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»Eine Übergangsphase« prophezeit ihr eine astrologische Spam-Mail. Und tatsächlich verändert sich für die Schriftstellerin Faye gerade vieles: Nach einer kräftezehrenden Scheidung ist sie mit ihren beiden Söhnen zurück nach London gezogen und hat bei der Suche nach einer Wohnung einem Gefühl nachgegeben, das augenblicklich verschwand. Anders als die heruntergekommene Haushälfte, die sie jetzt ihr Eigen nennt. Sie lebt auf einer Baustelle, täglich ereignet sich eine kleine Katastrophe, während sie sich einem Ort anzunähern versucht, den sie schon einmal Heimat nannte. Sie trifft Freunde von früher und knüpft neue Bekanntschaften, sie erfährt von den Schicksalen und Krisen der anderen, spricht über Wahlfreiheiten und Notwendigkeiten und gelangt nach und nach zu einer weitreichenden Erkenntnis, die alles auf den Kopf stellt.

Rachel Cusk, 1967 in Kanada geboren, lebt in England, hat acht Romane sowie drei Sachbücher geschrieben und ist dafür vielfach ausgezeichnet worden. In Transit ist nach Outline der zweite Teil einer Trilogie, einer »weiblichen Odyssee im 21. Jahrhundert«.

Rachel Cusk

IN TRANSIT

Roman

Aus dem Englischen
von Eva Bonné

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Transit bei Faber & Faber, London.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2018

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4856

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2017

© 2016, Rachel Cusk

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Umschlaggestaltung und -motiv: Nurten Zeren, Berlin

eISBN 978-3-518-75087-2

www.suhrkamp.de

IN TRANSIT

Eine Astrologin schrieb mir in einer E-Mail, sie habe wichtige Neuigkeiten hinsichtlich meiner unmittelbar bevorstehenden Zukunft. Sie könne sehen, was mir verborgen bleibe, denn sie habe Einblick in mein Geburtshoroskop erhalten und die Planeten befragt. Ich solle wissen, dass sich an meinem persönlichen Himmel ein wichtiger Transit ankündige. Wenn sie an die vielen Möglichkeiten denke, die eine solche Übergangsphase mit sich bringe, werde sie sehr aufgeregt. Gegen eine kleine Gebühr könne sie ihr Wissen mit mir teilen und mir helfen, es zu meinem Vorteil zu nutzen.

Sie spüre, hieß es in der Mail weiter, dass ich die Orientierung verloren hätte; dass es mir bisweilen schwerfalle, meinen Lebensumständen Sinn abzugewinnen und hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Sie fühle eine starke Verbindung zwischen uns, was sie zwar nicht begründen könne; gleichwohl wisse sie, dass sich manche Phänomene jedem Erklärungsversuch entziehen würden. Leider würden sich viele Menschen wenig empfänglich für die Deutung des Himmels über unseren Köpfen zeigen; sie glaube aber nicht, dass ich zu diesen Menschen gehöre, sei ich doch frei von der blinden Realitätsgläubigkeit jener, die nach konkreten Beweisen fragen. Ihr sei klar, dass ich genug gelitten hatte, um endlich gewisse Themen in meinem Leben anzugehen. Die Bewegungen der Planeten bildeten einen unendlich großen Hallraum für das menschliche Schicksal; wahrscheinlich hielten einige Leute sich für schlichtweg zu unbedeutend, um überhaupt darin vorzukommen. Die traurige Wahrheit, schrieb sie, sei diese: In unserer Zeit der Wissenschaften und der Gottlosigkeit sei uns das Gefühl für die eigene Bedeutsamkeit verlorengegangen. Wir seien grausam geworden, gegen uns und gegen andere, weil wir uns letztendlich für wertlos halten. Die Planeten, schrieb sie, bieten uns nichts Geringeres als eine Gelegenheit, unseren Glauben an die menschliche Größe wiederzufinden. Mit wie viel mehr Würde, Achtung, Nachsicht, Verantwortungsgefühl und Respekt würden wir uns und andere behandeln, wenn wir begriffen hätten, dass ein jeder Mensch von kosmischer Bedeutung ist? Jemand wie ich könne unschwer erkennen, welche Möglichkeiten sich hier für Frieden und Wohlstand in aller Welt auftaten, ganz zu schweigen von den revolutionären Veränderungen, die ein rehabilitierter Schicksalsbegriff im Bereich des Zwischenmenschlichen anstoßen würde. Ich möge ihr die Offenheit verzeihen, und dass sie mich auf diesem Wege kontaktiert hatte. Wie gesagt, sie spüre eine starke Verbindung zwischen uns und habe sich deswegen erlaubt, mir zu schreiben und mir ihr Herz auszuschütten.

Möglicherweise war die Mail vom selben Computerprogramm generiert worden wie die Astrologin selbst. Zu charakterstark waren ihre Sätze, zu zahlreich die Hinweise auf ihre Persönlichkeit; sie war zu durchschaubar einem bestimmten Menschentyp nachempfunden, um selbst menschlich zu sein. In der Folge bekamen ihr Mitgefühl und ihre Sorge etwas leicht Bedrohliches, gleichzeitig – und aus demselben Grund – wirkte sie seltsam unvoreingenommen. Ein Freund von mir, der seit seiner Scheidung an Depressionen litt, hatte mir vor Kurzem erzählt, er würde von dem Interesse an seiner Gesundheit und seinem Wohlbefinden, das auf Werbeplakaten und Lebensmittelverpackungen zum Ausdruck kam, zu Tränen gerührt, und auch von der automatischen Ansage in Bussen und Bahnen, die offenbar fürchtete, er könnte seine Haltestelle verpassen; er fühle sogar eine Art Liebe zu der weibliche Stimme, die ihm beim Autofahren den Weg erklärte und dabei viel geduldiger war, als seine Frau es je hätte sein können. Das Feld des Lebens sei abgegrast und die Ernte aus Sprache und Informationen so reich ausgefallen, dass das gefälscht Menschliche eines Tages vielleicht authentischer und beziehungsfähiger sein würde als das Original. Vielleicht könne man von den Maschinen bald mehr Zärtlichkeit erwarten als von seinem Nächsten, schließlich zeigten sich auf einem Display die Wesenszüge nicht einer, sondern vieler Persönlichkeiten. Mit anderen Worten, unzählige Astrologen hatten ein Lebenswerk hinterlassen müssen, damit dieses eine Muster entstehen konnte. Mein Freund empfand den Umstand, dass der ozeanische Chor in keiner Einzelperson gründete, sondern überall und nirgends war, als sehr tröstlich. Er habe beobachtet, dass viele Menschen diese Vorstellung befremdlich fänden; für ihn aber bedeute die Zersetzung der Individualität auch die Zersetzung der Macht, einen anderen zu verletzen.

Im vergangenen Frühjahr, als ich trotz meiner begrenzten finanziellen Mittel den Umzug nach London plante, hatte mir derselbe Freund – ein Autor – geraten, lieber ein schlechtes Haus in einer guten Gegend zu kaufen als umgekehrt. Nur Glückskindern und Pechvögeln, sagte er, wird ein sortenreines Schicksal zuteil; alle anderen müssen sich entscheiden. Der Makler reagierte überrascht, als ich ankündigte, mich an diese Weisheit, wenn es denn eine war, halten zu wollen. Seiner Erfahrung nach legten Künstler mehr Wert auf viel Licht und viel Platz als auf eine gute Lage. Sie hätten einen Blick für das Potential der Dinge, wogegen sich die meisten anderen Käufer Sicherheit in Form von Anpassung und verwirklichten Ideen wünschten, Häuser also, deren Reiz die Summe ihrer ausgeschöpften Möglichkeiten war und an denen es nichts mehr zu verbessern gab. Ironischerweise, sagte er, seien ausgerechnet Menschen mit Angst vor Originalität ganz versessen darauf, sich originell zu geben. Seine Kunden würden ganz euphorisch, wenn irgendwo ein Überrest von historischer Bausubstanz erhalten sei; dabei müsse man die Suche lediglich auf die Randbezirke ausweiten, um zu einem Bruchteil der Kosten fündig zu werden. Es sei ihm ein Rätsel, sagte er, warum die Leute weiterhin in überteuerten Stadtteilen kauften, wenn es in den aufstrebenden Vierteln viel günstigere Angebote gab. Vermutlich hatten die Käufer einfach zu wenig Fantasie. Zurzeit würden Höchstpreise verlangt, sagte er, doch anstatt sich davon abschrecken zu lassen, fühlten sie sich noch angespornt. Fast jeden Tag spielten sich vor seinen Augen tumultartige Szenen ab. Die Interessenten rannten ihm die Tür ein und schlugen sich darum, zu viel Geld zu bezahlen, als hinge ihr Leben davon ab. Er hatte Handgreiflichkeiten bei Besichtigungsterminen erlebt und beispiellos aggressive Bieterkriege, manche Kunden versuchten sogar, sich durch Bestechungsgelder eine bevorzugte Behandlung zu sichern; und all das für Immobilien, die bei Licht betrachtet völlig gewöhnlich waren. Besonders augenfällig wurde die Verzweiflung der Leute, sobald die Begehrlichkeit sie einmal gepackt hatte; sie riefen stündlich an, um nach Neuigkeiten zu fragen, schauten unangekündigt im Maklerbüro vorbei oder flehten ihn unter Tränen an; mal gaben sie sich wütend, mal zerknirscht, und nicht selten versuchten sie, sein Wohlwollen durch langatmige Beichten aus ihrem Privatleben zu gewinnen. Er hätte Mitleid mit ihnen haben können, würden sie nicht jedes Mal, wenn das Drama vorüber war und der Kaufvertrag unterzeichnet, ihr unmögliches Benehmen ebenso schlagartig vergessen wie den Dienstleister, der es hatte ertragen müssen. Manche Kunden erzählten ihm die abstoßendsten privaten Details, nur um ihn eine Woche später auf der Straße zu übersehen. Paare erniedrigten sich in seinem Beisein, um sich kurz darauf ihrem Leben in der neuen Nachbarschaft zu widmen. Allein die Gründlichkeit, mit der die Leute vergaßen, ließ ihn hier und da ihre Scham erahnen. Zu Beginn seiner Karriere habe er derlei Zwischenfälle verstörend gefunden, aber glücklicherweise habe er im Lauf der Jahre gelernt, sich nicht alles zu Herzen zu nehmen. Wahrscheinlich war er für sie nicht mehr als eine schemenhafte Gestalt, die ihnen aus dem roten Nebel ihrer Begehrlichkeit entgegentrat, ein Übertragungsobjekt sozusagen. Doch die Begehrlichkeit an sich verwirrte ihn nach wie vor. Offenbar wollten die Leute besonders das, was sich knapp außer Reichweite befand, wobei die Sache in manchen Fällen noch viel komplizierter erschien. Nicht selten beichteten seine Kunden ihm nach einem geplatzten Deal, sie seien froh darüber, dass ihre Wünsche nicht in Erfüllung gegangen waren; dieselben Menschen, die getobt und geweint hatten wie enttäuschte Kinder, saßen ihm nur wenige Tage später seelenruhig im Büro gegenüber und bedankten sich. Sie sahen ein, dass sie sich keinen Gefallen getan hätten, und dann fragten sie, was er sonst noch so im Angebot habe. Die meisten, sagte er, erleben die Zeit der Immobiliensuche und der Vertragsverhandlungen als überwältigend intensiv, sie bekommen einen Tunnelblick vor lauter Aufregung. Die Mehrheit kann den Urteilsspruch des Schicksals erst hinnehmen, wenn ihr Wollen erschöpft ist.

Diese Unterhaltung führten wir in seinem Londoner Büro. Draußen schob sich der Autoverkehr schwerfällig durch eine graue, verschmutzte Straße. Ich erklärte ihm, dass der von ihm beschriebene Irrsinn kein Ansporn sei, sondern mir stattdessen jede Lust auf die Häusersuche genommen habe. Am liebsten würde ich einfach aufstehen und gehen. Abgesehen davon hätte ich nicht genug Geld, um mich an einem Wettbieten zu beteiligen. Unter den geschilderten Umständen sei es wohl unwahrscheinlich, dass ich überhaupt eine Bleibe finden würde. Gleichzeitig wolle ich seiner Vorstellung widersprechen, die so genannten Künstler sollten sich durch Eigenschaften an den Rand drängen lassen, die er mir so rücksichtsvoll als Tugenden hatte verkaufen wollen. Er habe, wenn ich mich recht erinnerte, das Wort »Fantasie« gebraucht; für solche Menschen sei es allerdings das Schlimmste, aus Gründen des Selbstschutzes das Zentrum zu meiden und sich in einen Ästhetizismus zu flüchten, der nicht auf die Außenwelt zurückwirkt. Ich wolle nicht in einen Wettbewerb eintreten, aber noch weniger wolle ich an einer Neudefinition des Erfolgsbegriffs arbeiten. Ich wolle, was alle anderen wollten, auch wenn es unerreichbar sei.

Meine Aussagen ließen den Makler stutzen. Er habe keinesfalls andeuten wollen, sagte er, dass ich an den Rand gehöre. Er sei nur der Meinung, dass ich in einer weniger beliebten Gegend mehr für mein Geld bekommen könne. So viel Fatalismus begegne ihm eher selten, aber wenn ich es mir unbedingt in den Kopf gesetzt hätte, mit dem Strom zu schwimmen, nun ja, dann habe er tatsächlich ein Angebot für mich. Es liege hier auf seinem Schreibtisch; das Objekt sei erst heute Morgen wieder in die Kartei aufgenommen worden, weil der Käufer einen Rückzieher gemacht habe. Das Haus gehöre der Stadt und solle möglichst schnell verkauft werden, was sich auch im Preis niederschlage. Wie ich den Fotos entnehmen könne, befinde es sich in denkbar schlechtem Zustand, ehrlich gesagt sei es praktisch unbewohnbar. Die meisten seiner Kunden würden davor zurückschrecken, trotz ihrer Gier. Wenn es ihm erlaubt sei, noch einmal das Wort »Fantasie« zu bemühen: Dieses Objekt überfordere die der meisten Interessenten, obwohl es sich zugegebenermaßen in bevorzugter Lage befinde. In Anbetracht meiner Situation könne er mir aber nicht guten Gewissens zuraten. Das Haus sei etwas für einen Investor oder einen Handwerker, für jemanden, der die Sache frei von Emotionen angehen würde; leider sei die Gewinnmarge für diese Interessentengruppe einfach zu klein. Zum ersten Mal überhaupt sah er mir in die Augen. In so einem Haus, sagte er, kann man natürlich keine Kinder großziehen.

Wochen später, der Kaufvertrag war unterschrieben, begegnete ich dem Makler auf der Straße. Er war allein unterwegs, presste sich Unterlagen an die Brust und klimperte mit seinem Schlüsselbund. Ich erinnerte mich an seine Worte und beschloss, ihn zu grüßen, aber er sah mich nur flüchtig an und starrte dann wieder geradeaus. Unsere Unterhaltung hatte im Frühsommer stattgefunden; inzwischen war es Herbst geworden. Ich musste daran zurückdenken, weil die Astrologin mir etwas über menschliche Grausamkeit geschrieben hatte. Die Begegnung mit dem Makler schien zu beweisen, dass wir alles Mögliche über uns selbst glauben können, letztendlich aber das Produkt der Behandlung sind, die wir durch andere erfahren haben. In der E-Mail der Astrologin gab es einen Link zu dem Horoskop, das sie für mich erstellt hatte. Ich bezahlte die Gebühr und las weiter.

Gerard war auf Anhieb wiederzuerkennen. Die Sonne schien, er war mit dem Fahrrad unterwegs und fuhr mit hoch erhobenem Kopf an mir vorbei, ohne mich zu sehen. Seine belustigte Miene erinnerte mich an seinen Hang zur Theatralik, und an einen Abend vor fünfzehn Jahren, als er nackt auf dem Fensterbrett unserer Dachgeschosswohnung gesessen hatte, die Beine in die Dunkelheit baumeln ließ und sagte, er glaube mir nicht, dass ich ihn liebe. Verändert hatten sich nur seine Haare, die zu einer eindrucksvollen schwarzen Lockenmähne herangewachsen waren.

Ein paar Tage später sah ich ihn wieder. Es war früh am Morgen, er stand neben seinem Fahrrad und hielt ein kleines Mädchen in Schuluniform an der Hand. Gerard und ich hatten für ein paar Monate in dem Dachgeschoss zusammengelebt, das ihm damals schon gehörte und das er, soweit ich wusste, immer noch bewohnte. Ich hatte ihn beiläufig und ohne große Erklärungen verlassen, um mit einem anderen Mann aus London fortzuziehen. In den darauffolgenden Jahren rief er gelegentlich in unserem Haus auf dem Land an; seine Stimme hatte jedes Mal so schwach und fern geklungen, als melde er sich aus dem Exil. Eines Tages erhielt ich dann einen handgeschriebenen, mehrere Seiten langen Brief, in dem er mir offenbar darlegte, warum er mein Verhalten ebenso unerklärlich wie unmoralisch fand. Der Brief erreichte mich in der anstrengenden Zeit nach der Geburt meines älteren Sohnes. Ich war nicht in der Lage, ihn zu Ende zu lesen, und fügte meinen zahlreichen Sünden eine weitere hinzu, indem ich nicht zurückschrieb.

Nachdem wir einander begrüßt und unser Erstaunen bekundet hatten – meins war geheuchelt, schließlich hatte ich ihn am Vortag gesehen, ohne selbst entdeckt worden zu sein –, stellte er mir das kleine Mädchen als seine Tochter vor.

Ich fragte nach ihrem Namen, und mit hoher, bebender Stimme antwortete er: »Clara.«

Gerard wollte wissen, wie alt meine Kinder jetzt seien, als wäre der unglaubliche Umstand seiner Vaterschaft leichter zu ertragen, wenn ich irgendwie miteinbezogen würde. Er sagte, er habe ein Interview mit mir gelesen – genau genommen sei das schon Jahre her – und die Beschreibung meines Hauses an der Küste von Sussex habe ihn ziemlich neidisch gemacht. Die South Downs gehörten zu seinen Lieblingslandschaften. Er sei überrascht, mich hier in der Stadt zu treffen.

»Einmal waren Clara und ich in den South Downs wandern«, sagte er. »Nicht wahr, Clara?«

»Ja«, sagte sie.

»Wenn wir London je verlassen müssten, würden wir dorthin ziehen«, fuhr Gerard fort. »Diane hat nichts dagegen, dass ich die Immobilienpornos lese, solange es dabei bleibt.«

»Diane ist meine Mutter«, erklärte Clara ernst.

Wir standen an einer breiten, von Bäumen gesäumten Straße mit hübschen viktorianischen Häusern, die als Beweis für die Anständigkeit der Wohngegend zu fungieren schienen. Die sorgfältig getrimmten Hecken und die großen, sauberen Fensterscheiben flößten mir, wenn ich daran vorbeiging, unbegründete Gefühle von Sicherheit und völliger Ausgeschlossenheit ein. Die Wohnung, in der ich mit Gerard zusammengelebt hatte, lag ganz in der Nähe, in einer Straße mit merklich zurückgenommener Atmosphäre, die den Übergang in die heruntergekommenen, vom Autoverkehr verstopften östlichen Bezirke ankündigte. Die immer noch hübschen Häuser wiesen geringfügige Mängel auf, die Hecken waren ein kleines bisschen nachlässiger gestutzt. Gerards Wohnung, eine Flucht aus weitläufigen, miteinander verbundenen Zimmern, lag im Obergeschoss einer Villa im edwardianischen Stil, aus der man einen atemberaubenden Blick auf die Verwandlung des Achtbaren ins Armselige hatte – ein Zwiespalt, in dem Gerard sich wechselweise erhaben oder eingesperrt gefühlt hatte. Von den rückwärtigen Zimmern aus war der klassizistische Westen mit seinen gepflegten Rasenflächen, hohen Bäumen und den dahinter versteckten anderen hübschen Villen zu sehen. Nach Osten hin eröffnete sich ein trostloses Panorama städtischer Verwahrlosung, auf das man, weil das Haus auf einem Hügel stand, eine besonders unverstellte Aussicht hatte. Einmal hatte Gerard auf ein langgezogenes, niedriges Gebäude in der Ferne gezeigt und erklärt, das sei das Frauengefängnis. In klaren Nächten konnte man winzige, orangerote Lichtpunkte in der Dunkelheit erkennen. Es waren die glühenden Zigaretten der Gefangenen, die auf den Gängen vor ihren Zellen standen und rauchten.

Hinter der hohen Mauer, an der wir standen, erhob sich Kinderlärm. Gerard legte Clara eine Hand auf die Schulter und beugte sich hinunter, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Offenbar wurde sie von ihm gemaßregelt, und auf einmal fiel mir der Brief wieder ein, in dem Gerard meine Verfehlungen aufgelistet hatte. Seine Tochter war ein zartes, hübsches Wesen, das sein Elfengesicht nun zu einer entzückenden Märtyrermaske verzog; sie hatte wohl die theatralische Ader ihres Vaters geerbt. Interessiert und mit hellwachen, braunen, starr in die Ferne blickenden Augen lauschte sie seinen Korrekturvorschlägen. Gerard richtete sich wieder auf und stellte ihr eine letzte Frage; sie nickte knapp, drehte sich um und durchschritt zusammen mit den anderen Kindern das Schultor.

Ich fragte Gerard, wie alt sie sei.

»Acht«, sagte er. »Aber sie wird demnächst achtzehn.«

Dass Gerard ein Kind hatte, überraschte mich sehr. Während unserer Beziehung hatte er genug damit zu tun gehabt, seine eigene Kindheit zu verarbeiten; entsprechend schwer fiel es mir zu glauben, dass er jetzt selbst Vater war. Das Ganze wirkte um so merkwürdiger, weil er in jeder anderen Hinsicht unverändert schien: Sein blasses Gesicht war kaum gealtert, die sanften, fast kindlichen Augen immer noch von langen Wimpern umkränzt. An seinem rechten Hosenbein klemmte wie früher ein Clip, und den auf seinen Rücken geschnallten Geigenkasten kannte ich noch so gut, dass ich mich kein bisschen darüber wunderte. Als Clara außer Sicht war, sagte Gerard:

»Jemand hat mir erzählt, dass du in die Stadt zurückziehst. Ich wusste nicht, ob ich das glauben soll.«

Er fragte, ob ich gekauft hätte und in welcher Straße ich jetzt wohne. Während ich antwortete, nickte er eifrig.

»Ich bin nie umgezogen«, sagte er. »Ist doch seltsam«, ergänzte er, »dass du ständig alles verändert hast und ich nichts und wir trotzdem am selben Ort gelandet sind.«

Vor einigen Jahren, erzählte er, habe er eine kurze Zeit in Kanada verbracht, davon abgesehen sei in seinem Leben alles beim Alten geblieben. Er habe sich oft gefragt, wie es wohl wäre, einfach fortzugehen, die vertraute Umgebung hinter sich zu lassen und irgendwo neu anzufangen. Nachdem ich damals Schluss gemacht hätte, sei er jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit vor dem Gartentor stehen geblieben, um die Magnolie zu betrachten; der Gedanke, dass ich diesen Baum nie wieder ansehen würde, sei ihm unbegreiflich und absurd erschienen. Wir hatten damals gemeinsam ein Bild angeschafft, das immer noch an seinem Platz zwischen den beiden Fenstern hing, die auf den Garten hinter dem Haus hinausgingen. Er hatte oft davorgesessen und sich gefragt, wie es mir möglich gewesen war, mich davon zu trennen. Anfangs hatte er diese Dinge – die Magnolie, das Bild, meine Bücher und andere Gegenstände, die ich zurückgelassen hatte – als Trennungsopfer betrachtet, aber diese Sichtweise hatte sich im Laufe der Jahre verändert. Eine Zeitlang hatte er sich eingeredet, ihr Anblick müsse unerträglich für mich sein. Später war ihm der Gedanke gekommen, ich würde mich vielleicht freuen, sie wiederzusehen. Zufällig habe er alles aufbewahrt, sogar die Magnolie gebe es noch, obwohl die anderen Eigentümer zwischenzeitlich mit dem Gedanken gespielt hätten, sie zu fällen.

Vor dem Schultor drängelte sich eine wachsende Menge von Eltern und uniformierten Schulkindern, und es wurde schwierig, sich über den Lärm hinweg zu unterhalten. Immer wieder musste Gerard sein Fahrrad, das er am Lenker hielt, aus dem Weg schieben. Die meisten anderen Erwachsenen waren Frauen: Frauen mit Hunden an der Leine oder mit Buggy, schick gekleidete Frauen mit Aktentasche, Frauen mit Schulranzen auf dem Rücken, mit Brotdosen in der Hand und Musikinstrumenten unter dem Arm. Ihre Stimmen erhoben sich über das Gedränge und tönten gegen den Lärm hinter der Mauer an, wo mehr und mehr Kinder auf dem Schulhof zusammenkamen. Das Anschwellen hatte etwas von einem unerbittlichen, geradezu hysterischen Crescendo, das beim Klang der Pausenglocke schlagartig verstummte. Manche Frauen riefen Gerard einen Gruß zu, und er grüßte mit einer Überschwänglichkeit zurück, wie sie ihm schon damals zur Tarnung seines sozialen Misstrauens gedient hatte.

Er schob sein Fahrrad aus dem Gewühl und zwischen die geparkten Autos, wo sich das erste rostrote Laub gesammelt hatte. Wir wechselten die Straßenseite. Der Morgen war warm, trüb und windstill, und nach dem Trubel, der uns eben noch umgeben hatte, fühlte die Welt sich plötzlich gedämpft und unbeweglich an, als wäre die Zeit stehengeblieben. Gerard vertraute mir an, dass er Clara nun schon seit Jahren hier abliefere, sich vor dem Schultor aber nach wie vor unwohl fühle. Diane fing sehr früh zu arbeiten an, außerdem fand sie noch weniger Zugang zur schulischen Gemeinschaft als er; im Gegensatz zu ihr konnte er sich wenigstens teilweise hinter sein Mannsein zurückziehen. Als Clara kleiner war, sei er derjenige gewesen, der sie zu Spielkreisen und Elternkursen begleitet hatte. Er hatte viel dabei gelernt – nicht über Elternschaft, wohl aber über andere Menschen. Zu seiner Überraschung musste er feststellen, dass die Frauen in den Babygruppen ihn mit einer gewissen Feindseligkeit behandelten, dabei hatte er sich selbst nie für besonders männlich gehalten. Immer schon hatte er sich mit Frauen am besten verstanden; während seiner Schulzeit war Miranda – sicher könne ich mich an sie erinnern – seine beste Freundin gewesen, ein und dieselbe Person waren sie damals, hatten sogar oft im selben Bett geschlafen und sich ohne Scham voreinander entkleidet. Doch in der Mütterwelt wurde seine Männlichkeit plötzlich zum Stigma; die Frauen betrachteten ihn wahlweise mit Ablehnung oder Verachtung, und anscheinend konnte er es ihnen weder durch seine Anwesenheit noch durch sein Fernbleiben recht machen. In der ersten Zeit mit Clara hatte er sich oft einsam gefühlt, zudem wurde er regelmäßig von Erinnerungen an seine eigene Kindheit überwältigt, die das Leben als junger Vater weckte. Diane arbeitete wieder in Vollzeit, und obwohl ihre unsentimentale Haltung und ihre Abneigung gegen alle mütterlichen Aktivitäten ihn zunächst überraschten, begriff er nach einer Weile, dass sie keinen Grund hatte, sich dieses Wissen – über Kinderpflege und alles, was daraus folgt – anzueignen. Sie wusste ohnehin, was es heißt, eine Frau zu sein; er war derjenige, der Nachholbedarf hatte. Er musste lernen, was es heißt, sich um einen anderen Menschen zu kümmern, Verantwortung zu übernehmen, eine Beziehung aufzubauen und zu gestalten, und sie wollte ihm dabei nicht im Weg stehen. Sie hatte ihm Clara so bedingungslos überlassen, wie es die meisten Frauen, davon war er überzeugt, niemals gekonnt hätten. Es sei nicht immer einfach gewesen, aber er habe durchgehalten.

»Und jetzt bin ich der Lieblingshausmann von allen«, sagte er und nickte zu den Frauen mit den Hunden und den Buggys hinüber.

Wir entfernten uns langsam von der Schule und liefen die sanfte Steigung zur nächsten U-Bahn-Station hinauf. Die Richtung hatten wir ganz automatisch eingeschlagen. Ich hatte nicht vor, die Bahn zu nehmen, und Gerard mit seinem Fahrrad offensichtlich auch nicht; aber das zufällige Wiedersehen nach so langer Zeit war kompliziert und hatte uns zu der stillschweigenden Übereinkunft genötigt, auf neutralem Boden zu bleiben und uns an öffentlichen Knotenpunkten zu orientieren, bis wir zu unserer jeweiligen Haltung gefunden hatten. Ich hätte, sagte ich, ganz vergessen, wie befreiend anonym das Leben in der Großstadt sei. Hier müsse niemand sich erklären; die Stadt sei eine leichtverständliche Benutzeroberfläche, eine Art selbsterklärendes Lexikon menschlichen Verhaltens, das es allen erlaube, effektiv und gewissermaßen in Kürzeln zu kommunizieren. An meinem früheren Wohnort auf dem Land sei jeder Einzelne das unverwechselbare, oft rätselhafte Abbild seiner Haltungen und Absichten gewesen; bei dem Versuch, sich verständlich zu machen, sei es regelmäßig zu Informationsverlust, Missverständnissen und ungerechtfertigten Unterstellungen gekommen, manche Worte hätten ihre eigentliche Bedeutung ganz eingebüßt.

»Wie lange ist es her, seit du London verlassen hast?«, fragte Gerard. »Das müssen doch inzwischen … warte mal … an die fünfzehn Jahre sein?«

Seine Unschlüssigkeit wirkte aufgesetzt und erweckte in mir den Eindruck, dass er mit den Fakten, die er nicht zu kennen vorgab, bestens vertraut war – vermutlich das Gegenteil dessen, was er erreichen wollte. Auf einmal spürte ich heftige Gewissensbisse, weil ich ihn so schlecht behandelt hatte. Ich musste erneut darüber staunen, wie wenig er sich verändert hatte, außer dass er heute erfüllter wirkte. Damals war er nur eine Skizze gewesen, ein Umriss; ich hatte mehr in ihm sehen wollen, als er war, ohne mich je zu fragen, woher dieses Mehr kommen sollte. Aber die Zeit hatte ihn verdichtet; wie eine Künstlerin hatte sie die Skizze ausgemalt. Immer wieder fuhr er sich durch seine dichten Locken. Er sah gesund und braungebrannt aus und trug ein locker sitzendes, rot-blau kariertes Hemd, wie er es schon als junger Mann gemocht hatte; es war weit aufgeknöpft und entblößte seinen braunen Hals. Die Farben des Stoffes waren so verblichen und verwaschen, dass ich mich fragte, ob er ein Hemd von damals trug. Immer schon war er übertrieben sparsam gewesen; die Verschwendungssucht und die Ausschweifungen der anderen hatten ihn zutiefst verärgert und unwillkürlich über sie urteilen lassen. Gleichwohl hatte er mir einmal gestanden, sich in seiner Fantasie denselben sinnlosen Exzessen und Verwüstungen hinzugeben, die er so verachtete.

Ich sagte, dass sich die Stadt in meiner Abwesenheit anscheinend wenig verändert habe. Mir sei aufgefallen, dass meine Nachbarn, wenn sie morgens in tadelloser Aufmachung vor die Haustür traten, innehielten und sich lächelnd umschauten, gerade so, als sei ihnen ein lustiger Gedanke gekommen. Gerard musste lachen.

»Wenn man von so viel Selbstgefälligkeit umgeben ist«, sagte er, »wird man zwangsläufig selbstgefällig.«

Der größte Vorteil eines Umzugs, das wisse er jetzt, sei die Chance auf Veränderung. Aber wahrscheinlich fürchte er genau das: an einem neuen Ort anzugelangen und zu merken, dass man sich unterwegs verloren hat. Diane, sagte er, sei Kanadierin; sie schien es kein bisschen zu stören, auf einem fernen Kontinent zu leben. Ganz im Gegenteil, sie sei der Ansicht, sich durch den Umzug ans andere Ende der Welt einen Haufen lähmender Probleme erspart zu haben, hauptsächlich die Auseinandersetzung mit ihrer Mutter. Aber das Leben in London habe, wie er zugeben müsse, etwas Unentrinnbares, als sei sein Schicksal hier festgeschrieben; seiner Beobachtung nach fühlten sich die meisten durch ihre Herkunft weniger beeinträchtigt als er selbst. Zwei Jahre lang hatte er mit Diane in Toronto gelebt, und obwohl er dort frei gewesen war – genauer gesagt von einer erdrückenden Last befreit –, siegten am Ende seine Schuldgefühle. Nach Claras Geburt spitzte das Dilemma sich zu: Unvorstellbarer als der Gedanke, Clara könnte eine Kindheit wie die seine erleben, war nur die Vorstellung, sie könnte ihr Leben in Unkenntnis von allem verbringen, was für Gerard die Wirklichkeit ausmachte.

Ich fragte ihn, warum er für ein Gefühl, das die meisten Menschen Heimweh nennen würden und das in jedem Fall nicht mehr bezeichnete als die Abwesenheit der vertrauten Umgebung, den Begriff Schuld gebrauche.

»Es fühlte sich falsch an, eine Entscheidung zu treffen«, sagte Gerard. »Es fühlte sich falsch an, ein ganzes Leben auf eine einzige Entscheidung zu gründen.«

Diane hatte er zufällig kennengelernt, in einer Kinoschlange. Er war nach Toronto gezogen, weil ihm der dortige Fachbereich Filmwissenschaften ein sechsmonatiges Forschungsstipendium bewilligt hatte. Er hatte sich mit der absoluten Gewissheit beworben, es nicht zu bekommen, und dann war er plötzlich weit weg von zu Hause und stand bei minus zwanzig Grad an, um sich mit einem Lieblingsfilm zu trösten, Die Nacht der lebenden Toten. Wie sich herausstellte, war Diane ebenfalls ein Horror-Fan. Sie arbeitete bei der CBC, manchmal bis in den späten Abend. Die beiden trafen sich im Laufe der nächsten Wochen ein paar Mal, aber dann verreiste die Frau, die sonst mit Dianes Hund spazieren ging, einem lebhaften Riesenpudel namens Trixie. Der Hund bereitete Diane schon genug Sorgen; sie hing in einem besonders stressigen Projekt fest, musste frühmorgens aus dem Haus und kehrte abends erst spät zurück, so dass Trixies einstündiger Spaziergang mit der Hundesitterin ohnehin schon nicht ausreichte. Diane, eine überzeugte Tierfreundin, nahm Trixies traurige Lage sehr ernst. Nun stand sie vor der Entscheidung, Trixie abzugeben, »was für Diane«, sagte Gerard, »so war, als müsste sie ihr eigenes Kind abgeben«.