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Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch
von Christine Frick-Gerke und Gesine Strempel

ISBN 978-3-492-95862-2

Mai 2017

© by Lionel Shriver 2003

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»We Need To Talk About Kevin«,

Counterpoint New York

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2017

© der deutschen Übersetzung 2006 by

Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Erschienen im List Verlag

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagabbildung: ilolab/shutterstock; Peter Glass/Arcangel (Tisch)

Konvertierer: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Ein Kind braucht deine Liebe am meisten, wenn es sie am wenigsten verdient.

Erma Bombeck

Für Terri

Ein Katastrophenszenarium, dem wir beide

entkommen

sind

8. November 2000

Lieber Franklin,

ich bin nicht sicher, warum ein unwesentliches Ereignis heute Nachmittag mich bewogen hat, dir zu schreiben. Aber seit wir getrennt sind, vermisse ich wohl am meisten, dass ich dir beim Nachhausekommen nicht mehr die Kuriositäten des Tages erzählen kann – sie dir nicht mehr zu Füßen legen kann wie eine Katze Mäuse: anspruchslose kleine Gaben, die Paare sich darbieten, nachdem sie eben noch jeder für sich getrennte Felder beackert haben. Wenn du jetzt in meiner Küche sitzen und, so kurz vor dem Abendessen, eine Scheibe Vollkornbrot dick mit grober Erdnussbutter bestreichen würdest, hätte ich meine Einkaufstüten noch gar nicht abgestellt – die eine hinterlässt eine klare klebrige Spur –, und diese kleine Geschichte käme zum Vorschein, noch vor meinem Geschimpfe, dass es heute Abend Pasta gibt und du bitte nicht das ganze Sandwich aufessen sollst.

Früher waren meine Berichte natürlich exotische Importe, aus Lissabon, aus Katmandu. Aber eigentlich hört keiner gern Geschichten aus der Fremde, und an deiner verräterischen Höflichkeit merkte ich gleich, dass du heimatliche Anekdoten lieber mochtest: vom absonderlichen Schlagabtausch mit dem Mann in der Mautbude an der George-Washington-Brücke, zum Beispiel. Solche lokalen Kleinodien festigten deinen Glauben, dass meine Fernreisen eigentlich Schummelei waren. Meinen Souvenirs – einer Packung altbackener belgischer Waffeln oder dem britischen Wort für Stuss »Codswallop!« – dichtete ich magische Kräfte an, allein weil sie von so weit her stammten. Wie bei diesem Krimskrams, den sich Japaner schenken – in einer Schachtel in einer Tüte in noch einer Schachtel in noch einer Tüte –, war das Glanzvolle meiner ausländischen Mitbringsel eigentlich reine Verpackungskunst. Dagegen ist es eine beträchtliche Leistung, im Alltagsmüll des Allerweltsstaats New York herumzustochern und dem Besuch des Grand-Union-Supermarkts in Nyack eine gewisse Pikanterie abzugewinnen.

Was genau der Ort ist, an dem meine Geschichte spielt. Ich begreife anscheinend endlich, was du mir immer beibringen wolltest, nämlich dass mein eigenes Land so exotisch und sogar so gefährlich ist wie Algerien. Ich war in dem Gang mit Butter, Käse, Eiern und brauchte nicht viel; wieso auch. Ich esse keine Pasta mehr, weil du nicht mehr den Großteil der Schüssel verputzt. Mir fehlt dein Appetit.

Es fällt mir immer noch schwer, mich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Man sollte annehmen, dass ich in einem Land, dem es notorisch an Geschichtssinn mangelt – wie die Europäer behaupten –, von der berühmt-berüchtigten amerikanischen Amnesie profitieren könnte. Weit gefehlt. Niemand in dieser »Gemeinde« lässt Anzeichen von Vergessen erkennen, nicht – auf den Tag genau – nach einem Jahr und acht Monaten. Also muss ich immer noch allen Mut zusammennehmen, wenn mir die Vorräte ausgehen. Oh, für die Verkäufer im 7-Eleven in der Hopewell Street bin ich keine Sensation mehr, und ich kann dort, ohne beglotzt zu werden, Milch holen. Aber in unserem alten Grand-Union-Supermarkt bleibt es beim Spießrutenlauf.

Dort fühle ich mich immer wie eine Diebin. Deswegen halte ich mich kerzengerade, mache mich breit. Jetzt weiß ich, was »den Kopf hoch tragen« heißt, und manchmal staune ich, wie viel innere Verwandlung ein aufrechter Gang auslösen kann. Wenn mein Körper stolz dasteht, fühle ich mich einen Deut weniger gedemütigt.

Ich überlegte, ob ich mittelgroße oder große Eier nehmen sollte, und blickte zum Joghurt. Ein paar Meter vor mir glänzte das fusselige schwarze Haar einer Kundin am Ansatz einen Fingerbreit weiß, und nur die Enden waren noch lockig: eine herausgewachsene Dauerwelle. Das lavendelfarbene Kostüm war vielleicht einmal schick gewesen, doch jetzt schnitt die Bluse unterm Arm ein, und das Schößchen betonte die breiten Hüften. Das Ganze verdiente, aufgebügelt zu werden, und auf den gepolsterten Schultern verlief ein verblichener Strich, der Abruck vom Drahtkleiderbügel. Ein Fundstück aus den hinteren Regionen des Kleiderschranks, vermutete ich – weil alles Übrige schmutzig oder auf dem Fußboden gelandet war. Als der Kopf der Frau sich zum Weichkäse neigte, entdeckte ich ein Doppelkinn.

Versuch nicht zu raten; nach dieser Beschreibung kämst du nie drauf. Früher war sie geradezu zwanghaft adrett, immer Hochglanz, wie ein professionell verpacktes Geschenk. Obwohl die Vorstellung von abgemagerten Hinterbliebenen romantischer sein mag, kann man mit Pralinen offenbar ebenso wirkungsvoll trauern wie mit Leitungswasser. Außerdem halten sich manche Frauen weniger deshalb rank und schlank, weil sie ihren Ehemann beglücken wollen, sondern weil sie mit ihrer Tochter konkurrieren, und dank uns fehlt ihr dieser Ansporn ja nun.

Es war Mary Woolford. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich konnte ihr nicht gegenübertreten. Ich machte kehrt. Mit klammen Händen griff ich den Eierkarton und prüfte, ob die Eier heil waren. Ich setzte die Miene einer Kundin auf, der gerade etwas aus dem übernächsten Gang eingefallen war, und packte die Eier, ohne mich umzudrehen, in den Kindersitz des Einkaufswagens. Trat mit gekonntem Täuschungsmanöver den Rückzug an. Den Einkaufswagen ließ ich stehen, weil die Räder quietschten. In der Suppenabteilung atmete ich auf.

Ich hätte darauf gefasst sein sollen, und häufig bin ich es – gewappnet, gewarnt, oft grundlos, wie sich herausstellt. Aber ich kann nicht für jede blöde Besorgung in voller Rüstung aus dem Haus gehen, und außerdem, wie soll Mary mir jetzt noch schaden? Sie hat schon alles versucht; sie hat mich vor Gericht gebracht. Dennoch war ich machtlos gegen mein Herzklopfen, und zurück zu Butter, Käse, Eiern konnte ich auch nicht, dabei hatte ich den bestickten ägyptischen Beutel mit meinem Portemonnaie im Einkaufswagen gelassen.

Das war der einzige Grund, warum ich den Grand Union nicht auf der Stelle verließ. Ich musste zu meiner Tasche zurück, und deshalb drückte ich mich vor Campbell’s-Spargel und -Käse herum, wobei mir durch den Kopf ging, wie entsetzt Warhol über das neue Design wäre.

Bei meiner Rückkehr war die Luft rein, und ich schnappte mir meinen Wagen, ganz die viel beschäftigte Karrierefrau, die in null Komma nichts ihre Hausfrauenpflichten erledigt. Eine vertraute Rolle, sollte man meinen. Aber ich habe mich schon lange nicht mehr so gesehen; ich war mir sicher, dass die Leute vor mir an der Kasse meine Ungeduld nicht als typische Zweitverdienerhektik empfanden – Zeit ist Geld –, sondern als panisches Fluchtverhalten.

Als ich mein Lebensmittelsammelsurium aufs Band stellte, klebte der Eierkarton, worauf die Kassiererin ihn öffnete. Aha. Mary Woolford hatte mich also entdeckt.

»Volltreffer!«, rief das Mädchen. »Ich lasse Ihnen eine andere Packung holen.«

Ich hielt sie davon ab. »Nein, nein«, sagte ich. »Ich hab’s eilig. Ich nehme sie so.«

»Aber sie sind total –«

»Ich nehme sie so!« In diesem Land setzt man seinen Willen am besten durch, wenn man nicht-ganz-richtig-im-Kopf mimt. Nachdem sie das Etikett mit einem Kleenex gesäubert hatte, scannte sie die Eierpackung ein und wischte sich dann augenrollend die Hände an dem Papiertuch ab.

»Khatchadourian«, sagte das Mädchen überdeutlich, als ich ihr meine Kundenkarte reichte. Sie sprach so laut, als richtete sie sich an die ganze Schlange. Es war spätnachmittags, die beste Schicht für jobbende Schüler; das Mädchen, etwa siebzehn, hätte eine von Kevins Klassenkameradinnen sein können. Wobei es in dieser Gegend sicher ein halbes Dutzend Highschools gibt, und vielleicht war ihre Familie ja gerade erst aus Kalifornien hergezogen. Doch ihre Augen sprachen dagegen. Sie fixierte mich mit einem harten Blick. »Das ist ein ungewöhnlicher Name.«

Ich weiß nicht, was über mich kam, aber ich habe es so satt. Natürlich schäme ich mich. Ich bin nur schon völlig erschöpft vom Schämen, überall ganz klebrig davon, wie mit Eiweiß überzogen. Scham ist ein Gefühl, das zu nichts führt. »Ich bin die einzige Khatchadourian in New York State«, sagte ich herausfordernd und riß ihr die Karte weg. Sie warf die Eier in eine Einkaufstüte, wo sie noch ein bisschen mehr ausliefen.

Jetzt bin ich also zu Hause – wenn man es so nennen will. Natürlich warst du nie hier, deshalb beschreibe ich es für dich.

Du wärst entsetzt. Nicht nur, weil ich in Gladstone geblieben bin, nachdem ich mich so gewehrt hatte, überhaupt in einen Vorort zu ziehen. Aber ich wollte Kevin noch mit dem Auto erreichen können. Außerdem – sosehr ich mich nach Anonymität sehne, ich möchte nicht, dass meine Nachbarn vergessen, wer ich bin; ich will vergessen, aber keine Stadt der Welt würde mir das ermöglichen. Dies ist der einzige Ort, wo die Verstrickungen meines Lebens restlos zu spüren sind, und heute ist mir weniger wichtig, dass man mich mag, als dass man mich versteht.

Mir blieb, nachdem die Rechtsanwälte bezahlt waren, genug Geld, um mir etwas Kleines kaufen zu können, doch das Provisorische eines Mietverhältnisses passte mir. Zudem entsprach dieses zweietagige Spielzeugreihenhaus stimmungsmäßig meiner Existenz. Oh, du wärst fassungslos; die jämmerlichen Pressspanschränke verhöhnen das Motto deines Vaters: »Das Material ist alles.« Aber genau dieses Unsolide mag ich.

Hier ist alles riskant. Die steile Treppe zum zweiten Stock hat kein Geländer; nach drei Gläsern Wein bekomme ich beim Aufstieg ins Bett Höhenangst. Die Fußböden knarren, und die Fensterrahmen sind undicht; das Ganze strahlt eine Brüchigkeit und Unsicherheit aus, als könnte die gesamte Konstruktion plötzlich nachgeben und sich in nichts auflösen wie eine schlechte Idee. Unten flackern winzige Halogenlampen an rostigen Kleiderbügeln, die an einem Elektrodraht unter der Decke schaukeln, und das zittrige Licht unterstützt mein neues Lebensgefühl – mal an, mal aus. Aus meinem einzigen Telefonstecker hängen die Eingeweide heraus; meine ungewisse Verbindung zur Außenwelt baumelt an zwei schlecht gelöteten Drähten, die manchmal kurzschließen. Obwohl der Vermieter mir einen richtigen Herd versprochen hat, stört mich die Kochplatte mit dem defekten Schalter nicht. Oft fällt mir die Klinke der Haustür in die Hand. Bis jetzt habe ich sie immer wieder festmachen können, doch der bloße Klinkenstumpf erinnert mich an meine Mutter: unfähig, das Haus zu verlassen.

Außerdem habe ich festgestellt, dass die Energieversorgung meines Häuschens schnell an ihre Grenzen stößt. Die Heizung ist schwach, Wärme steigt wie schlechter Atem von den Heizkörpern auf, und schon Anfang November habe ich die Thermostate voll aufgedreht. Beim Duschen verbrauche ich das ganze heiße Wasser und kein kaltes; dann ist es gerade so warm, dass ich nicht zittere, doch das Wissen, dass es keine Reserven gibt, beunruhigt mich bei meinen Waschritualen. Der Kühlschrank läuft auf Hochtouren, dennoch hält die Milch nur drei Tage.

Die Farbgestaltung hat etwas Unechtes, Spöttisches, das sich durchaus passend anfühlt. Unten ist der Anstrich grell gelb, wie mit Buntstiften gemalt – das Weiß darunter ist an manchen Stellen sichtbar. Oben in meinem Schlafzimmer sind die Wände laienhaft türkis gekleckst, wie von Vorschulkindern. Dieses wacklige kleine Haus – es fühlt sich nicht ganz real an, Franklin. Ich mich auch nicht.

Doch ich hoffe, du bedauerst mich nicht; das will ich nicht. Ich hätte etwas Feineres finden können, wenn ich gewollt hätte. Irgendwie gefällt es mir hier. Es ist unernst, wie Spielzeug. Ich wohne in einem Puppenhaus. Selbst die Möbel haben falsche Proportionen. Die Esstischplatte reicht mir bis zur Brust, sodass ich mich minderjährig fühle, und der kleine Tisch im Schlafzimmer, auf dem dieser Laptop steht, ist zum Schreiben zu niedrig – man könnte daran Kindergartenkindern Kokosplätzchen und Ananassaft servieren.

Vielleicht erklärt diese zusammengeschusterte, jugendliche Atmosphäre, warum ich gestern bei der Präsidentschaftswahl nicht gewählt habe. Ich habe es einfach vergessen. Alles um mich herum scheint weit entfernt. Und anstatt meiner Entwurzelung einen soliden Gegenpol zu bieten, ist das Land mir in die Gefilde des Surrealen gefolgt. Die Wählerstimmen sind ausgezählt. Aber wie in einer Geschichte von Kafka scheint keiner zu wissen, wer gewonnen hat.

Nun stehe ich hier mit dieser Packung Eier – vielmehr mit dem, was davon übrig ist. Ich habe alles in eine Schüssel gekippt und die Schalen herausgefischt. Wenn du hier wärst, würde ich uns eine schöne Frittata backen, mit gewürfelten Kartoffeln, frischem Kreuzkümmel und – unerlässlich – einem Teelöffel Zucker. Allein kippe ich alles in eine Pfanne, rühre und stochere trotzig. Aber immerhin, ich esse. Marys Geste war übrigens, auf eine etwas unausgereifte Weise, ziemlich elegant.

Essen ekelte mich anfangs. Zu Besuch bei meiner Mutter in Racine wurde mir vom bloßen Anblick ihrer gefüllten dolma ganz übel, und das, obwohl sie den ganzen Tag Weinblätter blanchiert und die Lamm-Reis-Füllung zu ordentlichen Päckchen gerollt hatte; ich erinnerte sie daran, dass man sie einfrieren konnte. Wenn ich in Manhattan, auf dem Weg zu Harveys Anwaltspraxis, am Deli in der 57. Straße vorbeikam, drehte sich mir beim Pfeffergeruch des Pastrami-Fetts der Magen um. Doch die Übelkeit verging, und dann fehlte sie mir. Als ich nach vier, fünf Monaten Hunger bekam – Heißhunger –, fand ich den Appetit unpassend. Also spielte ich weiter die Frau, die jedes Interesse am Essen verloren hatte.

Doch nach etwa einem Jahr musste ich zugeben, dass dieses Theater sich nicht lohnte. Niemanden kümmerte es, wenn ich abmagerte. Worauf wartete ich – dass du meinen Brustkorb mit deinen Bärenpranken umfassen, mich hochheben und streng mahnen würdest, die heimliche Freude einer jeden westlichen Frau: »Du bist zu dünn«?

Also esse ich jeden Morgen ein Croissant zu meinem Kaffee und tupfe jeden Krümel mit meinem angefeuchteten Zeigefinger auf. Methodisches Kohlhacken füllt einen Teil der langen Abende. Einfach abgesagt habe ich die paar Einladungen, die manchmal noch mein Telefon aufschrillen lassen, meist von ausländischen Freunden, die ab und zu eine E-Mail schicken, die ich aber seit Jahren nicht gesehen habe.

Abgesagt erst recht, wenn sie nicht Bescheid wissen, und das erkenne ich immer an der Stimme; Unwissende krakeelen fröhlich drauflos, während Eingeweihte stottern und die Stimme dämpfen wie in der Kirche. Ich will ganz sicher nicht die Geschichte erzählen. Ich will auch nicht das stumme Mitgefühl von Freunden, die gar nicht wissen, was sie sagen sollen, und es mir überlassen, mein Herz auszuschütten und Konversation zu machen. Aber der eigentliche Grund für meine Standardausrede, ich sei zu »beschäftigt«, ist meine panische Angst, dass wir nur einen Salat bestellen und uns schon um halb neun oder neun die Rechnung bringen lassen, und dann komme ich zurück in mein Minihaus und habe nichts mehr klein zu hacken.

Eigentlich lachhaft, dass ich, die so lange für A Wing and a Prayer unterwegs war – jeden Abend ein anderes Restaurant, Thai oder Spanisch sprechende Kellner, marinierter Fisch oder Hund auf der Speisekarte –, inzwischen so fixiert auf diese Routine bin. Schrecklich, ich bin wie meine Mutter. Aber ich brauche diese exakte Abfolge (ein paar Stückchen Käse oder sechs, sieben Oliven; Hähnchenbrust, Gemüsepfanne oder Omelett; ein einziger Vanillekeks; genau eine halbe Flasche Wein), als würde ich auf dem Schwebebalken balancieren – ein falscher Schritt, und ich stürze ab. Erbsen sind von der Speisekarte gestrichen, weil die Vorbereitung zu mühelos ist.

Jedenfalls weiß ich trotz unserer Entfremdung, dass du dich sorgst, ob ich genug esse. Das hast du immer getan. Dank Mary Woolfords kläglicher Rache bin ich heute Abend reich verpflegt. Nicht alle fixen Ideen unserer Nachbarn hatten einen solch positiven Nebeneffekt.

Als ich noch in unserem neureichen Ranchhaus in der Palisades Parade wohnte, kippten sie literweise blutrote Farbe über die Vorderfront (ob es dir passt oder nicht, Franklin, eine Ranch – genau das war’s). Über die Fenster, die Haustür. Sie kamen in der Nacht, und als ich am nächsten Morgen erwachte, war die Farbe fast trocken. Damals, kaum einen Monat nach – wie soll ich diesen Donnerstag nennen? –, dachte ich, dass mich nun nichts mehr entsetzen oder verletzen könnte. Wenn man so am Boden zerstört ist, redet man sich offenbar ein, dass diese totale Zerstörung einen nun beschützt.

Als ich aus der Küche um die Ecke ins Wohnzimmer bog, begriff ich, dass all das Stuss war. Ich schnappte nach Luft. Die Sonne schien durch die Fenster – durch jene ohne Farbstreifen. Sie schien auch durch die Stellen, wo die Farbe dünn war, und warf rotes Licht auf die fast weißen Wände, wie in einem kitschigen chinesischen Restaurant.

Ich hatte immer die Angewohnheit – was du bewundert hast –, mich meinen Ängsten zu stellen, wobei diese Angewohnheit noch aus Zeiten stammte, als ich mich am meisten davor fürchtete, mich in einer fremden Stadt zu verlaufen – ein Kinderspiel. Was würde ich heute dafür geben, wenn ich mich in jene Tage zurückversetzen könnte, als ich noch keine Ahnung hatte, was mich erwartete (Kinderspiele, zum Beispiel). Dennoch, alte Gewohnheiten sind nicht totzukriegen, sodass ich mich nicht wieder unter die Decken unseres Betts verkroch. Ich beschloss, die Verwüstung zu besichtigen. Aber die Haustür ging nicht auf, die dicke rote Lackfarbe hatte sie versiegelt. Lackfarbe ist nicht wasserlöslich wie Binderfarbe. Und Lackfarbe ist teuer, Franklin. Sie hatten es sich etwas kosten lassen. Klar, in unserer alten Nachbarschaft mangelte es an allem Möglichen, aber sicher nicht an Geld.

Also ging ich im Morgenmantel durch die Seitentür vors Haus. Als ich sah, was die Nachbarn angerichtet hatten, fühlte ich, wie mein Gesicht wieder zu der »teilnahmslosen Maske« wurde, die die New York Times in ihrem Prozessbericht beschrieben hatte. Die Post hatte, weniger freundlich, meinen Gesichtsausdruck »trotzig« genannt. Und unser Lokalanzeiger war noch weiter gegangen: »Aus Eva Khatchadourians versteinerter, unversöhnlicher Miene zu schließen, hatte ihr Sohn nichts Unerhörteres verbrochen, als einen Zopf in ein Tintenfass zu tauchen.« (Ich gebe zu, dass ich mich im Gerichtssaal um Haltung bemühte, dass ich blinzelte und mir von innen in die Wangen biss; ich weiß noch, dass ich mir deine Devise für harte Männer vor Augen hielt: »Zeig nie, dass du schwitzt.« Aber Franklin, »trotzig«? Ich habe mich bemüht, nicht zu weinen.)

Der Effekt war durchaus grandios, wenn man Sensationen mag – was ich gewiss nicht mehr tue. Das Haus sah aus, als hätte ihm jemand die Kehle durchgeschlitzt. Wilde, triefende Formen bedeckten die Wände, in einem sorgfältig ausgewählten Farbton – tief, satt und üppig, eine Spur Blau, wie extra gemischt. Wenn die Übeltäter die Farbe hatten anrühren lassen, könnte die Polizei sie ausfindig machen, dachte ich benommen.

Nur würde ich freiwillig kein Polizeirevier mehr betreten.

Mein Kimono, der, den du mir zu unserem ersten Hochzeitstag 1980 geschenkt hast, war ziemlich dünn. Er ist für Sommerwetter geeignet, das einzige Kleidungsstück, das ich von dir habe, und ich wollte nichts anderes suchen. Ich habe so viel weggeworfen, aber nichts, was du mir geschenkt oder hinterlassen hast. Ich gebe zu, dass es eigentlich eine Qual bedeutet, diese Dinge als Talisman aufzubewahren. Schon deshalb behalte ich sie. Diese Typen, die mir mit ihrem therapeutischen Anspruch auf die Nerven gehen, würden behaupten, meine vollgestopften Schränke seien nicht »gesund«. Ich bitte doch, dabei zu differenzieren. Verglichen mit dem jämmerlichen, schmutzigen Schmerz, den Kevin, die Farbe, die Straf- und Zivilverfahren auslösten, ist dieser Schmerz heilsam. Die Sechzigerjahre haben Heilsamkeit ziemlich in Verruf gebracht – aber inzwischen halte ich sie für ein rares Gut.

Tatsache ist, dass ich in meiner blassblauen Baumwolle und angesichts des ungefragten Action Painting meiner Nachbarn zu frieren begann. Es war Mai, aber kühl, und der Wind pfiff. Früher hätte ich angenommen, dass nach einer persönlichen Apokalypse die kleinen Scherereien des Daseins praktisch verschwänden. Aber das stimmt nicht. Man fühlt noch Kälte, man rauft sich noch die Haare, wenn ein Päckchen in der Post verloren geht, und man ärgert sich immer noch, wenn man bei Starbucks zu wenig Wechselgeld herausbekommt. Auch wenn es angesichts der Umstände unangebracht scheint, dass ich immer noch einen Pullover brauche oder einen Muff oder dass ich mich wehre, wenn man mich um einen Dollar fünfzig betrügt. Doch seit jenem Donnerstag ist mein ganzes Leben in ein solches Unangebrachtsein gehüllt, dass ich diese vorübergehenden Misslichkeiten geradezu tröstlich finde, Zeichen einer überlebenden Normalität. Für die Jahreszeit unangemessen bekleidet, oder schimpfend, dass in einem viehmarktgroßen Wal-Mart kein einziges Päckchen Streichhölzer aufzutreiben ist, schwelge ich in emotionalen Alltäglichkeiten.

Ich tappte wieder zur Seitentür und rätselte, wie die Frevler dieses Haus mit solcher Gründlichkeit attackieren konnten, während ich drinnen ahnungslos schlief. Ich schob es auf die hohe Dosis Beruhigungsmittel, die ich jede Nacht einnahm (kein Kommentar bitte, Franklin, ich weiß, dass du es nicht gut findest), bis ich begriff, dass ich mir die Szene ganz falsch vorstellte. Es geschah einen Monat danach, nicht einen Tag. Es hatte kein Toben und Heulen gegeben, keine Vermummten und keine Gewehre mit abgesägtem Lauf. Sie kamen klammheimlich. Nur das Zweigeknacken war zu hören gewesen, ein dumpfes Klatschen, als der Inhalt des ersten Eimers unsere polierte Mahagonitür traf und eine Farbwelle sich am Fenster brach, ein leises Rat-a-tat-tat der Spritzer, nicht lauter als starker Regen. Unser Haus war nicht im ersten Zorn mit Neonfarbe besprüht, sondern mit einem Hass übergossen worden, der so lange eingekocht war, bis er die Konsistenz und Würze einer französischen Soße hatte.

Du hättest darauf bestanden, dass wir jemanden bestellen, der alles sauber macht. Du hattest dieses uramerikanische Faible für Spezialfirmen – für jeden Zweck einen Experten –, und manchmal hast du zum reinen Vergnügen im dicken gelben Branchenbuch geblättert. »Farbentfernung: Blutroter Lack.« Aber in der Zeitung hatte so viel darüber gestanden, wie reich wir waren, wie verwöhnt Kevin war. Ich gönnte Gladstone das Naserümpfen nicht: Seht ihr, sie lässt immer andere die Drecksarbeit für sich machen, zuerst der teure Rechtsanwalt und jetzt dies. Nein, sie durften Tag für Tag zuschauen, wie ich eigenhändig alles abkratzte und für die Ziegel ein Sandstrahlgerät auslieh. Eines Abends schaute ich nach meinem Tagewerk in den Spiegel – verschmierte Kleider, abgeknickte Fingernägel, gesprenkeltes Haar – und schrie auf. So hatte ich schon einmal ausgesehen.

Ein paar Spalten um die Tür glänzen vielleicht noch rot; in den Ritzen zwischen den pseudoantiken Ziegeln schimmern noch ein paar Tropfen, an die ich mit der Leiter nicht herankam. Ich verkaufte das Haus. Nach dem Zivilprozess musste ich es.

Ich dachte, es wäre schwierig, die Immobilie loszuwerden. Abergläubische Käufer würden sicher zurückschrecken, wenn sie erfuhren, wem das Haus gehörte. Was nur bewies, wie wenig ich mein eigenes Land verstand. Du hast mir einmal vorgeworfen, dass ich meine ganze Neugier an »beschissene Dritte-Welt-Löcher« vergeuden würde, während sich vor meiner Nase das mit Abstand außergewöhnlichste Reich in der Geschichte der Menschheit befände. Du hattest recht, Franklin. Es geht nichts über zu Hause.

Sobald die Immobilie inseriert war, kamen die Angebote. Nicht weil die Interessenten es nicht wussten. Sondern weil sie es wussten. Unser Haus brachte viel mehr, als es wert war – über drei Millionen Dollar. In meiner Naivität hatte ich nicht begriffen, dass gerade sein fragwürdiger Ruhm den Marktwert steigerte. Während neureiche Käuferpaare unsere Vorratskammer inspizierten, stellten sie sich offenbar bereits den krönenden Augenblick ihrer Einweihungsparty vor.

(Kling-kling!) Alle mal herhören. Bevor ich mit euch anstoße – ihr werdet nicht glauben, von wem wir dieses Superhaus gekauft haben. Seid ihr bereit? Eva Khatchadourian … Schon mal gehört? Klar. Wohin sind wir gezogen? Gladstone! … Ja, genau die Khatchadourian, Pete, wie viele Khatchadourians kennst du denn? Mensch, bist du schwer von Begriff.

… Genau, »Kevin«. Irre, was? Mein Sohn Lawrence hat sein Zimmer. Hat versucht, mir letztens abends einen Streich zu spielen. Sagte, er müsse aufbleiben und Henry: Porträt eines Serienkillers gucken, weil »Kevin Ketchup« in seinem Zimmer »spuken« würde. Tut mir leid, sagte ich, Kevin Ketchup spukt ganz sicher nicht in deinem Schlafzimmer, weil der kleine miese Nichtsnutz noch quicklebendig im Jugendgefängnis in Upstate New York einsitzt. Wenn es nach mir ginge, hätte die Ratte den elektrischen Stuhl gekriegt … Nein, so schlimm wie Columbine war’s nicht. Wie viele waren’s noch, Honey? Zehn? Neun, aha, sieben Kinder und zwei Erwachsene. Die Lehrerin, die er umgelegt hat, war auch noch seine große Förderin oder so. Und ich weiß nicht, man kann nicht alles auf die Videos und Rockmusik schieben. Wir sind doch auch mit Rockmusik aufgewachsen, oder? Keiner von uns hat ’nen Rappel gekriegt und ist in der Highschool Amok gelaufen. Oder nimm Lawrence. Der Kleine liebt Horror im Fernsehen, egal, wie drastisch, er verzieht keine Miene. Aber als sein Kaninchen überfahren wurde? Da hat er eine Woche geweint. Der kennt doch den Unterschied.

Wir erziehen ihn, dass er Recht und Unrecht unterscheiden kann. Vielleicht ist es unfair, aber über die Eltern muss man sich schon wundern.

Eva