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Für all jene, die standhalten.
Und weitermachen.

Das Zitat stammt aus:

Philip Roth, Amerikanisches Idyll

Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz

© 1998 Carl Hanser Verlag München Wien

Übersetzung aus dem Italienischen von von Esther Hansen

ISBN 978-3-492-97625-1

März 2017

© Lorenzo Marone, 2017

Published & translated by arrangement with Meucci Agency – Milan

Die italienische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Magari domai resto« bei Feltrinelli, Mailand.

Deutschsprachige Ausgabe:

© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017

Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin

Covermotiv: Robin Macmillan/Trevillion Images und sorendls/iStockphoto

Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen

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Man muß ja seine Familie nicht vergöttern,
man muß ja sein Land nicht vergöttern,
man muß ja seinen Wohnort nicht vergöttern,
aber man muß doch wissen, daß man das alles hat,
man muß doch wissen, daß man dazugehört.

Philip Roth, Amerikanisches Idyll

HIER LEBE ICH

Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber ich habe gelesen, dass verheiratete Frauen in Vermont sich für ein Zahnimplantat die Erlaubnis ihres Mannes einholen müssen und dass ledige Frauen in Swaziland Männern nicht die Hand geben dürfen. In Montana wiederum ist es ihnen untersagt, sonntags (?) alleine angeln zu gehen. Und in Florida droht ihnen eine Gefängnisstrafe, wenn sie sonntags (?) Fallschirm springen möchten. In Utah dürfen sie nicht unter Eid aussagen. In Indonesien ist es ihnen verboten, sich rittlings auf ein Motorrad zu setzen, in Saudi-Arabien dürfen sie nicht Auto fahren, und in Arkansas können Männer legal ihre Frauen schlagen, aber nur einmal im Monat. Auch in South Carolina ist es erlaubt, die eigene Frau zu verprügeln, aber wiederum nur sonntags und ausschließlich auf den Stufen des Gerichtsgebäudes vor acht Uhr morgens (also nur etwas für Frühaufsteher).

In unserem Land sind die Frauen zum Glück in der Lage, tun zu dürfen, was sie wollen (meistens jedenfalls), wenigstens gibt es hier keine derart zurückgebliebenen, hirnrissigen Chauvigesetze. Und selbst wenn es sie gäbe, würde sich wohl keine Frau aus meinem Viertel daran halten: Verbote werden hier nicht gerne gesehen, man betrachtet sie eher als eine Art Vorschlag.

Wir sind in Neapel.

Im Spanischen Viertel.

Hier lebe ich.

Ich heiße Luce.

Und ich bin eine Frau.

AM LIEBSTEN SCHREIEN

Alleria, der struppige Mischling, der seit einiger Zeit über mein Leben wacht, stellt die Ohren auf und beginnt zu bellen, während Pino Danieles gleichnamiges Lied durch die kleine Wohnung hallt, in der ich mein Leben friste (fünfunddreißig Quadratmeter inklusive Bad und Minibalkon auf eine dunkle, übel riechende Gasse hinaus). Ich lege mein Schminkzeug weg und gehe zur Sprechanlage.

»Luce, kommst du runter? Ich warte.«

»Ja, bin sofort da.«

Avvocato Arminio Geronimo ist siebzig Jahre alt, ein untersetzter Mann mit zwei seitlich abstehenden Haarbüscheln, die der Schwerkraft trotzen, einem borstigen Gebüsch aus Augenbrauen, einem fast ungepflegt zu nennenden Bart, gelben, schief sitzenden Zähnen und einem Hemd, dessen obere Knöpfe wie immer offen stehen und unter dem (neben ein paar weißen Haaren und einem iPhone-großen, aufwendig verzierten Goldkreuz) das beliebte »Funktionsshirt« hervorlugt. Kurz gesagt, kein schöner Anblick. Das Problem ist nur, dass dieser Mann, der seit über einem Jahr um mich herumtanzt, mein Chef ist, also derjenige, der mir Monat für Monat mein kümmerliches Gehalt zahlt.

Jahrzehntelang hatte er sich als Scheidungsanwalt einen Namen gemacht, kaum ein Ehepaar in Neapel, das sich in den letzten vierzig Jahren nicht vor oder mithilfe von Avvocato Geronimo Gemeinheiten an den Kopf geworfen hätte. Mitte der Neunziger setzte dann die große Zeit des Versicherungsbetrugs ein, und der gute Arminio, der schon immer ein Näschen für außereheliche Techtelmechtel hatte, roch den Braten und stürzte sich ins Geschäft, während er die Scheidungsfälle seinem engsten Mitarbeiter Manuel Pozzi überließ.

In wenigen Jahren baute sich Geronimo mithilfe von Freundschaften und unter Verzicht auf jegliche Skrupel ein wahres Imperium auf, konstruierte ein perfekt geschmiertes Räderwerk, in dem alles ineinanderläuft und das ihm und seinen Mitstreitern bemerkenswerte Versicherungssummen in die Kassen spült. Arminio sitzt im Zentrum eines dicht gewebten Netzes, das Tag für Tag Verkehrsunfälle vortäuscht und den machtlosen Assekuranzen Entschädigungen im vierstelligen Bereich abtrotzt, die ihre Kosten wiederum regelmäßig auf die Schwächsten umlegen, indem sie hanebüchene Summen für die Versicherung eines einfachen Mofas verlangen. Was auch der Grund ist, warum ich auf einer zerbeulten orangefarbenen Vespa von 1982 herumfahre, was aber hier nicht weiter interessiert, ich wollte ja von Geronimo erzählen. Zu seinem Team gehören eine Menge dunkler Gestalten aus dem Spanischen Viertel, aus Borgo dei Vergini und Forcella. Darunter junge Kerle, billige Handlanger, die sich über ein paar Scheine am Monatsende freuen, aber auch andere wie »Händchen« (der wegen seiner zarten Finger so genannt wird, die sich im Bus flink in die Handtaschen der Damen schlängeln) oder »Hühner-Peppe« (wegen seiner staksigen, stark behaarten Beine), wahre Profis auf ihrem Gebiet, die immer wieder in Unfälle verwickelt sind, mal als Geschädigte, mal als Verantwortliche oder auch nur als Augenzeugen. »Händchen« hat zu allem Übel nicht einmal einen Führerschein, trotzdem taucht er in über achtzig Verkehrsdelikten auf. Geronimo jedenfalls koordiniert und dirigiert von übergeordneter Stelle aus sämtliche Mitspieler des kriminellen Systems.

Nun stellt sich natürlich die Frage, wie und an welchem Punkt sich der Weg einer ehrlichen, ordnungsliebenden Frau wie mir, die pünktlich ihre Strafzettel zahlt, mit dem Arminio Geronimos kreuzen konnte. Das ist schnell erzählt. Nach dem Studium verdingte ich mich als weiblicher Laufbursche für verschiedene Anwaltskanzleien in und um Neapel. »Bevor du Anwältin wirst, musst du dir deine Sporen verdienen«, hieß es immer.

Monatelang war ich also auf der Vespa zwischen Gerichten, Kanzleien und Notariaten unterwegs, in dichtem Regen und sengender Sonne, bis ich eines Tages die Nase gestrichen voll hatte. Ich war die Königin der Sporen, ich kannte sämtliche Gerichtsgebäude Kampaniens, bewegte mich versiert auf allen Fluren des Rechtsapparats und verstand es, mir die Gunst der Gerichtsschreiber zu sichern. Dafür hatte ich noch nie eine Abmahnung verfasst, von allem anderen ganz zu schweigen. Als mir meine Mutter eines Tages von der Kanzlei Geronimo berichtete, wo man schnell etwas lernen konnte und vom ersten Tag an Geld verdiente, zögerte ich nicht.

Mit meinem Summa-cum-laude-Examen (was ja die Kandiskirsche auf der Buttercremetorte sein soll, nur dass ich bis heute noch keine Buttercremetorte zu Gesicht bekommen habe) bewegte ich mich von da an ausschließlich in der trüben Welt von Betrügern und Kleinganoven. Mit dem erschwerenden Umstand, dass ich, anders als Arminio Geronimo, nicht einmal reich dabei wurde.

In den Straßen der Stadt ist der Avvocato eine Respektsperson, wenngleich seine Mitarbeiter und Kollegen ihn weit weniger wertschätzen, sondern ihn zum Teil für das halten, was er ist: ein Aasgeier! Doch bisher hat sich anscheinend niemand getraut, ihm das ins Gesicht zu sagen und ihn sich zur Brust zu nehmen, auch nicht die Frauen, bei denen er sich Vertraulichkeiten erlaubt, die ihm nicht zustehen. Alle halten brav ihren Mund, alle außer mir.

Eines Nachmittags vor ein paar Monaten war ich wegen meines damaligen Freundes ziemlich geladen, der mich gerade per SMS hatte wissen lassen, er sei sich nicht mehr sicher, ob er etwas Ernsthaftes mit mir wolle. Er brauche Zeit zum Nachdenken. Ich schloss mich also auf der Toilette der Kanzlei ein und rief ihn an, um ihm lautstark mitzuteilen, dass ich ihn nie um Ernsthaftigkeit gebeten hätte und er sie sich sonst wohin stecken könne, da ich von Kindesbeinen an ein Übermaß an Ernsthaftigkeit genossen hätte und nun bestens mit diesem schäbigen, ironischen Leben klarkäme, das mir wenigstens hin und wieder ein Lächeln entlocke. Fakt ist, dass der Hundsfott sein wenig ernsthaftes Leben lieber allein verbringen wollte. Er packte seine Koffer und sagte, er werde sich bei mir melden. Zwei Tage später erfuhr ich, dass er mit Freunden nach Thailand gefahren war, woraufhin ich eine hoffentlich grenzüberschreitende Nachricht absetzte, die in etwa so lautete: »Ich wünsche mir, dass du mal wieder so richtig Scheiße baust und die thailändische Polizei dich für immer einlocht!« Darunter setzte ich ein kräftiges »Leck mich!«, was in solchen Fällen nie verkehrt ist.

Letztlich war es kein großer Verlust, denn obwohl ich mir anfangs hartnäckig das Gegenteil einredete, fehlte mir der Mistkerl keine Sekunde. Richtig schwierig war nur der erste Abend, den ich mit einem Joghurt vor dem Computer verbrachte. Halt, stopp, der Joghurt ist eine Lüge, den hatte ich mir nur am Nachmittag vorgenommen, um mir zu beweisen, dass nichts mein Leben erschüttern könne und alles so weitergehe, als ob nichts gewesen wäre. Und zu den Dingen, die bei mir immer weitergehen, gehört unter immensen Mühen meine permanente Diät.

Seit ich fünfzehn bin, halte ich Diät, seit dem Tag, als ein Klassenkamerad mit den Gesichtszügen eines Neandertalers sich einen Witz über meine Polster am Hinterteil erlaubte und mit den anderen Menschenaffen um ihn herum in lautes Gelächter ausbrach. Nun bin ich fünfunddreißig und kann mit einem gewissen Stolz behaupten, dass mein Kampf gegen die oben genannten Polster seit über zwanzig Jahren währt, mit allen Höhen und Tiefen. Als ich noch mit dem Mistkerl zusammenlebte, war ich gegenüber der Cellulite klar im Vorteil, weshalb ich mir vornahm, mich wegen des bisschen Liebeskummers nicht von meinen erbitterten Polsterfeinden unterkriegen zu lassen. Doch als ich nach Hause kam, erwartete mich dort einzig und allein das Brummen des Kühlschranks, und alle guten Vorsätze zerfielen augenblicklich zu Staub. Ich setzte mich vor den Computer und schüttete eine Flasche Bier in mich hinein, kombiniert mit einer Familienpackung Käsechips, die der Mistkerl drei Tage zuvor noch gekauft hatte (was mich zu der Überlegung brachte, ob auch sie schon Teil des gemeinen Plans waren und er in der ganzen Wohnung Unmengen natürlicher Sedativa verteilt hatte, um sich vor meinen hysterischen Ausbrüchen zu schützen). Am Ende schleckte ich meine Finger blitzblank und stellte die Vorratskammer auf den Kopf, wo ich auf meinen Erzfeind stieß, ein Ein-Kilo-Glas Nutella, noch ungeöffnet. »Verflucht sollst du sein, wo immer du bist«, raunte ich in den leeren Raum und versenkte den Löffel tief in dem braunen Labsal.

Tatsächlich schaffte ich es, den ganzen Abend nicht zu weinen, obwohl mir diese paar Quadratmeter im vierten Stock eines heruntergekommenen Wohnhauses in besagtem Viertel plötzlich noch elender vorkamen als der elende Hundsfott, der gerade die Koffer gepackt hatte. Dabei hatte ich sie bei der ersten Besichtigung als Luxusbehausung wahrgenommen. Vielleicht hatte dies mit der Aussicht zu tun, mich endlich der übergriffigen Aura meiner Mutter entziehen zu können, oder dass ich tief in meinem Unterbewusstsein (mit dem ich normalerweise wenig Kontakt pflege) immer noch an romantische Märchen glaubte. Jedenfalls verwechselte ich dieses muffige Loch mit einem Liebesnest.

Der schlimmste Moment kam nach dem Abendessen, als ich bemerkte, dass der Müll vom Vortag noch nicht hinuntergetragen war, was traditionell »Männersache« war, wie mein Vater immer gewitzelt hatte. Nur dass an diesem Abend eben glücklicher- oder unglücklicherweise kein Mann in der Nähe war und ich daher den stinkenden Sack selbst aufnahm und auf die stille Gasse hinuntertrug, an einem Montag im beginnenden Frühling. Bei den Mülltonnen angelangt, warf ich den Sack hinein und machte kehrt. Auf ein Winseln hin blieb ich stehen und sah mich um: keiner da. Ich wollte gerade weitergehen, als ich das zweite Jaulen hörte, das genau aus den Mülltonnen zu kommen schien. Ich trat näher und streckte den Kopf hinein. Dort drinnen saß in einem Karton, die kleine Schnauze hervorgestreckt, ein Hundewelpe und blickte mich mit glänzenden Augen an.

»Wie kommst du denn hierher?«, entfuhr es mir.

Ich sah mich noch einmal um, keine Menschenseele weit und breit, und für einen Moment überlegte ich, einfach wegzugehen. Aber nur für einen winzigen Moment, ich schwöre es, dann packte ich den Hund und trug ihn hinein, nicht ohne auf das Menschenpack zu fluchen, das ihn ausgesetzt hatte.

»Was ist das denn für ein süßes Mäuschen?«, fragte Patrizia, die vor ihrer Wohnungstür stand und rauchte.

Patrizia ist eine nette junge Frau, die im Erdgeschoss in einem feuchten Apartment wohnt, das früher wohl mal dem Portier vorbehalten war. Ihr richtiger Name ist Patrizio, denn sie ist ein Mann mit Adlernase und kantigen Kiefern, der irgendwann beschlossen hat, dass er sich als Frau wohler fühlt, weshalb er jetzt maskiert wie eine Soubrette durchs Leben läuft, mit Marilyn-Monroe-gesprayten Haaren, zwei Kajalstrichen unter den Augen, die Kleopatra Ehre machen würden, mit ellenlangen Fingernägeln in allen möglichen Farben, einem Hartschalen-Push-up, aus dem wie einbalsamiert wirkende Kunsttitten hervorschauen, und in einem Minirock, der kaum über die Pobacken geht, die tatsächlich sehr weiblich sind. Kurz gesagt, Patrizia ist ein »femminiello«, wie man in Neapel sagt, ein Transvestit, der für seinen Lebensunterhalt auf den Strich geht, wie manche hier behaupten. Ich habe ihn allerdings noch nie in Begleitung gesehen, aber was soll’s.

»Den habe ich in der Mülltonne gefunden«, gab ich zur Antwort.

Patrizia machte große Augen. »Was gibt es nur für böse Menschen«, meinte sie und kam mit ihrem vampartigen Gang heran, in eine Duftwolke aus süßlichem Parfüm gehüllt, mit dem sie sich Tag und Nacht umgibt. Aus dem Raum hinter ihr erklang billige Popmusik, gefolgt von einer jaulenden Stimme, die etwas in Dialekt sang. Patrizia ist nämlich auch ein großer Fan von diesen neumodischen neapolitanischen Liedermachern, die sie rund um die Uhr in voller Lautstärke hört.

»Möchtest du ihn?«, fragte ich.

»Ich?« Sie verschränkte schnell die Arme vor der Brust.

»Ja.«

»Ach, wie soll ich das schaffen, Lulù. Ich habe so viel zu tun!«

Keine Ahnung, warum Patrizia mich so gerne Lulù nennt – als Einzige. Jedenfalls scheint sie Diminutive zu mögen, deshalb lässt sie sich auch Patty nennen, mit Ypsilon, wie sie gerne betont.

»Na gut«, sagte ich, »dann nehme ich ihn erst mal mit zu mir.« Ich betrat den Aufzug.

»Brave Lulù, du hast ein großes Herz.« Mit großer Geste verschwand sie in ihrer Wohnung.

Und so trat Alleria, was auf Neapolitanisch »Fröhlichkeit« bedeutet, in mein Leben, an einem tristen Abend, an dem ich schon fast meine Würde als Frau, die Hoffnung auf ein geordnetes Leben und meinen Kampf gegen die Fettpolster verloren geglaubt hatte.

Ich stellte ihm Milch hin und bereitete ihm aus dem Kopfkissen des Mistkerls einen Hundekorb (nicht ohne eine gewisse Befriedigung), dann warf ich mich aufs Bett, ohne mich auszuziehen. Nur dass der am Fußboden kauernde Hund nicht zu winseln aufhörte. So, wie ich ihn aus der Tonne gezogen hatte, war er nicht gerade ein hübscher Anblick, um ehrlich zu sein. Sein Fell war zerzaust und seine Augen irgendwie verschleimt. Ich zögerte, gab aber am Ende mit einem »Na gut« nach und holte ihn zu mir ins Bett. Er wedelte mit dem Schwanz und steckte mir seine Schnauze unter die Achsel.

Am nächsten Tag ging ich mit ihm zum Tierarzt und gab ihm den Namen Alleria, nach dem Lied von Pino Daniele, in dem er »am liebsten schreien« würde, genau wie ich an diesem Abend. Vor allem aber nannte ich ihn so, weil ich bei den Zuneigungsbekundungen dieses kleinen Wesens beschlossen hatte, dass mein Leben sich durch diesen Mischling und durch ein zerstörtes Liebesnest nicht ändern würde. Nein, mein Leben würde sich durch die Fröhlichkeit, besser gesagt durch eine ironische Haltung verändern, die mich seitdem begleitet und ihr Spiel treibt mit mir und mit ihm.

Mit dem Leben.

VEITSTANZ

Doch wir sprachen von der peinlichen Szene mit Arminio Geronimo, der ja immer noch mein Chef ist. Ich war also schon ziemlich wütend, sodass ich meine leidlich guten Manieren, die ich bei der Arbeit hin und wieder an den Tag lege, vergaß und beschloss, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. Man muss aber auch sagen, dass der arme Mann mich unglücklicherweise direkt im Anschluss an das Telefonat mit dem Mistkerl in sein Büro rief. Ich stand also mit hochroten Wangen vor ihm, die selbst einer Heidi auf der Alm Konkurrenz gemacht hätten, die Bluse war mir wann auch immer aus der Hose gerutscht (vielleicht bei meinem ersten hier nicht wiederzugebenden Fluch oder als der Mistkerl zu seinem sinnfreien Gestammel ansetzte), die Haare wirr und der Puls auf hundertachtzig. Geronimo hob den Kopf, sah mich an und sagte: »Meine Güte, Luce, was ist denn mit dir los heute Morgen?«

Als ich nicht antwortete, gab der Avvocato den Satz von sich, der für immer unsere Beziehung ändern sollte: »Weißt du was? Du siehst aus wie nach einer wilden Sexnacht.« Es folgte ein lautes Lachen. Die oben erwähnte Wut (die sich in Neapel unversehens zu einer handfesten cazzimma auswachsen kann, zu der ich später noch komme) nahm Fahrt auf: Ich wurde noch röter auf Gesicht und Dekolleté (keine Ahnung, warum meine Haut hier immer rot wird wie glühende Kohle für ein Dutzend Grillwürstchen), trat mit drei großen Schritten an seinen Schreibtisch und erwiderte: »Avvocato, woher nehmen Sie eigentlich die Frechheit für Ihre ganzen Vertraulichkeiten, wenn ich fragen darf? Was wissen Sie schon von meinem Sexleben, und überhaupt, scheren Sie sich lieber um sich selbst, denn wenn Sie sich im Bett so benehmen wie im Büro, kann mir Ihre Frau nur leidtun!«

Er riss die Augen auf, schob mit einer heftigen Bewegung seinen Stuhl zurück und musterte mich stumm. Dann legte er die Hände auf den Schreibtisch zurück, sah mich scharf an und sagte nach einer schier endlosen Minute: »Luce Di Notte, für das, was du gerade gesagt hast, könnte ich dich feuern, ist dir das klar?«

Luce Di Notte ist mein voller Name. Ich weiß, weniger ein Name als vielmehr eine Vollkatastrophe, aber was kann ich dafür, wenn mein Vater damals den einen oder anderen Joint zu viel rauchte? Bei diesem Namen könnten wir uns stundenlang aufhalten, denn bis heute weiß ich immer noch nicht genau, wie es dazu kommen konnte. Meine Mutter behauptet, dass sie mich schlicht Maria nennen wollte, aber mein Vater hätte für Stella plädiert. Laut meiner Großmutter war dies der Beginn der Streitigkeiten zwischen meinen Eltern. Noch im Mutterleib war ich also schon ein Problem.

»Stella Di Notte, Stern der Nacht, das ist doch lächerlich«, beharrte meine Mutter, woraufhin mein Vater sie ansah: »Warum kannst du das Leben nicht mit ein bisschen mehr Humor nehmen?«

So stritten sie sich monatelang um Maria, Stella, Luna und Rosaria. »Dann nennen wir sie eben Rosaria, wie deine Mutter«, hatte sie nämlich eines Tages vorgeschlagen, überzeugt, mit dieser Kriegslist die Schlacht zu gewinnen.

»Du spinnst ja«, kam es spontan von meinem Vater zurück.

Das behauptet zumindest meine Mutter bis heute. »Er war der Spinner, aber ich muss auch nicht ganz bei Trost gewesen sein, dass ich bei ihm blieb«, vertraute sie mir vor Jahren einmal an.

»Was hat dir denn an ihm gefallen?«, fragte ich, während wir alte Fotos betrachteten.

Die Antwort meiner Mutter kam wie aus der Pistole geschossen: »Er hatte vor nichts Angst.«

Er hatte vor nichts Angst, wiederholte ich abends im Bett bei einem der vielen Versuche, den Irrsinn meines Vaters zu entschuldigen. Des Mannes, der mich an einem Tag im Dezember 1990 zur Schule brachte und wie üblich mit den Worten verabschiedete: »Picceré, Kleines …«

»… nutze den Tag! Ich weiß, Papa, das sagst du jeden Morgen.«

»Sehr gut. Dann gib mir einen Kuss. Ich komme dich nachher abholen.«

Doch er kam nicht, nicht mittags, nicht abends und auch sonst nicht mehr. An jenem Vormittag verließ er die Wohnung und ging ins Ausland, wir hörten viele Monate lang nichts von ihm. Dann, genau zwei Weihnachten später, bekam meine Mutter einen Anruf, ihr Mann sei in Venezuela tot aufgefunden worden, er sei unter noch ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Später erfuhren wir, dass er in einer Straße in Caracas ermordet worden war, zusammen mit einem Mann aus Rom, doch keiner konnte etwas über das Motiv der Tat herausfinden oder uns sagen, ob die Täter jemals gefasst wurden. Ich weiß nicht, was er in Südamerika zu suchen hatte und was er getan hatte, dass er umgebracht wurde, doch ich bin mir sicher, es war nichts Böses. Vielleicht wieder einer seiner komischen, ehrgeizigen Pläne, denen er hinterhereiferte und wobei er unwissentlich einem großen Tier auf die Füße getreten sein musste.

So war mein Vater, für ihn war alles nur ein Spiel, es gab nichts, was uns interessieren oder gar Sorge bereiten musste. Ich sollte ihn eigentlich hassen, wie meine Mutter es bis heute versucht, doch es gelingt mir nicht. Wenn ich an ihn denke, muss ich immer lachen, denn mein Vater brachte einen wirklich zum Lachen.

In der Schule, in der Nachbarschaft oder in den Läden fragte mich nie jemand nach ihm, aber ich weiß, dass die Mehrzahl der Leute glaubt, Pasquale Di Notte sei in krumme Geschäfte verwickelt gewesen. Die Wahrheit werde ich nie erfahren, und sie interessiert mich auch nicht. Ich möchte ihn als einen Menschen in Erinnerung behalten, der zu unbedarft und naiv war für diese Welt, aber mit einer immensen Kraft ausgestattet, von der er vielleicht selbst nichts wusste. Ich sollte ihn verabscheuen für das, was er uns angetan hat, was er mir alles nicht gegeben hat, doch stattdessen bin ich ihm dankbar für das Einzige, was er mich gelehrt hat: vor nichts Angst zu haben.

Die Geschichte mit dem Namen ging jedenfalls noch weiter. Das Schlitzohr von meinem Vater nämlich wollte die Wogen glätten und erklärte sich bereit, mich Rosaria zu nennen, nach seiner Mutter. Dann hätte ich also Rosaria Di Notte geheißen, was ein durchaus normaler Name gewesen wäre. In Wirklichkeit aber hatte er andere Pläne für mich, die er erst offenbarte, als er Fakten geschaffen hatte und meine Mutter nur noch quieken konnte »wie die Sau auf der Schlachtbank« (nach den Worten meiner Großmutter, klar).

»Meine Tochter wird nie zu den Normalen gehören, da kannst du dir sicher sein!«, gab er zurück und beendete damit die Diskussion für immer.

Um es kurz zu machen, mein Vater Pasquale war am Morgen nach meiner Geburt zum Einwohnermeldeamt gegangen, um mich anzumelden. Wie üblich folgte er dort ausschließlich seinen eigenen Ideen. Dann kehrte er ins Krankenhaus zurück, wo mich bereits jedermann – Großmutter, Onkel und Tanten, Nachbarn und entfernte Verwandte – Rosaria nannte, und verkündete: »Ich habe sie Luce genannt, Luce Di Notte, denn unsere Tochter ist so außergewöhnlich wie das Licht in der Nacht!« Und dann lachte er. Nonna Giuseppinas Bericht zufolge (der Mutter meiner Mutter) senkte sich entsetztes Schweigen auf das Zimmer, bis eine alte Tante in das Gelächter einstimmte und sagte: »Dein Mann hat aber auch immer einen Witz parat!«

Doch das hier war leider kein Witz. Ich hieß jetzt tatsächlich Luce Di Notte. Was danach geschah, ist im Nebel der Vergangenheit versunken, im Lauf der Jahre rankten sich verschiedene Legenden darum. Eine davon erzählte mein Onkel Mimì, der Bruder meiner Mutter, der nicht mehr am Leben ist und dessen größtes Vergnügen darin bestand, bei den Familienfeiern an Weihnachten oder Ostern im Mittelpunkt zu stehen, und der so lange soff, bis er betrunken war, um dann für den Rest des Mittagessens seine merkwürdigen Geschichten zu erzählen, darunter den Klassiker, wie Luce zu ihrem Namen kam. Laut Onkel Mimì war meine Mutter, trotz ihrer Schmerzen und obwohl sie mich gerade stillte, wie eine Raubkatze aus ihrem Bett gesprungen und hatte ihren Mann an den Haaren durchs Zimmer gezerrt, während die Krankenschwestern versuchten, wieder Ruhe auf die Station zu bringen. Ein wenig glaubwürdiger erscheint mir die Version meiner Großmutter: Sie behauptet, die beiden hätten wochenlang kein Wort miteinander geredet, bis mein Vater sich ihre Vergebung mit einem kostspieligen Geschenk erkaufte, einem goldenen Anhänger in Form eines L.

»So trägst du deine Tochter immer bei dir, die dein Gesicht zum Leuchten bringt«, sagte er, während er ihr die Kette um den Hals legte.

Dieser Satz und der darauffolgende romantische Augenblick entspringen meiner Fantasie. Ich weiß nicht, ob es wirklich so war, aber mir gefällt der Gedanke. Jedenfalls hat meine Mutter sich seit diesem Tag nicht mehr von dem Schmuckstück getrennt, sie trägt es noch heute. Wenn sie im Lauf der Jahre nach der Herkunft des Anhängers gefragt wurde, sah sie immer verlegen beiseite und murmelte: »Das ist lange her, wer kann sich da noch erinnern …«

Sie wollte diese Geste der Liebe nicht zu hoch hängen, wie auch alle anderen guten Eigenschaften meines Vaters, ich glaube, weil sie so ihren Hass, der ihr in gewisser Weise Halt gibt, nähren kann.

Zum Glück brachte Nonna Giuseppina, die zwar alt, aber keineswegs schwachsinnig war, die Wahrheit ans Licht. »Nenné«, sagte sie einmal vor langer Zeit zu mir und versuchte, ausnahmsweise nicht im Dialekt zu reden, »hör nicht auf deine Mutter. Dinge, die nichts wert sind, begleiten uns nicht lange, wir verlieren oder vergessen sie irgendwann. Doch was wir lieben, bewahren wir sorgfältig auf, hängen es uns um den Hals und tragen es immer bei uns. Die schönen Dinge des Lebens überleben uns fast immer, glaub mir.«

Doch kehren wir zu dem Streit mit meinem Chef zurück. Wir waren bei seinem Satz stehen geblieben: »Luce Di Notte, für das, was du gerade gesagt hast, könnte ich dich feuern, ist dir das klar?«

Arminio Geronimo gehört zu den Leuten, die dich bei vollem Namen nennen, wenn sie auf Abstand gehen. In meiner Welt aber reicht das längst nicht, um die Leute auf ihren Platz zu verweisen, in meiner Welt bedeutet es Tag für Tag viel Mühe, die Leute auf Distanz zu halten. Deshalb schoss ich unverblümt zurück, bevor er weiterreden konnte: »Das müssen Sie mir erklären, Avvocato. Sie dürfen vertraulich werden und ich nicht? Warum denn, weil ich eine Frau bin und Sie mein Vorgesetzter? Was ist das, Mobbing? Oder sind Sie etwa einer dieser verunsicherten Machos, die glauben, sie hätten nur dann Eier, wenn sie eine Frau herumkommandieren?«

Er riss die Augen noch ein Stückchen weiter auf und offenbarte eine hübsche Ansammlung roter Äderchen im Weiß seiner Augäpfel. Sein Blutdruck war auf tausend und er nicht weit von einem Herzkasper entfernt. Trotzdem war ich nicht bereit nachzugeben. Glücklicherweise machte er einen Rückzieher, indem er beschloss, das Ganze ins Spaßige zu drehen, was immer noch besser war, als den Wutanfall einer Neurotikerin über sich ergehen zu lassen. Er brach in Gelächter aus: »Himmel noch mal, Avvocato Di Notte, was ist denn nur los! Das war doch nicht so gemeint!« Als Zeichen der Ergebung hob er die Hände.

Es war falsch, das gebe ich zu. Wenn ich damals den Mut gehabt hätte, hart zu bleiben, hätte ich heute nicht diesen gerupften Truthahn am Hals, der nicht von meiner Seite weicht. Ein paar Wochen später kam er nämlich zu mir: »Wollen wir zusammen mittagessen?« Ich stöhnte innerlich auf und nickte. Also saßen wir kurz darauf gemeinsam in einer Osteria hinter der Via Monteoliveto, und Arminio ging sofort zum Angriff über: »Steht dir wirklich ausgezeichnet, deine neue Frisur!«

Die neue Frisur war aber nicht im Entferntesten Ausdruck einer neuen Lebenseinstellung, sondern schlicht der Notwendigkeit geschuldet, überhaupt mal wieder die Haare zu schneiden. »Genny, schneid einfach alles ab«, hatte ich meinem Friseur unten im Haus aufgetragen. Er musterte mich kurz und sagte: »Luce, bist du dir sicher? Wirklich alles?« Ich nickte und schloss die Augen. Als ich »Genny’s Boutique« verließ (okay, den Friseurladen von Gennaro), sah ich aus wie ein neapolitanischer Straßenjunge auf dem Weg in den Irak, Sonnenbrille und Bomberjacke inklusive. Ziemlich Top Gun also, und da Arminio Geronimo, wie mir später klar wurde, im Bett auf Schweinereien stand, ein bisschen Richtung Sadomaso, musste mein neuer maskuliner Style ihn ganz besonders ansprechen. Ich parierte also gerade die schmierigen Komplimente eines Siebzigjährigen, der sich nur zu gern von einer Fünfunddreißigjährigen den Hintern versohlen lassen würde.

»Hör mal, willst du mich nicht duzen, ich fühle mich sonst so alt!«

Im vollen Bewusstsein, welche Gefahren und Hintergedanken dieser Satz beinhalten konnte, schwieg ich. Was ihn nur zum nächsten Schritt ermutigte. »Habe ich dir schon mal gesagt, wie verführerisch du bist?«

Bei der dritten unmissverständlichen Bemerkung (die mehr oder weniger zusammen mit meinem Kotelett kam): »Und nett bist du auch noch, wir sollten außerhalb der Arbeit mehr miteinander unternehmen!«, zog ich die Notbremse. Ich wischte mir den Mund ab und sagte: »Avvocato, daraus wird nichts!« Dabei sah ich ihn fest an, um sicherzugehen, dass er mich verstanden hatte. Aber er verstand rein gar nichts. »Woraus wird nichts?«, fragte er und riss erneut die Augen auf, um mir das Schauspiel seiner rot geäderten Augen zu zeigen, die ihm einen teuflischen Anstrich verliehen.

»Aus Ihnen und mir wird nichts, Sie vergeuden Ihre Zeit! Es würde niemals gut gehen. Schauen Sie, ich kann einfach nicht stillhalten, ich habe so einen inneren Druck, eine Art Veitstanz genau hier im Bauch. Ich stehe auf junge Typen, auf böse Jungs, die immer nur spielen wollen, die nie erwachsen werden und nur an sich selbst denken, die ständig lachen und nichts ernst nehmen. Die Peter Pans, Mistkerle, kurz gesagt. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die eine Vaterfigur suchen, obwohl ich keinen Vater hatte oder, besser gesagt, zu wenig Vater. Vielleicht suche ich aber auch genau das und weiß es nur nicht, weil er nämlich genauso war wie diese Typen, ein nichtsnutziger, verdammter Spaßvogel …«

Einen Moment lang trennte uns ein Schweigen, bevor ich fortfuhr: »Gut, dann haben wir das ja wohl geklärt. Wenn Sie es jetzt wagen, mir zu kündigen oder mir Knüppel zwischen die Beine zu werfen, dann werde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, das können Sie sich nicht vorstellen. Ich werde behaupten, Sie hätten mir an die Titten und in den Schritt gefasst und dazu Ihre Zunge in meinen Mund geschoben, sodass Sie Ihres Lebens nicht mehr froh werden.«

Als ich fertig war, dampfte das Kotelett nicht mehr, und Arminio Geronimo blieb die Spucke weg. Mit zitternder Hand langte er nach seinem Rotweinglas und leerte es in einem Zug. Dann erst sah er mir in die Augen. »Was für eine Frau du bist, Luce! Wenn ich ein bisschen jünger wäre, würde ich dich erobern! Jedenfalls hast du das Zeug dazu, um in dieser Scheißstadt Anwältin zu werden! Okay, du hast gewonnen, Freunde und nichts weiter.« Lächelnd reichte er mir die Hand. Ich schüttelte sie und widmete mich dem erkalteten Kotelett.

Doch dieser Händedruck von vor einem Jahr verliert allmählich an Kraft. Denn Avvocato Geronimo, das einzige männliche Wesen, mit dem ich täglich Umgang pflege (abgesehen von Manuel, von dem noch nicht die Rede war), der mir seit einem Jahr ein Gehalt zahlt, das es mir erlaubt, das Leben einer freien und unangepassten Frau zu leben, hat in den letzten Monaten wieder damit angefangen, mir mehr oder weniger offen den Hof zu machen.

Es scheint also an der Zeit, noch einmal wütend zu werden.

DER LIEBE GOTT PFEIFT AUF BLUMEN

Als ich aus dem Haustor trete, steht er neben seinem Wagen und wartet auf mich, die Arme vor der Brust verschränkt, die Sonne auf dem knochigen, lächelnden Gesicht, während der Wind ihm durch die wenigen verbliebenen Haare fährt. Dieser Anblick macht all meine guten Vorsätze zunichte. Die frühsommerliche Stimmung hebt meine Laune, der klare Himmel, die frische Brise, das muntere Treiben in den Gassen, der Duft nach Ragù Genovese, der durch ein offenes Fenster weht, dazu das Kindergelächter – an diesem Morgen scheint die Welt noch in Ordnung, selbst der alte Fiat 600, der seit drei Jahren zwischen den Pollern der ehemaligen Kirche parkt. Sogar Arminio Geronimo, denn stünde er nicht hier mit seinem schönen Mercedes-Cabrio, dem Nadelstreifenanzug und seiner Sonnenbrille, müsste ich den Bus nehmen, was den Zauber des Moments zerstören könnte. Also gehe ich lächelnd zu ihm, er öffnet nach einem angedeuteten Handkuss die Beifahrertür, was mich einigermaßen verwirrt, weil mir noch nie jemand die Tür aufgehalten hat, nicht einmal die zum Badezimmer.

Als er mir gestern sagte, dass er mich abholen würde, konnte ich mir eine genervte Miene nicht verkneifen. Kurz überlegte ich, ob ich ihn in Anwesenheit des Klienten herunterputzen sollte, schließlich hatte ich ja vor einigen Monaten eine kleine Rede gehalten. Als hätte er den Braten gerochen, kam er mir zuvor: »Ich habe einen Fall für dich.«

Nun sitze ich in dem supercoolen Wagen dieses alten Brünstlings, starre auf sein Lächeln und frage mich, was das wohl für ein Job sein wird nach über einem Jahr im Dienste der Rechtsanwaltskanzlei Geronimo & Partner (über die »Partner« können wir im Übrigen sorglos den Mantel des Schweigens decken), währenddessen mir Arminio nie etwas Eigenes anvertraut hat, weil er meinte, ich müsse erst noch mehr Erfahrung sammeln. »Zuerst muss man sich die Sporen verdienen«, hatte auch sein Credo von Beginn an gelautet, »so haben wir schließlich alle angefangen.«

»Avvocato«, hatte ich erwidert, »ich habe mir monatelang meine Sporen durch Hilfsarbeiten verdient, mir reicht’s.«

Er blieb mitten auf dem Flur stehen, drehte sich um und fragte: »Wie meinst du das?«

»Ich übernehme keine Hilfsarbeiten mehr, ich habe kein Jurastudium absolviert, um Sekretärin zu werden«, gab ich fest zurück, während ich mir den einen Satz vorsagte, mit dem ich mir immer Mut mache: »Ich habe vor nichts Angst!«

Er sah mich eine Weile an, dann brach er in Gelächter aus. »In Ordnung, halte dich am besten an Manuel!«

Wenn er mich damals zum Teufel geschickt und mir weiterhin nur Hilfstätigkeiten gegeben hätte, wäre alles vielleicht besser gelaufen. So übergab er mich der Fürsorge des großartigen Manuel Pozzi, des coolsten Anwalts der Kanzlei, vierzig Jahre alt, eifriger Sonnenbankbesucher, mit Big-Jim-Frisur, immer tadellos gekleidet, von einer Duftwolke umweht wie eine Nutte, der Bizeps geschwollen und die Hände topgepflegt. Einer, der seine Mittagspause im Fitnessstudio verbringt und danach im Büro einen Joghurt löffelt (und dich angewidert ansieht, wenn du dir das am Morgen übrig gebliebene gefüllte Croissant reinziehst). Immer mit einer schlagfertigen Antwort (meist mit sexueller Note) und völlig skrupellos. Kurz gesagt, ein Sunnyboy, der vor Gericht einen Schwarm an Kollegen um sich schart, die ihn vergöttern und über seine blöden Witze lachen. Einer, der viel vögelt. Was ihn – weit über seine recht mangelhaften juristischen Fähigkeiten hinaus – zum Siegertypen macht. Einer, den man nachahmt, dem man folgt, den man zum Freund haben will. Wenn du Manuel Pozzis Privatnummer hast, gehörst du zu den Guten. Mit diesem menschlichen Mängelwesen habe ich es seit einem Jahr zu tun. Und dann hält man mich für launisch.

»Der Frühling macht dich noch bezaubernder«, beginnt Geronimo, als er den Wagen startet.

Ich kann überhaupt nicht verstehen, was dieser Mann an mir findet. Gut, ich habe ein frisches Gesicht, vielleicht auch einen vollen Mund und eine Himmelfahrtsnase, ansonsten aber die Figur, das Hinterteil und den Charakter eines Dackels. Und genau wie ein Hund beginne ich zu knurren, wenn mir jemand zu nahe kommt, den ich nicht mag. Doch bei Geronimo zeigt auch Zähnefletschen keine Wirkung, er verfolgt unbeirrt seinen Weg, überzeugt, mich am Ende herrumzukriegen. Aber mir gehen Männer auf die Nerven, die glauben, mich aufgrund ihrer beruflichen Position erobern zu können, genau wie die allzu selbstsicheren, die niemals an sich zweifeln und nicht über sich selbst lachen können. Ich will ihm gerade entsprechend antworten, als er verstummt. Also kümmere ich mich nicht weiter um ihn und genieße die laue Luft und die Sonne in meinem Gesicht.

»Siehst du hier irgendwo einen Parkplatz?«, fragt er an der ersten Kreuzung.

»Einen Parkplatz? Wozu brauchen Sie einen Parkplatz?«

»Wozu braucht man wohl einen Parkplatz? Um zu parken, oder?«

»Sie sagten doch, Sie hätten einen Auftrag für mich«, gebe ich mit vorwurfsvollem Blick zurück, wie immer, wenn ich alarmiert bin oder mich ärgere und meine Miene sich unter aufgeblasenen Nasenlöchern verzerrt, als wollte ich gleich Rauch aus den Nüstern ausstoßen wie ein vor Wut platzender Stier in einem Comic.

»Der Auftrag ist hier, direkt um die Ecke«, sagt er zufrieden.

»Hier?«

»Genau.«

»Und warum kommen Sie dann mit dem Auto?«

Der Avvocato sieht mich erstaunt an. »Wie hätte ich denn sonst kommen sollen?«

»Mit der Metro? Oder dem Bus? Oder zu Fuß?«

»Dann hätte ich dir aber nicht so unterwürfig den Autoschlag aufhalten können. Ich hatte wenigstens auf ein unschuldiges Küsschen gehofft …«, gibt er zurück, hält vor einer Bar und stellt sich mit einem Reifen auf den Gehsteig. Keine Frage, mit über siebzig und einem Lebenslauf ohne größere Rückschläge oder Verletzungen, finanziell abgesichert, kann Arminio Geronimo sich zu den wenigen Erwählten zählen, die das Leben nichts gelehrt hat. Sodass ich versucht bin, ihm einen gezielten Tritt in die Eier zu verpassen, um ihm sein Lächeln und ein paar Sicherheiten auszutreiben. Man muss sich mindestens einmal im Leben unter Schmerzen an den Tisch gesetzt haben, wenn man zu dem engen Kreis der »Menschlichen« gehören will.

Doch was wissen Arminio Geronimo und die Flegel, mit denen er sich umgibt, schon davon.

Die Schuld, dass ich mit Geronimo zu tun habe, kann man beruhigt meiner Mutter in die Schuhe schieben. Sie hat seit einigen Jahren diese unschöne Fixierung auf Religion und Kirche, die ihr zu der begehrten Doppelrolle als Katechetin und Sakristanin verholfen hat, dank Don Biagio, dem örtlichen Pfarrer, der gerne mit weitgehend sinnfreien Ratschlägen und Aufträgen um sich wirft. Meine Mutter unterrichtet also nicht nur Kinder im Glauben, sondern hat auch die wichtige und bedeutsame Aufgabe, sich um den Altar zu kümmern. So kauft sie Tag für Tag massenweise Blumen, die, angeschnitten und zu Sträußen gebunden, auf immer neue Arten den Altarraum ausschmücken. Das ist durchaus mit Arbeit verbunden, da jede Woche außer dem Altar mindestens sechs Ecken der Kirche dekoriert werden müssen. Wenn meine Mutter und Don Biagio das gute Geld und vor allem die kostbare Zeit statt auf Blumen und frisches Wasser auf die Bedürftigen verwenden würden, wäre ihr Leben sicher sinnvoller und das Leben dieser Menschen ein klein wenig besser.

Einmal habe ich versucht, mit ihr zu darüber zu reden, doch als sie sagte, es sei wichtig, dass das Haus des Herrn jede Woche neuen Schmuck und frische Blumen habe, stöhnte ich nur und ließ es bleiben. »Soweit ich weiß, hat Jesus Christus von Nächstenliebe gesprochen und nicht von Blumen. Der liebe Gott pfeift auf Blumen«, hätte ich ihr antworten können, doch das hätte das Gespräch nur auf unwegsame Pfade gelenkt, und ich hatte weder Zeit noch Lust zu streiten. Wenn meine Mutter also wieder ihre Lobgesänge auf Don Biagio anstimmt, summe ich innerlich ein kleines Lied vor mich hin, die einzige Art, um nicht an die Decke zu gehen.

Doch zurück zu uns und der Behauptung, meine Zusammenarbeit mit Avvocato Geronimo sei die Schuld meiner Mutter. Sie war es, die den Pfarrer fragte, ob er nicht eine Kanzlei kenne, in der ich anfangen könne. Und zu Don Biagos wichtigen Bekanntschaften zählte leider auch Arminio Geronimo, der spontan »Nein« sagte, er habe genug Mitarbeiter, dann zu »mal sehen« überging und schließlich, beim dritten Mal, einem Vorstellungsgespräch zustimmen musste.

Der entscheidende Umstand, der mir seine Sympathien sicherte, war nicht etwa mein fachliches Können (das interessierte ihn gar nicht), sondern dass ich mich zum Bewerbungsgespräch in der Via Monteoliveto in Jeans und Jackett und einem leicht ausgeschnittenen Top vorstellte. »Elegant und sportlich zugleich«, hatte meine Mutter gesagt, als sie mich mit einem Lächeln zur Tür begleitete. Elegant und sportlich. Ja, das stimmt. Trotzdem war es, wie gesagt, nicht die Eleganz, die den Anwalt überzeugte, und auch nicht meine geschliffene Ausdrucksweise oder meine Unverfrorenheit oder mein Fachwissen. Entscheidend war ein anderes Detail.

Es heißt, das Leben geht seine eigenen Wege, und die entscheidenden Abzweigungen zum Guten oder Schlechten nehmen wir rein zufällig. In meinem Fall aber waren es zwei Titten, die den Lauf der Dinge änderten.

Ein Schwarm kreischender Kinder ergießt sich auf die Straße und verteilt sich zwischen den Eltern, die wenig entfernt warten. Arminio und ich sitzen in der Bar auf der anderen Straßenseite, und ich habe mir gerade die erste Zigarette des Tages angesteckt. Die Sonne steht hoch am Himmel, und aus dem blühenden Baum könnte man bestimmt das Zwitschern der Spatzen hören als Zeichen dafür, dass der Frühling langsam in den Sommer übergeht, wäre da nicht diese Armada von Mofas, die unter ohrenbetäubendem Gehupe kreuz und quer an uns vorbeiflitzen.

Arminio lächelt mich aus seinen trüben Fischaugen an und hält sich wieder mal für unwiderstehlich in dem eleganten Anzug, der in diesem Moment völlig fehl am Platze ist. Er sieht ungezwungen aus, fast würde ich sagen, glücklich, als wäre dieser Kaffee das Vorspiel zum Jahrhundertsex. Ich hingegen ziehe nervös an meiner Zigarette und knabbere zwischendurch an dem Nagel meines Zeigefingers, um die Neugier auf meinen ersten Fall zu zügeln.

»Siehst du die Frau da mit der Sonnenbrille?«, fragt er plötzlich und heftet seine kleinen Äuglein auf die gegenüberliegende Grundschule.

Ich gebe einen Laut von mir und hebe die Brauen, um die Szene besser zu erkennen.

»Welche Frau? Da sind fast nur Frauen!«

»Die mit den schwindelerregenden Absätzen, die wie eine römische Matrone geschminkt ist und gerade ihren Sohn umarmt …«

»Okay, hab sie.«

»Sie ist dein Fall«, gibt der Avvocato zurück und leert seinen Espresso.

»Mein Fall? Was soll das heißen?« Ich drücke die Zigarette aus und richte mich auf. Den Blick fest auf die Signora gerichtet, fügt er hinzu: »Es ist eine delikate Angelegenheit, Luce. Die Dame hat sich von ihrem Mann getrennt, der jedoch möchte das Sorgerecht für das Kind haben, weil er das Verhalten seiner Frau für unverantwortlich hält, ihre, sagen wir mal, ›offenen‹ Ansichten. Und trinken tut sie angeblich auch.«

Ich sehe mir die Frau an, die ihrem Sohn gerade den Schulranzen vom Rücken nimmt und sich selbst aufsetzt. »Die da? Sieht auf den ersten Blick gar nicht so aus.«

»Woher willst du das wissen, kannst du hellsehen? Luce, ich bitte dich, der Fall ist delikat, aber ich vertraue dir, du musst irgendetwas finden, das beweist, dass diese Frau keine gute Mutter ist.«

Avvocato Geronimos Stimme ist immer rau, und wenn er redet, spritzt auch immer das eine oder andere Speicheltröpfchen aus seinem Mund. Da ich das schon kenne, habe ich mich weit genug von ihm weggesetzt.

»Wie meinen Sie das, bitte?«

»Ich meine, dass wir Beweise brauchen.«

»Also ist nicht sie unser Klient?«

Der Avvocato lächelt und sieht mich mitleidig an. »Nein, ihr Mann.«

Ich zwinkere mit den Lidern und sehe die Frau an. Dann wende ich mich wieder Geronimo zu. »Nur damit ich das richtig verstehe: Wir sollen also die gegnerische Partei ausspionieren? Ist es das, was Sie von mir wollen? Ein schmutziges Spiel?«

Er setzt seine Sonnenbrille ab und sieht mich mit engelsgleicher Geduld an. »Luce, nun mach kein Problem daraus, indem du dich auf die falsche Seite schlägst. Diese Frau ist eine schlechte Mutter, und wir wollen nur das Beste für das Kind.«

Sei es aus weiblicher Solidarität oder weil ich in der Frau meine Mutter wiedererkenne, die mich und meinen Bruder alleine aufgezogen hat, gebe ich einer rebellischen Anwandlung nach. »Wieso, wer garantiert denn, dass unser Klient ein guter Vater ist?«

Geronimo knirscht merklich gereizt mit den Zähnen. »›Unser‹ Klient ist stinkreich und bezahlt sehr gut, und das ist das Einzige, was uns interessiert. Aber er verlangt klare Ergebnisse. Und die liefern wir ihm. Nicht wahr? Darf ich dich daran erinnern, dass wir Anwälte sind und keine Sozialarbeiter? Wenn unser Klient überzeugt ist, dass diese Frau keine gute Mutter ist, dann glauben wir ihm das. Oder verschaffen uns zumindest ein eigenes Urteil. Und nur darum bitte ich dich: beobachten und beurteilen.«

»Ich soll sie ausspionieren«, gebe ich schroff zurück.

»Das trifft es nicht ganz. Die Dinge stellen sich oft unterschiedlich dar, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet.« Er beugt sich vor und fährt fort:

»Sagen wir mal so: Was, wenn wir das Kind durch unsere kleine Recherche retten? Wenn diese Frau wirklich unfähig ist, ein Kind zu erziehen? Wäre es dann nicht richtig, es ihr wegzunehmen und dem Vater zu geben?«