Kalisch, Raffael Der resiliente Mensch

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Für Hilke, in Liebe

 

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Vorwort

Wie gelingt es manchen Menschen, trotz Stress nicht krank zu werden?

Ich habe mich wahnsinnig auf mein Studium gefreut. Schon lange bevor ich mich überhaupt für ein Studienfach und einen Studienort entscheiden musste, fuhr ich in verschiedene deutsche Unistädte, besuchte Vorlesungen, schaute mich um, sprach mit Studenten. Studium, das Wort klang wie eine Verheißung. Ich würde Dinge lernen, die ganz anders wären und weit über das hinausgingen, was die Schule mir bieten konnte. Mehr noch, ich würde selbst forschen und zu neuem Wissen vorstoßen. Der Anblick eines Hörsaals, eines Institutsgebäudes, einer Bibliothek faszinierte mich, ja er elektrisierte mich geradezu. Und natürlich träumte ich vom Studentenleben, das auch nicht zu kurz kommen sollte und das sicher viel aufregender sein würde als das Nachtleben meiner Heimatstadt Heilbronn.

Sie mögen in diesen Träumen das Psychogramm des angehenden Wissenschaftlers erkennen. Da ist vermutlich etwas dran; denn bei allen Schwierigkeiten und Rückschlägen und trotz der Zweifel, die sich mehr als einmal zu Wort meldeten, konnte ich mir doch nie vorstellen, jemals eine andere als die akademische Laufbahn einzuschlagen. Den einmal gewählten Weg, der 1993 mit einem Studium der Humanbiologie an der Universität Marburg begann, habe ich bis heute nicht verlassen. Eine Portion Glück und die nötige psychische Robustheit waren dabei unentbehrliche Begleiter.

Einem meiner besten Schulfreunde erging es anders. Uli war immer ein großer Tierfreund gewesen. Er liebte es, sich mit Tieren zu umgeben und sie zu beobachten. Bereits während der Schulzeit verblüffte er uns mit seinem enormen Wissen, im Biologie-Leistungskurs gehörte er zu den Besten. Auch Ulis Weg schien vorgezeichnet. Doch schon nach den ersten Monaten seines Studiums in Heidelberg war für alle, die ihn besser kannten, unübersehbar, dass sich sein Leben zunehmend verdunkelte. Vor allem die Nebenfächer Mathematik und Physik setzten ihm zu. Die Mathematik-Prüfung im zweiten Semester bestand er erst im dritten Anlauf. Am Ende der folgenden Semesterferien, die er bei seiner Freundin in Südfrankreich verbrachte, konnte er sich kaum zur Rückkehr nach Heidelberg aufraffen; während des für Biologiestudenten obligatorischen Physikpraktikums im dritten Semester fuhr er jeden zweiten Tag zu seinen Eltern nach Heilbronn zurück. Doch die Probleme folgten ihm nach, neue Kräfte konnte er auch zu Hause nicht sammeln. Auf die schließlich anstehende Physik-Prüfung, die ihn in Panik versetzte, bereitete er sich gar nicht mehr richtig vor, sondern vergrub sich lieber in seine biologischen Fachbücher. Als Uli im dritten Semester das Studium abbrach, war er in eine schwere Depression abgerutscht. Bis heute benötigt er die Hilfe von Psychopharmaka, um sein Leben zu bewältigen.

Ich konnte es zunächst kaum fassen, als mir Uli erzählte, dass er eine klinische Depression habe. Es war das erste Mal, dass ich in meinem unmittelbaren Umfeld mit dem Phänomen einer stressbedingten Erkrankung konfrontiert wurde, einer psychischen Krankheit also, bei deren Entstehung Stress eine wichtige Rolle spielt. Ich wusste zwar von den Schwierigkeiten, mit denen Uli in seinem Studium zu kämpfen hatte. Auch mein eigenes Studium und das Studentenleben hatten sich als nicht ganz so strahlend entpuppt wie erträumt – zumindest bis ich am Anfang des dritten Semesters meine spätere Frau kennenlernte. Andererseits war ich aber auch nie davon ausgegangen, alles würde mir immer nur leichtfallen. Manchmal muss man sich eben durchbeißen, davon war ich fest überzeugt. Uli war das offensichtlich nicht gelungen. Ich hatte seine Depression nicht kommen sehen. Unsere Leben bewegten sich in zwei sehr verschiedene Richtungen.

Als im Oktober 2016 in den Medien darüber berichtet wurde, dass sich die Studenten in Deutschland in ihrer Mehrheit massiv gestresst fühlen, musste ich sofort an Uli denken. Hintergrund der Nachricht waren die von der AOK veröffentlichten Ergebnisse einer großen Studie mit insgesamt 18000 Teilnehmern. Die Studie wartete mit alarmierenden Zahlen auf. Nicht nur leidet die heutige Studentengeneration stark unter Zeit- und Leistungsdruck sowie unter der Angst vor Überforderung. Die Studienleiter wiesen überdies darauf hin, dass sich Studenten mehr gestresst fühlten als Arbeitnehmer. Während 53 Prozent aller Studenten ihr Stresslevel als hoch bezeichneten, sind es bei den Arbeitnehmern, kaum weniger besorgniserregend, »nur« 50 Prozent.

Der Grund, warum gerade eine Krankenkasse eine derartige Studie in Auftrag gibt, lässt sich aus anderen beunruhigenden Zahlen ableiten: der deutlichen Zunahme von Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung aufgrund psychischer Störungen. Die Zahlen fügen sich in das Bild, das von anderen großen, weltweiten Studien gezeichnet wird. Diese untersuchen die Verbreitung stressbedingter Erkrankungen (oder kurz: Stresserkrankungen), die damit einhergehenden Beeinträchtigungen für das Leben der Patienten und die gesellschaftlichen Auswirkungen solcher Erkrankungen. Zu den Stresserkrankungen werden neben der Depression vor allem Angststörungen und die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) gezählt, aber auch Sucht- oder Schmerzerkrankungen können mit Stress zusammenhängen. Auch der Burnout gehört dazu, der in Wirklichkeit eine Depression ist, was in einer arbeits- und leistungsorientierten Gesellschaft wie der unseren aber nicht so gut klingt.

Die Ergebnisse der großen Studien zeichnen in der Tat ein düsteres Bild. So leiden jedes Jahr etwa eine halbe Milliarde Menschen auf der Welt an einer Stresserkrankung. Ebenfalls jährlich summieren sich die durch Stresserkrankungen hervorgerufenen »years lived with disability« auf die gewaltige Zahl von hundert Millionen. Der englische, aus der Zunft der Epidemiologen (der Experten für Krankheitsstatistiken) stammende Begriff bezeichnet die Jahre, die Menschen aufgrund ihrer Erkrankungen mit starken Beeinträchtigungen, etwa einer Arbeitsunfähigkeit, leben müssen. 2013 – das letzte Jahr, für das aktuell gut ausgewertete Daten vorliegen – war die Depression die zweitwichtigste Ursache für Gesundheitsbeeinträchtigungen weltweit, Angsterkrankungen rangierten an neunter Stelle. Eine länderübergreifende Studie aus dem Jahr 2012 bezifferte die volkswirtschaftlichen Folgekosten der Stresserkrankungen auf jährlich zweihundert Milliarden Euro, und das allein in Europa. Nüchterne Zahlen, hinter denen sich Einzelschicksale wie das von Uli verbergen.

Meine Arbeit als Forscher an der Universität Mainz befasst sich mit der Frage, wie Menschen trotz Herausforderungen, Krisen, Konflikten und Beanspruchungen, trotz körperlicher Krankheiten, Schicksalsschlägen, Traumatisierungen und anderen Formen von Stress psychisch gesund bleiben können. Wie es also gelingen kann, trotz solcher ungünstigen Voraussetzungen keine Depression, Angststörung oder Posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln. Dieses Phänomen, das Nicht-Krankwerden trotz Stress, ist mittlerweile unter dem Schlagwort der Resilienz populär geworden. Man begegnet ihm nicht nur in den Artikeln von Zeitungen und Magazinen, sondern auch, wenn man vor den Regalen der Bahnhofsbuchhandlungen steht oder sich Talkshows im Fernsehen ansieht.

Doch bei aller Popularität: Die Resilienz-Forschung ist zunächst einmal eine ganz spezifische und für einen Stressforscher keineswegs selbstverständliche Art und Weise, Stresserkrankungen wissenschaftlich zu betrachten und zu erforschen. Ich selbst habe begonnen, mich für das Thema der Resilienz zu interessieren, als ich mir die Frage stellte: Warum ist es uns trotz jahrzehntelanger intensiver Forschung – in den letzten zwanzig Jahren nicht zuletzt unter starker Beteiligung meiner eigenen Disziplin, der Hirnforschung – und trotz wahrnehmbarer Verbesserungen in der Behandlung von Stresserkrankungen nicht gelungen, die Häufigkeit dieser Erkrankungen zu senken? Meiner Meinung nach kann das nicht nur einfach daran liegen, dass die Quellen von Stress im Lauf der Jahre stetig zugenommen haben und der neu hinzugekommene Stress die Erfolge seiner Erforschung sozusagen gleich wieder aufgefressen hat. Auch die Generation meine Eltern führte schließlich kein stressfreies Leben, und zu ihrer Zeit gab es noch keine Kitas und kein Internet und keine Smartphones, die die Organisation des Alltags erleichterten. Vom Stress, dem die Generation meiner Großeltern ausgesetzt war, ganz zu schweigen. Und auch wenn ich selbst zurückblicke, erinnere ich mich an sehr viel Angst in meiner Jugend. Angst vor einer atomaren Eskalation des Kalten Krieges, Angst vor dem Waldsterben, Angst vor einem weiteren Super-GAU in einem Kernkraftwerk. Und nicht zuletzt – das ist vielen Studenten heute gar nicht mehr bewusst – hing das Damokles-Schwert der Arbeitslosigkeit damals noch in weit größerem Maß über Akademikern als heute.

Es ist sicher nicht falsch, zu sagen, dass wir in unserem Kampf gegen stressbedingte Erkrankungen in einer Sackgasse stecken oder doch zumindest nicht vorwärtskommen. In einer solchen Situation tut man als Wissenschaftler gut daran, einmal innezuhalten und sich zu überlegen, ob man irgendetwas besser machen kann. Und man sollte auch nicht die schmerzhafte Frage scheuen, ob man am Ende auf dem falschen Pfad ist: Muss man vielleicht noch einmal ganz neu nachdenken?

Die konservative Antwort darauf könnte lauten: Wir sollten einfach noch mehr und noch entschlossener darüber forschen, wie Stress Menschen krank macht, warum manche Menschen dafür besonders anfällig sind und wie man Stresserkrankungen therapieren kann. Das wäre der traditionelle Ansatz der Stressforschung: nachvollziehen, wie es zur Erkrankung kommt, um dann auf der Grundlage eines besseren Verständnisses dieser Krankheitsmechanismen Behandlungesmöglichkeiten zu entwickeln. Man könnte diesen Ansatz krankheitsorientierte Forschung nennen. Krankheitsorientierte Forscher argumentieren zu Recht, dass der menschliche Geist und das menschliche Gehirn enorm komplex sind und wir noch sehr wenig von ihnen verstehen. So sei es auch nicht verwunderlich, dass wir immer noch nicht effektiv und effizient gegen psychische Störungen vorgehen können.

Der Resilienz-Ansatz kehrt die Fragestellung um. Er fragt nicht, was manche Menschen krank macht, wenn sie Stress ausgesetzt sind, sondern was andere Menschen in derselben Lage gesund erhält. Wie gelingt es manchen Menschen, nicht krank zu werden, nicht in die Knie zu gehen, obwohl sie doch massiven Stress erfahren? Was ist ihr Geheimnis? Und könnten wir vielleicht von ihnen etwas lernen, das auch weniger robusten Zeitgenossen hilft, wenn sie erkrankt sind? Könnten wir am Ende mit diesen Erkenntnissen sogar Stresserkrankungen vorbeugen, also sie gar nicht erst entstehen lassen, anstatt sie aufwendig zu heilen? Schon immer war es schlauer (und leid- und kostensparender), das Kind erst gar nicht in den Brunnen fallen zu lassen, anstatt dann die Feuerwehr rufen zu müssen, wenn das Unglück schon passiert ist.

In Mainz haben meine Kollegen und ich uns dazu entschieden, diesen Fragen unter anderem dadurch nachzugehen, dass wir junge Leute untersuchen, die sich in derselben Lebensphase befinden wie mein Schulfreund Uli damals. Es geht um den Übergang vom vertrauten Alltag in der Familie, der Schule und dem Freundeskreis in die Ungewissheiten und Unwägbarkeiten von Ausbildung, Studium oder Beruf. Also um eine Zeit im Leben eines Menschen, in der er sich neu orientieren und einem veränderten Lebensumfeld anpassen muss, in der er sich oft von der schieren Masse an Wissen überflutet fühlt und fast immer unter Leistungsdruck steht.

In einer groß angelegten mehrjährigen Studie, die wir »Mainzer Resilienz-Projekt« (MARP) getauft haben, betrachten wir genau, welchen Belastungen diese jungen Menschen ausgesetzt sind und wie sie darauf reagieren. Dabei interessieren wir uns nicht nur für das, was sie uns über ihr Leben, ihre Gedanken und Gefühle berichten. Wir wollen mehr wissen. Was geht in ihrem Gehirn und in ihrem Körper vor, wenn wir sie im Labor Stress-Belastungstests unterziehen? Welche ihrer Gene werden über die Jahre an- beziehungsweise abgeschaltet? Wie verhält sich ihr Immunsystem? Wir bitten die jungen Leute sogar, Stuhlproben abzugeben, damit wir mögliche stressbedingte Veränderungen in der bakteriellen Besiedlung ihres Darms analysieren können. Und darüber hinaus haben wir natürlich auch noch die eine oder andere ziemlich konkrete Idee, welche Mechanismen ihren Teil dazu beitragen könnten, dass sich manche unserer Probanden vermutlich (und hoffentlich!) als robust erweisen werden. Diese Mechanismen testen wir ganz gezielt.

Von solchen Resilienz-Mechanismen soll dieses Buch handeln. Dabei möchte ich betonen, dass wir derzeit noch keine fertigen Lösungen anbieten können. Es gibt viele einschlägige Ratgeber, die einem suggerieren, man müsse nur eine Checkliste abarbeiten und alles sei gut. Vielleicht haben Sie ja auch schon einmal mit dem Gedanken gespielt, ein Resilienz-Seminar zu besuchen oder sich einem Coach anzuvertrauen, in der Hoffnung, eine Antwort auf all Ihre Fragen zu finden.

Die für den einen oder anderen vielleicht etwas ernüchternde Wahrheit ist: Wir erahnen manche Resilienz-Mechanismen bereits, aber richtig sicher sind wir uns noch nicht. Andere Mechanismen postulieren wir, das heißt wir leiten sie aus theoretischen Überlegungen ab, haben aber noch einen langen Weg der Überprüfung dieser Hypothesen vor uns. Wieder andere haben wir wahrscheinlich noch gar nicht entdeckt. Dazu kommt die noch einmal ganz anders geartete Herausforderung der Umsetzung unseres Wissens über die Mechanismen in praktische Handlungsanleitungen. Sehr vieles ist noch offen, aber gerade das macht die Resilienz-Forschung auch so spannend.

Dieses Buch ist also kein Ratgeber. Patentlösungen vorzustellen wäre unseriös. Aber ich möchte versuchen, Ihnen die doch erstaunlichen Entwicklungen nahezubringen, die in den letzten Jahren in meinem Forschungsgebiet stattgefunden haben und immer noch stattfinden. Der Moment ist günstig, sich mit Resilienz zu beschäftigen: Das Feld befindet sich in einem aufregenden Umbruch. Alte Erkenntnisse der Sozialwissenschaften und der Persönlichkeitspsychologie werden hinterfragt und in veränderte Zusammenhänge gestellt, methodische Durchbrüche in Neurowissenschaft, Kognitionspsychologie, Statistik und Informationstechnologie ermöglichen ganz neue Einsichten.

Nebenbei möchte ich Ihnen auch ein wenig zeigen, wie Wissenschaftler arbeiten. Wie sie vorgehen, wenn sie sich auf die Suche nach neuen Erkenntnissen machen – verblüffende und manchmal sogar komische Umwege inklusive. Nur wer über ein Verständnis der Eigentümlichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung verfügt, kann eine gewisse kritische Distanz und die Fähigkeit zum Hinterfragen allzu einfacher Botschaften erwerben. Es ist wichtig, sich vorstellen zu können, was Wissenschaft leisten kann und was eben nicht, wo ihre Grenzen liegen. Auch, zu verstehen, dass Wissenschaftler manchmal in eine der zahlreichen Fallen treten, die auf dem Weg zum Wissen lauern, und deshalb manchmal selbst liebgewonnene Gewissheiten später wieder umgestürzt werden müssen.

Ein kritisches Verständnis schützt vor überhöhten (Heils-)Erwartungen genauso wie vor blindem Wissenschaftsglauben. Dabei müssen Irrtum und Revision nicht zwangsläufig ein Beweis für die Unfähigkeit des einzelnen Wissenschaftlers sein oder gar für die Fehlerhaftigkeit des ganzen Wissenschaftssystems. Gute Wissenschaftler gehen das Risiko des Irrtums ganz bewusst ein. Nur indem sie sich abseits ausgetretener Pfade bewegen, können sie zu neuen Erkenntnissen gelangen. Wissenschaft erfordert Mut, und ab und zu zahlt der sich sogar aus.

1. Resilienz: Was ist das eigentlich?

Fangen wir mit einem Beispiel an.

1992. Als Elisabeth F. siebenundvierzig Jahre alt ist, erleidet ihr Mann Georg einen Herzinfarkt. Es ist der Auftakt einer fast zwei Jahrzehnte andauernden Krisenzeit, in deren Verlauf Georg sieben weitere Infarkte erleiden, zum Dialysepatienten werden und schließlich an den Folgen einer Gefäßerweiterung sterben wird. Die Situation wird durch finanzielle Engpässe zusätzlich erschwert. Als Georg 2001 in den Ruhestand geht, stellt sich heraus, dass er nicht genügend vorgesorgt hat. Es bleibt ihm im Alter nur eine kleine Rente, die den Haushalt – zu dem auch Elisabeths pflegebedürftige Mutter gehört – nicht trägt. Um einigermaßen über die Runden zu kommen, beginnt Elisabeth kurz darauf wieder in ihrem Beruf als Physiotherapeutin zu arbeiten. Da ist sie fast sechzig Jahre alt. Im selben Jahr kommt es zu einem schweren Zerwürfnis in ihrer Familie, der Kontakt zu ihren Geschwistern bricht für immer ab.

Im Jahr 2014, einen Tag nach ihrem 69. Geburtstag, erhält Elisabeth einen Anruf vom örtlichen Krankenhaus, wo sie sich wegen »eines seltsamen Gefühls im Bauch« einer Computertomographie unterzogen hatte. Man möchte sie sofort operieren. Ihr Sohn ist Arzt; er rät ihr zu, die Operation zu wagen. Doch als Elisabeth aus der Narkose erwacht, fällt ihr auf, dass keine Schläuche aus ihrem Bauch hängen und keine Infusionsflaschen neben ihrem Bett stehen. Die Ärzte haben Elisabeth nicht operiert, sondern ihren Bauch gleich wieder zugenäht. Man empfiehlt ihr, sich die Palliativstation des Klinikums anzuschauen, auf der schwerstkranke Menschen und Sterbende gepflegt und während ihrer letzten Lebenswochen oder -tage begleitet werden. Elisabeth bereitet sich auf ihren Tod vor, bestellt den Pfarrer, kümmert sich um das Bestattungsunternehmen. Dann ist doch wieder alles anders. Die Ärzte wollen es noch einmal mit einer Chemotherapie versuchen.

Als ich Elisabeth im Herbst 2016 in ihrem Haus in einer kleinen Stadt im Saarland besuche, hat sie fast 40 Krankenhausaufenthalte, fünf Operationen und 20 Zyklen Chemotherapie hinter sich. Sie hat einen künstlichen Darmausgang und muss über Infusionen ernährt werden. Doch ich treffe keineswegs eine mit ihrem Schicksal hadernde Frau an. Elisabeth schildert nüchtern und fast akribisch ihre Krankengeschichte, erinnert sich bereitwillig an alle Höhen und Tiefen ihres Lebens. Nichts wird ausgespart, sie zieht Bilanz. Dabei ist sie erkennbar mit sich im Frieden. Der Rückblick auf ihr Leben, das betont sie immer wieder, erfülle sie mit Dankbarkeit. Ich kann aus ihren Erzählungen auch nicht erkennen, dass sie früher einmal psychisch angeschlagen oder auch nur labil gewesen wäre. Was Elisabeth berichtet, ordnet sich zu einer kohärenten Geschichte. Die Geschichte einer Frau, für die es trotz aller Rückschläge immer irgendwie weitergegangen ist. Die nie auch nur daran gedacht hat, einen Psychiater oder Psychotherapeuten aufzusuchen. Wie hat sie das gemacht? Wie hat sie es geschafft, psychisch gesund zu bleiben?

 

Elisabeth ist es gelungen, all die Jahre nicht zu verzweifeln, obwohl sie wahrlich Grund dazu gehabt hätte. Herauszufinden, was Menschen wie Elisabeth psychisch gesund erhält, ist die Herausforderung, vor die sich die Resilienz-Forschung gestellt sieht. Dabei müssen wir uns als Wissenschaftler zunächst überlegen, was wir eigentlich untersuchen. Beispiele reichen dazu nicht. Wir müssen versuchen, in all den beeindruckenden, bewegenden, ermutigenden, verstörenden oder beängstigenden Einzelschicksalen wie dem von Elisabeth verallgemeinerbare Muster zu erkennen, müssen von unseren einzelnen Beobachtungen samt ihren zahlreichen Facetten und Unterschieden abstrahieren. Wir müssen etwas ausmachen, das man als ein wiederkehrendes und deshalb untersuchenswertes und auch untersuchbares Phänomen bezeichnen könnte.

Ein derartiges Phänomen könnte beispielsweise sein, dass manche Menschen keine Stresserkrankung entwickeln, obwohl sie etwas erleben – eine Krise, eine Widrigkeit, eine Katastrophe, eine Bedrohung, ein Trauma –, das bei anderen sehr wohl zu solch einer Erkrankung führt. Dieses Phänomen könnte man dann als Resilienz bezeichnen. Ein erster Ansatz für eine Definition von Resilienz könnte also sein: psychisch gesund bleiben trotz Stress. Damit hätte man eine Basis geschaffen, auf der man fragen könnte, was Menschen, an denen sich dieses Phänomen beobachten lässt, verbindet. Was über alle Unterschiede zwischen den einzelnen resilienten Menschen hinweg dem Phänomen der Resilienz zugrunde liegt.

Manchmal erkennt man in solch einem Prozess der Begriffsklärung und der darauf aufbauenden Erforschung eines Phänomens, dass man im ersten Anlauf nicht genau genug vorgegangen ist. Vielleicht existieren ja gar nicht so besonders viele Gemeinsamkeiten zwischen allen resilienten Menschen, vielleicht gibt es in Wirklichkeit sich deutlich voneinander unterscheidende Untergruppen. Möglicherweise macht es ja einen Unterschied, welche Art von Krise man übersteht. Ob es sich um ein eher kurzfristiges Trauma handelt, etwa einen schweren Unfall oder eine Gewalttat, oder eher um eine lang anhaltende Beanspruchung wie eine chronische körperliche Krankheit oder ein permanenter Konflikt in der Familie. Oder man muss berücksichtigen, gegen welche Art von psychischer Beeinträchtigung sich jemand als resilient erweist, etwa gegen eine Depression oder eine Angsterkrankung oder eine PTBS. Wenn sich diese Vermutung als richtig herausstellen sollte, dann gäbe es folgerichtig verschiedene Arten von Resilienz, die wir auch entsprechend unterschiedlich benennen müssten. Aber das wäre dann schon der zweite Schritt.

Die Szene der Resilienz-Forscher wird bis heute sehr stark von Sozialwissenschaftlern, Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologen dominiert. Erst in den letzten Jahren hat sie sich auch anderen Disziplinen geöffnet, etwa der Neurowissenschaft (Hirnforschung) und der Kognitionspsychologie, also jener Spielart der Psychologie, die versucht, unseren Geist in einzelne Prozesse zu zerlegen, um dann die Gesetzmäßigkeiten und das Zusammenspiel dieser Prozesse zu analysieren. Ich selbst trage für die meisten meiner Kollegen das Etikett eines kognitiven Neurowissenschaftlers, der in seiner Forschung die Methoden der Kognitionspsychologie und der Neurowissenschaft miteinander kombiniert – Geist und Gehirn gewissermaßen.

Die meiste Zeit meiner wissenschaftlichen Laufbahn habe ich der Untersuchung eines bestimmten Problems gewidmet: Was macht unser Gehirn, wenn wir Furcht-, Angst- oder Stresszustände regulieren und kontrollieren? Ich wollte und will gern herausfinden, wie wir diese negativen und belastenden emotionalen Reaktionen unseres Körpers so gestalten können, dass sie erträglich sind und ihre nützliche Rolle, die sie durchaus auch haben, erfüllen können. Die Frage, ob uns die menschliche Emotionsregulation auch vor den langfristigen Schäden schützt, die starke oder dauerhafte Stresszustände an unserer Psyche hervorrufen können, lag da recht nahe. Mich mit Resilienz zu beschäftigen erschien mir als logische Weiterentwicklung meiner ursprünglichen, doch enger gefassten kognitiv-neurowissenschaftlichen Fragestellung.

Einen ganz ähnlichen Weg haben in den letzten Jahren nicht wenige meiner Hirnforscher-Kollegen eingeschlagen und damit neue Methoden und Denkansätze in die Resilienz-Forschung eingebracht. Vor einiger Zeit entwickelte ich zusammen mit meinen Mainzer Kollegen Marianne Müller und Oliver Tüscher in einem Fachartikel eine Art Programm für die neurowissenschaftliche Erforschung der Resilienz.

In dem Artikel schlugen wir recht unbekümmert vor, in der Resilienz-Forschung so vorzugehen, wie es die oben beschriebene vorläufige Definition des Resilienz-Phänomens nahelegt: Man misst die psychische Gesundheit von Menschen, dann beobachtet man über einen mehr oder weniger langen Zeitraum, was diese Menschen an Herausforderungen und Belastungen erleben, und misst schließlich ihre psychische Gesundheit erneut. Jemand, der über einen solchen Beobachtungszeitraum hinweg trotz großer Beanspruchung weniger Einbußen seiner psychischen Gesundheit erlitten hätte, wäre dann resilienter. Dabei müsste man natürlich das Ausmaß der Beanspruchung mitberücksichtigen. Jemanden, der trotz großer Herausforderungen eine nur geringe Verschlechterung seiner psychischen Gesundheit erlebt, könnte man als resilienter bezeichnen als einen anderen, der bei viel geringeren Herausforderungen eine ähnliche Verschlechterung zeigt. Uns leuchtete das ein. Glücklicherweise ging es den meisten der Gutachter, die unseren Artikel vor der Veröffentlichung kritisch beäugten, genauso.

Als der Artikel schließlich veröffentlicht wurde, erlebten wir eine Überraschung: Viele Kommentatoren waren mit unserer – uns doch so einfach und logisch erscheinenden – Art der Resilienz-Messung überhaupt nicht einverstanden. Dazu muss man wissen, dass die Resilienz-Forschung nicht erst seit gestern existiert und dass sich schon viele renommierte Sozialwissenschaftler und Psychologen mit großen Verdiensten um die Erforschung der Resilienz an einer – ihrer – Definition der Resilienz versucht haben. Auf uns Neulinge hatten die Kollegen also nicht unbedingt gewartet.

In der ausführlichen Diskussion unseres Artikels wurden uns besonders drei bereits existierende Resilienz-Definitionen als vorbildlich anempfohlen. Ich möchte ihre Kernsätze im Folgenden in einer möglichst wörtlichen Übersetzung aus dem Englischen einfach einmal unkommentiert wiedergeben.

Da ist zunächst die Definition der beiden US-amerikanischen Forscherinnen Michele Tugade und Barbara Fredrickson. Sie sprechen in Zusammenhang mit Resilienz von der »Fähigkeit, durch flexible Anpassung an die sich verändernden Anforderungen stressvoller Erfahrungen den Weg aus negativen emotionalen Erfahrungen zurückzufinden«. Betont werden dabei die für diese Fähigkeit wichtigen »Mechanismen«, zu denen etwa »das Erleben positiver Gefühle« gezählt wird, aber auch »das Nähren sozialer Interaktionen, Kreativität, eine Konzentration auf positive Erinnerungen« und die »körperliche Gesundheit«. Tugades und Fredricksons Fazit: Resiliente Individuen »blühen auf, statt sich aufzureiben«.

Für die Australier Brian Walker und David Salt ist Resilienz dagegen die »Kapazität, Störungen zu absorbieren; sich zu verändern und dabei dennoch im Wesentlichen dieselbe Funktion, Struktur und Rückmeldungen zu behalten, ohne die Schwelle zu einem anderen Systemverhalten zu überschreiten«. Und die Britinnen Gill Windle, Kate Bennett und Jane Noyes sprechen von einem »Prozess des wirkungsvollen Verhandelns mit, der Anpassung an oder des Bewältigens von wesentlichen Quellen von Stress oder Trauma«.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mich haben diese sehr unterschiedlichen Definitionsansätze recht ratlos zurückgelassen – und das, obwohl ich die wissenschaftstypisch abstrakte Sprache eigentlich gewohnt bin. Einmal ist Resilienz eine Fähigkeit oder Kapazität, einmal ist sie ein Prozess. Sie kann aber nicht gleichzeitig eine Fähigkeit und ein Prozess sein. Mal geht es den Autoren um die Beendigung negativer Emotionen, mal um die Aufrechterhaltung des Systemverhaltens, mal um den wirksamen Umgang mit Stress. Auch hier liegen, wenn schon nicht Widersprüche, so doch zumindest auffallende Diskrepanzen vor. Wenigstens scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass eine sinnvolle Veränderung stattfindet, so etwas wie eine gelungene Anpassung an etwas Stressiges oder Störendes. Das ist immerhin schon mal eine wichtige Einsicht. Aber dann wiederum sprechen Tugade und Fredrickson von Resilienz nur dann, wenn die »Anpassung an die sich verändernden Anforderungen stressvoller Erfahrungen« über ganz bestimmte Wege erfolge, insbesondere durch positive Gefühle und Erinnerungen. Was aber, wenn meine Wut auf ungerechte Verhältnisse oder mein Ärger über mich selbst mich dazu motivieren, aktiv zu werden und mich aus einem depressiven Loch wieder herauszukämpfen? Bin ich dann nicht resilient?

Die großen Differenzen zwischen den einzelnen Definitionen sind natürlich ein Riesenproblem für die Wissenschaft. Wenn unterschiedliche Forscher ganz unterschiedliche Dinge mit demselben Begriff verbinden, wird es schwierig, sich zu unterhalten und auszutauschen. Dann existieren fast genauso viele Arten von Resilienz, wie es Resilienz-Forscher gibt. Bei meinem Versuch, Klarheit zu gewinnen, stieß ich auf ein Buch des österreichischen Philosophen Clemens Sedmak. Philosophen sind gewissermaßen die Spezialisten für Begriffsdefinitionen.

Sedmak erkennt in Resilienz »eine bestimmte Form, mit Widrigkeiten auf gedeihliche Weise umzugehen«. Hier begegnet man also wieder dem Stressigen oder Störenden (Sedmak nennt es »Widrigkeiten«) und auch dem Prozesshaften, nämlich einem Umgang mit dem Stressigen. Man könnte auch sagen: einer Anpassung.

Aber ähnlich wie bei Tugade und Fredrickson ist auch für Sedmak Resilienz nur eine ganz »bestimmte« Form des Umgangs, allerdings nicht wie bei den Amerikanerinnen einer über positive Gefühle, sondern einer des »konfrontativen Herangehens«. Konfrontativ, das bedeutet in der Sprache der Psychologie, dass man nicht die Augen vor etwas verschließt, sondern sich den Problemen stellt. Folgerichtig lässt Sedmak auch »Vermeiden« oder »Verdrängen« ganz ausdrücklich nicht als resiliente Formen des Umgangs mit Widrigkeiten gelten. Mist! Ich hätte gedacht, manchmal kann man sich vielleicht auch durchmogeln, so irgendwie halt. Gilt aber nicht. Man muss dem Feind direkt ins Auge blicken.

Ob positive Gefühle oder konfrontatives Herangehen: Mich persönlich stört bei den Definitionen von Tugade/Fredrickson und Sedmak, dass sie nahelegen, es sei schon bekannt, mithilfe welcher Mechanismen oder Prozesse oder Fähigkeiten es Menschen gelingt, trotz widriger Umstände heil zu bleiben. Die Wahrheit ist: Zwar hat die Forschung schon einige Resilienz-Mechanismen ausgemacht, zumindest im Ansatz. Aber richtig belegt oder gar wasserdicht bewiesen sind sie eben noch nicht. (Genau deshalb sind sich Tugade/Fredrickson und Sedmak ja auch nicht einig.) Gar nicht zu reden von etwaigen Mechanismen, die wir noch gar nicht entdeckt haben. Schon jetzt Dinge auszuschließen erscheint daher verfrüht. Eine geschlossene Liste erlaubt kein Einfügen mehr. Wir müssen offenbleiben für neue Erkenntnisse und dürfen uns nicht jetzt schon selbst Scheuklappen anlegen, indem wir unsere Definition auf nur einem einzigen Resilienz-Mechanismus oder einigen wenigen vermuteten Mechanismen aufbauen.

Können wir dann wenigstens festhalten, dass Resilienz ein Prozess der Anpassung an Widrigkeiten ist? Wäre das ein einigendes Band über alle Unterschiede hinweg? Leider auch nicht. Denn Clemens Sedmak beschreibt Resilienz zusätzlich als eine Persönlichkeitseigenschaft und später auch noch als eine Fähigkeit. Genau genommen sogar als zwei verschiedene Fähigkeiten. Einmal als die, »direkt mit Widrigkeiten umzugehen«, und dann als die, »auch unter widrigen Umständen zu gedeihen und zu wachsen«. Man könnte fast den Eindruck erlangen, Sedmak verfolge gleich mehrere voneinander abweichende Definitionen von Resilienz. Es ist daher nicht sehr verwunderlich, wenn er schließlich zu der Schlussfolgerung gelangt, dass es sich bei Resilienz um einen »subtilen und komplexen Begriff« handle. Das hatte man durchaus schon selbst vermutet. Frage vier Resilienz-Forscher, und du bekommst sechs Meinungen.

Glücklicherweise war ich mit meinem Unbehagen nicht allein. In der Gemeinde der Resilienz-Forscher nimmt schon seit Jahren die Unzufriedenheit mit der babylonischen Begriffsverwirrung zu. Einige haben sogar ganze wissenschaftliche Forschungsprojekte nur zu der Frage angestrengt, welche Arten von Definitionen und Denkweisen sich in der Resilienz-Forschung beobachten lassen. Also eine Forschung, die die Forschung erforscht. Wie 55 andere Kollegen aus der ganzen Welt habe ich mich daher entschieden, erst einmal reinen Tisch zu machen. In einem gemeinsamen Artikel sagen wir: Lasst uns zugeben, dass unser Wissen über Resilienz-Mechanismen im Moment noch ein begrenztes ist. Daher sollten wir auch nicht schon bestimmte vermutete Resilienz-Mechanismen in unsere Definition aufnehmen und uns damit unnötigerweise selbst einschränken.

Des Weiteren sollten wir die Frage noch offenlassen, ob Menschen Krisen überstehen, weil sie über bestimmte Fähigkeiten oder Eigenschaften verfügen; oder ob das Überstehen der Krise die Form eines Anpassungsprozessesa annimmt, in dem sich die Fähigkeiten und Eigenschaften einer Person vielleicht ja auch verändern.

Stattdessen sollten wir unsere Definition von Resilienz vom Ende her denken. Jemand ist psychisch gesund, das heißt: Er leidet nicht unter einer psychischen Erkrankung nach den allgemein akzeptierten Kriterien der Psychiatrie und klinischen Psychologie. Und auch darüber hinaus fühlt er sich wenigstens einigermaßen wohl und bewältigt seinen Alltag zumindest leidlich. Dann erlebt er Schlimmes, also eine Belastung, eine Krise. Doch einige Zeit später stellt er fest: Ich bin immer noch psychisch gesund. Resilienz, definiert als die Aufrechterhaltung der psychischen Gesundheit trotz Widrigkeiten. Weil aber erfahrungsgemäß auch die robustesten Menschen selten ganz unverwundbar sind; weil es einem eben auch eine Zeit lang mal schlechtgehen und man sich am Ende doch wieder fangen kann, lasst uns sagen:

Resilienz ist die Aufrechterhaltung oder schnelle Wiederherstellung der psychischen Gesundheit während und nach Widrigkeiten.

Diese Definition hat einen großen Vorteil. Sie erlaubt es, die Entscheidung, ob es sich bei der Resilienz um eine mehr oder weniger stabile Fähigkeit, um eine Eigenschaft oder um einen dynamischen Anpassungsprozess handelt, fürs Erste zu vertagen. Gemessen wird schlicht, ob jemand langfristig mental gesund bleibt. Damit, mit dem Messen, sind wir endlich im Bereich der empirischen Forschung angekommen, die nur dann mit Begriffen umgehen kann, wenn sie sich irgendwie in etwas Messbares übersetzen lassen.

Wenn ich die Beanspruchung von Person X durch Widrigkeiten messe, sowie die psychische Verfassung dieser Person vor und nach der Beanspruchung, und am Ende feststelle, dass sie immer noch gesund ist, dann kann ich fragen: Warum ist Person X noch gesund, obwohl sie doch Schlimmes erlebt hat? Gehe ich auf diese Weise vor, betreibe ich empirische Forschung. Dann werde ich möglicherweise herausfinden, dass Person X nicht ohne Rüstzeug in eine Krise gegangen ist, sondern schon einige bei der Bewältigung hilfreiche Fähigkeiten und Persönlichkeitseigenschaften mitgebracht hat.