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Einleitung – Die Handschrift auf dem Abstellgleis

Seit vielen Jahren beobachten Lehrer an deutschen Schulen, wie die Handschriften der Schüler sich alarmierend verschlechtern. Sie sehen mit Sorge, dass immer mehr Kinder unleserlich, langsam oder nur mit großer Mühe schreiben können. Hinzu kommt bei immer mehr Schülern eine fehlende Rechtschreibkompetenz. Die Lehrer sehen, wie sehr diese Kinder gehandicapt sind, wenn sie schriftliche Aufgaben nicht bewältigen können, und wie ihre Motivation zu lernen abnimmt, sobald es ums Schreiben geht. Und sie sehen auch, welche negativen Folgen die fehlende Schreibfertigkeit für den Schulerfolg haben kann. Das Rumoren in den Kollegien, insbesondere der weiterführenden Schulen, ist so groß, dass sich der Deutsche Lehrerverband 2014 genötigt sah, eine bundesweite Befragung in Auftrag zu geben, um das Ausmaß dieses Schriftdesasters sichtbar zu machen.

Als Lehrerin an einer Gesamtschule mache auch ich seit den Neunzigerjahren die Erfahrung, dass eine zunehmende Zahl von Kindern eine Handschrift hat, die nicht lesbar, sondern bestenfalls entzifferbar ist. Dabei erging es mir zunächst wie wohl fast allen anderen Unterrichtenden: Ich empfand die Krakelschriften als Zumutung und sah darin eine ärgerliche Nachlässigkeit und Flüchtigkeit desinteressierter Schüler. Erstaunlich für mich war dann aber, dass kleine Anregungen, wie man diesen oder jenen Buchstaben besser schreiben kann, von einigen Schülern dankbar angenommen wurden und sich ihr Schriftbild tatsächlich ein wenig verbesserte.

Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Problem begann, als ich einem Fünftklässler, der nichts Entzifferbares zu Papier bringen konnte, im Kunstunterricht Schriftübungen vorlegte, die ich für ihn entworfen hatte. Die Reaktion war überraschend. Geradezu eifersüchtig reagierten andere Jungen: »Wieso darf der Niklas Schreiben üben und ich nicht?« – »Schauen Sie, mein Heft!« – »Schauen Sie, meine Schrift!« – »Und ich?« – »Und ich?« Am Ende waren es sieben Jungen, die fast um die Wette das korrekte, leserliche und zügige Schreiben übten. Und das mit gutem Erfolg! Die Deutsch- und Klassenlehrerin beschrieb den Effekt des Schrifttrainings als Befreiungsschlag für ihre Jungen.

Ist dieser Begriff nicht übertrieben? Ist die Handschrift denn heute wirklich noch so wichtig? Brauchen wir überhaupt noch eine Handschrift? Im Alltag werden doch nur noch Einkaufszettel mit der Hand geschrieben, heißt es immer. Die Schule wird dabei aber ganz vergessen! Kinder lernen mit der Handschrift Lesen und Schreiben. Sie lernen mit der Handschrift, Wissenswertes festzuhalten und zu erinnern sowie eigene Gedanken zu strukturieren und zu formulieren. Kurz, die Handschrift ist ein zentrales Medium des Schriftspracherwerbs und des Lernens überhaupt. Kinder schreiben in der Schule 10 bis 13 Jahre lang jeden Tag, und sogar im Studium werden Klausuren noch handschriftlich verfasst. Auch wenn sich so mancher eine Komplettausstattung der Schulen mit Tablets oder Notebooks wünscht – derzeit ist jeder Schüler und jeder Student auf eine flüssige und lesbare Handschrift angewiesen. All die, die sie nicht erlernt haben, sind stets benachteiligt.

Die positive Resonanz der Schüler auf meine Schriftnachhilfe war für mich der Ansporn, mich systematischer mit dem Problem der unleserlichen Handschriften zu befassen. Sieben Schüler in einer Klasse, die nicht richtig schreiben können! Wie viele mochten es wohl im gesamten sechszügigen Jahrgang sein? Ein Schrifttest ergab, dass 30 Kinder, und zwar fast ausschließlich Jungen, betroffen waren. Eine ganze Schulklasse! Und dabei waren all diejenigen noch nicht einmal mitgezählt, die zwar leserlich, aber viel zu langsam schrieben. War das ein Problem meiner Schule? Auch Kollegen anderer Schulen hörte man immer wieder über die vielen unsäglichen Handschriften klagen. Fünf weitere Schulen stellten mir Schriftproben ihrer Schulklassen des 5. und 6. Jahrgangs zur Verfügung, und es ergab sich ein ähnliches Bild – nicht nur, was die Anzahl der unleserlichen Schriften betraf, auch die Qualität war ähnlich. Die zahlreichen Fehlformen oder Entgleisungen wiederholten sich in vielen Schriftproben. Es war dieser Déjà-vu-Effekt, der mich veranlasste, die Schriftproben immer wieder zu vergleichen und zu sortieren. Dabei erschlossen sich viele Details, die man einer Handschrift nicht auf den ersten Blick ansieht.

Wenn man davon ausgeht, dass es nicht unbedingt motorische Störungen sind, die ein Kind daran hindern, eine leserliche Handschrift zu erwerben, muss man fragen: Wie hat es schreiben gelernt? Eine Handschrift fällt ja nicht vom Himmel. Welches Fundament fehlt da, und was läuft falsch in diesen verunglückten Schriften? Die erschreckende Erkenntnis ist, dass viele der betroffenen Kinder die korrekte Schreibweise etlicher Buchstaben gar nicht kennen, sie nicht koordiniert schreiben können und Buchstabenverbindungen und Grundbewegungen des Schreibens nicht beherrschen. Besonders auffällig ist das Schriftbild der Kinder, die die Vereinfachte Ausgangsschrift gelernt haben. Die meisten Kinder hätten richtig schreiben lernen können, wenn sie von Anfang an richtig geschrieben und ausreichend Übungszeit bekommen hätten oder wenn die Tücken der Vereinfachten Ausgangsschrift ihnen nicht zum Verhängnis geworden wären. Diese Feststellung muss man allzu häufig machen. Es sind ungelernte Handschriften, in denen vieles falsch automatisiert ist.

Nun fragt man sich: Hat es in Deutschland denn nicht genug neue Methoden gegeben, das Lesen- und Schreiben-Lernen zu vereinfachen oder neu zu erfinden? Doch, die hat es gegeben! Geradezu revolutioniert hat man den Anfangsunterricht des Schrifterwerbs. Erprobung, wissenschaftliche Begleitung und seriöse Bewertung kann man jedoch mit der Lupe suchen. Die hat es zum Beispiel bei der Einführung der Vereinfachten Ausgangsschrift nicht gegeben, und die lässt auch jetzt bei der Einführung der neuen Grundschrift zu wünschen übrig. Eine Methode kann ungeprüft die nächste ersetzen.

Wenn es sich nicht verheimlichen lässt, dass es erhebliche Defizite gibt, so wie jetzt im Fall des Schriftdesasters, werden die Ursachen überall gesucht, nur nicht in didaktischen Fehlentscheidungen. Wie gerufen kommen deshalb in dieser Situation die neuen digitalen Medien – und zwar in einer durchaus fragwürdigen Doppelrolle: als angebliche Ursache des Problems und zugleich als dessen Lösung. Kinder können, so wird argumentiert, nicht mehr richtig schreiben, weil sie nur noch an das Tippen in die Tastaturen ihrer Smartphones und Tablets gewöhnt sind. Gleichzeitig wird die scheinheilige Frage gestellt, ob in einer Zeit, in der Kinder weitaus häufiger Handys als Papier in den Händen halten, eine Handschrift überhaupt noch notwendig sei. Die Computerindustrie ist seit Jahren schon fleißig dabei, diese Option zu stärken und Tablets in alle Schulklassen zu drücken und sie für unverzichtbar zu erklären.

Die Digitale Revolution, vergleichbar der Industriellen Revolution 200 Jahre zuvor, führt zu einer Umwälzung aller Lebensbereiche – und was liegt näher, als auch das von Software gecoachte Lernen am Bildschirm zum Nonplusultra zu erklären? Jeder, der mitten in diesem Hype daran erinnert, dass gerade Kinder auch noch etwas anderes brauchen als angeblich individuell optimierte Lernmaschinen, gerät ins Kreuzfeuer einer immer aggressiver werdenden Kritik. In diesem Buch soll nicht in Zweifel gezogen werden, dass digitale Medien in den Schulen ihren Platz haben, sondern es wird gefragt, wo die Möglichkeiten und Grenzen dieses Mediums sind, wenn es um das Lehren und Lernen geht.

Das Erlernen der Schriftsprache ist sozusagen ein Paradebeispiel für die Frage, welche realen sinnlichen Erfahrungen Kinder beim Lernen brauchen und welche digitalen Medien wann und warum sinnvoll sind. In diesem Punkt treffen sich die Perspektiven der beiden Autoren. Mein Co-Autor Stephan Clauss beleuchtet als Journalist Medien und Medienwandel in einem umfassenden Sinn – von den Anfängen der ersten Verständigung über Bild- und Schriftzeichen bis hin zur heutigen Allgegenwärtigkeit digitaler Medien. Das Kulturgut Handschrift ist da nur ein Aspekt, aber ein ganz entscheidender, der heute Eltern, Lehrer und Politiker gleichermaßen bewegt. Dieses Buch zeigt auf, wie gravierend die Schriftkatastrophe insbesondere für die Betroffenen ist, wie es zu ihr kommen konnte und wie Kinder wieder zu einer guten Handschrift finden. Denn auch im digitalen Zeitalter brauchen Kinder eine eigene Handschrift, sogar mehr denn je.

1. Eine kleine Geschichte der Schrift

Neugier ist menschlich. Wir wollen es wissen, und das am liebsten sofort. Eine gute, hilfreiche Eigenschaft, die meistens (wenn auch nicht immer!) weiterhilft im Leben. So hatten schon unsere Vorfahren tagtäglich elementare Dinge zu klären, die keinen Aufschub duldeten: Wie schütze ich meine Leute vor Kälte, mit welcher Waffe kann ich Büffel jagen, wo gibt es Wasser? Ihr Wissensdurst war lebenswichtig, Nichtstun tödlich. Und sie teilten ihre Beobachtungen in unbekannten Sprachen, deren Laute längst verhallt sind.

Mit dem über lange Zeiträume erworbenen Praxiswissen als Jäger und Werkzeugmacher wuchs das Gehirn des Menschen – und seine Hände wurden immer geschickter. Auch die Augen sahen schärfer. Doch erst relativ spät erkannte die Spezies Homo sapiens ihre überlegene Intelligenz als Chance, die Welt zu erobern – aufrecht gehend und nur selten allein.

Es ist anzunehmen, dass die imitierende Gestik auch bei der menschlichen Kommunikation den Anfang machte: Man lernte, einfache Handzeichen zu erfinden, die jeder in der Gruppe zu verstehen lernte. »So wie ein Schulanfänger anfänglich mit dem ganzen Körper schreibt und sich die Motorik erst allmählich auf Hand und Finger beschränkt, so kann man sich auch die Entwicklung der Gestik vorstellen«, schrieb der 2004 verstorbene deutsche Psychologe und Verhaltensforscher Friedhart Klix (Wehr/Weinmann (Hrsg): Die Hand – Werkzeug des Geistes, S. 236).

Dazu mögen dann erste Urlaute gekommen sein: leise Warnrufe bei Gefahr, aufmunternde Schreie beim Angriff, während der Jagd in der Gruppe. »Zur normierten Geste gesellte sich die normierte Lautbildung, zum benannten Zeigen das benannte Bild im Gedächtnis«, schrieb Klix.

Die sogenannte kognitive Revolution vor etwa 50 000 Jahren katapultiert den Menschen endgültig in die Geschichte. Und alles beschleunigt sich: Sprachen und Gesellschaften, Kult und Kunst entwickeln sich fortan in Schüben fast gleichzeitig in mehreren Gegenden der Erde. Die Jäger und Sammler sprechen erst mit Gesten und Grimassen, dann mit Worten, Bildern und Symbolen. Sie tauschen Botschaften und handeln mit Waren. Doch erst als die Stämme sesshaft werden, wird es auch Zeit, eine Schrift zu erfinden. Lange vor dem ersten Alphabet und den Irrfahrten des Odysseus jedoch erzählten schon die Höhlenmaler von ihrer Welt. Bei ihnen beginnt diese kurze Geschichte vom Schreiben und vom Lesen. Denn beides gehört untrennbar zusammen, wenn von lebendiger Kultur die Rede sein soll.

Ohne Robots Jagdinstinkt wäre die Höhle von Lascaux nie entdeckt worden. Der kleine Hund lief mit vier Jugendlichen durch einen Wald im grünen Südwesten Frankreichs. Bellte aufgeregt vor einem Loch, das ein umgestürzter Baum aufgerissen hatte. Die Jungen schauten in die Tiefe, warfen Steine hinab, lauschten lange. Es war ein Karsttrichter. Drei Tage später stiegen alle vier hinein und fanden sich nach wenigen Minuten in einer großen Felsenhalle wieder. Im flackernden Licht ihrer Fackel erblickten sie an den Wänden als Erste die Tierbilder: gewaltige Stiere mit langen Hörnern, auch galoppierende Wildpferde und Hirsche mit Geweihen wie Baumkronen.

Es war der 12. September 1940, mitten im Zweiten Weltkrieg. Frankreich war damals schon seit Monaten von Hitlers Truppen besetzt. Doch der Franzose Marcel Ravidat, damals 18 Jahre alt, und seine Kumpel Georges, Jacques und Simon – sie hatten einen Schatz entdeckt: die Höhle von Lascaux – beim Städtchen Montignac in der Dordogne, ist ein Meilenstein in der Geschichte der Menschheit.

Fast 20 000 Jahre hatten die Zeichnungen aus der Jungsteinzeit im kühlen Dunkel überdauert. Nach der Befreiung durch die Alliierten und dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Lascaux sehr schnell zur Sensation. Ab 1948 strömten Millionen Besucher in die arme Provinz, um die Stiere und Pferde im Original zu bestaunen, Wissenschaftler suchten die Bilder zu enträtseln, die diese »Sixtinische Kapelle der Steinzeit« schmücken. Noch immer gibt es viele offene Fragen.

Als Pablo Picasso zum ersten Mal nach Lascaux kam und die Bilder der Höhlenkünstler erblickte, soll er ausgerufen haben: »Wir haben nichts dazugelernt!« Das mag uns zwar ein wenig übertrieben erscheinen, doch das Jahrhundert-Genie war nicht der einzige Zeitgenosse, den der kraftvolle, dynamische Malstil der mysteriösen Steinzeitkünstler damals tief bewegt hat.

In der Höhle Pech Merle im Périgord hinterließen die Maler sogar die erste Hand-Schrift: Sie hielten eine Hand an die Wand, übersprühten sie mit Farbe, und das Negativ sah aus wie eine Signatur.

In vielen in der Jungsteinzeit bewohnten Höhlen in West- und Südeuropa wurde sogar kürzlich noch eine andere Art von Zeichen entdeckt – ausgerechnet von einer Forscherin, deren Großmutter im Zweiten Weltkrieg geholfen hatte, für den britischen Geheimdienst MI6 die Codes der deutschen Luftwaffe zu knacken – im berühmten »Enigma Project« von Bletchley Park. Ihre Enkelin Genevieve von Petzinger, eine junge Archäologin aus Kanada, konnte jetzt durch intensive Feldstudien nachweisen, dass die Cro-Magnon-Menschen außer fantastischen Tier- und Menschenbildern noch weitere Spuren hinterließen: ein europaweit verbreitetes Proto-Alphabet mit 25 Symbolzeichen!

Damit scheint erstmalig belegt, dass die ersten Vorläufer der Schrift auch in Westeuropa zu finden sind, lange vor der Keilschrift der Sumerer und den ältesten Hieroglyphen Ägyptens. Die Bilder und Zeichen der Steinzeitmenschen waren indes nur eine erste Etappe auf dem langen Weg zur Schriftkultur.

Die Frage, die uns durch die Jahrhunderte führen soll, lautet: Wer schrieb was – für wen und wozu? Die dabei verwendeten Schreibgeräte und Materialien sind ebenso elementar. Denn ohne Stein und Meißel, Lehm und Stift, Papyrus und Rohrpinsel, Pergament, Papier und Federkiel hätte die Wissenschaft heute nicht mehr viel zu entziffern, was älter wäre als Gutenbergs Bibel. Wir werden auf unserer Zeitreise Lehrern und Schülern begegnen, Schreibmeistern und Mönchen, Kaisern und Gelehrten. Sie alle glaubten auf ihre Weise an die Macht des Wortes. Und nur mit Hilfe der Schriftzeichen und dank der Leistungen großer Archäologen im 19. und 20. Jahrhundert können wir ihre Botschaften lesen und einen Blick zurück in versunkene Welten werfen.

Kleine beschriftete Tonstatuetten aus dem 6. und 5. Jahrtausend vor Christus, gefunden im Donauraum und auf Kreta, gelten mittlerweile als älteste bekannte Zeugnisse einer wohl von weiblichen Göttern geprägten Gesellschaft, die Inschriften benutzte, um Objekte zu kennzeichnen, meist Figuren als Kultobjekte und Grabbeigaben. Der Mensch wusste, dass er sterben muss, doch wollte er gern an ein Leben im Jenseits glauben. Älteste Hüterin der Schriftzeichen war die Priesterkaste, die in vielen Kulturen eine machtvolle Position erreichte. Denn sie bestimmte die Regeln für die religiösen Riten und die soziale Organisation des Stammes; sie musste Ernten und Vorräte bewachen, Buch führen über die Jahreszeiten und den Lauf der Gestirne.

Die ersten Symbolzeichen waren angeblich göttlichen Ursprungs, auch die Hexagramme des chinesischen I-Ching (Buch der Wandlungen) wurden als heilige Signaturen verehrt, sie dienten nicht als Schrift für den Alltag. Totem und Tabu begrenzen das archaische Weltbild, rituelle Gebräuche festigen die Gemeinschaften und die Macht ihrer Anführer. Und natürlich wusste nur eine auserwählte Schar von Priestern und Zauberern die Zeichen zu deuten, das Orakel zu verstehen. Noch heute haben einige Ideogramme der Chinesen magische Bedeutung, beschwören Glück und Weisheit. Und noch immer müssen die Schüler dort mindestens 1000 Schriftzeichen lernen, nicht nur 26 Buchstaben wie ein junger Europäer.

Erst als die umherziehenden Völker anfingen, sesshaft zu werden, erschien es ihnen geboten, große Ereignisse wie Fluten, Hungersnöte, Kriege und Eroberungen für die Nachkommen festzuhalten. Die ersten nachgewiesenen Schriften tauchen in den Gegenden auf, in denen die ersten Siedlungen entstanden, vor etwa 5300 Jahren im Mittleren Osten.

Der Übergang zu Ackerbau, Viehzucht und sozialer Hierarchie gelang zuerst im fruchtbaren Schwemmland zwischen den großen Flüssen Euphrat und Tigris, im heutigen Irak. 300 Jahre später entstanden die ersten ägyptischen Hieroglyphen, die älteste indische Schrift datiert um 2500 vor Christus, es folgten die Kreter und Griechen um 1400 vor Christus, die Chinesen wohl etwa 200 Jahre später. Die ältesten Schriften Amerikas wurden in Mexiko ab 600 und bei der Maya-Kultur um 250 vor Christus entdeckt. Unabhängig voneinander entstanden also mehrere völlig unterschiedliche Schriftsysteme. In anderen Weltgegenden wie Afrika und Australien behauptete sich dagegen zum Teil bis ins 20. Jahrhundert die orale Erzählkultur, um wertvolles Wissen und soziale Traditionen an die nächste Generation weiterzugeben.

Ob die Zeichen nun in Knochen geritzt, auf Stein gemalt oder mit Stäbchen in feuchte Tontafeln oder Lehmfiguren gedrückt wurden: Schon auf seiner ersten primitiven Stufe offenbarte das Schreiben zwei seiner vielen praktischen Vorteile: Mit dieser Kulturtechnik konnte man Erfahrungen, Tatsachen und wichtige Botschaften fixieren, die sonst verloren wären. Und man konnte eine Mitteilung oder Anweisung über größere Distanzen schicken, zum Beispiel Listen über gehandelte Waren, über Herden und deren Eigentümer, später auch Marschbefehle, Reiseberichte oder medizinische Ratschläge. Daten über Einnahmen und Ausgaben ließen sich kaum mündlich konservieren.

Die großen Kulturvölker im Zweistromland Mesopotamien bauten die ersten Stadtstaaten auf, sie bändigten die Fluten mit Dämmen und Kanälen, bauten Straßen und Paläste. Das erforderte eine leistungsfähige Verwaltung und strenge Regeln für den Handel, der immer fernere Ziele ansteuerte. Also dominierte zunächst die wirtschaftliche und staatliche Funktion der Schrift. Nicht nur mussten amtliche Dokumente angefertigt und ausgeschmückt werden, auch Landbesitz, Bauvorhaben, Viehbestand und Steuerschulden wurden penibel aufgezeichnet.

Die Keilschrift der Buchhalter

Die Keilschrift – benannt nach ihren nagelförmigen Zeichen, die man mit angespitztem Schilfrohr in Lehmtäfelchen ritzte – wurde von der Zivilisation der Sumerer entwickelt; ihr Reich lag zwischen Bagdad und dem Persischen Golf. Erste erhaltene Inschriften waren Listen über landwirtschaftliche Produkte, eine Art Buchführung des Tempels. Andere Schrifttäfelchen notieren Zahlen über die Einwohnerschaft. Sogar das erste Formular erblickte das Licht der Welt, ein Lehmtäfelchen, nicht größer als eine Kreditkarte. Darin wurden Kerben und Zeichen geritzt.

Aus Vorbildern in der Natur (zum Beispiel Sonne = Kreis) entstanden die ersten Symbole. Das Abbild eines Ochsenkopfs stand für ein Stück Vieh. Aus der immer weiter abstrahierten Form dieses Piktogramms wurde nach und nach ein Zeichen, das nicht mehr an ein konkretes Objekt gebunden war, sondern allgemeinere Bedeutung erhielt. Figurative und abstrakte Motive wurden von den Sumerern gleichwertig benutzt. Mit der Zeit verminderten sie die Zeichen ihrer Keilschrift auf etwa 600. Auch dies muss man sich erst einmal merken können. Je weniger der präzise festgelegten Zeichen die Schrift insgesamt hatte, umso leichter lern- und lesbar war sie. Die immer weiter verfeinerte Keilschrift verbreitet sich um 2500 vor Christus rasch unter den umliegenden Kulturvölkern. Denn sie war praktisch und brauchte weniger Platz. Tempo spielte beim Schreiben bereits eine wichtige Rolle.

Die Bedeutung der Schreiber in diesen frühen Hochkulturen kann gar nicht überschätzt werden. Ohne sie schien eine stabile Herrschaft nicht möglich – inklusive geregelter Steuereinnahmen und schmeichelnder Hofberichterstattung für den König. Die Kunst des Lesens und Schreibens blieb ein Privileg der Oberschicht. Und man hütete sich besser davor, sich als Träger von Staatsgeheimnissen zu erkennen zu geben. Denn der Schreiber hatte diskret zu bleiben. Das älteste bekannte Gesetzeswerk für eine ganze Gesellschaft stammt aus dem Babylon zu Zeiten des Königs Hammurapi aus dem 18. Jahrhundert vor Christus. Die ersten Schreiber waren also keine Dichter, sondern mächtige Beamte, die sogar eine beachtliche Schreib- und Regelwut an den Tag legten. Vielleicht wollten sie auch nur ihre Unersetzlichkeit beweisen.

Wie Alberto Manguel in seinem schönen Buch Eine Geschichte des Lesens zu Recht bemerkt, wurde mit dem Beruf des Schreibers gleichzeitig und notwendig der Leser erschaffen: »Als der erste Schreiber Zeichen in den Lehm ritzte, nahm er bereits die Kunst des Lesens vorweg, ohne die seine Mitteilung schlicht bedeutungslos geblieben wäre. Der Schreiber war ein Verfertiger von Botschaften, der Schöpfer von Zeichen, aber seine Zeichen erforderten einen Eingeweihten, der sie entziffern und der Botschaft Stimme verleihen konnte. Schreiben verlangte nach einem Leser« (Manguel, S. 209). Daran hat sich bis heute nichts geändert. Und auch in Zukunft werden nur die Schriftkundigen lesen und deuten können, was von uns bleibt.

Die älteste Papyrusrolle der Welt

Um 3500 vor Christus hatten auch die Ägypter am Unterlauf des Nils eine größere Kultur von langer Dauer gegründet. Es gelang ihnen, ihre Wirtschaft den steigenden und fallenden Fluten des gewaltigen Stroms in raffinierter Weise anzupassen. Die Verwaltung war zentralisiert – und ein ganzes Heer von Beamten und Schreibern war damit beschäftigt, das Staatswesen zu verwalten, die Wirtschaft zu regulieren und die Steuern einzutreiben. Die älteste erhaltene Papyrusrolle der Welt wurde 1937 in einem Beamtengrab gefunden und datiert auf 2970 vor Christus.

Das Schreibenlernen wurde der Jugend als Königsweg empfohlen oder besser befohlen, um sich vor harter Arbeit jeder Art zu schützen und ein Königsberater hohen Ansehens zu werden. Ein Ratschlag, der uns gar nicht so altmodisch vorkommt. Selbst Prinzen liebten es, sich in schreibender Pose mit Rohrpinsel und Papyrus abbilden zu lassen oder beim Lesen einer Schriftrolle mit den zeitlos schönen Hieroglyphen, die uns die Ägypter hinterlassen haben. Neben dieser Heiligen eingegrabenen Schrift für feierliche Inschriften entstanden zwei einfachere Varianten für die Verwaltung und das Volk. Aus dieser letzten Variante hat sich sehr wahrscheinlich später das erste Alphabet entwickelt.

Wer im Alten Ägypten Tempelschreiber werden sollte, musste sich ab dem sechsten Lebensjahr einem sehr strengen Schreibunterricht unterziehen. Zwar versprach das Erlernen dieses Handwerks hohes Ansehen und die Aussicht auf ein angenehmes Leben im Dienste der Herrschaft, doch die Schule war hart und die Aufgabe herausfordernd.

Um die vielen Hieroglyphen zu lernen, deren Zahl sich im Lauf der Jahrtausende von 700 auf etwa 5000 (!) vergrößerte, mussten die Schüler drei Arten von Zeichen verinnerlichen, aus denen sich das grafische System namens Hieroglyphenschrift zusammensetzte: Piktogramme (stilisierte Bildzeichen), ganz ähnlich aussehende Phonogramme, um Laute (nur Konsonanten) darzustellen, sowie sogenannte Determinative, die verdeutlichen, um welche Art von Ding oder Lebewesen es sich genau handelt. Um diese Schrift der Götter zu beherrschen, war es notwendig, jedes einzelne Wort zu lernen, nicht nur einzelne Zeichen.

Der Unterricht bestand zunächst aus Gedächtnis- und Leseübungen. Stundenlang mussten die Schüler im Chor psalmodieren, oder immer wieder Diktate ausführen und abschreiben. Körperliche Strafen waren an der Tagesordnung, nach der Devise: Das Ohr des Jungen sitzt auf seinem Rücken – er hört, wenn man ihn schlägt. Wer diese harte Schule überstanden hatte, konnte in eine mächtige Kaste aufsteigen, er wurde Schreiber am Hof der Pharaonen. Denn weil der Herrscher sich für einen Gott hielt, verzichtete er auf das Erlernen solcher Künste – und ließ seine Schreiber für ihn lesen, schreiben, rechnen.

Die Technik, Schriftrollen aus der Papyruspflanze herzustellen, entwickelten die Ägypter vor beinahe 5000 Jahren. Die langen Fasern der im Nildelta in großen Mengen wachsenden Pflanze wurden dafür zu Kreuzmustern geflochten und dann getrocknet. Der Saft verklebte die Fasern zu einem Blatt, das so lange flachgehämmert wurde, bis es weich, glatt und fast weiß war, schon ganz ähnlich aussah wie dickes Papier. Bis zu 20 solcher Blätter wurden dann zu Rollen zusammengeleimt. Den ägyptischen Rohrpinsel, mit dem die Schriftrollen im Schneidersitz beschrieben wurden, stellte man aus einer dünnstämmigen Binse her, die kunstvoll zugeschnitten wurde. An einem Ende weichgeklopft, wurde sie leicht faserig und konnte somit genügend Tinte aufnehmen, um eine ganze Reihe von Zeichen zu schreiben.

Für den alltäglichen Bedarf im Handel und in den Schulen bediente man sich kleiner, mit Bienenwachs beschichteter Schiefertafeln. Das hatte den Vorteil, dass sie zum Üben der Zeichen immer wieder glatt gestrichen und neu beschrieben werden konnten. Pergament, ein aus gegerbtem Schafs- oder Kalbsleder hergestelltes und sehr strapazierfähiges Material, wurde erst später erfunden, war aber noch teurer und edler als der Papyrus.

Die Erfindung des Alphabets

Die Vorläufer der ersten Buchstaben waren um 5000 vor Christus stark vereinfachte Bilder von Sonne, Ochse, Vogel, Fisch und so weiter. Wasser wurde in vielen Kulturen als horizontale Schlangenlinie dargestellt. Und die ersten Zahlen waren nichts anderes als gesammelte Kerben, die für erlegte Tiere standen. Aus konkreten Vorbildern eine Abstraktion zu formen, die dennoch lesbar und verständlich für andere war, stellt einen enormen kulturellen Fortschritt dar.

Das Alphabet, dessen Buchstaben zu Silben, Wörtern und Sätzen fast unendlich kombiniert werden können, hat das Schreiben wie das Lesen sehr vereinfacht, weil es die Zahl der zu beherrschenden Zeichen immer weiter verringerte. Der Verzicht auf Logogramme und die Beschränkung auf Lautzeichen reduzierte den Bestand schlagartig auf wenige Dutzend. Das war ökonomisch, sparte viel Zeit und Platz. Man kann das Alphabet durchaus als ersten Schritt zur Demokratisierung des Wissens bezeichnen. Wer lesen kann, weiß mehr!

Die Legende hingegen, wonach der Prophet Moses selbst das erste Alphabet erfunden hat, weil Gott ihm die Zehn Gebote in dieser Sinai-Schrift diktierte, ist wissenschaftlich nicht haltbar und steht auch nicht im Alten Testament. Denn die ersten alphabetischen Inschriften aus dieser Gegend sind ein paar Jahrhunderte älter als die Epoche, in der Moses den Auszug der Israeliten aus Ägypten anführte. Wahr ist, dass die hebräische wie die arabische Schrift sich aus den gleichen Quellen speisen. Und das Alte Testament wurde zumindest teilweise mit aramäischen Buchstaben, die denen der Phönizier sehr ähnelten, aufgeschrieben.

Die Phönizier, ein umtriebiges Handelsvolk, das von Syrien aus ganz Nordafrika und halb Südeuropa kolonisierte, waren die Ersten, die das Alphabet im Mittelmeerraum verbreitet haben (etwa um 1000 vor Christus). Man hat Zeugnisse dafür von Anatolien bis Sardinien gefunden, von Mesopotamien bis nach Palästina. Der karthagische Admiral Hanno verfasste um 470 vor Christus den ersten authentischen Reisebericht über eine Expedition mit 60 Schiffen und einer großen Besatzung durch die Meerenge von Gibraltar und entlang der afrikanischen Westküste nach Süden.

Die Karthager benutzten eine Variante des phönizischen Alphabets und erkannten rasch dessen große Vorteile für Handel, Kolonialkrieg und Verwaltung. Auf einmal brauchte man nicht mehr Hunderte und Tausende unterschiedlicher Zeichen, sondern nur etwa 30, aus denen sich alle Wörter kombinieren ließen.

Die Griechen entwickelten nun die Sache im Dienste ihrer eigenen Sprache weiter, die bisher mangels passender Buchstaben nicht aufgeschrieben werden konnte: Weil dem phönizischen Alphabet die Vokalzeichen fehlen, holten sich die Griechen diese von den Aramäern. So entstanden A (Alpha), E (Epsilon), O (Omikron) und Y (Ypsilon). Dann erfanden sie noch das J (Jota). Komplett sind die 24 Buchstaben des griechischen Alphabets im 5. Jahrhundert vor Christus. Jetzt beginnt die lange, sehr kreative Übergangszeit, in der die orale Sprachkultur und die schriftlichen Werke miteinander konkurrieren. Jetzt erst entsteht Literatur: Dichtung, Theater, Redekunst, Philosophie und Geschichte. Geschrieben wird auf Papyrus, auf Wachstäfelchen und auf nicht glasiertem Ton. Große Buchstaben (Majuskeln) bleiben den in Stein gehauenen Inschriften vorbehalten, kleine Buchstaben (Minuskeln) erobern den urbanen Alltag und den Handel.

Das auf Kreta letztlich vollendete griechische Alphabet breitet sich im Mittelmeerraum rasch aus und gelangt über die Etrusker im 7. Jahrhundert vor Christus auch zu den Latinern. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass das hellenistische Reich von Alexander dem Großen wie das römische Imperium ohne die Existenz dieser handlichen Schriftform nicht so groß und mächtig hätten werden können. Kriegsherren wurden jetzt auch zu Kulturträgern. Alexander, der auf dem Weg nach Indien die Bekanntschaft weit höher entwickelter Nationen machte, soll, so die Legende, sogar mit einer Schriftrolle Homers in der Armen gestorben sein.

Die geniale Vereinfachung der Schrift machte sie konkurrenzlos schnell zum westlichen Erfolgsmodell, bewährt seit mehr als 2000 Jahren! Die Römer schufen die immer noch gültigen optischen Grundelemente, die von den Steinmetzen bis heute in Mauern und Steine gemeißelt werden: capitalis monumentalis, die Großbuchstaben. An den Häuserwänden von Rom und Pompeij fanden sich gar schon die ersten Graffiti: romantische Liebesschwüre oder Beschwerden über sauren Wein, aber auch Zoten und Werbung für Prostitution.

Das lateinische Alphabet mit seinen 26 Buchstaben wurde von den Römern um das G ergänzt (für die etruskische Aussprache des Konsonanten K); nach der Eroberung Griechenlands brauchten sie zusätzlich die Buchstaben X, Y und Z, um die vielen griechischen Lehnwörter exakt wiedergeben zu können. Das römische Imperium verbreitet seine allgemeine Schrift und die Unzialschrift im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus in alle Gegenden Europas, in denen Latein gesprochen und geschrieben wird. J und U kamen erst im Mittelalter, das W schaffte es sogar erst im Hochmittelalter ins Alphabet.

Die dunklen Jahrhunderte

Zu den vergessenen Helden der abendländischen Zivilisation gehören ohne Zweifel die irischen Mönche. In den sogenannten dunklen Jahrhunderten nach dem Zerfall des Römischen Reiches bewahrten die Glaubensbrüder die Heiligen Schriften und retteten auch das lateinische Alphabet vor dem Vergessen. In windumtosten Mauern am äußersten nordwestlichen Rand Europas schrieben sie mit frommer Geduld und höchster Kunstfertigkeit ab dem 5. Jahrhundert die sakralen Texte immer wieder ab. Buchstaben für Buchstaben malten sie auf die Pergamentbögen und schmückten ihre Handschriften mit Initialen und Miniaturen in leuchtenden Farben.

Das Pergament aus den Häuten von Kalb und Schaf hatte den Papyrus inzwischen weitgehend verdrängt. Auf seiner aufwändig präparierten glatten Oberfläche ließen sich die Schriften mit Hilfe eines zurechtgeschnittenen Federkiels aus dem linken Flügel einer ausgewachsenen Gans viel besser aufschreiben, und auch die für die Illustration verwendeten Farben hielten besser auf der Lederhaut. Im Schnitt konnten die Schreiber pro Tag vier Folioblätter beschriften.

Überall in Europa, wo das Christentum Fuß fasst, machen sich die Mönche an die Arbeit. Zwar dürfen die klösterlichen Kopisten die Schriften weder verändern noch kommentieren, doch ihre schönen Schriftseiten stellen die ersten Bücher dar, in feinster Kalligrafie und mit wunderschönen Miniaturen illustriert. Vom 10. Jahrhundert an hat jede Abtei und jedes Kloster eine eigene Schreibstube, das Skriptorium. Mehr als tausend Jahre bleiben Lesen und Schreiben ein Monopol der Mönche.

Die Karolingische Minuskel

Kaiser Karl der Große (er lebte von 742 bis 814 nach Christus) gilt als der Herrscher, der Europa zum ersten Mal nach dem Ende des Römischen Reiches zu einigen vermochte. Der Frankenkönig – ein Barbar, obwohl er sich zum Christentum bekehrte – konnte zwar seinen eigenen Namen nicht schreiben, aber lesen. Sein Wissensdurst wurde nur übertroffen von seiner Grausamkeit als Kriegsherr. Er umgab sich mit zahlreichen Gelehrten seiner Zeit, allen voran der Bibliothekar Alcuin of York, und ließ antike Texte in großer Zahl kopieren. Bücher von nie gesehener Schönheit erwarb er für seine Sammlung. Karl war entschlossen, nicht nur das Christentum mit harter Hand gegen Heiden und Muslime zu verteidigen, sondern auch den klassischen Künsten und Wissenschaften zu neuer Blüte zu verhelfen. Das gelang ihm nachhaltig.

An den Klöstern und Bischofssitzen ließ er Schulen gründen, um das Abschreiben und Übersetzen der heiligen und antiken Schriften zu garantieren. Das mühselige Abschreiben in kantigen gotischen Buchstaben und Zeile für Zeile war immer noch die einzige Methode der schriftlichen Überlieferung. Zu Karls Großtaten gehörte auch die Entwicklung neuer Kleinbuchstaben, welche die antiken Großbuchstaben des lateinischen Alphabets seitdem ergänzen. Die Karolingische Minuskel fasste eine neue Familie lateinischer Schriften zusammen, deren harmonisch gerundete Kleinbuchstaben ein bis heute gut lesbares Schriftbild ergaben. Sie wurde in fast alle Winkel Europas verbreitet, nur in der päpstlichen Kurie behielten sie eine Art Geheimschrift bei, die Littera romana.

Tausende neue Klöster wurden gegründet, die ersten Kathedralen wuchsen in den Himmel. Die Mönche bildeten die mächtige geistige Elite des Mittelalters, sie waren die eigentlichen Kulturträger. Auch nach dem Tod Karls des Großen hörte die Arbeit in den Schreibsälen der Palastschulen und der großen Klöster nicht auf. In einem streng geregelten Teamwork entstanden aus den gebundenen Pergamentseiten Bücher von außerordentlicher Schönheit. Schriften und Illuminationen sollten nicht die Talente der meist anonymen Künstler betonen, sondern sich in den Dienst Gottes stellen, selbstlos und fromm. Nur selten wagten es die Mönchschreiber, sich in kleinen Randnotizen mit dem Federkiel zu beklagen oder selbst zu loben.

Der Arbeitsalltag eines Schreibers im Kloster war lang und hart, jede Stunde Tageslicht wurde genutzt. Die fleißigen Mönche, die ihre Texte beim Abschreiben beständig vor sich hinmurmelten, erfüllten die Skriptorien mit einem Geräusch, das dem Gesumm eines Bienenschwarms glich.

Zum alltäglichen Gebrauch war Pergament viel zu teuer, selbst wenn man es mehrfach verwendete, nachdem man alte Texte wieder abgeschabt hatte. Das geschah leider auch in den Klöstern, wodurch viele schöne Handschriften verloren gegangen sind. Für die täglichen Schreib- und Rechenaufgaben benutzte man damals mit farbigem Wachs beschichtete Holztäfelchen. Mehrere solcher Tafeln konnten mit Lederbügeln zu kleinen Büchlein zusammengebunden werden, die man am Gürtel befestigen konnte – die ersten Gebetbücher.

Als der Elsässer Benediktinermönch Otfried von Weißenburg im 9. Jahrhundert eine Evangelien-Dichtung in der Sprache des Volkes, also auf Deutsch verfassen wollte, gab es weder eine allgemein anerkannte Schreibweise noch eine gültige Grammatik. Es gab nur, wie er dem Mainzer Erzbischof Liutpert klagte, diese »barbarische Sprache, insgesamt bäurisch und schwer zu handhaben, weil sie an die Zügel der Grammatik nicht gewöhnt ist«. Otfried wollte das niedere Volk von jenen rohen Liedern abbringen, die es bei der Arbeit und auf Festen sang. Sein Evangelienbuch, diese erste größere althochdeutsche Dichtung, vollendete er zwischen 863 und 871 – und starb kurz darauf hochbetagt. Er hatte einen Grundstein gelegt. Denn um alle deutschen Laute wiederzugeben, schienen die Buchstaben des lateinischen Alphabets nicht auszureichen, es mussten zusätzlich ä, ö, ü und j eingeführt werden, dazu die Buchstabenkombinationen äu, eu, ch und sch.

Gegen Ende des 12. Jahrhunderts begannen die Klöster ihr Kulturmonopol zu verlieren. In den Städten strebte eine neue erfolgreiche Schicht von Kaufleuten und Handwerkern nach oben, die nun Schulen und Universitäten gründete – unter der Schutzherrschaft von Fürsten und Königen. Bald wuchs die Zahl der des Lesens kundigen Menschen: Studenten und Händler drängten nach persönlicher Bildung und verlässlicher Information. Sie hörten auf, ein Privileg zu sein.

Auch die Schrift dynamisierte sich. Erst im 13. Jahrhundert begann man die Sätze, die zuvor in der Scriptura continua dahinflossen, leserfreundlich in Sätze zu untergliedern, getrennt mittels Satzzeichen und Absätzen. Auch neue grammatikalische Regeln für Satzbau und Wortfolge erleichterten das Lesen und Verstehen. Die Fähigkeit, sich lange auf einen Text zu konzentrieren, musste erst mühsam erlernt werden. In der Regel wurde laut gelesen – und in Gemeinschaft. Das änderte sich in den Bibliotheken der neuen Universitäten, wo Studenten und Professoren an langen Tischen saßen und lasen, ohne zu reden. Beim Aneignen von Wissen entstand eine vorher nicht bekannte private Beziehung zwischen Buch und Leser. Auch die Forscher lasen und studierten nun einsam, im stillen Kämmerlein.

Italienische Renaissance

Nachdem die Kopisten in den Schreibstuben der Klöster jahrhundertelang an ihren wertvollen Manuskripten saßen und Buchstabe für Buchstabe wieder und wieder kopierten, wuchs in den aufstrebenden Städten das Bedürfnis, endlich schneller und flüssiger zu schreiben. Es ging um Tempo, aber auch um Schönheit. Francesco Petrarca, einer der ersten großen Geister der italienischen Renaissance, gelangen nicht nur ausnehmend gefühlvolle Strophen und die erste moderne Landschaftsbeschreibung, nämlich seine Besteigung des Mont Ventoux in der Provence im Frühjahr 1336. Petrarca konnte auch bemerkenswert schnell und trotzdem stilprägend schreiben. Man kann sagen, dass sich die moderne Handschrift in der italienischen Renaissance herausgebildet hat. Sie entwickelte die Buchstaben der Karolingischen Minuskel weiter, auch die Capitalis-Majuskel wurde genutzt – beides zusammen nannte man Antiqua. Aus dem Wunsch, schneller zu schreiben, ergab sich eine nach rechts neigende Schräglage der Buchstaben, was man seit damals als Kursiv bezeichnet. Die sogenannte Humanistische Kursive ist die Mutter der lateinischen Schreibschriften, so wie wir sie heute kennen. Druckbuchstaben in schräger Form heißen nach wie vor Italic. Der erfolgreichste Drucker Aldus Manutius ließ sich von den Schriften Petrarcas zu einer besonders eleganten Kursivschrift inspirieren.

Die Verweltlichung des Lebens war nicht zuletzt dem Einfluss der islamischen Wissenschaften geschuldet, die von Konstantinopel aus in den Westen gelangten. Ab dem 10. Jahrhundert waren die alten Wege zwischen dem Nahen Osten mit Jerusalem und den Wissenszentren Westeuropas wieder offen. Die normannische Wiedereroberung Siziliens und Süditaliens und die maurischen Gebiete im Süden Spaniens schufen Chancen für kulturellen Austausch. Die Texte der alten Griechen sowie viele Werke aus Astronomie und Mathematik kamen oft erst über Übersetzungen aus dem Arabischen in den Westen, wobei die Universität von Toledo eine große Rolle spielte. Die Verkehrssprache der europäischen Gelehrten blieben das Latein und das Altgriechisch.

Glanz und Elend der Berufsschreiber

Bis ins hohe Mittelalter hatte es nur zwei Abnehmer für kostbare, von Expertenhand gefertigte Bücher gegeben: Die Kirchen wollten Bibeln, Messbücher und theologische Schriften. Und die Höfe der Könige und Fürsten bestellten Luxusbücher für die eigene Bibliothek oder gaben sie als Staatsgeschenke in Auftrag. In den aufstrebenden Städten und Handelsmetropolen blühte nun auch das Bücherhandwerk mitsamt seinen Zulieferern.

Handwerker, Schreiber, Illuminatoren, Pergamentmacher und Buchbinder hatten Hochkonjunktur, weil jetzt auch die antiken Schriften der Philosophen oder Bücher über Astrologie, Jagd, Landwirtschaft und höfische Lebensart gefragt waren. Auch Werke über das richtige Haushalten oder romantische Themen gab es schon. Die klösterliche Schreiberei nahm immer mehr die arbeitsteiligen Formen von Manufakturen an. Und die neue Zunft der Berufsschreiber machten ihnen Konkurrenz. Sie waren zu einer neuen Klasse der Textschreiber und Buchmaler herangewachsen und arbeiteten oft in kleinen Schulen und Werkstätten zusammen, um der rasch steigenden Nachfrage des neuen Lesepublikums gerecht zu werden.

Das Geheimnis der Papierherstellung hätten die Chinesen gern noch ein paar Jahrhunderte länger für sich behalten. Doch sie mussten es nach mehr als 500 Jahren ihren mongolischen Eroberern preisgeben. Über die Seidenstraße gerät das kostbare Wissen schließlich nach Samarkand in Persien, dann über arabische Händler nach Spanien und Sizilien. In Europa misstraut man damals dem Papier, hielt es für wenig haltbar. Venedig und Genua öffnen sich als Erste der neuen Technik. Ende des 13. Jahrhunderts sind in Europa bereits die ersten Papiermühlen in Betrieb. Das Material, aus dem die Bücher gemacht werden, heißt in Zukunft Papier, ob geschrieben oder gedruckt. Seine Vorteile liegen auf der Hand: Es ist billiger, faltbar und viel leichter als Pergament.

Gutenbergs epochale Erfindung

Das Wissen der Neuzeit befreite sich unaufhaltsam aus seinem kirchlichen Gefängnis, der Klerus verlor seine Bildungshoheit. Und in diesem historischen Moment ereignete sich eine Kulturrevolution: die Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gensfleisch Gutenberg. Das Massenmedium Buch sollte bald die Verwandlung der Welt und die Verbreitung von Wissen atemberaubend beschleunigen. So gilt die Erfindung der Druckpresse heute noch bei vielen als die Erfindung des Jahrtausends, vergleichbar nur mit der Entdeckung der Elektrizität.

Zwischen 1390 und 1400 wurde Gutenberg in Mainz als Sohn eines reichen Patriziers geboren. Der junge Johannes besuchte eine Klosterschule, lernte Goldschmied und ging zum Studieren nach Straßburg. Dort betrieb er eine Manufaktur für sogenannte Pilgerspiegel und arbeitete wohl bereits an seiner bahnbrechenden neuen Drucktechnik. Zurück in Mainz, druckte er seine erste Seite, ein Gedicht. Nach 1452 arbeitete er drei Jahre lang an seinem Mammutprojekt: dem Druck der Bibel, ein Buch mit 1200 Seiten, jede davon mit zwei Spalten und jeweils 42 Zeilen. Die Gutenberg-Bibel gehört heute zum Kulturerbe der Menschheit. Nur 200 Exemplare druckte Gutenberg vom Buch der Bücher. In jeder seiner auf Pergament gedruckten Bibeln steckten die Häute von etwa 300 Schafen.

Schon lange hatte den Mainzer die Vorstellung fasziniert, die kostbaren, reich dekorierten Bücher aus den Werkstätten der Klöster mechanisch reproduzieren zu können. Als gelernter Metallschmied dachte er zuerst daran, wie man einzelne Buchstaben als Drucktypen herstellen konnte. Um solche Lettern in identischer Vielzahl formen zu können, erfand Gutenberg das Handgießinstrument, mit dem man vorbereitete Formen mit Blei ausgießen konnte. Aus den einzelnen Buchstaben wurden dann feste Zeilen montiert und in einen Rahmen gespannt. Die Druckerpresse, seine zweite große Neuerung, beschleunigte den Vorgang des Druckens auf Papierbögen zusätzlich ungemein.

Wie die Pilze aus dem Boden breiteten sich in Europa die Druckwerkstätten und die Verlage aus – in Basel, Köln, Paris, Valencia und Neapel. In Italien sorgten die Drucker für rasche Verbreitung des Gedankenguts der Renaissance. Sie verwendeten keine gotischen Lettern, sondern die runden, gefälligen und besser lesbaren karolingischen Minuskeln. Und als im Jahre 1501 der italienische Drucker Aldus Manutius das Oktavformat vorstellte, das so klein war, dass es in jede Tasche passte, war der Siegeszug der gedruckten Bücher nicht mehr aufzuhalten. Ende des 15. Jahrhunderts gab es Druckereien in 250 Städten Europas. Bald wurden nicht mehr nur Bibeln und Ablassbriefe gedruckt, sondern auch Pamphlete und Flugblätter – und es verbreiteten sich in vorher nie erreichtem Tempo aufrührerische Thesen wider Papst, Fürst und Kaiser – sowie alle möglichen Arten von Unterhaltungsliteratur.

Nach Gutenbergs Erfindung entwickelte sich bald ein erbittert ausgefochtener Wettstreit zwischen den Kupferstechern und den Druckern über die Frage, wer die schönste Schrift zu bieten hat. Anfangs versuchten die ersten Drucker noch die Handschriften möglichst nachzuahmen, was jedoch an technische Grenzen stieß. Durch ihre Erzeugnisse brachten sie die Zunft der Berufsschreiber und Kupferstecher in Nöte. Diese wiederum wehrten sich, indem sie sich immer kunstvoller verschnörkelte Schriften ausdachten, die wegen ihrer barocken Schnörkel und Girlanden von den Druckern unmöglich nachgeahmt werden konnten.

Martin Luther macht Schule

Erst im 15. Jahrhundert wuchs wieder das Interesse, aus der deutschen Sprache auch eine Schriftsprache zu schaffen, die von den Alpen bis zur Nordsee verbindlich sein sollte. Denn es herrschte das völlige Chaos. Der Schreibmeister Hans Fabritius beschwerte sich im Jahre 1531: »… Wo unser drey oder vier Deutsche schreibers zusamen koment, hat yeder ein sonderlichen gebrauch, der ein schreibt ch, der andere c, der dritte k, wollte Gott, daß es dahyn komen möchte, das die Kunst des schreibens einmal wieder in rechten prauch komen möchte.« In den folgenden Jahrhunderten mussten noch viele Schriftgelehrte dafür arbeiten, dass ein Konsens über eine annähernd einheitliche Schreibweise der deutschen Muttersprache erreicht werden konnte.

Das geistige Leben und die Entwicklung des Deutschen erhielten einen enormen Schub durch Martin Luther, der 1517 mit seinen Wittenberger Thesen wider den päpstlichen Ablasshandel und seiner ersten kompletten Bibelübersetzung ins Deutsche die Reformation auslöste. Dass er in seiner Schreibstube auf der Wartburg ein Tintenfass gegen den ihn bedrängenden Teufel geschleudert haben soll, ist nur eine hartnäckige Legende. Doch symbolisch macht sie durchaus Sinn: Immerhin schuf Luther nicht nur eine ganz neue, radikale Auffassung von Christentum, er markiert auch das Ende der mittelalterlichen Welt und den Anfang der medialen Neuzeit. Luther erfand überhaupt erst eine allgemein anerkannte neuhochdeutsche Sprache, er und seine Mitstreiter nutzten das neue Medium des Buchdrucks in revolutionärer und propagandistischer Weise – und eine erste deutsche Alphabetisierungswelle folgte ebenfalls.

»Jahrtausendelang waren Schreiben und Lesen Geheimkünste, die besondere Macht und Privilegien einbrachten. Es kostete einen langen und schwierigen Kampf, bis auch der Durchschnittsmensch die Heilige Schrift lesen durfte. (…) Aus den biblischen Geschichten lernten die Kinder lesen, und erst nachdem allen gestattet wurde, in der Bibel zu lesen, fand Bildung allgemeine Verbreitung«, betont der Pädagoge und Psychoanalytiker Bruno Bettelheim (Bettelheim: »Kinder brauchen Bücher«, Stuttgart 1982, S. 58).

Martin Luther forderte in Predigten und Schriften mit Nachdruck die Einrichtung von Volksschulen, um die Jugend im rechten Glauben zu unterweisen. Bald lernten die Kinder das Lesen anhand von Bibel und Katechismus. Dabei ging es dem Reformator und seinen Mitstreitern nicht in erster Linie um Bildung für die niederen Stände, sondern um eine rasche Verbreitung der neuen Lesart der Heiligen Schrift. Die evangelischen Landesherren, vor allem Herzog Christoph von Württemberg (1518 – 1568), trieben das Bildungswesen voran. Volksschulen, wo Kinder Schreiben, Lesen und Rechnen lernten, gab es nur in größeren Städten.