für die Kinder der Nachbarschaft eingerichtet. Einige davon waren tatsächlich ihre Enkel, aber alle nannten sie »Oma Audubon«.[12]

Lucy Audubon muss eine dieser seltenen Lehrerinnen gewesen sein, die das Leben ihrer Schüler prägen. Sie verstand ihre Schützlinge und hatte ein Gespür für diese flüchtigen Momente, in denen Lehrer die Chance haben, einen bleibenden Eindruck in den jungen Köpfen zu hinterlassen. »Wenn ich ein Kind dazu bringen kann, fünf Minuten lang bei einer Sache zu bleiben, dann wird es das Gelernte nie wieder vergessen«, sagte sie.[13] Zumindest George Bird Grinnell sollte sich ein Leben lang daran erinnern.

Natürlich unterrichtete sie Rechnen, Lesen und Schreiben. Aber daneben konnte sie den Kindern Dinge zeigen, die sie nirgendwo sonst lernten. Lucy Audubon hatte ihren Mann bei der Arbeit an seinen Büchern unterstützt, darunter bei seinem Großwerk Ornithological Biography. Dabei war sie selbst zur Naturkundlerin geworden, und dieses Wissen gab sie an ihre Schüler weiter. Grinnells besondere Beziehung zu seiner Lehrerin wird in einer Anekdote über einen Vogel deutlich, den er gefangen hatte. Grinnell erinnerte sich später: »Ich lief ins Haus und hinauf zu Omas Zimmer, um ihr meinen Schatz zu zeigen. Sie sagte mir, dass es sich um einen roten Kreuzschnabel handelte, und zwar einen Jungvogel. Dann zeigte sie mir die Besonderheiten des Schnabels, erzählte mir ein wenig über das Verhalten dieser Art, und schließlich zeigte sie mir eine Zeichnung von einem Kreuzschnabel. Nach unserem Gespräch gingen wir nach draußen, wo die Vögel immer noch fraßen. Dort entließen wir den Vogel wieder in die Freiheit.«[14]

Manche der Lektionen, die Grinnell von Lucy Audubon lernte, sollten erst viele Jahre später Früchte tragen, und eine sollte schließlich zu seinem Glaubenssatz werden. Bis dahin – im Grunde seine gesamte Schul- und Universitätszeit hindurch – wirkt er dagegen sonderbar gelangweilt und desinteressiert.

Seine wohlhabenden Eltern schickten ihn auf die besten Schulen des Landes. Im Alter von zwölf Jahren kam er auf das French Institute von Manhattan. Mit vierzehn wechselte er auf die angesehene Churchill Military School von Sing Sing. Hier herrschte zwar eine gewisse militärische Disziplin, doch es war alles andere als ein spartanisches Ausbildungslager. Vor Beginn des Schuljahrs erhielten die neuen Schüler ein Schreiben, in dem sie angewiesen wurden, unter anderem »Serviettenring, Bademantel und Hausschuhe, Regenmantel und Schirm, Schwamm und Nagelfeile« mitzubringen. Folgsam durchlief Grinnell die dreijährige Ausbildung und stieg sogar zu einem der Schulkommandanten auf, doch seine schulischen Leistungen waren bestenfalls mittelmäßig. Im Rückblick machte er sich nichts vor: »Mir war klar, dass die Schule reine Zeitverschwendung gewesen war.«[15]

Grinnell besaß keine Vorstellung davon, was er mit seinem Leben anfangen sollte, und wirkte eher wie ein passiver Zuschauer. »Es war ausgemachte Sache, dass ich nach meinem Schulabschluss an der Universität Yale studieren sollte, wo mein Großvater 1804 seinen Abschluss gemacht hatte und wohin viele meiner Vorfahren Verbindungen unterhielten.« Trotz dieser familiären Beziehungen ließen seine Noten Zweifel aufkommen, ob er einen Studienplatz bekommen würde. Die Lehrer hatten ihn gewarnt, dass seine Leistungen nicht ausreichen würden, um die strengen Aufnahmeprüfungen von Yale zu bestehen. »Aber meine Eltern hatten ihren Entschluss gefasst, und ich hatte nicht die Angewohnheit, den Entscheidungen meines Vaters zu widersprechen.« So paukte Grinnell den ganzen Sommer 1866 hindurch. Im September reiste er nach New Haven und bestand die Aufnahmeprüfungen ganz knapp, wenngleich er einräumt: »In Griechisch und Geometrie nur unter Auflagen.«[16]

Nachdem er erfolgreich die Nase in die Bücher gesteckt und die Aufnahme geschafft hatte, verfiel er an der Universität rasch wieder in den alten Schlendrian. »Nichts Interessantes passiert«, war seine Zusammenfassung des ersten Studienjahrs. Das zweite Jahr verlief allerdings etwas abwechslungsreicher, vor allem »weil ich mir dauernd Ärger eingehandelt habe«. Der Lausejunge in ihm schlug wieder durch, als er den Blitzableiter des Glockenturms der Universität hinaufkletterte, um ganz oben seinen Jahrgang in die Wand zu ritzen. Bei allen Streichen mit den Kommilitonen war Grinnell ganz vorn dabei. Noch im Herbst wurde er bei einem erniedrigenden Initiationsritual eines Neulings erwischt. »Ich wurde für ein Jahr suspendiert.«

Zusammen mit einigen anderen Übeltätern wurde Grinnell nach Farmington in Connecticut geschickt. Dort unterstanden die jungen Männer der Aufsicht eines Geistlichen namens L. R. Payne, der sie auf den rechten Weg zurückführen sollte. Aber von Reue war bei Grinnell und seinen Kumpanen wenig zu spüren. »Wir hatten eine Menge Spaß in Farmington. Wir haben wenig gelernt und waren die meiste Zeit in der Natur unterwegs.« Man hätte meinen können, er sei wieder zurück in Audubon Park. »Wir unternahmen lange Wanderungen, ruderten auf dem Farmington River, und in den mondhellen Winternächten zogen wir über die Felder.« Am Ende des Jahres gab Yale Grinnell und den anderen Flegeln die Möglichkeit, die Prüfungen seines Jahrgangs abzulegen, doch »aufgrund meiner Faulheit in Farmington fiel ich durch«.

Vermutlich auf Intervention seiner Eltern wechselte er im folgenden Herbst nach Stamford zu einem neuen Tutor, einem Arzt namens Dr. Hurlburt, der »nicht nur ein ausgezeichneter Lehrer war, sondern auch gut mit Jungen umgehen konnte«. Hurlburt hatte seine eigenen Methoden für widerspenstige Jungen: Er weckte Grinnell früh und nahm ihn zu seinen Hausbesuchen mit. Auf der Fahrt fragte er ihn seine Lektionen ab, und während er seine Patienten besuchte, saß der Junge in der Kutsche und lernte. Ein Jahr später kehrte Grinnell an die Universität zurück, und diesmal bestand er seine Prüfungen »mit Bravour«.[17]

Wieder an der Universität, zeigte sich Grinnell allerdings einmal mehr desinteressiert. Er blieb lernfaul, und seine Trägheit schien auf das mittelmäßige Leben eines reichen Ostküsten-Snobs hinzuführen. Im Sommer vor seinem Abschlussjahr unternahm er mit seiner Mutter und zwei Brüdern eine dreimonatige Reise durch Europa. Aber auch die Alte Welt machte kaum Eindruck auf ihn – in seinen Erinnerungen stellt er eine Liste der besuchten Länder zusammen und verliert ansonsten kein Wort über die Reise. Nach seiner Rückkehr an die Universität wurde er in den Geheimbund »Scroll and Key« aufgenommen, wie es sich für einen ordentlichen Studenten gehörte. Er hatte keine Ahnung, was er nach dem Studium anfangen wollte, er war lediglich ein wenig in Sorge, »dass ich aufgrund meiner mäßigen Leistungen meinen Abschluss nicht bekommen könnte«. Darüber hinaus hatte er wenig über sein letztes Jahr an der Universität zu sagen: »Ich wohnte in einem Zimmer im Old South College mit Blick auf den Rasen.«[18]

Doch schon bald sollte sich ihm eine Tür öffnen und einen Horizont freigeben, der weit über den College-Rasen hinausreichte.

Im Herbst 1870, wenige Monate bevor George Grinnell von der Universität abgehen sollte, lief ein Gerücht über den Campus. Es hieß, ein Professor namens Othniel Charles Marsh werde im Sommer eine Expedition in den fernen Westen unternehmen. Marsh wolle nach Dinosaurierknochen suchen, und dazu wolle er ein Dutzend Absolventen von Yale mitnehmen.[19]

Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben verspürte Grinnell einen Funken echter Begeisterung. »Dieses Gerücht interessierte mich sehr«, erinnerte er sich. »Ich war schließlich mit den Romanen von Captain Mayne Reid groß geworden.« Es war wohl wie Captain Reid in seinem Roman Wild Life schrieb: »Ich sehnte mich nach dem Leben jenseits der Grenzen des engen Tals und träumte davon, an jenen Abenteuern teilzuhaben, von denen hin und wieder Gerüchte an meine allzeit wachsamen Ohren drangen.« Grinnell hatte schon lange den Wunsch gehabt, den Westen kennenzulernen, den Reid und Audubon in ihren Büchern beschrieben, »aber ich hatte angenommen, dass er unerreichbar weit weg war«. Doch plötzlich war die Chance zum Greifen nah. »Ich beschloss, es zu versuchen.«

Grinnell brauchte einige Tage, um den Mut aufzubringen, bei dem Ehrfurcht gebietenden Professor vorstellig zu werden. Marsh erinnerte ein wenig an den ehemaligen Nordstaatengeneral Ulysses S. Grant, der inzwischen Präsident der Vereinigten Staaten war. Als Grinnell schließlich vorsprach, riet Marsh ihm ab und sagte lediglich zu, sich die Zeugnisse des jungen Mannes ansehen zu wollen. Das gab Grinnell wenig Anlass zur Zuversicht, doch in einem zweiten Gespräch erfuhr er, dass Marsh ihn für seine Expedition ausgewählt hatte.

Zum ersten Mal im Leben schlug George Bird Grinnell eine Richtung ein, für die er sich selbst entschieden hatte: der Westen. Schon wenige Wochen später würde er zu einer fünfmonatigen Reise von fast 10 000 Kilometern aufbrechen, die sein Leben von Grund auf verändern sollte.

Professor Othniel Charles Marsh stand kurz davor, einer der wichtigsten Naturforscher seiner Zeit zu werden. Er war ein Neffe von Charles Peabody, einem reichen Bankier, der manchen als Begründer der modernen Philanthropie gilt. Bis heute tragen Museen überall im Nordosten des Landes seinen Namen. Auch Marsh gegenüber zeigte sich Peabody großzügig und finanzierte ihm ein Studium in Andover, Yale und Europa. Marsh erwies sich als Ausnahmestudent und entdeckte noch während seiner Studienzeit zwei wichtige Fossilien von Reptilien.[20]

Während seines Aufenthalts in Europa überzeugte Marsh seinen Onkel davon, Geld für die Einrichtung eines Naturkundemuseums an der Universität Yale zu geben und eine Abteilung für Paläontologie zu stiften – die erste in den Vereinigten Staaten. Als Marsh 1866 in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, übernahm er den neu geschaffenen Lehrstuhl und die Leitung des Museums. Zwei Jahre später machte er eine Entdeckung, die die Voraussetzungen für Grinnells erstes großes Abenteuer schaffen sollte.

Auf einer Reise durch den Westen hatte Marsh in Omaha eine Zeitungsmeldung gelesen, die seine Neugier weckte. In dem Bericht hieß es, beim Ausheben einer Quelle an einem abgelegenen Haltepunkt namens Antelope Station hätten Schienenbauarbeiter alte Knochen gefunden, die offenbar von einem Menschen stammten. Marsh wollte der Sache auf den Grund gehen und überredete den Zugführer, dort einen außerplanmäßigen Halt einzulegen. Während die Lokomotive Dampf abließ, durchsuchte Marsh einen Erdhügel neben der Quelle. »Ich fand viele Bruchstücke und eine ganze Anzahl vollständiger Knochen, nicht von einem Menschen, sondern von Pferden, ganz winzigen zwar, aber echten Vorfahren unserer heutigen Pferde.« Er hatte das Protohippus entdeckt, ein Zwergpferd mit drei Zehen. Später schrieb er: »Wenn in dieser einen Quelle derartige wissenschaftliche Entdeckungen gemacht werden konnten, welche Schätze waren dann wohl in den ganzen Rocky Mountains zu finden?«[21]

Marsh machte sich daran, diese Frage zu beantworten. Eigentlich wollte er schon im Jahr darauf zu einer Expedition aufbrechen, doch heftige Kämpfe zwischen Soldaten und Ureinwohnern verhinderten dies. Im Sommer 1870 war der Weg schließlich frei.

Die Abenteuer ließen nicht lange auf sich warten. Erste Station der Marsh-Expedition war Fort McPherson in Nebraska, ein Militärposten fünfundzwanzig Kilometer östlich vom Zusammenfluss des nördlichen und südlichen Arms des Platte River. Dank seiner Freundschaft mit General Philip H. Sheridan wurde Marsh von der Armee unterstützt. Ab Fort McPherson sollte die Forschergruppe von einer Einheit der Kavallerie begleitet werden.

An dem Tag, als die Marsh-Expedition im Fort eintraf, wurde in der Nähe eine Gruppe von Jägern von einem Dutzend Sioux angegriffen. Ein junger Sioux ritt dicht an einen der Jäger heran und schoss ihm einen Pfeil in den Arm. Der Jäger wiederum traf den Sioux mit einem Pistolenschuss, doch diesem gelang es, verletzt davonzureiten. Eine Kavallerie-Einheit von Fort McPherson nahm die Verfolgung auf. Begleitet wurden die Soldaten vom Scout des Stützpunkts, einem gewissen William F. Cody, besser bekannt als Buffalo Bill. Den Soldaten gelang es nicht, die Angreifer einzuholen. Sie fanden lediglich den angeschossenen Jungen, tot und in ein Büffelfell gehüllt auf einem Hügel liegend. Bei seiner Rückkehr ins Fort brachte Cody die Mokassins des Jungen und ein paar Kleinigkeiten mit, die sie bei ihm gefunden hatten. Grinnell erinnerte sich, wie die Neuankömmlinge von der Ostküste die Gegenstände bestaunten.[22]

Buffalo Bill, den Grinnell in seinem Tagebuch atemlos als »berühmtesten lebenden Prärieläufer« bezeichnete, führte die Marsh-Expedition selbst an. Erstes Ziel war der Loup River, eine einsame Gegend mit sandigen Hügeln mitten im Territorium der Sioux. Die Soldaten, die die Expedition begleiteten, standen unter dem Befehl von Major Frank North, einem im ganzen Land bekannten Kämpfer gegen die Indianer. Die Vorhut stellten zwei Kundschafter der Pawnee – erbitterte Feinde der Sioux und Cheyenne –, die hin und wieder abstiegen, um auf dem Bauch durchs Gras zu robben und über Felsen zu spähen, ehe die Gruppe weiterziehen konnte. Grinnell und die anderen Zivilisten ritten auf Indianerponys, die in der Schlacht von Summit Springs von den Cheyenne erbeutet worden waren. Den Abschluss machten sechs Planwagen der Armee mit Lebensmitteln, Munition und Zelten.[23]

Am ersten Abend im freien Feld hielt Professor Marsh einen Vortrag am Lagerfeuer, dem auch Cody und die meisten Soldaten lauschten. Als Thema wählte er die Geologie. »Der Vortrag ließ die einfachen Soldaten unseres Geleits ratlos zurück« – wie auch der gesamte Sinn und Zweck der Expedition. Trotzdem tat Marsh sein Bestes, um sie über die Felsformationen und deren Entstehung aufzuklären und ihnen darzulegen, welche ausgestorbenen Tiere er zu finden hoffte. Auch Buffalo Bill, den Grinnell als »interessierten Zuhörer« beschrieb, blieb skeptisch und meinte später, »der Professor hat den Soldaten heute aber ein paar ordentliche Ammenmärchen aufgetischt«.[24]

Nachdem sie zwei oder drei Tage durch die Hitze und Trockenheit geritten waren, meinte Grinnell, er und seine Begleiter hätten »genug von Nebraska gesehen«. Sie verstanden nun, warum die Prärie in Büchern als »die große amerikanische Wüste« bezeichnet wurde. Während einer Rast maßen sie 43 Grad im Schatten. Die wenigen Tümpel, die sie fanden, waren mit Lauge verseucht, sodass nicht einmal die Tiere daraus trinken konnten. Um trinkbares Wasser zu finden, mussten sie in ausgetrockneten Seen graben.[25]

Als sie den Loup River erreichten, wurden die Bedingungen ein wenig besser, dort gab es Wasser und Wild. Die Expeditionsteilnehmer sahen ihren ersten Elch, und jeden Tag erlaubte Major North einem der jungen Forscher, ihn auf der Jagd nach Gabelböcken zu begleiten. Es gelang jedoch keinem von ihnen, das schnellste Landsäugetier des nordamerikanischen Kontinents zu erlegen. Zum Glück waren Major North und die Pawnee bessere Schützen, und die Gesellschaft musste keinen Hunger leiden.[26] Die Nähe des Wassers brachte jedoch ganz eigene Probleme mit sich, wie Grinnell in seinem Tagebuch festhielt. »Ich hatte mich schon gefreut, eine neue Reiherart entdeckt zu haben«, witzelte er. »Aber bei genauerem Hinsehen war es nur eine der vielen Mücken der Gegend.«[27]

Im Laufe der Reise verbesserten Grinnell und seine Begleiter ihre Treffsicherheit. Beliebte Ziele waren Klapperschlangen, »denn hier wimmelt es nur so von diesen Reptilien«. Die Schlangen bissen drei der Pferde. »Das Klappern wurde bald zur vertrauten Melodie, und bis auf einen von uns, der die Klappern als Halskette für seine Verlobte sammelte, verloren wir bald den Spaß daran, die armen Viecher abzuschießen.«[28]

Am Loup River begannen die Entdecker schließlich mit ihren Ausgrabungen. Dort fanden sie die badlands, den rohen Lehm der alten Seebetten, in dem sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Fossilien stoßen würden. Während Marsh und seine Begleiter gruben, standen die Soldaten Wache – wohl wissend, dass sie Eindringlinge im Territorium der Sioux waren. Die ersten Funde bestätigten die Erwartungen von Professor Marsh: Kamele, Urpferde, ein Mastodon und einige bis dahin unbekannte Arten. Hin und wieder stieß die Expedition auf indianische Grabstätten und Leichname, die auf hohen Holzgerüsten aufgebahrt waren. Darunter fanden sie die Skelette von Pferden »die geopfert worden waren, damit die Toten im künftigen Leben ein Reittier hatten«. Trotz ihrer Angst vor Pocken hatten die Forscher keine Bedenken, ein paar indianische Schädel in ihre Sammlung aufzunehmen.[29]

Das erste Anzeichen, dass auch lebende Ureinwohner in der Nähe sein mussten, sahen sie eines Nachts. Zu beiden Seiten des Lagers am Loup River brach gleichzeitig ein Präriefeuer aus, und sie nahmen an, dass die Brände von den Sioux gelegt worden waren. Die Soldaten entzündeten rasch Gegenfeuer, um den anrückenden Flammen die Nahrung zu nehmen. »Als sich der Schrecken gelegt hatte, waren die Feuer sehr schön anzusehen«, notierte Grinnell. Während der nächsten zwei Tag mussten sie dann allerdings durch verbrannte Steppe reiten und fanden nur mit Mühe Weidegras für ihre Pferde.[30]

Nachdem die Expedition bis zum Oberlauf des Loup River vorgestoßen war, wandte sie sich nach Südwesten für den zweiten Teil ihrer Erkundungsreise – das Dreieck zwischen dem nördlichen und südlichen Arm des Platte River.

Auf der Suche nach Dinosaurierknochen an der Grenze zwischen Nebraska und Wyoming folgte die Expedition einem ausgetretenen Pfad. Grinnell nennt ihn den »alten California- und Oregon-Trail«. Es waren zwar erst fünfzehn Monate vergangen, seit der goldene Nagel eingeschlagen worden war, der die aus Ost und West kommenden Schienenstränge verband, doch die Zeit der Planwagen schien schon der grauen Vorzeit anzugehören. Die Natur hatte bereits begonnen, die tiefen Furchen zurückzuerobern, die Hunderttausende Siedler noch bis vor Kurzem in den Boden der Prärie gepflügt hatten. »Das Gras wucherte überall entlang des Weges«, notierte Grinnell. »Und wo die Planwagen passiert waren, blühte nun eine lange Spur von Sonnenblumen.«[31]

Ihr militärischer Begleitschutz erinnerte die Forscher unentwegt daran, dass die Gegend, durch die sie kamen, noch immer heftig umkämpft war – vor allem die Region um den Horse Creek, einen Zufluss des North Platte River. »Das sind berühmte Jagdgründe, und wir fanden viele frische Spuren von den Wilden«, schrieb Bill Betts, einer von Grinnells Begleitern. Für Grinnell war der Horse Creek jedoch eine unwiderstehliche Verlockung. Betts schrieb weiter: »Trotz der Hinweise auf die Anwesenheit dieser unfreundlichen Nachbarn bestanden zwei Angehörige unserer Gruppe darauf, dem Bachlauf zu folgen, um Enten zu schießen.«[32]

Diese zwei waren Grinnell und ein gewisser Jack Nicholson. Nur mit Gewehren bewaffnet, beschlossen sie, sich von der Gruppe zu trennen und allein den Horse Creek hinaufzureiten. Die Übrigen nahmen eine Abkürzung über die offene Prärie. Ein Hauptmann namens Montgomery sagte den beiden, wenn sie dem Bachlauf folgten, würden sie schließlich auf die Stelle treffen, an der die Expedition ihr Nachtlager aufschlagen wollte. Sie sollten vor Sonnenuntergang eintreffen und hoffentlich genug Enten für alle mitbringen. Weder Montgomery noch sonst ein Expeditionsmitglied kannte das Land allerdings gut genug, um zu wissen, dass der Horse Creek einen weiten Bogen beschrieb, ehe er zu der vereinbarten Stelle führte. Auf diesem Weg war das Lager gut achtzig Kilometer entfernt – etwa doppelt so weit wie Grinnell und Nicholson annahmen.

Die Jagd verlief immerhin nach Plan. Es gab Enten im Überfluss, und zumindest würden die beiden Männer keinen Hunger leiden müssen. Den ganzen Tag ritten sie am Bach entlang, doch gegen Abend wurden sie allmählich unruhig. Sie mussten mehr als dreißig Kilometer geritten sein. Nachdem sie eine Pause eingelegt hatten, um ein Pfeifchen zu rauchen und die Lage zu besprechen, beschlossen sie, auf eine nahe Anhöhe zu reiten, um sich einen Überblick über die Landschaft zu verschaffen.

Oben angekommen, machten sie zwei unerfreuliche Beobachtungen. Obwohl sie kilometerweit sehen konnten, war nirgends eine Spur vom Lager der Marsh-Expedition zu entdecken. Es war vollkommen ausgeschlossen, dass sie vor Einbruch der Dunkelheit zu ihren Begleitern stoßen würden. Die zweite Beobachtung machten sie beim Blick zurück zu der Stelle, auf der sie vor wenigen Minuten haltgemacht hatten. Nachdem sie ihre Pfeifen angezündet hatten, hatte offenbar einer von ihnen sein Streichholz ins Gras geworfen, und nun raste ein Präriefeuer hinter ihnen den Hügel herauf.[33]