MacAskill, Danny; Allen, Matt Biken am Limit

PIPER

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www.malik.de

Mit 25 farbigen Abbildungen und 23 Skizzen

Übersetzung aus dem Englischen von Martin Bayer

ISBN 978-3-492-96575-0

April 2017

© Danny MacAskill, 2016

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »At the Edge. Riding for My Life« bei Penguin Books Ltd, London.

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Redaktion: Regina Carstensen, München

Fachredaktion: Dimitri Lehner, München

Zeichnungen: Danny MacAskill

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de unter Verwendung des Originalumschlags von Viking, Penguin Books Ltd, 2016

Covermotiv: Chris Prescott / Cut Media

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Inhalt (Oder auch: Vor Nachahmung wird gewarnt)

Was ich tue, ist gefährlich und erfordert jahrelange Übung. Kaum überraschend, aber eine Menge Prellungen und Brüche sind dabei unvermeidlich. Es wäre verdammt ärgerlich, wenn sich jemand verletzen würde, nur weil er einem guten Radler nacheifern will. Gerade wenn er dieses Buch gelesen hat, wäre das keine gute Idee. Um dem entgegenzuwirken, folgt hier eine Liste meiner bisherigen Unfälle. Solltest du also je den Drang verspüren, einen Backflip von einem Dach zum anderen auszuprobieren, dann lies besser folgende Seiten (danach wirst du sehen, ob du dich noch immer voller Abenteuerlust aufs Rad schwingst):

Ein zertrümmerter Schädel und ein Pflug

Die Sache mit dem geschmolzenen Blei

Die seltsame Geschichte von der geprellten Ferse

Schlüsselbeinbruch #1

Schlüsselbeinbruch #2

Ein Aquarium und ein Hautausschlag

Schlüsselbeinbruch #3

Risiken beim Ausrutschen in Gänsekacke

Anleitung zum Bandscheibenvorfall

Unterm Messer

Auf einmal völlig verloren – Labyrinthitis

Der große Footjam-Tailwhip-Kampfpanzer-Absturz

Die Sprache der Biker (Ein kurzes Glossar)

Banger: Besonders spektakulärer Stunt als Schlussattraktion am Ende eines Videos. Das große Finale. Der große Trick.

Bash Ring: Schutzring am vorderen Kettenrad.

Dial: Eine Sache oder Technik beherrschen, sie »draufhaben«.

Ender: Anderes Wort für Banger.

Fakie-Nose-Manual: Rückwärtsgefahrener Wheelie. Der Fahrer lässt das Rad auf dem Vorderreifen zurückrollen, das Hinterrad ist in der Luft.

Flair: Backflip in Kombination mit einer Drehung um 180 Grad. Wird oft in der Halfpipe ausgeführt (bei mir war es ein Baum). Ideal. Man landet exakt so, dass man entgegen der Anfahrtrichtung davonrollt.

Flatland: Moves auf ebenem Boden. Dabei werden oft Wendungen vorgeführt, und der Fahrer nimmt ungewöhnliche Stellungen ein, etwa indem er sich auf den Rahmen stellt.

Footjam: Anhalten, indem man einen Fuß hinter der Gabel auf das Vorderrad stellt (»jammt«); das Fahrrad balanciert danach auf dem Vorderrad.

Footjam-Tailwhip: Das Rad steht auf dem Vorderreifen, und der Fahrer wirbelt den Hauptrahmen des Bikes mit einem Tritt ums Steuerrohr herum, hebt die Füße über den Rahmen und stellt sie auf die Pedale, wenn der Rahmen wieder in der ursprünglichen Position ist.

Gap: Zu überspringender Bereich, auch die Weite des Sprungs.

Grind (auch Rail): Bei diesem Stunt rutscht man beispielsweise auf den Pedalen auf einem Hindernis entlang.

Line: Abfahrtslinie oder Strecke, die mit möglichst vielen Manövern und Tricks gespickt ist.

Manual: Rollen auf dem Hinterrad, ohne zu pedalieren. Die Balance wird durch Verlagerung des Körpergewichts aufrechterhalten.

Part: Was ein Biker in einem Video vorführt, entweder alleine (wie Inspired Bicycles) oder als Abschnitt auf einer Team-DVD oder in einem anderen Video (zum Beispiel Alex D.s Part in Living for the City/BSD).

Rider: Im hier verwendeten Sinn jeder, der mit einem fahrbaren Untersatz Rennen fährt oder Tricks vorführt – zum Beispiel ein Mountainbiker, Skateboarder oder BMXer.

Roadie: Rennradfahrer, zum Beispiel Olympiasieger Sir Bradley.

Skinny: Sehr schmales Hindernis, etwa ein Baumstamm, Balken, Zaun oder eine Geländerstange.

Tailwhip: Der Biker rotiert in der Luft den Hauptrahmen einmal um das Steuerrohr und landet wieder auf den Pedalen.

Transition: Die Auffahrt einer Rampe.

Tiretap: Mit dem Hinterrad auf der Oberseite eines Hindernisses – etwa einer Wand oder eines Geländers – stehen bleiben.

Wallride: Eine senkrechte Wand so anfahren, dass man an ihr hochspringt und mit beiden Rädern auf ihr entlangrollt.

Szene eins

Aufblende.

Tag/Außen. Las Palmas de Gran Canaria, Küstenklippen.

Street-Trial-Fahrer und Filmemacher Danny MacAskill bereitet sich auf seinen bisher dramatischsten Stunt vor: einen Frontflip von einer Rampe auf der Klippe, einen nervenzerfetzenden tollkühnen Sprung, der ihn über ein Feld von Felsblöcken in der Brandungszone gut fünfzehn Meter tiefer und weiter hinaus ins Meer tragen wird – wenn er gelingt.

Wir sehen Danny sich langsam der Sprungschanze nähern; er fährt unter einem leuchtend blauen Himmel über die Dächer von Las Palmas. Er trägt sein Drop-and-Roll-T-Shirt und den Red-Bull-Schutzhelm, auf dem oben eine GoPro-Kamera montiert ist.

Blick durch den Kamerasucher: Danny springt von der letzten Dachkante auf einen Gerüstturm, der sich als Anfang der Sprungschanze herausstellt. Er landet, tritt in die Pedale, so fest er kann, die Absprungkante nähert sich rasch. Dahinter der Horizont, dann diese Felsblöcke und der Sturz in die Brandung …

Cascadia, 2015

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Sterben ist keine Option

Nichts würde mich davon abhalten, diese Klippe hinunterzuspringen, weder die schäumende Brandung oder die zerklüfteten Felsen, die in der Ebbeströmung ihre entblößten Zähne zeigten, noch der Abgrund selbst – fünfzehn Meter hin oder her. Ich würde über diese Kante hinausfliegen, ob es meinem Rad gefiel oder nicht.

Ich war umzingelt von Kameras, alle mit guter Sicht auf das, was der Banger des neuen Videos werden sollte. Eine saß oben auf meinem Schutzhelm, eine weitere kreiste an einer summenden Drohne über mir. Jede einzelne Linse war darauf aus, ins Bild zu setzen, was ich da vorhatte: eine spektakuläre Schlusssequenz für unser Video Cascadia. Dafür würde ich zuerst Schwung holen, so viel ich nur konnte. Die Startrampe aus Gerüststangen war in einer schmalen Gasse von Las Palmas de Gran Canaria aufgebaut. Mit dem Anlauf, den sie mir lieferte, würde ich dann über eine Klippe rasen, direkt hinunter in den Abgrund – und ins Meer stürzen. Klasse, was?

Als ich mir den Stunt ein paar Wochen vorher ausgedacht hatte, war ich mir meiner Sache ziemlich sicher gewesen, aber als der Tag dann da war, wurde mir doch mulmig. Auf einmal fürchtete ich, mein rasender Anlauf, oder vielmehr der auf einmal viel zu langsame Anlauf, würde mich nicht über die Felsen unmittelbar vor der Küste hinaustragen. Da war das Wasser teilweise nur viereinhalb Meter tief, ziemlich knapp bemessen, wenn ich da aus fünfzehn Metern hineinbombte. Das Meer dahinter sah auch nicht besser aus. Es war ziemlich zerwühlt, brodelte beängstigend und legte auf einmal Felsblöcke frei, an die sich Dutzende Krabben klammerten. Vielleicht sollte ich meine Flugbahn noch einmal überdenken? Komme ich überhaupt auf die richtige Geschwindigkeit? Auf jeden Fall stand mir ein schmerzhafter Aufprall bevor, wenn ich aus so großer Höhe ins Wasser fiel. Und danach? Keine Ahnung.

Und dann passierte es. Klick. Nach einer Stunde Herumgrübeln sagte mir auf einmal eine Stimme in meinem Kopf: Mach es. Ich knallte auf die Rampe und trat in die Pedale, was das Zeug hielt. Die Häuser flogen nur so vorbei, ich hörte nur noch das Klappern der Gerüststangen unter meinen Reifen.

Clang-a-lang!

Clang-a-lang!!

Die Welt sprang auf mich zu – Sonnenuntergang, Horizont, Meer –, als die Reifen über die Felskante hinausschossen. Wind schlug mir ins Gesicht. Und dann …

Nichts.

Nur Stille.

Und Erleichterung.

Ich bin keineswegs verrückt.

Klar, meine viralen Videos auf YouTube sehen so aus. Es wundert mich nicht, wenn du mich für wahnsinnig hältst, aber in Wirklichkeit sind all meine Stunts genau geplant und vorausberechnet; sobald ich ein Rad unter mir habe, weiß ich genau, was ich damit hinkriege, indem ich meine Fähigkeiten voll ausnutze, aber eben nicht überschreite. Vielleicht sieht das aus, als treibe mich die Todessehnsucht – verständlich, wenn ich mich gerade über eine Klippe ins Meer stürze oder von einem Hochhaus zum nächsten springe –, aber ich gehe eigentlich kaum Risiken ein, zumindest keine leichtsinnigen.

Vielmehr sind all meine Stunts nicht nur sorgfältig vorbereitet, sondern gelingen regelmäßig auch erst nach endlosen Stunden, in denen ich mir den Kopf zermartert habe. Ich brauche ewig, bis ich innerlich so weit bin, die Rampe hinaufzurasen und einen Bump-Frontflip oder einen Tiretap-Tailwhip aus großer Höhe hinzukriegen. Den größten Teil eines Drehtags verbringe ich immer damit, mich darüber zu ärgern, dass ich es wieder nicht bringe, den Sprung einfach zu machen, ohne vorher endlos darüber nachzugrübeln. Ich wünschte, ich könnte damit besser umgehen. Ehrlich, das ist manchmal richtig lästig.

Klar habe ich Angst. Ich leide allerdings unter keiner Phobie – weder vor Höhe noch Geschwindigkeit, nicht einmal vor Spinnen –, in der Hinsicht habe ich Glück. Außerdem ist meine Beziehung zu Schmerzen ziemlich gestört – ich spüre sie eigentlich nicht. Schürfwunden, Prellungen, Brüche machen mir kaum etwas aus. Das ist praktisch, wenn man einen Lebensstil pflegt, bei dem Stürze und Überschläge sozusagen dazugehören. Nur bei Street Trials – wenn ich auf Treppen, Parkbänken und Geländern dahinfetze, gewöhnlich rasend schnell und mit großen Sprunghöhen – bekomme ich manchmal doch ein paar Probleme mit den Nerven.

Für alle, die vielleicht nicht so genau wissen, was Trials sind, möchte ich es kurz erklären: Die Szene begann mit echten Wettrennen, in denen Mountainbiker einen Hindernisparcours in möglichst kurzer Zeit absolvierten. Der Haken dabei? Sie durften mit den Füßen den Boden nicht berühren. Bei den Wettbewerben führte der Parcours über Baumstämme, Felsen, Mauern oder Autowracks. Ab dem Durchfahren des Startgatters tickte die Uhr für jeden Teilnehmer, der sich durch den betreffenden Abschnitt arbeitete, und jedes Mal, wenn er mit den Füßen auf den Boden kam, gab es einen Strafpunkt, dab genannt. Man durfte pro Abschnitt höchstens fünf dabs kassieren. Später war die Regel dann, dass man im Zeitlimit bleiben musste, und wer die wenigsten Strafpunkte hatte, gewann.

Street Trials entwickelten sich aus diesen Trial-Rennen, aber sie sind kein Wettbewerb. Es ging nicht mehr darum, eine bestimmte Anzahl von Hindernissen in einer bestimmten Zeit zu überwinden, sondern einfach nur, dass der Mountainbiker sehr kreativ mit Gegenständen umging, die wir alle kennen. (Stell dir die ganz normalen Bushaltestellen, Telefonzellen und Rolltreppen auf deinem Weg zur Arbeit vor.) Diese Stunts wurden dann oft gefilmt und kamen auf VHS-Kassetten oder DVD heraus. Heute stellt man sie gerne ins Internet, und wenn der Mountainbiker Glück hat, werden sie von einer Menge Leute gesehen und zu »viralen Hits«.

Nun ist es nicht ganz einfach, Street Trials zu fahren. Erstens warten unzählige Prellungen und Brüche auf einen. Ich mache das schon mein ganzes Leben lang, und es sind viele Videos dabei herausgekommen, aber die Angst vor dem Sturz bleibt, besonders bei unbekannten Situationen. Ich habe einmal einen Frontflip – einen Salto vorwärts – vom Wehrgang des Edinburgh Castle riskiert, und das ging mir schon ganz schön an die Nieren. Dann war da dieser Sprung von einem einsturzgefährdeten ehemaligen Schlachthof in einer verfallenen argentinischen Stadt. Auf einer Seite lauerte drei Meter unter mir ein mürbes Dach auf mich, der Beginn meiner Line auf diesem Gebäude, und auf der anderen Seite ging es vier, fünf Meter im freien Fall hinunter auf nackten Beton. Da spürte ich den Stress doch ziemlich heftig. Oder der eiserne Staketenzaun in Edinburgh, den ich einmal entlanggefahren bin – wäre ich da ausgerutscht, hätte ich mich an einer sehr empfindlichen Stelle aufspießen können.

Wenn ich mich innerlich auf einen Stunt vorbereite, muss ich es schaffen, den Schalter umzulegen – den Schalter der Entschlossenheit, wie ich ihn nenne. Das ist der Moment, in dem ich von ängstlichem Zaudern zu positivem Wagemut übergehe, aber bis dahin fahre ich oft stundenlang unentschlossen im Kreis. Manchmal führe ich sogar Selbstgespräche, um mit der extremen Belastung fertigzuwerden, wenn ich zum Beispiel einen Sprung von zehn, fünfzehn Meter Tiefe vor mir habe oder die Landung nach einem Hindernissprung, die gemeine Folgen haben kann, wenn ich sie vermassele. In solchen Situationen bin ich immer voller Selbstzweifel. Die Angst kriecht in mir hoch. Dann ist es an mir, den Schalter umzulegen und zu tun, was ich mir vorgenommen habe.

Ich stelle meine Füße auf die Pedale und spüre einen regelrechten Energieschub. In solchen Momenten schmilzt alles um mich herum einfach weg – der Wind, die Geräusche, die Angst, die Kameras. Ich bin dann voll auf den Stunt konzentriert und weiß instinktiv, wie ich ihn zu packen habe. Normalerweise bin ich ihn ja auch schon Hunderte Male in meiner Vorstellung durchgegangen. Jetzt muss ich es nur noch durchziehen, möglichst ohne dabei zu stürzen.

Oft werde ich gefragt, wie man sich während des Sprungs, wenn man tatsächlich durch die Luft fliegt, fühlt. Eigentlich bloß erleichtert. Es gibt keinen Adrenalinschub, keinen Überschwang. Es ist, als ob man sich endlich traut, was man sich vorher schon ewig lange vorgestellt hat. In der Regel komme ich erst wieder zu mir, wenn ich gerade – meistens unversehrt – gelandet bin. Danach folgt die Genugtuung, dass es geklappt hat, aber selbst die geht rasch vorüber. Erst wenn ich mir angeschaut habe, wie der Stunt im Film aussieht, entspanne ich mich – und dann wird vielleicht ein bisschen gefeiert.

Zugegeben, es läuft nicht immer alles nach Plan. Ich stürze vielleicht, oder die Landung gelingt nicht richtig, aber selbst das ist in jedem Fall besser, als vorher über den Lenker zu spähen und sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was wohl passieren wird, wenn es schiefgeht. Immerhin kann ich dann, auch wenn ich Mist gebaut habe, nachvollziehen, was ich beim nächsten Mal besser machen muss. Dann fällt es mir leichter, wieder an den Start zu gehen und es noch einmal zu versuchen – diesmal richtig, weil ich schon weiß, was mir bevorsteht.

Auf viele Leute wirken meine Stunts ziemlich unvorsichtig oder sogar lebensgefährlich leichtsinnig, aber ich sehe das anders. Ich habe sie im Griff, und auf zwei Rädern stehe ich sicherer als auf zwei Füßen. In Cascadia zische ich auf Dächern und Balkons entlang, die vielleicht einen halben Meter breit waren. Auf der einen Seite war es flach – Sicherheit; auf der anderen ging es mehrere Stockwerke tief hinunter – Verletzung, sehr schwere Verletzung. Allein die Höhe würde die meisten Leute in Todesangst versetzen, aber mir machte es nichts aus, da oben herumzufahren und von Dach zu Dach zu springen. Es kam mir nicht besonders gefährlich vor. Ich bin solche Lines (wenn auch zu ebener Erde) schon so oft gefahren, dass ich wusste, wie ich aufkommen muss, wenn ich stürze, um mich nicht zu verletzen. Meine Reflexe sind tatsächlich so gut, dass ich mein Gewicht in einem Sekundenbruchteil auf die sichere Seite verlagern könnte, sodass mich das Dach auffängt und ich nicht wie eine fallen gelassene Marionette unten aufs Pflaster klatsche.

Meistens denke ich sowieso nicht an die gefährliche Umgebung und sehe mich ganz woanders, wenn ich so etwas mache. Ich bin dann gar nicht auf diesem schmalen Mauerband mit dem Abgrund direkt neben mir, sondern wieder ein kleines Kind zu Hause im Garten, das den schmalen Pfad quer über den Rasen entlangfährt. Ich schaffte es schon damals, diese »Line« immer wieder entlangzufahren, ohne je aufs Gras zu kommen. Wenn ich mich innerlich in diese Kindheitsidylle zurückversetze, hilft mir das, die Folgen eines Sturzes zu verdrängen, weil … ich ja eben nicht falle.

Natürlich ist ein Unfall jederzeit möglich. An meinem Fahrrad könnte etwas kaputtgehen, sodass ich im schlimmstmöglichen Moment abgeworfen werde, aber insgesamt habe ich Vertrauen in mich selbst und in die Ausrüstung – die ich ja vorher überprüft habe – und weiß, was ich mir zutrauen kann. Danach kommt es nur noch darauf an, konzentriert zu bleiben. Außerdem bin ich der berechnende Typ. Ich bin einfach nicht tollkühn genug veranlagt, um es auf einen Stunt ankommen zu lassen, bei dem ich mich nicht wohlfühle.

Wenn ich so vorsichtig und besonnen bin, fragst du dich jetzt vielleicht, warum zum Teufel macht er dann diese gefährlichen Stunts? Na ja – ich bin ein kreativer Mensch, und ich gehe gerne an meine Grenzen. Außerdem finde ich Trials einfach toll. Ich bin schon als kleiner Junge Trials gefahren. Dann, als Jugendlicher, war es einfach nur eine coole Art, so richtig anzugeben, aber später, als ich in der schottischen Bike-Szene besser aufgenommen war, war ich richtig besessen davon. Und als ich schließlich meine ersten brauchbaren Videos gedreht hatte, mit fähigen und talentierten Regisseuren, wurde es zu einem Mittel, mich auszudrücken. Ich wurde immer einfallsreicher und fand in meinen Parts zu einem ganz eigenen Stil, den es so noch nicht gab.

Durch diese Videos wurde ich über die eigentliche Mountainbike-Welt hinaus auch im Mainstream der Medien bekannt und tauchte in Fernsehdokumentationen, Kinofilmen und Werbespots auf. Ich habe ein Angebot von einem koreanischen Zirkus erhalten, und für eine amerikanische Chat-Show sollte ich einmal, als Frau verkleidet, ein Rennen durch Chicago fahren. (Das musste ich leider ablehnen – mit High Heels komme ich schlicht nicht zurecht.) Als die Klicks meiner YouTube-Videos den zweistelligen Millionenbereich erreichten, hatte ich auf einmal Sponsorenverträge mit Red Bull und anderen Unternehmen dieses Kalibers. Doch eigentlich wollte ich nur mit meinem Fahrrad herumturnen. Dabei bin ich am glücklichsten und habe am meisten Spaß. Neue Tricks zu lernen und das Trial-Fahren mit meinen Videos voranzubringen – mit Hindernissen, die wirklich eine Herausforderung bedeuten, oder interessanten Studioparcours –, darum geht es mir. Der Rest ist nebensächlich.

Das sieht nicht jeder so. Inzwischen sind ein paar Filme zusammengekommen, und nach jedem gibt es kritische Stimmen. Auf YouTube kommentiert dann jemand, ich sei leichtsinnig gewesen. Ich spiele mit meinem Leben, wird mir gesagt. Aber neun von zehn dieser – übrigens wenigen – Kommentare stammen von Leuten, die eben nicht seit neunzehn Jahren Trials fahren. Es stört mich auch nicht besonders, wenn an den Videos herumgemeckert wird; lieber ist es mir aber, wenn die Zuschauer sie einfach so nehmen, wie sie gemeint sind: als kreative Projekte, die das Trial-Fahren in ein neues und aufregendes Licht rücken.

Aber zum Glück erlebe ich auch jede Menge Unterstützung. Das ist prima, weil ich nämlich diese wahnsinnigen Trials und die Videos gerne weitermachen möchte, solange ich nur kann. Allein deshalb riskiere ich nicht leichtsinnig mein Leben – ich will ja weitermachen, und eine gesunde Vorsicht wird mich nicht davon abhalten, meinen ehrgeizigen Zielen nachzugehen.

Bis jetzt hat sie das jedenfalls nicht …

Szene zwei

Aufblende.

Außen. Dannys Haus.

Kameraposition: am Loch Dunvegan auf der schottischen Insel Skye. Weiter weg ein Haus am Ufer des Sees. Zoom auf und durch das Fenster eines Kinderzimmers im Erdgeschoss. Auf der Fensterscheibe klebt ein Sticker mit dem Imaginate-Logo und dem Motto »Enter Danny’s Mind«.

Innen. Dannys Kinderzimmer.

Rückblende: Danny (8) sitzt mit gekreuzten Beinen auf dem Fußboden und spielt. Um ihn herum sind Plastiksoldaten, ein Formel-1-Spielzeugauto, leuchtend bunte Gummibälle und eine Rennbahn mit Loopings verstreut. Er ist gerade dabei, sich mit seinen Spielsachen einen imaginären Trial-Parcours aufzubauen. Im Radio spielt leise »Runaway« von Houston. Großaufnahme: Dannys Augen, während er ein Plastikfahrrad einschließlich Fahrer durch den Parcours steuert.

Gegenwart: Schnitt auf den erwachsenen Danny im Studio, der sich gerade darauf vorbereitet, die lebensgroße rekonstruierte Version seines Spielzeugparcours von damals anzugehen …

Imaginate, 2013

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Damals bei uns zu Hause

Als kleines Kind war ich kaum im Zaum zu halten.

Ich ging einfach viel zu gerne Risiken ein, und sowie Anne, meine Mum, mich mit sieben auf die Außenwelt losgelassen hatte, war ich nur noch draußen und streifte mit meinen Freunden durch die Wälder. Ich hackte Bäume um, zündete Lagerfeuer an und ließ Felsblöcke über Klippen krachen. Ich verdrückte mich immer dorthin, wo es keine Zeugen für meinen Zerstörungswahn gab. Stunden später schlich ich dann ziemlich kleinlaut nach Hause zurück – mit versengten Haaren, ein paar Kratzern und Beulen und einem Nagel im Fuß, der ziemlich wehtat. Ich wusste schon, dass Mum mir böse sein würde, weil ich gerade das vierte Paar Hosen im laufenden Monat zerrissen hatte. Auf manche hätte mein Verhalten sicher nicht mehr normal gewirkt, und in Glasgow oder London hätten mir meine Kinderstreiche womöglich Ärger mit den Behörden eingebracht. Zum Glück (für die Behörden) wuchs ich aber in Dunvegan auf der Insel Skye auf, und da konnte ich ungestraft den Wilden spielen.

In Wirklichkeit war das Chaos, das ich hinterließ, immer nur der Kollateralschaden etwas zu enthusiastischer Entdeckerfreude, und meine Eltern nahmen es gelassen, meistens jedenfalls. Wenn ich wieder einmal mit blutüberströmtem Gesicht oder einer Verbrennung zweiten Grades an den Händen zur Tür hereinstürmte, leistete mir Mum unerschütterlich Erste Hilfe. »Das war nicht gerade schlau von dir, Danny, das weißt du hoffentlich«, mahnte sie dann streng und untersuchte kopfschüttelnd meine neueste Verletzung. Mitleid gab es kaum. Manchmal bekam ich etwas zu naschen, damit ich beruhigt und beschäftigt war, während meine Eltern berieten, ob sie mich vierzig Meilen weit ins nächste Krankenhaus fahren sollten – aber das geschah nur, wenn es mich wirklich schlimm erwischt hatte.

Einmal, ich muss etwa acht Jahre alt gewesen sein, stieß ich auf einen alten eisernen Pflug, den Peter, mein Dad, an der Außenwand seines Museums aufgehängt hatte (zu dem Museum kommen wir noch). Er muss dreihundert Kilo gewogen haben und hatte an einem Ende eine Art Handgriff, der so furchtbar verrostet war, dass er messerscharfe Kanten hatte. Für mich aber war er nichts weiter als ein Klettergerüst. Es wäre doch klasse, sich mit den Händen dranzuhängen und ordentlich zu schaukeln! Ich sprang hoch und griff nach dem Gestänge, woraufhin das ganze Gerät auf mich herunterkrachte und das verrostete Griffende mir die Kopfhaut am Hinterkopf aufriss. Es tat ziemlich weh, und das Blut lief mir den Hals herunter.

Ich rannte, eigentlich nicht weiter besorgt, ins Haus zurück, um mich erneut zusammenflicken zu lassen, aber meine Mutter bemerkte natürlich, was los war. Sie verfiel nicht in Panik, sondern inspizierte ruhig die Wunde, wobei sie in den Schrank griff und mir eine Packung Schokoladenkekse hinhielt, das Einzige, was mich dazu brachte, bei der Wundversorgung stillzuhalten. Als sie festgestellt hatte, dass der Schnitt, hey, doch nicht so schlimm war, wie er aussah, wickelte sie mir einen Verband um den Kopf und ermahnte mich, in Zukunft besser aufzupassen. Im Nachhinein kann ich nur staunen, dass mir der Pflug nicht den Kopf abgehackt hat.

Versteh mich nicht falsch: Mum war ziemlich streng. Sie hat mir keinesfalls alles durchgehen lassen, besonders nicht, dass ich meine kleine Schwester drangsalierte – ein weiterer Lieblingszeitvertreib von mir. Heute, wenn ich als Erwachsener zurückschaue, ist das der einzige Punkt, an dem ich Gewissensbisse wegen meiner Kindheit bekomme. Aber ich sage mir, dass auch das meine Schwester zu dem Menschen gemacht hat, der sie heute ist.

War ich ungezogen, folgte irgendwann unweigerlich die Strafe, und meine Freunde hatten teilweise ziemlich Angst vor meiner Mutter, besonders wenn sie irgendwann »genug hatte« von meinen Streichen. Ich hatte übrigens auch Angst vor ihr. Wenn ich zu einem Freund oder in den Wald spielen gehen wollte, fragte ich meinen Dad, der viel leichter zu überreden war. Was meine Unfälle und Verletzungen anging, erklärte Mum mir später, habe sie sich lieber damit abfinden wollen, als mich in Watte zu packen. Sie verfolgte keine Strategie damit, mich etwa besonders abzuhärten, aber wenn ich wieder einmal wie ein Tasmanischer Teufel zur Tür hereingestolpert kam, wirkte Dad doch manchmal ziemlich besorgt. Ich glaube, er hat schon Angst um mich gehabt.

Ich war ständig auf Zerstörung aus, und zwar im großen Maßstab. Damit meine ich nicht Sachbeschädigung – ich habe mich nie an fremdem Eigentum vergriffen; gelangweilter oder bösartiger Vandalismus war nicht mein Ding. Aber ich fand es ungeheuer befriedigend, wenn ein Ast abbrach oder eine alte Mauer irgendwo weit draußen in sich zusammenstürzte. Wenn ich in der Schule gefragt wurde, was ich einmal werden wolle, sagte ich immer: »Abbruchunternehmer.« Mein Traum war, vom Sprengen leer stehender Gebäude zu leben, und dafür übte ich tagein, tagaus – draußen im Freien, oft mit Sperrmüll. Ich schmuggelte Dads Sägen in die Grundschule von Dunvegan ein, um während der Mittagspause Bäumen die Äste anzusägen, und als ich in einem Schuppen Opas alte Machete aus dem Zweiten Weltkrieg fand, wurde sie sofort zu einem wichtigen Werkzeug für meine Höhlenbauprojekte im nahen Wald.

Eines Tages gab es einen ziemlichen Aufruhr, als ich die Klinge während des Unterrichts zog, genauer gesagt, mitten in einer Kasperletheatervorstellung, was vielleicht nicht der beste Zeitpunkt war. Alles erstarrte in Panik, sogar Kasperle hörte volle fünf Sekunden lang auf, mit seinem Prügel auf Gretel einzuschlagen – da war es einem Nachwuchsunheilstifter doch tatsächlich gelungen, ihm die Schau zu stehlen. Der Lehrer schaute mich an, als wolle er sagen: »Was zum Teufel soll das jetzt wieder?«, beschlagnahmte die Machete und händigte sie nach dem Unterricht meinen Eltern aus, vermutlich mit ernsten Ratschlägen, ihren haumesserschwingenden Verrückten von einem Sohn besser in den Griff zu bekommen.

Ich fand es toll als Kind in Dunvegan. Skye, eine der nördlichsten Insel der Inneren Hebriden, ist sehr abgelegen und Dunvegan nur ein idyllisches Fischerdorf mit vielleicht 350 Einwohnern. Im Sommer kamen Touristen ans Seeufer, um Dunvegan Castle und die malerischen Hügel der MacLeod’s Tables zu besuchen. Von unserer Straße aus konnte ich bis zu den Black Cuillins hinaufschauen, einer fast tausend Meter hohen Bergkette, die vom Inaccessible Pinnacle, der »Unbezwingbaren Zinne«, gekrönt wird, einem scharfen Felsgrat von nur hundertfünfzig Meter Länge. Das zerklüftete Felsgelände sollte später die Location für The Ridge, eines meiner beliebtesten Videos, abgeben; meine anfänglichen Abenteuer dort oben waren aber vergleichsweise harmlos. Wir gingen in den Teichen der Fairy Pools am Fuß der Berge schwimmen, aber es war noch lange hin, bis ich auf die Idee kam, die Respekt einflößenden Gipfel zu bezwingen.

Das Zentrum Dunvegans bildeten einige Pubs, der Polizeiposten, ein paar Läden und ein kleines Hotel – kaum genug für eine Vororthauptstraße, aber für den ganzen Nordwesten der Insel reichte es. Die Mitte von Dunvegan war sozusagen der Times Square oder Sunset Boulevard von Nordwestskye. Die Einheimischen kamen oft genug zwölf Meilen weit gefahren, nur um Lebensmittel einzukaufen und sich die Zeitung zu holen. Für einige von ihnen waren wir, die wir im Dorf selbst wohnten, praktisch Stadtmenschen.

Dunvegan war für mich ein natürlicher Trainingsparcours. Auch ohne die Läden war für einen abenteuerlustigen Jugendlichen wie mich dort genug los – in den Wäldern, am Strand und in den Felsen. Schon als Kleinkind war ich davon besessen, von den höchsten Klippen zu springen, die ich finden konnte. Bei uns zu Hause im Tigh na Bruiach, dem »Haus am Hügel«, gab es im Garten einen riesigen Spielplatz aus Schaukelseilen, Klettergerüsten und einem Baumhaus, das Dad aus alten Torpedotransportkisten gebaut hatte (Gott weiß, wo er die aufgetrieben hatte). Auch aus diesem Spielplatz machte ich einen Hindernisparcours, und schon als Vierjähriger kletterte ich auf die Bäume und sprang krachend wieder herunter.

Diese Leidenschaft hat mich nie verlassen, und bei einem meiner Kindergeburtstage – mit neun, glaube ich –, spannten wir aus ein paar alten Tornetzen Fangmatten zwischen den Bäumen. Sie sahen wie Hängematten aus, und wir Kinder ließen uns mit Begeisterung hineinfallen. Möglichst weit durch die Luft zu segeln begeisterte mich derart, dass ich es mir zur Aufgabe machte, die Landezone zu erweitern. In der Schule arbeitete ich heimlich an Bauplänen für den Garten und dachte mir mit meinen Freunden immer tollkühnere und weitere Sprünge aus, um die Flugweite über die Netze zu steigern.

Zum Glück für mich gab es jede Menge Baumaterial am Strand. Am Wochenende suchte ich mit ein paar Freunden die Küste nach Treibgut ab. Wir sprangen von einem Gezeitentümpel zum nächsten und hielten Ausschau nach angeschwemmten Fischernetzen und Holzplanken. Wir fanden immer mal ziemlich große Treibholzstücke, lange hölzerne Latten zum Beispiel. Für die meisten Leute war das einfach nur Müll, für uns aber ideales Feuerholz. Tauwerk, zäh und haltbar, war ideal für den Garten. Das Zeug zu transportieren war allerdings nicht leicht. Ein großes Fischernetz kann leicht eine Tonne wiegen, und es kostete uns manchmal das ganze Wochenende, es bis zu einem geschützten Platz zu schleppen, mitunter drei oder vier Meilen weit. Am nächsten Wochenende kamen wir dann wieder und schleppten es weiter. Wenn wir es endlich bis zur Straße bugsiert hatten, zerrte Dad es auf die Ladefläche seines Pick-ups und fuhr mit uns nach Hause.

Dort durchsuchte ich Mums Küchenschubladen nach Werkzeugen und kletterte damit in den Netzen herum. Gewöhnlich benutzte ich ihr großes Vorlegemesser, um lose Enden abzuschneiden. Die Schärfe der Klinge hatte ich vorher an den Kanten von Bücherregalen und Türrahmen geprüft. War sie scharf genug, kletterte ich, das Messer zwischen den Zähnen wie ein jugendlicher Jack Sparrow, in die Bäume, um damit auf die im Garten gespannten Netze einzuhacken. Wenn es dunkel wurde, blieb es dann vergessen draußen zurück.

Wenn es Zeit war, Essen zu machen, fing Mum an, nach ihren guten Küchenmessern zu suchen. Fand sie in der Küche keine mehr, wusste sie, wem sie das zu verdanken hatte. Sie knallte die Schublade zu und fixierte mich streng.

»Daniel, bring sofort meine Messer zurück, oder ich schieß dich zum Mond!«

Mürrisch kletterte ich dann noch einmal in die Netze – gewöhnlich war es dunkel und regnete –, um ihre Küchenmesser zu suchen, die ich irgendwo in die Rinde eines Baums gerammt hatte.

Ich war schon ziemlich ungezogen. Meistens hatte das Unheil, das ich anrichtete, etwas mit Streichhölzern zu tun. Im Garten zündete ich riesige Scheiterhaufen an, die ich mit Benzin aus Dads Schuppen in Gang brachte – oder jeder anderen brennbaren Flüssigkeit. Ich überschüttete einen großen Haufen Treibholz und Torfstücke mit meinem Brandbeschleuniger und sah dann mit großen Augen zu, wie alles in Flammen aufging. Manchmal waren meine Feuer so groß, dass dichte schwarze Qualmwolken durch die Straßen zogen, die das ganze Dorf einhüllten. Man fühlte sich wie im Krieg.

Als Mum und Dad bemerkten, dass ich mich zum Pyromanen entwickelte, versteckten sie die Streichhölzer. Brennbare Flüssigkeiten waren plötzlich aus dem Haus verschwunden. Aber das hielt mich natürlich nicht auf. Ich wusste mir zu helfen. Streichhölzer mit dem schönen Namen »Swan Vesta« gab es ohne Probleme im Dorfladen, und in der Autowerkstatt fand niemand etwas dabei, wenn ein Achtjähriger Rasenmäherbenzin »für Dad« holte.

Ich bekam einige Verbrennungen ab. Ich steckte sowohl meine Beine wie auch beide Arme in Brand, und es war ein Wunder, dass es glimpflich abging. Aber es war knapp. Schnell lernte ich, wie gefährlich Streichhölzer in Verbindung mit Benzinkanistern sind – das brennende Zeug floss mir manchmal hinterher, wenn ich davonlief. Ebenso fasziniert waren meine Freunde und ich vom Bleigießen. Einmal warfen wir einen Topf mit geschmolzenem Blei um, und ich schaute fasziniert zu, wie ein Tropfen, der mir auf den Handrücken gespritzt war, sich zischend in meine Haut grub. Vermutlich habe ich das Blei immer noch in mir, zusammen mit der chirurgischen Stahlplatte und ihren Schrauben, die seit einem Unfall vor einigen Jahren mein Schlüsselbein zusammenhält. Bei Sicherheitskontrollen am Flughafen muss ich jedes Mal ziemlich viel erklären.

Eine weitere Leidenschaft, die ich als Achtjähriger hatte, waren Felsblöcke, die ich von den Klippen stürzte. Mit Klassenkameraden unternahm ich oft Expeditionen in die MacLeod’s Tables, zu denen wir sogenannte Pinch Bars mitnahmen – massive Stemmeisen, fast zwei Meter lang –, um damit Findlinge auszuhebeln. Diese Hügel waren unser Spielplatz, egal, wie das Wetter war – auch wenn es stürmte und eisiger Regen uns ins Gesicht prasselte, ich zog meine gelben Gummistiefel an (Sicherheit hat Vorrang) und machte mich auf, den größten Felsen, den ich finden konnte, über die Kante des Kliffs ins Meer krachen zu lassen. Einiger dieser losen Felsblöcke waren wirklich groß – viel größer als ich –, und um den Pinch Bar besser ansetzen zu können, kletterte ich auf sie drauf. Sicherheitshalber seilte ich mich an; meine Freunde hielten das andere Ende des Seils und würden mich hoffentlich halten können, falls der Fels vorzeitig abstürzte. Wenn ich spürte, dass er ins Rollen kam, sprang ich rasch ab und sah zu, wie er die Klippen hinunter ins Meer donnerte.

Ich weiß nicht, woher ich diese Neigung zu Hochrisikoverhalten eigentlich habe. Mum arbeitete bei einem örtlichen Bauunternehmer im Büro, und Dad war Kurator des Giant MacAskill Museum, einer Sammlung, die unserem berühmten Vorfahren Angus MacAskill gewidmet ist. Der war volle 2,36 Meter groß und damit nach der Definition des Guinnessbuchs der Rekorde der »größte nicht krankhafte Fall von Riesenwuchs«. Von der Figur her war er ein Schrank von Mann – sein beeindruckender Brustumfang von zwei Metern war der größte je bei einem nicht Fettleibigen gemessene.

Auf seiner Heimatinsel Berneray, wo er 1825 zur Welt kam, wurde Angus damit ziemlich berühmt. Als sich herumsprach, dass er sich zwei Fässer mit jeweils 150 Liter Portwein unter die Arme klemmen und sie herumschleppen konnte, ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten, erhielt er ein Engagement als Attraktion vom weltberühmten Barnum-Zirkus. So verdiente er seinen Lebensunterhalt durch Tourneen, die ihn durch ganz Nordamerika führten. Er geriet in viele Schlägereien (wahrscheinlich hat er meistens gewonnen) und vollbrachte erstaunliche Kraftakte – unter anderem konnte er ein ausgewachsenes Pferd über einen 1,20 Meter hohen Zaun heben. Meinen Dad faszinierte der berühmte Vorfahr so sehr, dass er 1989 das Giant MacAskill Museum eröffnete, das er bis heute kuratiert und das zu einer Sehenswürdigkeit auf der Insel Skye geworden ist. Viele Touristen reisten an, die sich über Angus’ Leben informieren wollten. Als ich klein war, erzählte ich meinen Mitschülern stolz, in unserer Familie habe es ein echtes Monster gegeben.

Je mehr ich mich mit meinen Videos befasse und mich in wagemutige Stunts stürze – zum Beispiel indem ich mit dem Rad von einer Klippe ins Meer oder von einem Dach zum anderen springe –, desto deutlicher wird mir, dass ich vermutlich eine Menge von Dads kreativem Geist geerbt habe. Kurator eines Museums über einen Riesen in der Familie ist eigentlich ein ziemlich verrückter Beruf, aber er ergriff die Gelegenheit, als sie sich bot, weil er glaubte, das könne interessant werden. Dad hat sein Geld noch nie auf alltägliche Weise verdient. Was das abenteuerliche Leben angeht, folge ich ihm wohl nach.

Im Vergleich mit Angus wirken die anderen Familienmitglieder eher kurz gewachsen. Ich selbst wurde am 23. Dezember 1985 geboren. Ich habe eine zwei Jahre jüngere Schwester, Margaret Ishbel, zwei Stiefbrüder, Ewen und Robin, sowie zwei Stiefschwestern, Mary und Muriel, aus einer früheren Ehe meines Vaters. Meine Stiefgeschwister sind einige Jahre älter als ich und haben nie bei uns gewohnt, sondern wuchsen in einem Dorf namens Borreraig auf, von uns aus gesehen am anderen Ufer, und das war vielleicht auch besser so. Ewen, ein begeisterter Motorradfahrer, hat sich einmal bei einem Unfall die Wirbelsäule und beide Beine gebrochen, Robin ist ein ausgezeichneter Kitesurfer, und Mary hat sich den Arm zertrümmert, als sie und meine Stiefbrüder auf einem Feld irgendwelchen Unsinn mit Autos anstellten. Margaret Ishbel, meine Schwester, ist ein ziemliches Original, immer für einen dramatischen Auftritt gut und auf der ganzen Insel als Maggie Mayhem (»Chaos-Maggie«) bekannt. Als Kind hatte ich wohl einen ähnlichen Ruf. Die MacAskills leben draußen in der Wildnis, werden die Bewohner von Skye gedacht haben, und müssen selbst für ihre Unterhaltung sorgen.

Wie Mum mit den ganzen Sorgen, die ich ihr machte, fertiggeworden ist, weiß ich nicht. Sie hat meinetwegen bestimmt Albträume gehabt. Immerhin, ich musste nie ins Krankenhaus, was eigentlich ein Wunder ist. Ich holte mir Schnittwunden und schlug mir fies den Kopf an, aber ich glaubte lange, ich müsse wohl aus Gummi sein, weil ich mir nie einen Knochen brach. Der erste schmerzhafte Unfall, an den ich mich erinnere, war dann der Zusammenstoß mit einem Stapel Stühle, als ich einen Gang in der Schule entlangrannte, bei dem ich mir ein paar Rippen anknackste. Aber meistens stand ich einfach wieder auf, wenn ich von einer hohen Mauer gesprungen war, und machte weiter; Schmerzen und Verletzungen ignorierte ich.

Einmal fiel ich zu Hause im Garten von einem Baum. Ich stürzte ungefähr sechs Meter tief, landete voll auf dem Rücken und schlug mit dem Hinterkopf auf, sodass ich das Bewusstsein verlor. Keine Ahnung, wie lange ich auf dem Rasen gelegen habe. Als ich zu mir kam, kroch ich zum Haus zurück und wurde auf der vorderen Terrasse erneut ohnmächtig, bevor mich jemand fand. Erstaunlicherweise war ich sofort wieder auf dem Damm. Zum Arzt wollte ich absolut nicht, und schon am Tag darauf kletterte ich abermals in den Bäumen herum und überlegte mir verrückte neue Sprünge in die Netze. So übte ich für ein Leben, in dem es darauf ankommt, vorsichtig zu sein und Unfälle zu vermeiden. (Auch wenn es für alle anderen so aussieht, als suchte ich die Gefahr geradezu.)

Szene drei

Aufblende

Außen. Loch Dunvegan.

Ein Wohnmobil mit Danny und seinem Fahrrad kurvt auf der A850 durch die schottischen Highlands in Richtung Dunvegan.