Über das Buch:
Niederlande 1845: Geesje ist 15, als ein Stein im Schaufenster ihres Vaters ihre Kindheit zerstört. Wegen ihres lebendigen Glaubens werden sie fortan immer wieder angegriffen und schikaniert. Schließlich sehen ihre Eltern keinen anderen Ausweg, als nach Amerika auszuwandern. Doch Geesje ist alles andere als begeistert. Zumal sie den Mann, den sie liebt, in den Niederlanden zurücklassen muss. Wird sie ihn jemals wiedersehen?

Gut 50 Jahre später erinnert Geesje sich zurück. Sie ahnt nicht, dass unweit von ihr die junge Anna vor ähnlichen Entscheidungen steht, wie sie sie einst treffen musste. Vor allem aber ahnt sie nicht, dass ausgerechnet diese junge Frau ihrem Herzen endlich Frieden schenken könnte.

Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und lebt in Holland, Michigan. Ihre zahlreichen Romane sind allesamt Bestseller und mit unzähligen Preisen ausgezeichnet worden. In Deutschland gilt sie als die beliebteste christliche Romanautorin.

6. Kapitel

Anna

Hotel Ottawa
1897

In aller Frühe, noch bevor es Frühstück gibt, stehe ich auf, damit ich draußen spazieren gehen kann, bevor es zu heiß wird. Ich liebe diese Tageszeit, wenn die Luft klar und frisch ist und der Tau auf den Gräsern funkelt. Heute ist der Himmel von hohen Schleierwolken überzogen und das Wasser des Black Lake schimmert in einem hübschen Silberblau. Ich sitze auf meiner Lieblingsbank nah am Wasser, wo Derk mich am ersten Tag mit seiner Freundin Elizabeth verwechselt hat, und sehe der Entenfamilie zu, die unweit vom Ufer schwimmt. Ich habe Derk seither nur aus der Ferne gesehen, wenn er sich um die Ruderboote kümmert oder Koffer und Truhen für Hotelgäste schleppt. Heute beobachte ich ihn, wie er einen Picknickkorb in dem kleinen Segelboot des Hotels verstaut, weil er mit einigen Passagieren einen Ausflug macht. Anzeigen und Broschüren in der Hotellobby informieren die Gäste darüber, dass wir uns am Empfang für einen Segeltörn anmelden können. Ich sehe zu, bis Derks Passagiere – ein junges Paar, das kaum die Blicke voneinander losreißen kann – in dem Boot sitzen und Derk auf den See hinaussegelt. Ihr Lachen dringt über das Wasser zu mir herüber. Mir fällt nichts ein, was ich schlimmer fände, als noch einmal in ein Boot zu steigen.

Als wir einander später beim Frühstück gegenübersitzen, hat Mutter Neuigkeiten für mich. „Heute Morgen ist ein Brief von deinem Vater mit der Post gekommen“, sagt sie. Sie zieht ihn aus dem Umschlag und liest mir Teile davon vor. „‚Sag meiner lieben Anna, dass ich neulich William im Klub gesehen habe, und wir haben kurz über die gelöste Verlobung gesprochen. Er sagte mir, er sei für weitere Gespräche offen, was eine Versöhnung betrifft, aber vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt.‘“

Ich kann mir gut vorstellen, wie William in seinem gestärkten weißen Hemd auf einem zu prall gepolsterten Stuhl sitzt, eine duftende Zigarre zwischen den Fingern, und schon bei der Erwähnung meines Namens die Stirn runzelt. Aber Vater ist ein wichtiger Kunde der Bank, die Williams Großvater gegründet hat, deshalb würde William es nicht wagen, ihn so anzuschreien, wie er mich angeschrien hat – schon gar nicht in der gedämpften Stille seines Privatklubs, in dem die Bediensteten flüstern und auf Zehenspitzen gehen.

„Was meinst du, Anna? Das ist doch eine gute Neuigkeit, nicht wahr?“, sagt Mutter.

„Ich weiß nicht … können wir über etwas anderes reden? Ich brauche noch mehr Zeit zum Nachdenken.“

Mutter respektiert meinen Wunsch, doch ich merke, dass es ihr schwerfällt. Als wir mit dem Frühstück fertig sind, begegnet uns ein anderer Gast aus Chicago, eine Frau namens Honoria Stevens, mit der Mutter sich angefreundet hat. Die beiden beschließen, sich auf die große Veranda des Hotels zu setzen, die letzten Ausgaben der Modezeitschrift Vogue durchzublättern und die Kleider zu planen, die ihre Schneiderinnen für die Herbstsaison anfertigen sollen. Ich bin mir sicher, sie werden auch eine ganze Weile damit zubringen, sich über ihre Dienstboten daheim und über die schlecht ausgebildeten Angestellten des Hotels zu beklagen. „Du kannst dich gerne zu uns gesellen, Anna“, sagt Mutter.

Nichts könnte mich mehr langweilen. „Vielleicht später“, erwidere ich. „Ich möchte heute Morgen zum Ufer des Lake Michigan gehen.“

„Wenn das so ist, dann frag doch eine der netten jungen Damen, die wir gestern bei dem Klavierabend kennengelernt haben, ob sie dich begleitet.“

Ich nicke halbherzig, aber ich habe nicht die Absicht, irgendjemanden zu meinem Spaziergang einzuladen, schon gar nicht diese albernen Mädchen. Ich weiß schon jetzt, dass die Unterhaltung mit ihnen oberflächlich und langweilig sein wird, wie die nichtssagenden Gespräche, die ich ständig über mich ergehen lassen muss, wenn wir zu Hause gesellschaftliche Verpflichtungen haben und Besuche machen oder Besucher empfangen. Solche Besuche helfen nur selten gegen meine Einsamkeit oder gegen die Sehnsucht, eine gute Freundin zu haben. Seit dem Ende meiner Schulzeit habe ich keine richtige Freundin mehr, mit der ich lachen und der ich mich anvertrauen könnte. Die Mädchen, die ich damals kannte, sind jetzt alle verheiratet und ich bin mit meinem fortgeschrittenen Alter von dreiundzwanzig Jahren praktisch eine alte Jungfer. Aber ich habe schlichtweg länger als die anderen Mädchen gebraucht, um meine Schüchternheit zu überwinden und erwachsen genug zu werden, um Verehrer zu haben und mich zu verloben. Vater hat mich als sein kleines Mädchen sehr behütet und kein Verehrer war in seinen Augen gut genug, bis William auftauchte.

„Aber setz unbedingt einen Hut auf, wenn du zum Strand gehst“, warnt Mutter. „Und du solltest auch lange Ärmel tragen, damit die Sonne deine Haut nicht bräunt.“

Ich gehorche und gehe in mein Zimmer hinauf, um meinen Sonnenhut zu holen. Den neuen Badeanzug, den ich gekauft habe, bevor wir herkamen, habe ich immer noch nicht getragen, und ich will ihn auch heute nicht anziehen. Bisher verspüre ich nicht den geringsten Wunsch, auch nur den großen Zeh in einen der beiden Seen zu tauchen. Kurz bevor ich mein Zimmer wieder verlasse, beschließe ich, mein Tagebuch mitzunehmen – nicht, um etwas hineinzuschreiben, sondern um darin zu lesen. Vielleicht kann ich herausfinden, was zwischen William und mir schiefgelaufen ist. Und vielleicht kann ich auch entscheiden, ob ich ihn noch liebe.

Auf dem kurzen Weg zum Strand gehe ich an dem Kanal entlang, der den Black Lake und den Lake Michigan miteinander verbindet. Mehrere kleine Boote segeln an diesem Morgen dort und nutzen das ruhige Wasser, um sich auf den großen See hinauszuwagen. Eine Handvoll Fischer versuchen ihr Glück am Ufer des Kanals und werfen ihre Angeln in das glitzernde Wasser. Ich stehe eine Weile dort und sehe zu, bevor ich meine Schuhe ausziehe, um barfuß in dem warmen, sich wie Zucker anfühlenden Sand spazieren zu gehen. In meiner Nähe spielen einige Kinder. Sie quietschen vor Vergnügen, wenn die Wellen über ihnen zusammenschlagen und die Sandburgen zerstören, die sie am Rand des Wassers gebaut haben. Eine andere junge Familie hat einen Picknickkorb mitgebracht, und als sie ihre Leckereien auf einer Decke ausbreiten, kommen drei vorwitzige Möwen vorsichtig näher.

Irgendwann lasse ich mich im Sand nieder und schlage mein Tagebuch auf der ersten Seite auf:

1. Januar 1897

Gestern Abend war ich mit William bei einer Silvesterparty im Ballsaal seines Elternhauses. Alles war ungeheuer glanzvoll – der Schmuck, das Essen, die Kleider der Damen, die Orchestermusik. William sah in seinem eng geschnittenen schwarzen Frack atemberaubend aus. Wir haben getanzt, bis mir die Füße wehtaten, und von dem Champagner, den ich getrunken habe, drehte sich irgendwann der ganze Saal. William war mit Abstand der attraktivste Mann dort mit seinem welligen dunklen Haar und dem akkurat gestutzten Bart. Seine Augen haben die gleiche dunkle Mahagonifarbe wie das Holz, mit dem sein Anwesen verziert ist. Ich habe die eifersüchtigen Blicke der anderen Mädchen gesehen und wusste, dass ich die Glückliche war, die Williams Herz erobert hat. Nach Mitternacht haben wir uns in den Dienstbotengang geschlichen, und als niemand es sah, habe ich William erlaubt, mich zu küssen. Von seinen Küssen wurde mir noch schwindliger als von dem Champagner. Ach, wie sehr sehne ich mich nach dem Tag, an dem wir verheiratet sind und die ganze Zeit zusammen sein und einander noch viel enger umschlungen halten können, als es uns jetzt gestattet ist.

Mir kommen die Tränen, als ich an den Abend und die heimlichen Küsse zurückdenke. Wir hatten einander mit ebensolchen Blicken angeschaut, wie ich sie heute Morgen bei den beiden jungen Leuten gesehen habe, die in Derks Segelboot gestiegen sind.

Ich überfliege einige Tagebucheinträge und denke wieder daran, dass Mutter und ich angefangen hatten, detaillierter über die Hochzeit zu sprechen – die Gästeliste, das Hochzeitsessen, die Abendroben und anderen Kleider für meine Hochzeitsreise nach Europa. William und ich hatten noch keinen Termin festgesetzt, aber er hatte beschlossen, den Empfang im Ballsaal seiner Eltern zu veranstalten, da ihr Haus größer und schicker ist als unseres. Bei ihnen sollten wir auch zunächst wohnen, bis wir unser eigenes Haus bauen konnten. William wusste genau, wie er sich unser Anwesen vorstellte und wie jeder Raum ausgestattet sein sollte. Der Gedanke, ganz allein ein riesiges Haus samt Einrichtung zu planen, überwältigte mich damals, deshalb war es mir ganz recht, alles in seine fähigen Hände zu legen. William ist sehr entschlossen, während ich überhaupt nicht gut darin bin, mich zu entscheiden. Ich hatte ja keine Ahnung, dass er auch alle anderen Entscheidungen in meinem Leben würde übernehmen wollen, unter anderem die, welche Kirche ich besuchte.

Mein Magen hebt und senkt sich wie die Wellen, die sich vor mir kräuseln, während ich mich wieder meinem Tagebuch zuwende.

7. Januar

Heute Morgen hat es endlich aufgehört zu schneien und am Nachmittag sehnte ich mich danach, das Haus zu verlassen. Ich rief unseren Fahrer und bat ihn, eine Kutschfahrt mit mir zu machen, während ich wünschte, ich hätte eine Freundin, die mitkommen könnte – jemanden, der eine schnelle Fahrt durch die Winterlandschaft ebenso genießen würde wie ich. Die Stadt sah aus wie ein Märchenland mit all dem jungfräulichen Schnee, der auf den Bäumen funkelte. Die eisige Luft, die vom Lake Michigan herüberwehte, tat in der Nase weh, wenn ich einatmete, aber ich fühlte mich so lebendig.
Auf dem Heimweg erblickten wir vor uns plötzlich eine Kutsche, die einen Unfall hatte und uns den Weg versperrte, deshalb bog der Fahrer in eine Seitenstraße ab, dann in die nächste und noch eine, bis wir uns schließlich vor einer Kirche an der Ecke Chicago Avenue und LaSalle Street befanden. Ich war schon einmal in dieser Kirche gewesen, da bin ich mir sicher, aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wann oder warum. Man betritt das Gebäude über einen Eingang an der Ecke und durch einen dicken runden Turm, der an einen Schlossturm erinnert. Vor der Tür war ein Evangeliumswagen geparkt, den ich während der Weltausstellung vor vier Jahren oft in Chicago gesehen habe. Die Musik und der Gesang waren so festlich, dass ich den Fahrer bat, einen Augenblick anzuhalten. Sobald der Wagen stillstand, kam eine Frau zu meiner Kutsche gelaufen, reichte mir ein Werbeblatt und lud mich dazu ein hereinzukommen und einen weltberühmten Evangelisten zu hören. Ich gab dem Fahrer die Anweisung zu warten und stieg aus der Kutsche.
In dem Augenblick, in dem ich durch die Tür trat, wusste ich, dass ich schon einmal dort gewesen war. Alles war so vertraut! Ich blieb hinten in der Kirche stehen und hörte eine Weile zu. Der Pastor sprach über Jesus, als wäre dieser sein bester Freund. Dann beschrieb er die Einsamkeit und Leere, die wir alle spürten, und sagte, Jesus könne diese Leere füllen. „Gott liebt dich“, sagte der Pastor. „Er hat einen Plan und eine Aufgabe für dein Leben.“
Die Predigt war noch nicht zu Ende, doch da mir bewusst war, dass mein Fahrer draußen auf mich wartete, schlüpfte ich wieder hinaus. Die Worte des Pastors gingen mir den ganzen Heimweg über nicht mehr aus dem Kopf und wärmten mir das Herz wie eine winzige Kerze im Schnee.
Als ich wieder zu Hause war, fragte ich Mutter, ob wir jemals in der Kirche dort gewesen seien. „Natürlich nicht!“, erwiderte sie. Ich fragte, ob ich sie vielleicht mit Vater besucht haben könnte, aber Mutter sagte, unsere Familie habe immer dieselbe Kirche besucht.
Jetzt ist es spät und ich muss die Gaslaterne löschen und schlafen gehen. Aber ich kann noch immer nicht das unheimliche Gefühl abschütteln, dass ich schon einmal in dieser Kirche war. Und die Worte des Pastors kann ich auch nicht vergessen. Hat Gott wirklich einen Plan für mein Leben und eine Aufgabe für mich?

9. Januar

Gestern Nacht habe ich von der Schlossturmkirche geträumt. Mama und ich waren zusammen dort und haben eine Predigt gehört. Dann bin ich aufgewacht und vor mir lag ein öder grauer Tag. Ich hatte nichts zu tun. Mutter liegt mit einer Erkältung im Bett, deshalb habe ich mir meinen wärmsten Mantel und Stiefel angezogen, um unsere Straße hinunter- und wieder hinaufzugehen. Aber aus einer Laune heraus hielt ich ein vorbeifahrendes Taxi an und bat den Fahrer, mich zu der Kirche zu fahren. Ich hatte keine Ahnung, ob es dort mitten am Nachmittag eine Veranstaltung gab, aber wie sich herausstellte, fand ein Gottesdienst statt. Derselbe Prediger wie vor ein paar Tagen sprach und diesmal blieb ich, um mir die ganze Predigt anzuhören.

Ich blicke wieder auf und sehe auf die dünne Linie am Horizont, an der Wasser und Himmel aufeinandertreffen, während ich mich daran erinnere, was am darauffolgenden Abend geschah. William und ich waren gemeinsam unterwegs zum Theater und ich wollte ihm unbedingt von der Predigt erzählen, die ich gehört hatte. Ich hatte kaum damit begonnen, als er mich unterbrach. „Wie kommst du dazu, so einen Ort aufzusuchen, Anna?“ Seine Stimme war so kalt wie der Januarabend.

„Wie meinst du das? Es ist eine Kirche, William. Eine christliche Kirche.“

„Solche Orte ziehen die gewöhnlichsten Leute an. Die Pastoren sind oft Scharlatane, die unschuldigen Menschen das Geld aus der Tasche ziehen wollen.“

„Niemand hat mich um Geld gebeten …“

„Geh trotzdem nicht dorthin.“ Es war ein Befehl. William sprach mit mir, wie er vielleicht mit einem Dienstboten oder einem seiner Bankangestellten sprach. Als ich ihm zu erklären versuchte, dass ich das Gefühl hatte, etwas fehle in meinem Leben, wurde er noch wütender und rief, ich würde ihn und meine Eltern beleidigen, wenn ich so etwas sagte. Dann lächelte er und fügte deutlich ruhiger hinzu: „Lass uns von etwas anderem reden.“ Den restlichen Abend über war er sehr lieb zu mir, hielt meine Hand, küsste mich verstohlen und sagte mir, wie schön ich sei. „Deine Haare haben eine Farbe wie gesponnenes Gold“, sagte er. „Ich kann es gar nicht erwarten zu sehen, wie es offen um dein Gesicht fällt.“

Ich klappe das Tagebuch zu, weil ich nicht weiterlesen kann. Die Sonne ist jetzt sehr warm, also stehe ich auf, um zum Hotel zurückzugehen. Meine Mutter und Mrs Stevens sitzen auf einer der Seitenveranden, die Köpfe wie Verschwörer zusammengesteckt. Sie sehen mich nicht und so warte ich am Fuß der Treppe und beobachte sie durch die Büsche, anstatt sie zu stören. Ich weiß, dass es unhöflich ist zu lauschen, aber Mrs Stevens spricht so laut, dass ich einfach nicht vermeiden kann zu hören, was sie sagt.

„Ich habe herausgefunden, dass mein Mann sich mit einer anderen Frau trifft“, erzählt sie Mutter.

„Ach, Sie Arme!“

„Ich habe ihm ein Ultimatum gestellt und ihm gesagt, dass ich alleine hierherfahre, damit er in Ruhe nachdenken kann.“ Sie tupft sich die Augen mit ihrem Spitzentaschentuch trocken, während Mutter mitfühlende Worte murmelt. Ich weiß, dass ich gehen sollte, aber ich kann mich nicht losreißen.

„Das muss sehr schmerzhaft für Sie sein, Honoria. Aber falls es Ihnen ein Trost ist – ich habe gehört, diese kleinen Affären seien ganz bedeutungslos.“

„Das hat Albert auch gesagt – aber für mich ist es nicht bedeutungslos!“

„Das verstehe ich … Aber die harte Wahrheit ist, dass Ihr Gatte nicht der erste Gentleman ist, der ein kleines Abenteuer hat, und auch nicht der letzte sein wird. Es kommt viel häufiger vor, als man meint. Der Mann einer Bekannten von mir hatte ein Verhältnis mit ihrem schwedischen Dienstmädchen.“

Vor Überraschung bleibt mir der Mund offen stehen. Ich versuche mir vorzustellen, welche ihrer Freundinnen meine Mutter wohl meint, aber in unseren gesellschaftlichen Kreisen haben viele Familien schwedische Dienstboten – auch unsere eigene Familie. Unsere Zofe Sophia kommt aus Schweden.

„Was ist, wenn – was der Himmel verhüten möge – diese Frau Alberts Kind bekommt?“, fragt Mrs Stevens.

Mutter hält ihre Hand und tätschelt sie sanft. „Auch von so etwas habe ich schon gehört, Honoria. Normalerweise kann man das Mädchen auszahlen und dazu bringen, das Kind zur Adoption freizugeben. Eine ledige Mutter mit einem unehelichen Kind zu sein, ist in jeder Gesellschaftsschicht ein unerträgliches Stigma.“

„Ich weiß immer noch nicht, ob ich bereit bin, Albert zu verzeihen.“

„Aber das müssen Sie. Eine Scheidung ist für Frauen von unserem Rang verheerend.“

Nun schleiche ich endlich davon und bereue es schon jetzt, gelauscht zu haben. Ich weiß, dass ich sehr naiv bin, wenn es um weltliche Dinge geht, weil meine Eltern mich mein Leben lang behütet haben. Deshalb ist es mir nie in den Sinn gekommen, dass mein Vater – oder William – ein Techtelmechtel mit einer anderen Frau haben könnte oder dass Mutter – und ich – ihm verzeihen und so tun müssten, als wäre nichts geschehen. Ich laufe um das Gebäude herum und renne die Stufen in die Hotellobby hinauf, während ich mir wünsche, ich könnte mich einfach in Luft auflösen. Dabei stoße ich beinahe mit Derk zusammen, der mit einem Koffer in jeder Hand auf mich zukommt.

Er kann mir gerade noch ausweichen, dann grinst er und sagt: „Beinahe hätte ich Sie wieder Elizabeth genannt!“ Ich dränge mich an ihm vorbei und eile die Treppe hinauf in mein Zimmer.

Während ich mit Mühe den Schlüssel ins Schloss stecke, brennen Tränen der Scham in meinen Augen. Ich bin adoptiert. Meine leibliche Mutter hat mich weggegeben. Das wusste ich schon immer, aber nachdem ich Mutter und Mrs Stevens belauscht habe, frage ich mich, ob ich das Ergebnis einer außerehelichen Affäre bin. Will Mutter deshalb nicht, dass ich Vater danach frage?

Endlich gelingt es mir, die Tür zu öffnen. Ich stürze in mein Zimmer und knalle die Tür hinter mir zu, als wäre ich auf der Flucht. Dann setze ich mich auf die Bettkante. Mir ist ganz schlecht. Unsere junge schwedische Zofe ist so blond und hellhäutig, wie ich selbst es bin. Und die beiden Dienstmädchen von William sind es auch. Mein Brustkorb zieht so schmerzhaft, dass ich kaum atmen kann.

7. Kapitel

Geesjes Geschichte

Die Niederlande
50 Jahre früher

Entgegen aller Vernunft und allem gesunden Menschenverstand verliebte ich mich in Hendrik. Er war in unser Haus geschickt worden, um uns zu strafen, aber ich dachte beinahe jede Minute des Tages an ihn und nachts träumte ich von ihm. Ich fand Gründe, um mit ihm zu reden, wann immer ich konnte, auch wenn wir eigentlich nie allein waren. Und je besser ich ihn kennenlernte, desto mehr sehnte ich mich danach, immer mit ihm zusammen zu sein. Er konnte wunderbar Geschichten erzählen und oft saß meine Familie abends in unserem Wohnzimmer zusammen und hörte zu, wenn Hendrik uns von all den Orten erzählte, an denen er stationiert gewesen war, und von all den Abenteuern, die er erlebt hatte. Er konnte eine Szene so lebendig beschreiben, dass es war, als wären wir mit ihm dorthin gereist. Einer seiner Vorfahren war mit einem Gewürzfrachter nach Niederländisch-Ostindien gesegelt und Hendrik zog uns stundenlang in seinen Bann, während er Geschichten erzählte, die in seiner Familie überliefert worden waren – Geschichten von exotischen Inseln, Piratenschiffen, schrecklichen Unwettern auf See und langen Tagen der Flaute, während derer man darauf wartete, dass Wind aufkam. Ich klebte förmlich an Hendriks Lippen und musterte immer wieder aufs Neue sein attraktives Gesicht. Ich liebte die Art, wie er sich mit den Fingern durch das blonde Haar fuhr, sodass es in alle Himmelsrichtungen abstand. Und ich fragte mich, wie es wohl wäre, seine Arme um mich zu spüren. Oder seinen Kuss zu schmecken.

Ich hatte keine Ahnung, ob Hendrik meine Gefühle erwiderte, bis ich eines Nachmittags in unserem winzigen Garten Wäsche aufhängte. Ich hörte, wie die Gartentür sich quietschend öffnete, aber ich drehte mich nicht um, weil ich dachte, es wäre Mama. Als sie nichts sagte, wandte ich mich schließlich doch um und sah, dass es Hendrik war. In dem Augenblick, als unsere Blicke sich begegneten, fuhr eine Hitzewelle durch meinen ganzen Körper. Mein Herz begann schneller zu schlagen, als es das jemals getan hatte. Ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Und auch Hendrik sah nicht weg.

„Geesje …“, sagte er. Ich konnte mich nicht rühren, nichts sagen. Er trat einen Schritt näher und ich wünschte mir, er würde mich küssen. „Geesje, ich weiß nicht, was meine Gefühle für dich bedeuten, aber ich weiß, dass ich noch nie zuvor so empfunden habe. Du bist ein so wunderschöner Mensch und … und ich will immerzu in deiner Nähe sein.“

Ich öffnete den Mund, um zu antworten, aber ich brachte keinen Ton heraus. Normalerweise grinste Hendrik selbstbewusst, aber an diesem Tag nicht. Sein schmales, hübsches Gesicht war ernst und seine blassen Augenbrauen waren über seinen grauen Augen hochgezogen, als wollten sie mir eine Frage stellen. Ich hatte ihn noch nie so verlegen gesehen.

„I…ich weiß, dass dein Vater mir niemals erlauben würde, dich zu heiraten“, fuhr er fort, „weil ich nicht zu eurer Kirche gehöre. Aber die Monate, die ich hier gewohnt habe, waren die glücklichsten meines Lebens.“ Er schluckte und kam noch einen Schritt näher. „Ich wache jeden Morgen von deinem Gesang auf. Dein Lächeln erscheint mir schöner als der Sonnenschein. Ich habe gerade erfahren, dass ich wohl bald aus Arnheim wegversetzt werde, und ich habe schreckliche Angst, weil ich glaube, dass ich ohne dich nicht leben kann.“ Sein Gesicht verschwamm, weil mir Tränen in die Augen stiegen. „Geesje … bitte sag doch etwas.“

„Ich liebe dich“, sagte ich.

„Du … du liebst mich?“

Ich nickte. Hendrik blickte sich schnell um und zog mich dann an sich. Er umarmte mich ganz fest, während wir uns hinter der Leine mit den wehenden Handtüchern und Schürzen versteckten. Mein Scheitel reichte ihm kaum bis zum Kinn und einen Moment lang ließ er seine Wange auf meinen Haaren ruhen. Die Wärme und Kraft seiner Umarmung war genauso, wie ich sie mir immer vorgestellt hatte. Und noch schöner. „Geesje, sag mir, was ich tun muss, damit ich dich den Rest meines Lebens so halten kann.“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste nur, dass ich dasselbe wollte wie Hendrik. Und dass ich noch viele Nächte von seiner wundervollen Umarmung träumen würde. Viel zu schnell ließ er mich los. Ich fühlte mich ganz zittrig, so als würde ich während eines Unwetters auf offenem Feld stehen. Ich bückte mich, um die restliche Wäsche aufzuhängen, weil ich Angst hatte, Mutter könnte aus dem Fenster schauen, um nachzusehen, warum ich so lange brauchte. „Der Mann, den ich heirate, muss Christ sein“, sagte ich schließlich.

Hendrik hob den Korb für mich hoch, damit ich mich nicht bücken musste. „Ja, ich verstehe, wie wichtig deiner Familie der Glaube ist. Ich habe sonntags von meinem Zimmer aus zugehört, wenn ich nicht im Dienst war. Die Worte des Dominee sind sehr überzeugend und ich möchte auch so leben wie du und deine Eltern. Ich habe meine Fragen mit Maarten besprochen und er war so freundlich, mir alles zu erklären. Ich möchte ein richtiger Christ werden, wenn Gott mich will. Das wollte ich schon, bevor ich wusste, dass ich dich liebe.“

Allem zum Trotz, was ich gelernt hatte, schlang ich erneut die Arme um Hendrik, sodass der Korb zwischen uns eingeklemmt war. „Das ist wunderbar, Hendrik! Ich freue mich ja so! Wenn du deinen Glauben als Christ bekennst, können wir für den Rest unseres Lebens zusammen sein!“ Alles fügte sich. Als ich mich von ihm löste, sagte ich: „Ich bin mir sicher, Dominee Van Raalte wird gerne mit dir reden und dich in die Gemeinde aufnehmen. Dann steht uns nichts mehr im Weg.“

Hendrik lächelte sein berauschendes Lächeln, wurde dann aber wieder ernst. „Mein Glaube wird erst einmal ein Geheimnis bleiben müssen. Der Kommandant und die anderen Soldaten dürfen nicht erfahren, dass ich Separatist geworden bin, bis meine Dienstzeit zu Ende ist.“

„Und wann ist das?“

„Erst in anderthalb Jahren. Pieter und Kees schöpfen schon Verdacht, weil ich mich für eure Versammlungen interessiere – und für dich –, aber ich glaube nicht, dass sie mich verraten werden.“

Erneut wandte ich mich der banalen Aufgabe zu, Wäsche aufzuhängen, als wäre meine Welt nicht soeben auf den Kopf gestellt worden. Meine Gedanken flogen in ein Dutzend Richtungen und ich konnte meine Finger kaum dazu bringen zu arbeiten. Noch nie war ich so glücklich gewesen.

„Da ist noch eine Sache“, sagte Hendrik und der Ernst in seiner Stimme machte mir Angst. Ich ließ die Wäsche sinken. „Maarten ist mir ein sehr guter Freund. Ich wusste beinahe vom ersten Tag an, als ich hier einzog, dass er dich liebt. Er sagt, zwischen ihm und deinem Vater gebe es ein Einvernehmen, und wenn du einwilligst, würdet ihr beide irgendwann heiraten.“

Ich wandte den Blick ab, weil ich genauso wie Hendrik wusste, wie verletzt Maarten sein würde. Der sanfte, geduldige Maarten. „Ja, er gehört zur Familie, seit er vor Jahren Papas Lehrling wurde“, sagte ich. „Ich weiß, dass er mich mag. Und ich mochte ihn schon immer. Aber ich liebe ihn nicht … ich liebe dich.“

„Wie sollen wir ihm nur erklären, dass der Soldat, mit dem er sich angefreundet hat, und die Frau, die er liebt …?“

„Keiner von uns wollte sich verlieben, Hendrik. Aber ich bin mir sicher, dass Gott uns füreinander bestimmt hat. Ich glaube, deshalb hat er dich zu uns geführt.“

„Wirklich? … Woher weißt du das?“

„Weil mein Herz mir sagt, dass es wahr ist. Maarten wird gekränkt sein, aber er wird es verstehen. Außerdem hat er eine Frau verdient, die ihn wirklich und wahrhaftig liebt. Diese Frau bin ich nicht.“

„Und was sollen wir jetzt tun? Wirst du eineinhalb Jahre warten, bis ich entlassen werde?“

„Ja, natürlich werde ich das! Geh und sprich mit dem Dominee, Hendrik. Erzähl ihm alles, worüber wir gesprochen haben. Er wird uns sagen, was wir als Nächstes tun sollen.“

Hendrik wollte das tun, sobald er einen Weg gefunden hatte, wie er zum Dominee gehen konnte, ohne dass seine Kollegen Verdacht schöpften. Wenn herauskam, dass er sich mit dem Feind verbündet hatte, würde das empfindliche Strafen nach sich ziehen.

Nach diesem unvergesslichen Nachmittag in unserem Garten suchten Hendrik und ich beinahe jeden Tag nach Möglichkeiten, um ein paar Minuten allein zu sein, manchmal offen, manchmal in dunklen Fluren und auf Hintertreppen. Wir hielten einander im Arm, wann immer wir konnten, und ein paar Mal küsste er mich auch. Es war das wundervollste Gefühl, das ich je erlebt hatte. Eines Nachmitttags verabredeten wir, uns wieder im Garten zu treffen, damit wir uns hinter der Wäscheleine mit Bettlaken verstecken und im Arm halten konnten. Völlig unerwartet kam ein heftiger Windstoß und enthüllte unser Versteck, und als ich aufblickte, sah ich, dass Maarten in der Tür zum Hof stand und uns anstarrte. Hendrik rief seinen Namen, aber Maarten verschwand im Haus.

„Oh nein“, stöhnte Hendrik. „Ich will nicht, dass du Ärger bekommst, Geesje. Glaubst du, er wird uns verraten?“ In diesem Moment war es mir egal, ob meine Eltern wütend waren oder mich sogar bestraften. Hendriks Küsse waren jede Strafe wert. Ich war noch nie so glücklich gewesen.

„Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich mit ihm reden“, sagte ich.

„Nein, das mache ich.“ Hendrik drückte mich noch einmal ganz kurz an sich, dann sah ich zu, wie er mit schnellen Schritten den Garten durchquerte.

Am Ende erzählte Maarten Papa nicht, was er gesehen hatte. Aber bevor Hendrik die Chance hatte, mit dem Dominee darüber zu sprechen, dass er Christ werden wollte, bevor wir die Gelegenheit hatten, den nächsten Schritt zu unserem gemeinsamen Leben zu machen, wurde unsere Gemeinschaft von zwei schrecklichen Schlägen getroffen. Der erste Schlag kam, als die Kartoffelfäule erneut die ganze Ernte vernichtete. Alle waren betroffen. Tausende Feldarbeiter hatten keine Arbeit und konnten ihre Familien nicht ernähren. Wohlhabende Landbesitzer verloren eine wichtige Einnahmequelle. Die ärmsten Menschen in unserem Land drohten zu verhungern. Papas Druckerei hatte schon vorher kaum genug für die Miete eingebracht, geschweige denn Essen für uns und vier hungrige Soldaten. Jetzt würde die Kartoffelfäule dazu führen, dass alles teurer wurde und sich auch die Steuern erhöhten, die Papa zahlen musste. Die Männer in unserer Gemeinde fingen besorgt an, Besprechungen abzuhalten, während sie um Führung in der schlimmer werdenden Krise beteten.

Der zweite Schlag kam nur wenige Tage nach dem ersten. Hendrik und die anderen drei Soldaten verließen unser Haus wie üblich gleich nach dem Frühstück, doch schon eine Stunde später kamen sie zurück. Ich kehrte gerade den Weg vor der Druckerei, als ich sie zurückkommen sah. Hendrik sah besorgt aus und berührte mich kurz am Arm, als er an mir vorbeiging. Ich folgte ihnen in die Druckerei und hörte, wie Pieter zu Papa sagte: „Man hat uns gesagt, dass wir unsere Sachen packen sollen, weil wir nach Utrecht versetzt werden.“

„Utrecht?“, fragte Papa. „Das tut mir leid.“

Ich stand wie erstarrt im Türrahmen der Druckerei, während sie die Treppe hinauf in mein altes Zimmer polterten. Die Nachricht traf mich so hart, dass ich nicht weiterfegen konnte. Ich hörte die Fußbodendielen über mir knarren, während die vier Männer herumliefen und hastig ihre Sachen packten. Meine Welt ging unter. Hastig griff ich nach einem Blatt Papier und einem Stift von Papas Schreibtisch und kritzelte unsere Adresse darauf. Innerhalb weniger Minuten polterten Schritte wieder die Treppe hinunter und die Männer betraten erneut die Druckerei.

„Warten Sie bitte noch einen Moment“, sagte Papa und blickte von seiner Arbeit auf. „Bevor wir uns verabschieden, möchte ich für Sie beten, wenn Sie es mir gestatten.“ Alle vier Männer neigten den Kopf, während Papa für ihre Gesundheit und Sicherheit betete und um Gottes Segen für ihr Leben bat. Das gleichmäßige Hämmern und Rauschen der Druckerpresse erklang die ganze Zeit über im Hintergrund. Ich sah, wie Hendrik sich über die Augen fuhr, als Papa geendet hatte.

Mama eilte aus der Küche herein, in der Hand etwas, das mit braunem Papier und Bindfaden umwickelt war. „Hier sind etwas Brot und Käse und ein paar Äpfel, die Sie sich auf Ihrer Reise teilen können. Wir werden Sie vermissen.“

Maarten gab Hendrik die Hand. „Ich wünsche dir Gottes Segen“, sagte er.

Ich folgte den Männern mit meinem Besen durch die Tür nach draußen und auf die Straße hinaus. Mir war gleichgültig, ob jemand Hendrik und mich zusammen sah. Wir hatten kaum Zeit, einander Lebewohl zu sagen, als wir draußen auf der belebten Gasse standen und uns danach sehnten, einander noch ein letztes Mal im Arm zu halten. „Ich liebe dich, Geesje“, sagte Hendrik. „Und ich will dich heiraten, wenn du auf mich wartest.“

„Ich werde für immer warten, wenn es sein muss. Ich liebe dich auch.“

Hendrik blickte seinen drei Freunden nach, die ohne ihn losgegangen waren, als wollten sie vermeiden, zu spät zum Dienst zu kommen. „Ich verspreche dir, dass ich komme, um dich zu holen, sobald ich meine Entlassungspapiere habe. Bis dahin werde ich jeden Pfennig meines Lohns sparen, damit wir gleich heiraten können.“

„Und bis dahin können wir einander schreiben. Hier ist meine Adresse.“

Hendrik nahm den Zettel von mir entgegen und schob ihn in seine Tasche. „Ich werde dir schreiben, sobald ich in Utrecht bin, damit du meine Anschrift hast.“

„Es wird mir wie eine Ewigkeit vorkommen, bis wir uns wiedersehen.“ Hendriks Freunde waren jetzt an der Ecke und überquerten die Straße. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, damit ich den Mann, den ich liebte, noch ein letztes Mal so richtig ansehen konnte. „Beeil dich besser“, sagte ich.

Hendrik nickte. Auch er hatte Tränen in den Augen. „Ich liebe dich, Geesje.“ Dann drehte er sich um und rannte die Straße hinunter, ohne sich noch einmal umzusehen. Ein Gefühl der Angst überkam mich, als die Entfernung zwischen uns immer größer wurde. Ich fragte mich, ob ich ihn jemals wiedersehen würde.

8. Kapitel

Anna

Hotel Ottawa
1897

Heute ist Sonntag und es kommt mir merkwürdig vor, nicht in die Kirche zu gehen. Gestern Nacht habe ich wieder einmal geträumt, dass Mama und ich zusammen im Gottesdienst saßen. In dem Traum muss ich noch sehr jung sein, weil meine Füße gerade über die Bank hinausragen, anstatt auf den Boden zu hängen. Als ich zu Mama hinübersehe, weint sie und fährt sich mit dem Taschentuch über die Augen. Ich finde es seltsam, dass es nicht eines aus belgischem Leinen mit Spitze ist, wie sie es immer benutzt, sondern ein einfaches Baumwolltuch, das mit blauen Blumen bestickt ist. Ihre Tränen machen mir Angst. Meine Mama soll nicht traurig sein. Ich tätschele ihren Arm, um sie zu trösten, und sie lächelt mich durch die Tränen hindurch an und zieht mich näher. „Ist schon gut, Liebling“, sagt sie. „Das sind Freudentränen.“ Dann nimmt sie ein weißes Pfefferminzbonbon aus ihrer Tasche – meine Lieblingssorte –, legt es in meine Hand und schließt meine Finger darum. „Hier, Liebling.“ Ich lege das Bonbon auf meine Zunge und lasse es langsam im Mund zergehen, damit es länger hält. Als ich aufwache, erfüllt mich eine anhaltende Traurigkeit.

Ich ziehe mich an und frühstücke, dann gehe ich zum Anleger hinunter und setze mich auf die Bank. Von dort aus sehe ich den Sonntagsfischern zu, die am Kai aufgereiht stehen und ihre Angeln über dem Wasser auswerfen. Wieder habe ich mein Tagebuch dabei. Ich lese weiterhin darin, um langsam die letzten fünf Monate noch einmal zu durchleben. Allmählich erkenne ich ein Muster. Ich war schon eine ganze Zeit lang unglücklich, selbst bevor William unsere Verlobung gelöst hat. Sollten die Monate vor meiner Hochzeit nicht die glücklichsten meines Lebens sein? Sollte das herrliche Gefühl, von jemandem geliebt zu werden und seine Liebe zu erwidern, meine Tage nicht mit Lachen und Freude erfüllen? Stattdessen habe ich eine zunehmende Einsamkeit verspürt, sogar, wenn ich von Menschen umgeben war – und vor allem, wenn ich an den gesellschaftlichen Veranstaltungen der gehobenen Chicagoer Gesellschaft teilnahm. Immer wieder habe ich in mein Tagebuch geschrieben, dass ich das Gefühl habe, nicht hierher zu gehören, irgendwie anders zu sein als die anderen jungen Frauen in meinem Bekanntenkreis.

Seit jenem ersten Januartag, an dem mein Fahrer einen anderen Weg einschlug und ich an der Ecke Chicago Avenue und LaSalle Street landete, habe ich mich auf unerklärliche Weise zu der Schlossturmkirche hingezogen gefühlt – als hätte ein Angler mich am Haken. War dies die Kirche, von der ich letzte Nacht geträumt hatte, oder bilde ich mir das nur ein, jetzt, wo ich wach bin?

Ich sitze immer noch am Ufer, als ein Dampfschiff aus Holland eintrifft, einer Stadt, die nur wenige Kilometer entfernt am östlichen Ende des Black Lake liegt. Der stille Morgen ist plötzlich von Aufregung erfüllt, als Ausflügler und Badegäste von Bord gehen, um den sonnigen Sommertag hier am Strand oder am Ufer des Sees zu verbringen. Viele Reisende tragen Sonntagskleidung und mir fällt eine Frau auf, die mit ihrem kleinen Jungen von Bord geht. Er trägt einen weißen Marineanzug und eine blaue Kappe, und sobald er das Ende des Landungssteges erreicht hat, lässt er die Hand seiner Mutter los und will losrennen. Seine Mutter packt ihn und hält ihn zurück. „Warte, lieverd! Lauf nicht zum Wasser“, sagt sie. „Gib mir die Hand, lieverd.“

Ein Schock durchfährt mich, als ich das fremd klingende Wort höre. Ich kenne dieses Wort. Mama hat es gestern Nacht im Traum gesagt, als ich ihre Tränen bemerkt habe: „Ist schon gut, Liebling.“ Aber sie hat gar nicht Liebling gesagt, sondern lieverd. Irgendwoher weiß ich, dass das dasselbe bedeutet. Ich sehe dem kleinen Jungen zu und kann beinahe das Pfefferminzbonbon in meiner Hand fühlen, als Mama meine Finger darum schließt. „Hier, lieverd.

Eine Weile bin ich wie gelähmt. Verliere ich etwa den Verstand? William hat gesagt, die Schlossturmkirche würde mich verrückt machen. Ist das wahr? Mein Tagebuch rutscht mir vom Schoß und fällt zu Boden, da ich unvermittelt aufspringe. Ich möchte der Frau folgen und sie fragen, aus welchem Land sie kommt, welche Sprache sie spricht. Aber wie kann ich einer Fremden so eine Frage stellen? Außerdem sind sie und ihr Sohn in der Menschenmenge verschwunden.

Die Mutter hatte dieselben dicken goldblonden Haare wie ich. In der Schule haben mich alle Mädchen beneidet, weil meine Haut so hell und mein Haar so dick und lockig ist. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals eine andere Frau mit solchen Haaren gesehen zu haben. Die blonden Haare unseres schwedischen Dienstmädchens sind fein wie Seide.

Ich setze mich wieder auf die Bank, zu erschüttert, um spazieren zu gehen, geschweige denn, ihnen nachzulaufen. Dann bücke ich mich, um mein Tagebuch aufzuheben. Als ich mich wieder aufrichte, blendet mich die Sonne, die sich auf der Wasseroberfläche spiegelt. Ich kneife die Augen zu und versuche mich zu erinnern, ob Mutter mit mir in einer anderen Sprache gesprochen hat, als ich klein war. Aber warum sollte sie das tun? Und welche Sprache sollte das sein? Mutters Vorfahren waren Engländer. Und die von Vater auch.

Ich ziehe mir den Strohhut tiefer ins Gesicht, um meine Augen gegen das gleißende Licht abzuschirmen, und schlage mein Tagebuch an der Stelle auf, an der ich zu lesen aufgehört habe.

3. März

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Gestern Abend hat Reverend Torrey uns in seiner Predigt die gleiche Frage gestellt, die Jesus auch gestellt hat: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ Die Frage lässt mich nicht mehr los. Aber eine Antwort habe ich nicht. William wird mir „die ganze Welt“ bieten, wenn wir heiraten, aber meine Seele fühlt sich verloren und leer an. Gestern habe ich zu Mutter gesagt, ich würde eine Freundin besuchen, aber stattdessen bin ich zu der Schlossturmkirche gegangen. Ich weiß, dass es unrecht ist zu lügen, aber genau dabei ertappe ich mich. Als ich wieder zu Hause war, bin ich in Vaters Bibliothek gegangen und habe die riesige Familienbibel gesucht, die er in einem der Regale aufbewahrt. Die Bediensteten sind die Einzigen, die sie jemals in die Hand nehmen, und das auch nur dann, wenn sie einmal wöchentlich die Bücherregale abstauben. So unauffällig wie möglich habe ich die schwere Bibel in mein Zimmer hinaufgetragen, damit ich die Worte Jesu selbst nachlesen kann. Die Predigt hat mich sehr nachdenklich gemacht. Ich weiß jetzt schon, dass ich wieder in diese Kirche gehen werde, obwohl William es mir verboten hat.

12. März

Ich habe in Vaters großer Familienbibel das Lukasevangelium gelesen. Besonders berührt hat mich das Gleichnis, das Jesus von einem reichen Mann erzählt, der kein Mitleid mit einem armen Bettler namens Lazarus hatte. Die Geschichte hat mich an die Frage erinnert, die mir keine Ruhe lässt: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ Ich wünschte, ich hätte jemanden, mit dem ich über all das, was ich lese, reden kann. Ich habe so viele Fragen.

13. März

Es ist schon nach Mitternacht. Gerade bin ich von einem Dinner nach Hause gekommen, zu dem William und ich eingeladen waren, und ich bin so aufgebracht, dass ich ganz sicher nicht werde schlafen können. Das Essen fand in dem herrlichen neuen Anwesen der Mitchells statt und es gab endlos viele Gänge. Ich habe zugesehen, wie die Leute von jedem Gang ein bisschen gekostet oder einen oder zwei Schlucke von ihrer Suppe gelöffelt haben, dann räumten die Dienstboten unsere Teller fort und brachten den nächsten Gang. Natürlich war es insgesamt viel zu viel, als dass man alles hätte essen können. Und mir ist bewusst geworden, dass diese eleganten Dinnerpartys immer so sind. Aber diesmal musste ich, während ich unter der vergoldeten Decke und dem glitzernden Kronleuchter speiste, immer wieder an das Gleichnis Jesu von dem armen Bettler Lazarus denken, der liebend gerne die Abfälle vom Tisch gegessen hätte, aber nie etwas davon abbekam. Mit dem, was wir heute Abend nicht gegessen haben, hätte man eine Einwandererfamilie eine Woche lang ernähren können. Und auf der Heimfahrt habe ich zu William genau das gesagt.
Aber er hat mich angesehen, als hätte ich den Verstand verloren, und gesagt: „Welche Einwandererfamilie?“ Dann fragte er, woher ich diese Ideen hätte.
Ich sagte, sie stammten aus einer Geschichte in der Bibel und dass Jesus ein Gleichnis von einem reichen Mann erzählt habe, der einem armen Bettler nicht helfen wollte. Aber William fiel mir ins Wort und sagte, seine Familie spende sehr großzügig für wohltätige Zwecke. „Und das Gleiche gilt für deinen Vater.“
„Aber Reverend Torrey hat in seiner Predigt gesagt –“
„Wer? In welcher Predigt? Bei uns in der Kirche gibt es keinen Pfarrer mit diesem Namen.“ Zu spät bemerkte ich meinen Fehler. William hatte den ganzen bisherigen Heimweg über meine Hand gehalten, aber jetzt ließ er sie plötzlich los und warf sie förmlich auf meinen Schoß. „Du warst wieder in dieser albernen Kirche, nicht wahr? Nachdem ich dir befohlen hatte, nicht wieder dort hinzugehen.“
Ich konnte nicht antworten, weil meine Kehle vor Tränen wie zugeschnürt war.
„Dein Schweigen verurteilt dich, Anna.“ Dann wandte William sich ab und starrte aus dem Kutschenfenster, das Kinn verächtlich vorgereckt.
„William, hör mir bitte zu … Ich verstehe nicht, warum du so gegen diese Kirche bist.“ Aber er schüttelte nur den Kopf und weigerte sich, auch nur ein weiteres Wort mit mir zu sprechen.

Mehr Tagebucheinträge kann ich jetzt nicht lesen, sonst fange ich mit Sicherheit an zu weinen. William hat mich gezwungen, zwischen ihm und der Kirche zu wählen, und indem ich mich hinter seinem Rücken zu den Gottesdiensten geschlichen habe, habe ich mich für die Kirche entschieden. War das dumm von mir? Ich weiß noch, wie verloren und allein ich mich oft bei gesellschaftlichen Anlässen gefühlt habe, selbst mit William an meiner Seite und Dutzenden Menschen um mich herum, aber dieselbe Einsamkeit ist von mir gewichen, sobald ich allein in der Kirchenbank saß und hörte, wie der Pastor über Gottes unerschütterliche Liebe sprach.

Ich stehe auf und gehe langsam zu der ausladenden Veranda des Hotels zurück. Die Wege sind gedrängt voll mit Menschen und ich blicke mich um, weil ich hoffe, die Frau mit dem kleinen Jungen noch einmal zu sehen. Ich begreife immer noch nicht, wie ich die fremden Worte verstehen konnte, die sie zu ihm gesprochen hat.

Dann wandern meine Gedanken von diesem Rätsel wieder zu William zurück. Falls er tatsächlich beschließt, mir noch eine Chance zu geben, sollte ich sie dann ergreifen? Er würde mir alles geben, was ich mir nur wünschen konnte – außer der Freiheit, zu der Kirche mit dem Schlossturm zu gehen. Ich könnte nie wieder dorthin zurückkehren. „Was hülfe es dem Menschen“, überlege ich, „wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“