Über das Buch:
Tandi Reese wagt mit ihren Kindern einen Neuanfang – auf einer wunderschönen Insel im Atlantik. Die junge Mutter, die eine schwierige Vergangenheit hat, möchte endlich wieder auf die Beine kommen. Doch es ist gar nicht so einfach, alte Gewohnheiten abzulegen. Da macht ihr der Himmel überraschend ein Geschenk. Während sie das uralte Haus ihrer verstorbenen Nachbarin Jola entrümpelt, stößt Tandi auf geheimnisvolle Kästchen voller Briefe, die sie in ihren Bann ziehen. Sie nehmen sie mit in eine längst vergessene Welt, die auf seltsame Weise mit ihrer eigenen verbunden zu sein scheint, und werden zum Auslöser umwälzender Veränderungen …

Eine bezaubernde Erzählung von der Macht des Gebets.

Über die Autorin:
Lisa Wingate arbeitet als Journalistin, Kolumnistin, Rednerin und Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Texas.

Kapitel 8

Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, sobald wir in die Einfahrt bogen. Das Haus war dunkel, der Fernseher lief nicht, nichts rührte sich. Jolas Haus stand groß und stumm im Hintergrund, das einzige Licht war der schwache Schein einer Lampe im Erdgeschoss.

„Sie sind nicht da. Wo können sie nur sein?“ Die Vergangenheit stürmte gnadenlos auf mich ein. Ich sah meine Mutter aus dem Auto irgendeines Mannes taumeln und auf der Straße schreien, während wir auf dem Rücksitz eines Mitarbeiters vom Jugendamt davonfuhren.

Die Vorstellung, dass sich dieser Albtraum wiederholen könnte, erdrückte mich fast. Hatte Trammel uns gefunden? Hatte er vielleicht die Polizei hier bestochen? Oder war er selbst gekommen und hatte meine Kinder mitgenommen, um mir zu beweisen, dass wir nie frei von ihm sein würden?

Falls du je versuchen solltest, mich zu verlassen, werde ich dich finden, Tandi! Das hatte er mir immer angedroht. Albtraumszenarien schossen mir durch den Kopf. Vielleicht war etwas anderes passiert? Vielleicht war J. T. zum Hafen gegangen und dort war etwas Schlimmes geschehen? Vielleicht war er vom Dock gefallen, hatte sich den Kopf gestoßen und war untergegangen, ohne dass eine Menschenseele in der Nähe gewesen war und etwas bemerkt hatte? Vielleicht war er zu einem Fremden ins Auto gestiegen? Er war noch so klein.

War Zoey unterwegs und versuchte, ihn zu finden?

„Beruhige dich, Tandi.“ Ross war hilfsbereit, aber auch gereizt, weil wir vom Strand hatten aufbrechen müssen. „Die Kinder sind wahrscheinlich mit diesem Footballspieler zusammen, auf den Zoey so scharf ist.“ Aus irgendeinem Grund mochte Ross Zoeys Freund nicht. Ich wusste nie genau, ob er sich um sie kümmerte oder nur eifersüchtig war, weil Zoey Rowdy viel lieber mochte als ihn.

„Wenn sie weggehen, schalten sie nie das Licht aus.“ Ich öffnete meinen Sicherheitsgurt und hatte die Hand auf dem Türgriff liegen, noch bevor das Auto richtig stand. „Sie waren nicht hier, seit die Schule aus ist, Ross. Etwas stimmt nicht. Zoey würde nicht bis fast neun Uhr abends wegbleiben, ohne mir Bescheid zu geben. Sie hat deine Handynummer und Rowdy hat ein Handy.“ Ich versuchte schon seit einer halben Stunde, Rowdys Handy anzurufen. Aber er meldete sich nicht.

Ross schnaubte und schmunzelte anzüglich. „Hast du sie schon einmal mit diesem Rowdy beobachtet? Was sie macht, kann ich dir sagen. Wahrscheinlich hat sie ihren kleinen Bruder irgendwo abgesetzt und liegt mit ihrem Romeo jetzt auf dem Rücksitz seines Jeeps und –“

„Hör auf!“ Ich war schon halb aus dem Auto, fuhr aber noch einmal scharf zu ihm herum. „Sprich nicht so von ihr!“

Ross blinzelte langsam und legte den Kopf auf eine Seite. „Lass deinen Ärger jetzt nicht an mir aus! Ich habe dir gesagt, dass du sie von diesem Jungen fernhalten sollst. Wenn du nicht aufpasst, Tandi, bist du bald Oma. Ich habe keine Lust, ein Baby aufzuziehen.“

Ich rutschte aus dem Wagen und knallte die Tür kräftig hinter mir zu. Das Cottage war gespenstisch still, als wir eintraten. Ich rief die Namen der Kinder und schaute in alle Zimmer. Niemand war da. Es gab kein Anzeichen dafür, dass sie hier gewesen wären. Keine Nachricht. Sie waren einfach fort.

„Aber sie müssen doch irgendwo sein.“ Ross stand im Wohnzimmer. Jetzt sah sogar er ein wenig besorgt aus. „Wenn deine Tochter nach Hause kommt, musst du ihr wirklich die Leviten lesen, das sage ich dir. Du musst sie in den Griff bekommen, bevor sie in ernste Schwierigkeiten gerät. Ich habe eine kleine Schwester, die –“

„Ross, bitte!“ Meine Hände zitterten und mein ganzer Körper bebte vor Angst. Meine Stimme hallte hoch und schrill von den engen Wänden des Hauses wider.

„Mann, beruhige dich doch!“ Er zog mich an seine Brust, und ich drückte die Hände auf mein Gesicht. „Ich kenne jemanden bei der Polizei. Wenn du dich dann besser fühlst, kann ich dort anrufen.“

Ich nickte und nahm seinen salzigen Geruch wahr, den Trost seiner muskulösen Arme, die sich eng um mich legten und mir das Gefühl vermittelten, dass ich jemanden hatte, auf den ich mich verlassen konnte – jemanden, der sich um mich kümmerte. Er zog sein Handy aus der Hosentasche. „Wir müssen dir wirklich ein Handy besorgen.“

Seine Finger schoben sich in meine Haare, als er in seinen Kontakten blätterte und dann bei der Polizei anrief. Die Person, die er dort kannte, war – nicht wirklich überraschend – eine Frau.

„Es liegt keine Meldung vor.“ Seine Bewegung war entspannt und lässig, als er das Handy wieder in die Tasche steckte. „Siehst du, ich habe dir ja gesagt, dass sie nur unterwegs sind und … was auch immer machen. Sie werden schon auftauchen. Entspann dich!“ Er trat von mir weg. An den Stellen, an denen er mich noch vor einer Sekunde gewärmt hatte, wurde meine Haut kalt. In dem winzigen Wohnzimmer wirkte Ross fehl am Platz. Mit seinen athletischen einen Meter neunzig beherrschte er den Raum, während er sich umsah und überlegte, was er jetzt tun wollte.

„Hast du etwas zu essen hier?“

„Essen … was?“ Bei der Polizei lag zwar nichts vor, aber trotzdem waren meine Kinder verschwunden. Zoey machte so etwas nicht. Und schon gar nicht, wenn sie am nächsten Tag Schule hatten. „Ich kann jetzt nicht an Essen denken. Ich muss wissen, wo meine Kinder sind.“

Ross’ Seufzen verriet seine Frustration. „Du musst dich entspannen, Tandi. Sie kommen schon irgendwann, und dann kannst du ihnen den Marsch blasen. Aber es hat keinen Sinn, deshalb zu verhungern. Mann, ich könnte jetzt wirklich etwas vertragen. Am Strand gab es ein so gutes Essen …“

Er marschierte in die Küche und begann, in den Lebensmittelkisten, die ich von Jola mitgebracht hatte, zu wühlen. „Was hast du mit diesen ganzen Bohnendosen vor? Hast du außer Hotdogs denn kein Fleisch im Haus? Kein Wunder, dass dein Junge aussieht, als wäre er magersüchtig. Ein Mann braucht Fleisch.“

Ich hörte Ross’ Stimme nur noch als gedämpftes Hintergrundgeräusch, während ich aus dem Haus trat und das Verandageländer umklammerte. Ich war wieder den Tränen nahe. „Bitte … bitte“, hörte ich mich flüstern. Ich wollte verzweifelt, dass Rowdys Auto in die Einfahrt rollte. „Es darf ihnen nichts passiert sein.“

Hinter dem alten Garten beim Stall läuteten die Kirchenglocken und hörten nach einer Weile wieder auf.

„Mit wem sprichst du?“ Ross kam mit einem Löffel in der einen Hand und einer Bohnendose in der anderen Hand aus der Tür. „Wenn du hier draußen stehst, tauchen sie auch nicht eher auf.“ Er nahm einen Löffelvoll aus der Dose, bewegte das Essen im Mund und schluckte dann. „Diese Bohnen schmecken gar nicht so übel. Es sind zwar keine Krebsschenkel mit Mais, aber immerhin verhungert man nicht. Soll ich dir einen Teller holen?“

Ich gab ihm keine Antwort, sondern trat zur Treppe, suchte den Garten ab und lauschte auf das Quaken der Ochsenfrösche im Riedgras, das Rauschen des Windes über dem hohen Gras der Salzwiese, dem scheinbar endlosen Zwitschern eines Ziegenmelkers. Ein leichter Nebel zog von der Lagune herüber. Er kroch durch die Myrtenhecke, füllte zuerst die unteren Regionen aus, wand sich dann schleifenförmig nach oben und blieb silbern leuchtend im Mondlicht hängen.

Ich wollte J. T. an der Hand nehmen, mich durch den Nebel schleichen und „Schhh“ flüstern, während wir uns dem Ruf des Vogels näherten und ihm lauschten. Das Miauen des Katers vermischte sich mit dem Ruf des Vogels. Ihre Stimmen kamen in schneller Abfolge hintereinander, ein zweistimmiges Lied in einem perfekten Rhythmus.

Ich schlüpfte um die Ecke und fand den einohrigen Kater, der im Mondschein saß. Sein Fell leuchtete blauschwarz, sein Blick konzentrierte sich durch einen dünnen Nebelschleier hindurch auf die Eichen über uns, als unterhalte er sich mit dem Ziegenmelker.

Der Vogel verstummte. Der Kater schaute in meine Richtung, miaute und drehte sich dann zum alten Stall herum.

Da war etwas im Nebel, ein schwaches Licht. Ich schaute mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit, konzentrierte mich darauf, verlor es im Nebel und fand es dann wieder. Dieses Mal kam es näher. Der Kater ging geräuschlos einige Schritte und hielt damit den Abstand zu mir aufrecht, als ich näher trat.

Was war das? Was war da draußen?

Ich blinzelte und strengte meine Augen an. Licht wurde im Nebel reflektiert und beleuchtete ein Bild, das in einer Nebelbank verschwand und dann wieder auftauchte und menschliche Gestalt annahm. Ein Mensch, der im Nebel zu kauern schien … jemand Kleines … eine Frau mit langen Haaren … die eine Laterne trug.

Ich stand wie angewurzelt da, gleichzeitig fasziniert und voll Angst und brachte keinen Ton über die Lippen. „R-Ross!“, krächzte ich schließlich mühsam.

„Mama?“, antwortete das Gespenst.

„J. T.?“

Die Laterne blieb stehen. Die schemenhafte Gestalt kam nicht näher. Ein Windstoß hob die langen, dichten Haare und ließ sie wie eine Flagge flattern. Ich hatte das Gefühl, dass das nur ein weiterer Traum war. Nichts davon war real.

Der Kater heulte und rannte davon.

Ich dachte an J. T.’s Worte vor zwei Tagen nach seinem Albtraum. Ich habe den Kater im Garten schreien gehört … Katzen machen das, wenn ein Geist auftaucht.

„J. T.?“, rief ich wieder, dieses Mal lauter. „Bist du das? Wenn du es bist, dann komm hierher. Sofort. Hörst du?“

Das Küchenfenster ging auf. „Tandi, was zum …?“

Den Rest von dem, was Ross sagte, hörte ich nicht. Nebenan kreiste ein Auto auf dem Kirchenparkplatz, die Scheinwerfer streiften den Platz vor dem Stall und durchdrangen den Nebelschleier lange genug, dass ich J. T.’s dünne Gestalt sehen konnte – Shorts, dürre Beine, Turnschuhe mit reflektierendem Band, irgendein Licht in der Hand. Er hatte ein Tuch um den Kopf gebunden.

Noch bevor das Auto wegfuhr, lief ich durch den Garten. Ich erreichte ihn bei der Hecke und drückte ihn schluchzend und keuchend an mich. Er war da! Er war in Sicherheit! Trammel hatte ihn nicht. Niemand hatte ihn.

„Wo warst du? Wo ist deine Schwester?“

Ich nahm nur vage wahr, dass Ross aus dem Haus kam, seine Stiefel auf der Veranda widerhallten und seine Schritte auf den Austernmuscheln im Hof knirschten. „Deine Mutter hat vor Sorge fast den Verstand verloren“, schimpfte er, während er näher trat. „Wo hast du gesteckt?“

J. T. wurde in meinen Armen steif, riss sich von mir los und nahm dann das Ding von seinem Kopf. Es war eine Windjacke, die nur mit der Kapuze an ihm hing. Sein Rucksack glitt von seiner Schulter. Er schob ihn wieder hinauf.

„Wo ist Zoey?“ Mein Blick wanderte zum Stall, als erwartete ich, dass sie von dort auftauchen würde. Was konnte J. T. da drüben gemacht haben? Das Gebäude sah aus, als könnte es jeden Augenblick einstürzen. Warum gingen sie im Dunkeln dorthin?

Er knüllte die Jacke zusammen und drückte sie eng an sich. „Keine Ahnung.“ Seine Stimme wurde hoch und brach dann zitternd ab. „Sie und Rowdy sind irgendwohin gefahren, als die Schule aus war. Ich habe sie bei Binks gesehen, als ich aus dem Bus stieg. Sie hat mir gesagt, dass ich heimgehen soll, und das habe ich gemacht. Sie ist mit Rowdy weggefahren.“

„Das habe ich dir ja gleich gesagt!“, stellte Ross knurrend fest.

Ich wandte mich wieder an J. T. und packte ihn an den Schultern. „Warum warst du nicht im Haus? Warum hast du nicht aufgesperrt und bist hineingegangen und hast gewartet? Ich habe vor Angst um dich fast den Verstand verloren.“

„Der Schlüssel war nicht da.“ J. T.’s Stimme war kaum zu verstehen. Seine Schultern zuckten unter meinen Fingern zusammen und sackten nach unten. „Als ich nach Hause kam, war der Schlüssel nicht unter der Fußmatte und Zoey kam nicht und du kamst auch nicht. Deshalb bin ich wieder zu Binks gegangen und habe den Männern eine Weile geholfen. Als es dunkel wurde, kam Bruder Guilbeau zum Laden. Er hat gesagt, dass heute in der Kirche Familienfilmabend mit Spaghetti-Essen ist und hat gefragt, ob ich Spaghetti mag. Ich habe Ja gesagt. Dann habe ich Spaghetti gegessen. Aber es hat so gut geschmeckt, dass ich zu viele Spaghetti und zu viel Popcorn gegessen habe. Ich bekam Bauchschmerzen und musste zur Toilette, als der Film zu Ende war. Als ich herauskam, war es dunkel und alle waren schon nach Hause gefahren. Ich habe gesehen, dass bei uns die Lichter an sind. Deshalb habe ich meine kleine Taschenlampe herausgeholt und …“

„Es freut mich, dass wenigstens du etwas zu essen bekommen hast.“ Ross legte die Hände an seinen Gürtel und baute sich drohend über J. T. auf. „Wir haben ein gutes Essen am Strand ausfallen lassen, weil wir nach Hause fahren und nach dir schauen mussten. Wenn ich das bei meinem Vater gemacht hätte, hätte er mich übers Knie gelegt und windelweich geprügelt. Dann hätte ich gewusst, dass ich so etwas nie wieder machen darf.“

J. T. wich zu mir zurück. Ich legte den Arm um ihn. „Es ist meine Schuld. Ich habe den Schlüssel nicht zurückgelegt.“ Als ich überstürzt mit Ross weggefahren war, hatte ich vergessen nachzusehen, ob der Ersatzschlüssel unter der Fußmatte lag. In den letzten zwei Tagen hatte ich den Schlüssel an dem Schlüsselring benutzt, den mir Bruder Guilbeau gegeben hatte. „Jetzt ist alles wieder gut.“ Ich führte J. T. zum Haus zurück und hielt seine Schultern fest. Dabei fühlte ich die spitzen Knochen unter meinen Fingern. „Es ist ja nichts passiert.“

„Abgesehen davon, dass uns der ganze Abend verdorben wurde.“ Im Schein des Lichts, das aus dem Küchenfenster fiel, sah ich, dass mich Ross finster anstarrte und erwartete, dass ich mich auf seine Seite stellte.

„Gehen wir einfach ins Haus.“ Die Anspannung wich von mir und eine tiefe Erleichterung erfasste mich, als wir zum Haus zurückgingen und die Tür hinter uns schlossen. Ich wollte Frieden haben und nicht streiten.

„Kein Wunder, dass sie nicht auf dich hören!“, schimpfte Ross. Die Bohnendose landete halbvoll im Abfalleimer und der Löffel segelte durch die Küche und fiel klappernd in die Spüle.

J. T. blieb stehen. Er war wie erstarrt. Er schaute zu mir hinauf. Seine Augen waren zwei meerblaue, glänzende Teiche und die Sommersprossen auf seiner Nase zitterten. „Ich wäre früher nach Hause gekommen, aber hier war es dunkel und ich hatte Angst vor dem Geist“, flüsterte er und zog das Kinn ein. Sein nervöser Blick schoss zu Ross und dann zu mir.

Ich schickte J. T. in sein Zimmer, dann lehnte ich mich an die Wand. Ich zitterte am ganzen Körper, meine Nerven bebten wie Blätter im Wind. „Ich muss nur … einen Moment Luft schnappen, okay? Zoey wird sicher auch bald kommen.“

„Das werden wir ja sehen“, knurrte Ross. „Ich hole die Kühltasche aus dem Auto.“ Er stapfte zur Tür hinaus und ich sank auf die Sofakante und war hin- und hergerissen zwischen Ärger, Sorge und Verwirrung. Das sah Zoey überhaupt nicht ähnlich. Wo steckte sie?

Sie würde bestimmt bald kommen. Natürlich würde sie bald kommen. Und sie hatte bestimmt einen guten Grund, warum sie den ganzen Abend fort war, ohne mir Bescheid zu geben. Sie wäre jede Minute hier. Zu Hause. In Sicherheit.

Aber die Zeit verging, während ich auf dem Sofa wartete und abwechselnd Rowdys Handynummer wählte und vor die Haustür trat. Gegen Mitternacht ähnelte Ross einem angeketteten Kampfhund. Das konnte ich nicht länger ertragen. Wenn Zoey endlich auftauchte, würde er sicher explodieren, das wusste ich.

Ich war dankbar, als einer von Ross’ Freunden anrief. Sie hatten die Party vom Strand in ein Haus verlagert. Sie spielten Gitarre und genossen den Abend und hatten vor, ein paar Stunden zu schlafen, bevor sie morgen früh wieder Surfen gehen wollten. Der Wetterbericht kündigte ideale Wellen an.

Ich überredete Ross, zu den anderen zu fahren, und war dann seltsam enttäuscht, als er meiner Aufforderung nachkam. Als er gegangen war, ließ ich den Kopf ans Sofa zurückfallen und versuchte, mich auf den Fernseher zu konzentrieren statt auf die Horrorszenarien in meinem Kopf.

J. T. taumelte verschlafen und schwerfällig auf den Flur heraus und zog seine Bettdecke hinter sich her. Er kuschelte sich neben mich. Ich strich mit den Fingern durch seine seidigen Haare und bemühte mich, die ganzen schrecklichen Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen.

Irgendwann nach Mitternacht döste ich ein. Als ich aufwachte, schlich Zoey an uns vorbei. Sie versuchte, auf den alten Holzdielen keinen Lärm zu verursachen, als sie über den mit Sand verklebten Teppichläufer auf dem Flur huschte.

„Zoey?“, flüsterte ich.

„Pssst.“ Sie deutete auf J. T. Wir waren beide eingeschlafen und ich konnte mich nicht bewegen, ohne ihn im Schlaf zu stören. Nach dem langen Tag konnte ich nur langsam und unklar denken.

„Wie spät ist es? Wo warst du?“ Ich blinzelte kräftig und versuchte, das Chaos in meinem Kopf zu sortieren. J. T. rührte sich auf meinem Schoß.

„Schlaf weiter.“ Zoey trat von einem Fuß auf den anderen und rieb sich mit den Händen über die Arme, als wäre sie halb erfroren. „Rowdys Wagen ist am Strand stecken geblieben. Ich muss schlafen. Morgen haben wir eine dämliche Bioprüfung.“ Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern verschwand im Badezimmer und sperrte die Tür hinter sich ab.

Ich rutschte unter J. T. hervor und wollte schon zur Badezimmertür gehen, beschloss dann aber, heute Nacht nichts mehr zu sagen. Stattdessen deckte ich J. T. auf dem Sofa zu und torkelte schlaftrunken in mein eigenes Zimmer. Ein großer Vollmond hing vor dem Fenster und ich schlief ein, noch bevor mein Kopf richtig auf dem Kissen lag.

* * *

Am Morgen versuchte Zoey, leise aus dem Haus zu schleichen, als ich aufwachte. Sie hatte J. T. im Schlepptau und ihren Rucksack über die Schulter geworfen. „Wo ist der Schlüssel?“, wollte sie wissen, als sie mich an der Schlafzimmertür sah. Sie sah müde aus und hatte rot unterlaufene Augen. Ihre langen, braunen Haare hingen in zerzausten, nassen Strähnen um ihr Gesicht. „Der Knallkopf sagt, dass er gestern nicht ins Haus konnte, weil der Schlüssel nicht da war.“

„Ja. Er ist draußen im Dunkeln allein herumgelaufen, weil du nicht hier warst!“, fauchte ich. Mein Ärger war jetzt neu entfacht.

Zoey schob das Kinn vor, ihre Augen funkelten und brachten eine interessante Mischung aus blutunterlaufenem Rot, Rosa und Himmelblau zum Vorschein, ein Sonnenuntergang in Miniaturausgabe. „Weißt du was?! Du warst nicht da! Du bist seine Mutter, oder hast du das vergessen? Du machst, was du willst. Warum kann ich das nicht? Rowdy und ich sind an den Strand gefahren. Als wir nach Hause wollten, blieben wir mit dem Auto stecken. Sein Handy hatte kein Netz. Deshalb mussten wir zu Fuß gehen.“ Sie entdeckte den Schlüssel auf dem Fensterbrett und nahm ihn. Dann schob sie J. T. unsanft durch die Tür. Er blieb an der Türschwelle hängen und stolperte ein paar Schritte über die Veranda, bevor er das Gleichgewicht wiederfand.

Zoey schaute mich mit einem finsteren Blick an und ihre Finger schlossen sich um den Türgriff. „Wir müssen los. Sonst verpassen wir den Bus.“ Die Glasscheiben vibrierten, als sie die Tür hinter sich zuknallte.

Mich packte die Wut. Ich riss die Tür auf und schrie in den Garten: „Du kommst heute nach der Schule nach Hause! Hörst du!“

Sie gab mir keine Antwort, sondern stapfte unbeirrt auf den Hafen zu. J. T. trottete hinter ihr her und warf besorgte Blicke auf sie und mich. Ich schaute ihnen nach. Tränen der Wut und Frustration traten in meine Augen und ich konnte die Kinder nur verschwommen sehen, als sie den Pfad durch die Salzwiese erreichten und langsam im Morgennebel verschwanden.

Sobald sie fort waren, legte sich die Stille hart und kalt um mich. Ross hatte sich nicht einmal gemeldet, seit er gestern Nacht gefahren war. Zoey könnte immer noch fort sein. Oder etwas Schlimmes könnte passiert sein. Er hatte uns nicht auf seinem Radar.

Ich sehnte mich nach einer Tablette, um den Schmerz, den diese Erkenntnis auslöste, abzumildern.

Aber es gab hier keine und das war gut so. Es war leichter, von den Tabletten wegzukommen, wenn niemand da war, der sie mir gab und aufpasste, dass ich sie auch wirklich Tag für Tag schluckte.

Ich duschte, zog mich an und ging in Jolas Haus hinüber. Ich sperrte unser Haus nicht zu, für den Fall, dass Zoey ihren Schlüssel verlieren würde. Aber ich hatte nicht vor, heute wegzugehen. Wenn Zoey nach der Schule nach Hause käme – was sie hoffentlich machte –, würde sie sich anhören, was ich ihr zu sagen hatte. Ich wollte nicht zulassen, dass meine Tochter meine Geschichte wiederholte. Dafür war sie zu gut. Sie verdiente etwas Besseres. Meine Eltern hatten vielleicht nicht viel gefunden, das ihnen an mir gefallen hatte, aber ich liebte meine Tochter, selbst wenn ich ihr das nicht gut zeigen konnte. Ich hatte für sie Hoffnungen und Träume. Irgendwie musste ich ihr helfen, das zu sehen.

In Jolas Haus war es still und kühl, die feuchte, neblige Nacht hing noch in den Ecken.

„Guten Morgen, Jola“, sagte ich und meine Stimme hallte durch das Haus. Heute gefiel mir das Gefühl, dass ich nicht allein hier war, dass ich den Tag mit einer Freundin verbringen würde, die schon auf mich wartete.

Ich legte meine Sachen auf einen kleinen Tisch in der Eingangshalle und schaute zur Treppe. In der Aufregung gestern Abend hatte ich Jolas Schachteln ganz vergessen.