Über das Buch

Den noch nicht endgültig geläuterten Engel wird ein Urlaub auf der Erde gewährt. Das Reiseziel darf frei gewählt werden. Der Engel im zweiten Lehrjahr Eleusius findet die himmlischen Jokobsleitern fad und wünscht sich, in Manhattan Lift zu fahren! Allerdings soll der Urlaub nicht allein dem Vergnügen dienen. Das himmlische Management ist nämlich zur Erkenntnis gelangt, dass die Irdischen zu Beginn des dritten Jahrtausends Engel besonders nötig haben. Zwar wissen die Menschen dank ihrer Elektronik jede Menge unnützen Kleinkram, doch die Engel sollen sie wieder auf die vergessenen großen Menschheitsfragen aufmerksam machen. Als Eleusius bei seiner Liftfahrt die Bekanntschaft von Rosy und dem kleinen Tom macht, kann er nicht widerstehen, den beiden etwas Gutes zu tun — und nebenei den unangenehmen Verehrer Rosys zu ärgern. Ist es denn seine Schuld, dass er dabei mit seinen Engelskräften etwas über die Stränge schlägt?

Eveline Hasler

Engel im zweiten Lehrjahr

Nagel & Kimche

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Nagel & Kimche E-Book

1 Der Ausflug der Engel

Neuerdings war es zur himmlischen Gepflogenheit geworden, am 24.Dezember den Engeln vom ersten und zweiten Lehrjahr auf Wunsch einen kleinen Erdenurlaub zu gewähren. Besonders die noch nicht sehr geläuterten Engel nutzten liebend gern die Gelegenheit, eine Exkursion auf die weihnachtlich eingestimmte Erde zu machen.

Am Morgen des Heiligabends überblickte Petrus die kleine Gruppe der Reiselustigen, die erwartungsvoll vor ihm stand. Seinem väterlichen Kontrollblick entging nicht, dass sich unter ihnen der wilde Lockenkopf des Eleusius befand. Eleusius war ein eifriger Lehrling, aber immer wieder wurde er beim Wolkenschieben und bei anderen Streichen ertappt. Neulich hatte er einen jungen Engel durch heftiges Flügelschlagen so lange erschreckt, bis Petrus ihn mit Donnerstimme zur Ordnung rufen musste: «Eleusi, lass das! Willst du nun ein Engel werden oder lieber eine wildgewordene Fledermaus?!»

Eine Fahrt nach Erden wird seinen Übermut kühlen, dachte Petrus.

Nun gab der himmlische Torwächter der Reisegruppe letzte Ermahnungen mit auf den Weg: «Engel im ersten und zweiten Lehrjahr! Ich weiß, es macht euch Spaß, zur Erde zu fahren. Aber ein Engel frönt nie nur seinem Vergnügen, ihr habt eine Mission zu erfüllen! Unser himmlisches Management ist nämlich zu der Erkenntnis gelangt, dass im dritten Jahrtausend die Menschen mehr denn je Engel nötig haben! Habt ihr vielleicht eine Ahnung, warum dem so ist?»

Dagobert, ein magerer, schüchterner Engel, wagte eine Erklärung: «Die Menschen sind zu sehr abgelenkt … Sie lenken Autos, Flugzeuge, Fahrräder … Sie wirken so fahrig …»

«Gut beobachtet, Dagobertus», lobte Petrus. «Das könnte eine von vielen möglichen Erklärungen sein. Doch unser himmlisches Management gibt uns eine andere: Noch nie zuvor haben sich die Menschen den Kopf vollgestopft mit Millionen von Einzelheiten, die sie erfahren, wenn sie vor ihren Bildschirmen sitzen. Es ist ein zusammenhangsloser, unnützer, irdischer Plunder! Oder glaubt ihr, es nütze der Menschheit etwas, zu wissen, wie oft Elizabeth Taylor sich scheiden ließ? Oder wer 1972 die Fußballweltmeisterschaft gewann? Wie viele Blütenblätter das Scharbockskraut hat? Wie viele Pizzas der italienische Staatspräsident im Verlauf eines Jahres isst? Ach, es ist ein Sammelsurium, ein Steinbruch von unwichtigen Informationen, kullernde Kiesel und Brocken, die ihre Hirnkästen ausfüllen. Dagegen können sie aber die großen Menschheitsfragen nicht mehr beantworten! Im Klartext: Sie haben keine Ahnung mehr, woher sie kommen, wohin sie gehen, wozu sie auf Erden sind! Neben dem Wissenswust ist kein Platz mehr da, um auf die innere Stimme zu hören!»

«Wie schlimm», seufzte Hyazinth, der ein besonders sanfter und mitfühlender Engel war.

Petrus nickte. «Wie ihr wisst, erschrecken die Erdenbürger über den Glanz unserer großen Himmelsgeister. Ihr, die noch nicht sehr geläuterten Engel, seid also die geeigneten Boten, um diese Fehlentwicklung etwas abzumildern, und das himmlische Management rechnet mit eurem Einsatz! Ihr sollt die Menschen wieder auf ihre großen Fragen aufmerksam machen! Eleusius, kennst du die Weihnachtsbotschaft?»

«Ja, Chef», sagte Eleusius und fügte feierlich hinzu: «Friede auf Erden.»

Petrus erkundigte sich nun bei jedem der Reiselustigen nach den gewünschten Flugzielen. «Du, Dagobertus?»

Dagobert schlug verlegen mit seinen kurzen Flügeln, zeigte die knochigen Beine und sagte: «Ich möchte nach Paris.»

«Nach Paris? Aha. Und warum?»

«Ich möchte hoch oben auf der Spitze des Eiffelturms sitzen.»

«Du heilige Einfalt», seufzte Petrus.

Die trivialen kleinen Vergnügungen der Lernengel überraschten ihn jedes Mal erneut.

«Und du, Segafredo?»

Segafredo war ein pummeliger Engel, der nach der Gepflogenheit der wenig Geläuterten beim Singen himmlischer Lieder gern auf den weichen Wolkenpfuhlen einschlief.

Segafredo äußerte mit leuchtenden Augen den Wunsch, nach Rom zu fliegen.

«Wozu das?»

«Im Viertel von Trastevere langsam an den Pizzaständen vorbeischweben … nein, Petrus, nichts davon kosten!!, nur», er verdrehte seine südländisch geschnittenen Augen, «nur ein wenig … schnuppern … Ach, die Pizza Margherita war mir immer die liebste …» Als er sah, wie Petrus die Stirn runzelte, fügte er schnell hinzu: «Und dann möchte ich die herrenlosen Katzen füttern im Kapitol …»

«Ist das alles?»

Segafredo nickte eifrig.

«Du heilige Einfalt», murmelte Petrus noch einmal. «Und du, Eleusi?»

Eleusius richtete seinen engelischen, schon leicht vergoldeten Zeigefinger hinunter Richtung Erdkugel. «Ich möchte in eine der großen, modernen Städte, in denen Wolkenkratzer stehen.»

Petrus kratzte sich hinter dem Ohr. «Du meinst also Manhattan … oder reicht dir auch Frankfurt?»

«Mit Verlaub, es müssen Wolkenkratzer sein mit mindestens fünfzig Stockwerken», sagte Eleusius leicht geniert und schüttelte seine blonden Locken.

«Aha. Hmm, und wozu, wenn man fragen darf?»

«Liftfahren», hauchte Eleusius. Er errötete sanft bis in die Flügelspitzen, denn Engel sind durchsichtig, und Gedanken und Gemütsregungen sind ihnen immer gleich anzusehen.

Petrus seufzte. Während frühere Engelsgenerationen sich damit begnügt hatten, lange Jakobsleitern hinauf- und hinabzugleiten, schwärmten die heutigen von den prickelnden Sensationen, die Liftfahren bei Flügelträgern hervorruft.

«Und was sonst noch?»

«Noch in eins der Bergdörfer … Tolle Sesselbahnen schweben dort hinauf, bis zu den Drei- und Viertausendern …»

«In ein Alpental also. Österreich, Schweiz oder Bayern?»

«Das ist mir egal.» Eleusius zuckte die Schultern, seine Flügel zitterten leicht aus Vorfreude.

«So flieg denn, in Gottes Namen», entschied Petrus eingedenk der Tatsache, dass das himmlische Management den autoritären Führungsstil in jüngster Zeit etwas gelockert hatte. Nur der Stellvertreter auf Erden beharrte noch rigoros auf alten Prinzipien.

«Ich erwarte euch alle pünktlich zurück zu den großen Hallelujafeiern!», rief Petrus der Gruppe abschließend zu. «Sonst muss ich meinen Blitz hinunterschicken, der auch einen Engel unangenehm zwickt, verstanden?»

«Ja, Chef», murmelten die Engel.

«Und noch eine Warnung: Ein Engel darf auf Erden, welche Zustände er dort auch sehen mag, niemals seufzen! Wenn ein Engel seufzt, stürzen auf Erden die Computer ab. Dieser elektronische Menschenkram, der in allen Büros und Privaträumen steht, beschlägt sich durch Engelsseufzer und gerät aus dem Takt …»

Schon etwas zerstreut nickten die Lehrengel, zum Zeichen, dass sie verstanden hatten.