Über das Buch:
„Wir haben ihnen Fragen gestellt und sie haben uns geantwortet. Gelegentlich hat uns ihre Offenheit verblüfft. Aus manchem Gespräch gingen wir als Beschenkte.“

Dr. Martin Knispel und Norbert Schäfer – ein Theologe und ein Journalist – haben sich mit 15 Politikerinnen und Politikern aus den im deutschen Bundestag vertretenen Parteien (CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke) getroffen und ihnen Fragen gestellt. Fragen zu ihrer Einstellung zu den christlichen Grundwerten unserer Gesellschaft, zu ihrem Umgang mit moralisch schwierigen Entscheidungen, zu ihrem Halt in Krisensituationen, zu ihrer Einschätzung der aktuellen gesellschaftlichen Situation in Deutschland und vielen anderen Themen. Entstanden sind 15 faszinierende Gesprächsreportagen, in denen die Politiker Einblick in den Kompass ihres politischen Handelns geben.

Über die Autoren:
Dr. Martin Knispel ist Religionspädagoge und promovierter Theologe. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Nach vielen Jahren kirchlicher Tätigkeit in Afrika war der Autor acht Jahre Direktor am Theologisch-pädagogischen Seminar Malche (Porta Westfalica). Heute ist er der Geschäftsführer der WERTESTARTER Stiftung, Berlin.

Norbert Schäfer arbeitet als Journalist im Hauptstadtbüro des Christlichen Medienverbundes KEP e.V., der seinen Sitz im mittelhessischen Wetzlar hat. Er ist verheiratet und lebt mit seiner Frau Anette in Greifenstein. Dort engagiert sich der Autor in der Kommunalpolitik.

Thomas Rachel

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Rachel kommt aus Düren im Rheinland und ist Politiker mit Leib und Seele. Er ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter. Seit 1994 sitzt er ohne Unterbrechung für die CDU im Bundestag. Bildungs- und Forschungspolitik ist sein Schwerpunkt im politischen Leben. Daneben ist er Bundesvorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU und sitzt seit 2015 im Rat der EKD, dem höchsten Leitungsgremium der evangelischen Kirche von Deutschland.

Das gespräch

Begegnungen mit Thomas Rachel sind erfrischend, wenn man denn einen Termin gefunden hat. Das Berliner Büro des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesbildungsministerium ist aufgeräumt und strahlt eine kühle Eleganz aus. Freundlicher Empfang, kräftiges Händeschütteln, ein offenes und zugewandtes Gespräch ist schnell im Gang. Man versteht bald, dass die Zeit knapp ist. Dennoch, wenn er da ist, hat er Zeit, ist vorbereitet und zugewandt. Ich entspanne mich ...

Bei der Beantwortung der Frage, was denn die Übernahme von Verantwortung ganz praktisch in der kleinen Münze des politischen Alltags bedeutet, holt Rachel aus.

Die ganze aktive Politik mit ihrer Komplexität an Themen, Problemen und Herausforderungen stelle die Politiker vor die Aufgabe, möglichst gute Lösungen zum Wohl aller zu finden. Das gilt für die Niederungen des politischen Alltags, für alltägliche Fragen ebenso wie für wichtige Entscheidungen auf der Bundesebene, die große Auswirkungen haben. Die Menschen wollen Antworten und darauf haben sie ein Recht, denn schließlich haben sie ihm durch ihre Stimme sowohl das Vertrauen als auch das Mandat geschenkt. Er versuche, diesem Vertrauen nach bestem Wissen und Gewissen gerecht zu werden und ihm auch zu entsprechen. Dass er dabei mit allen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen quasi unaufhörlich in einen intensiven Kontakt und Austausch komme, sei eine besondere Freude und Bereicherung. Denn er liebe es schon immer, anderen Menschen zu begegnen und mit ihnen in einen Dialog zu treten.

Nun ist allgemein bekannt, dass die Bundesrepublik einen großen Wertewandel durchläuft. Viele reden über Werte, es stellt sich aber die Frage, welche Werte tragen. Was hat Thomas Rachel geprägt und was prägt ihn bis heute, will ich von ihm wissen.

»Als Christ in der Politik und insbesondere als Bundesvorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU (EAK) denke ich vor allem an den von Hermann Ehlers geprägten Begriff der evangelischen Verantwortung. Es geht hierbei um die immer wieder neu und konkret gelebte Verantwortung vor Gott und den Menschen, und zwar aus dem Verständnis des besonderen evangelischen Freiheitsbewusstseins heraus. Durch den Glauben befreit, kann ich mich getrost engagieren und wirken, auch wenn meine menschlichen Kräfte und Möglichkeiten letztlich immer begrenzt, irrtumsanfällig und vorläufig bleiben. Weil ich durch Christus gerechtfertigt bin, kann ich Mut zur Verantwortungsübernahme haben. Und das ist ja gerade auch in den Bereichen wichtig, wo es nicht nur allein um mein persönliches Leben und Umfeld, sondern vor allem auch um die Belange der vielen anderen, mir anvertrauten Bürgerinnen und Bürger geht.«

Wir treffen Thomas Rachel wieder auf dem Johannisempfang der EKD am Gendarmenmarkt zu Berlin. Es ist ein brütend heißer Tag, der Gottesdienst zu Beginn setzt einen geistlichen Akzent, dennoch sind wir froh, als es ins Freie geht und wir an kleinen Bistrotischen unser Gespräch fortsetzen. Immer wieder schenkt er Wasser nach, auch an diejenigen, die im großen Kreis dabeistehen. Engagiert diskutieren wir über die neuesten Entwicklungen innerhalb der EKD. Man spürt: Wenn Rachel sich für etwas einbringt, dann mit Haut und Haaren.

Deutschland wird multireligiöser, auf viele Bürger wirkt der Islam als eine Religion, die schwer einzuordnen ist. Worauf kommt es an, so fragen wir, damit sich der Islam so in die Bundesrepublik eingliedern wird, dass ein friedliches Miteinander gewährleistet ist?

Zunächst stimmt Rachel zu. In der Tat werde der Islam aktuell zunehmend als polit-religiöse Ideologie, als beängstigendes Gewaltphänomen, als Menschenrechtsproblem oder als kulturgesellschaftlicher Stör- bzw. Differenzfaktor wahrgenommen. Die täglichen Nachrichten über den islamistischen Terrorismus, über Parallelgesellschaften und das Scheitern der Integration seien besorgniserregend. Und es sei zweifelsohne beunruhigend, dass in den allermeisten islamisch geprägten Staaten der Erde bis zum heutigen Tage die universalen Menschenrechte nur unzureichend geachtet würden und dass es dort keine Demokratien gebe, die auf freiheitlichen und universalen Grundwerten basieren, sondern zuhauf totalitär geprägte Regime.

Entscheidend käme es deshalb darauf an, dass die Muslime nicht nur bei uns in Deutschland, sondern weltweit diesbezüglich zu einer entscheidenden Klärung ihres theologischen Grund- und Selbstverständnisses gelangten. Vor diesem Hintergrund dürften wir also – gerade in einer Welt, die derzeit aus den Fugen zu geraten scheint – nicht müde werden, für unser bewährtes Modell einer von Freiheit, Grundwerten, Säkularität und Gewaltenteilung geprägten demokratischen Kultur zu werben.

Rachel sagt weiter: »Bei uns in Deutschland, einem Land mit wachsenden muslimischen Bevölkerungsteilen, gibt es eine Fülle von Chancen und Möglichkeiten, Islam und Moderne in freiheitlich-demokratischer Weise miteinander ins Gespräch zu bringen. Trotz weltweiter Krisenlage und vieler Probleme dürfen wir nicht übersehen, was in unserem Land in den vergangenen Jahrzehnten bereits an beeindruckenden Integrationsleistungen vollbracht worden ist. Unser politisches Ziel muss es auch weiterhin sein, eine möglichst große und umfassende Integration von Muslimen in unserem Land zu erreichen. Dazu gehört die Bildung als wesentlicher Schlüssel zur Integration. Die Eröffnung der Möglichkeit von islamischem Religionsunterricht mit deutschen Lehrern, überprüfbaren pädagogischen Standards und ausgewiesenen Curricula an unseren öffentlichen Schulen. Aber auch die Errichtung von Lehrstühlen für Islamische Theologie an unseren Universitäten sind bereits wichtige bildungspolitische Schritte in die richtige Richtung. Dazu gehört aber auch umgekehrt und zuallererst die Bereitschaft der Muslime selbst, unsere politischen Grundwerte und unsere Rechtsordnung vollumfänglich zu akzeptieren. Dabei muss im Sinne eines wechselseitigen Forderns und Förderns ganz klar und unmissverständlich sein: Den entscheidenden Maßstab und die unverrückbare Grundlage aller Integrationsbemühungen bildet unser Grundgesetz.«

Wir verlassen die große Weltpolitik und wenden uns Glaubensfragen zu. Wie kann es eigentlich sein, dass das Christentum in Deutschland so rasch an Bedeutung verliert? Und wenn er schon in der EKD Entscheidungen mitverantwortet – was tut man dort, damit wieder ein Ruck durch die Kirche geht?

Rachel lacht herzhaft und fördert dabei sein rheinisches Naturell zutage. Er sei grundsätzlich erst einmal ein zuversichtlicher und hoffnungsvoller Mensch. Deshalb gehöre er nicht zu denen, die ständig irgendwelche Untergangsszenarien des Christentums verkünden. Dazu bestehe aufs Ganze gesehen auch überhaupt kein Anlass. Unser Land und unsere Kultur seien ja schließlich tief, vielfältig und nachhaltig von Kirche und Christentum geprägt. Vieles davon sei sicherlich auch über die letzten Jahrzehnte in Vergessenheit geraten und bei nicht wenigen in der Gesellschaft eher passiv und nur unbewusst vorhanden. Das Eigene mache man sich ja bekanntlich erst in der Begegnung mit dem anderen und Fremden bewusst.

Insofern läge in der zunehmenden Herausforderung von Pluralität und Multireligiosität in unserem Land auch eine enorme Chance der Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln der Identität. Überdies sei er der festen Überzeugung, dass gerade auch in Krisenzeiten das Hoffnungspotenzial des eigenen christlichen Glaubens wieder neu zum Vorschein kommen werde. Mit dieser fröhlichen Gewissheit bringe er sich auch im Rat der EKD ein und schlussfolgert:

»Ich glaube, dass Kirche immer dann am attraktivsten wirkt, wenn sie sich auf ihr Kerngeschäft konzentriert, sprich: auf die beherzte und lebendige Verkündigung der Frohen Botschaft in Wort und Tat.«

Man möchte sich diesem Überzeugungstäter gerne anschließen, aber gewisse Zweifel wegen der bedrückenden zurückgehenden Mitgliederzahlen bleiben dennoch bestehen. Wir bohren nach und spitzen das Thema zu. Als Bundesvorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU müsse ihm ja bekannt sein, dass auch über das »C« in seiner Partei seit Jahren gerätselt werde. Was ist denn nun das »Christliche« an CDU/CSU, wollen wir wissen. Die direkte Antwort lautet:

»Für mich ist mein christlicher Glaube ein unerlässlicher Kompass für die tagtäglich immer wieder neuen politischen Herausforderungen und Probleme. Dieser Marschkompass – um ein Bild von Helmut Thielicke zu bemühen – bewahrt keineswegs davor, dass man sich zuallererst selbst aufmachen und sich einen Weg durch zum Teil unwirtliches und unübersichtliches Gelände suchen und bahnen muss. Aber ohne ihn wäre man mit Gewissheit aufgeschmissen, verloren und ohne hinreichende Orientierung.«

Das signalisiere auch das »C« im Parteinamen der Union. Es sei nämlich kein schmückendes Aushängeschild oder gar ein religiöser Vollmachtswahn, sondern ein bewusster und lebendiger Anspruch an die eigene Politik, eine Selbstverpflichtung oder, wie es Richard von Weizsäcker so treffend ausgedrückt hat: ein »Stachel im Fleisch«. Das »C« sei deshalb auch das beste Mittel gegen jede Art von politischer Ideologie und jede Form von totalitärem Denken! Es gehe also nicht um so etwas wie eine »christliche« Politik, die es gar nicht geben kann und die selbst Ideologie wäre. Sondern es gehe um den selbst gewählten Anspruch von Christinnen und Christen, sich auch in der Politik zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen und dabei nicht zuletzt auch ihren Glauben ganz bewusst ernst zu nehmen. Als Bildungspolitiker habe er natürlich einen Blick auf eine werteorientierte Bildungspolitik inmitten einer pluralen Gesellschaft, die die Menschen mitnimmt und gleichzeitig herausfordert. Denn Pluralität gehöre zu den großen, positiven Errungenschaften der freiheitlichen Demokratie. In Diktatur, Totalitarismus und Kollektivismus herrschen demgegenüber nur Uniformismus, Gruppenzwang und Monokultur. Deshalb seien diese Regime ja immer früher oder später auch dem Untergang geweiht. Gerade die wohlverstandene Vielfalt könne also eine große Chance und ein entscheidender Wettbewerbsvorteil für eine Gesellschaft und ein Staatswesen sein. Eine moderne, werteorientierte Bildungspolitik müsse deshalb immer den unverwechselbaren, individuellen Menschen mit seinem besonderen Charisma, seinen Begabungen und Fähigkeiten im Blick haben. Das entspreche im Übrigen auch unserem christlichen Bild vom Menschen. Die unterschiedlichen und mannigfachen Begabungen gelte es deshalb auch politisch möglichst genau zu identifizieren und dann entsprechend maßgerecht und passend zu fördern. Es sei also Aufgabe einer guten Bildungspolitik, genau diesen entscheidenden Zusammenhang niemals aus dem Blick zu verlieren: Pluralität und Individualität bedingten sich gegenseitig, und das eine sei letztlich nicht ohne das andere zu denken.

Auf der Homepage von Thomas Rachel findet man folgenden bemerkenswerten Satz von Dr. Hermann Ehlers: »Die Verantwortung, die die Menschen für sich, für ihre Bürger, für die Gemeinschaft des Volkes tragen, muss eine andere sein, wenn sie nicht meinen, dass mit dem Tode alles aus ist, sondern dass ein Letztes Gericht und eine letzte Gnade auf sie wartet. Wo es keine große Hoffnung gibt, gibt es auch keine vernünftige Politik.« »Letztes Gericht« und »letzte Gnade«: Geht das für Politik nicht ein bisschen zu weit, wollen wir von ihm wissen.

Nein, meint Rachel, denn als bekennende und aktive Christen seien wir dazu gerufen, in allem, was wir sind und tun, vor der weltüberwindenden Hoffnung Rechenschaft abzulegen, die in uns ist. Das Evangelium Jesu Christi sei dazu in der Lage, uns selbst und unsere Welt immer wieder in radikaler Weise zu wandeln und zu verändern. Das gelte im Privaten und Persönlichen, aber erst recht auch in der Gesellschaft und in der Politik.

Diese verantwortungsvolle Aufgabe müsse nun aber stets von allen Christen im Deutschen Bundestag – quer durch alle Parteien hindurch – gemeinsam wahrgenommen werden. Im Bewusstsein der Schwere, aber auch der Bedeutsamkeit dieser politischen Herausforderung müssten wir als Christen im Parlament immer wieder um die Lösung der wichtigen Probleme in unserem Land ringen und uns glaubwürdig dafür einsetzen. Bei aller Vorläufigkeit der politischen Tätigkeit hätten wir immer die hohe Ernsthaftigkeit und Verantwortung dieses Berufes zu betonen. Bei allem notwendigen Ernstnehmen desselben würden wir aber immer auch um seine Vorläufigkeit wissen.