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»Die Probleme, vor denen wir heute stehen, lassen sich nicht mit einem Zauberstab, per Handstreich oder Wunderheilung lösen; sie erfordern nichts Geringeres als eine kulturelle Revolution. Dazu brauchen wir einen kühlen Kopf, Nerven aus Stahl und jede Menge Mut.« Zygmunt Bauman

 

Die Welt scheint aus den Fugen. Seit einiger Zeit sehen wir uns mit Entwicklungen konfrontiert, die viele für Phänomene einer längst vergangenen Epoche gehalten haben: dem Aufstieg nationalistischer, teils antiliberaler Parteien wie des Front National und der AfD, einer Verrohung des öffentlichen Diskurses durch Demagogen wie Donald Trump, wachsendem Misstrauen gegenüber den etablierten Medien und einer Verbreitung fremdenfeindlicher Einstellungen. Politiker werden als »Vaterlandsverräter « verunglimpft, Muslime unter Generalverdacht gestellt, im Internet werden die krudesten Verschwörungstheorien propagiert. Die Geschwindigkeit, in der wir hinter für gesichert gehaltene Standards zurückfallen, ist beängstigend.

 In diesem Band untersuchen international renommierte Intellektuelle die Ursachen dieser »großen Regression«, verorten sie in einem historischen Kontext und diskutieren Strategien, mit denen wir diesen Entwicklungen entgegentreten können. Gegen die Internationale der Nationalisten setzt dieses Buch auf die Kraft der transnationalen Öffentlichkeit. Es erscheint zeitgleich in dreizehn Sprachen.

 

 

Die große Regression

Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit

Herausgegeben von Heinrich Geiselberger

Suhrkamp

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage 2017.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

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Umschlag gestaltet nach einem Konzept

von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-75167-1

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorwort

Arjun Appadurai Demokratiemüdigkeit

Zygmunt Bauman Symptome auf der Suche nach ihrem Namen und Ursprung

Donatella della Porta Progressive und regressive Politik im späten Neoliberalismus

Nancy Fraser Vom Regen des progressiven Neoliberalismus in die Traufe des reaktionären Populismus

Eva Illouz Vom Paradox der Befreiung zum Niedergang der liberalen Eliten

Ivan Krastev Auf dem Weg in die Mehrheitsdiktatur?

Bruno Latour Refugium Europa

Paul Mason Keine Angst vor der Freiheit

Pankaj Mishra
Politik im Zeitalter des Zorns. Das dunkle Erbe der Aufklärung

Robert Misik Mut zur Verwegenheit

Oliver Nachtwey Entzivilisierung. Über regressive Tendenzen in westlichen Gesellschaften

César Rendueles
Globale Regression und postkapitalistische Gegenbewegungen

Wolfgang Streeck Die Wiederkehr der Verdrängten als Anfang vom Ende des neoliberalen Kapitalismus

David Van Reybrouck Lieber Präsident Juncker

Slavoj Žižek Die populistische Versuchung

Die Beiträgerinnen und Beiträger

Textnachweise

Vorwort

»Wenn eine Weltordnung zusammenbricht,
beginnt das Nachdenken darüber.«

Ulrich Beck, 20111

 

Die Idee zu diesem Buch entstand im Spätherbst 2015, nachdem am 13. November eine Serie von Anschlägen Paris erschüttert hatte und als in Deutschland die Diskussion über die Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge immer heftiger wurde. Der politische, mediale und diskursive Umgang mit diesen Ereignissen ließ den Eindruck aufkommen, als fiele die Welt plötzlich hinter hart erkämpfte und für gesichert gehaltene Standards zurück.

In unmittelbarem Zusammenhang mit Terrorismus und Migration steht die Tatsache, dass sich rund um den Globus die Gebiete ausdehnen, in denen es keine Staatlichkeit mehr gibt. Die drei Herkunftsländer, aus denen im Jahr 2016 die meisten Menschen in Deutschland Asyl beantragten – Syrien, Afghanistan und der Irak –, rangieren im »Fragile State Index« 2016 der NGO Fund for Peace auf vorderen Plätzen.2 Waren die weißen Flecken auf den Landkarten jahrhundertelang immer kleiner geworden, scheint es nun in die andere Richtung zu gehen: Im Zeitalter von Google Maps wachsen paradoxerweise die Gebiete, über die man wenig weiß und die Kartografen früherer Zeitalter wohl mit der Phrase »hic sunt leones« gekennzeichnet hätten.

Viele politische Reaktionen auf die Terroranschläge und die Migrationsbewegungen passten sich wiederum in ein Muster ein, das man als »Versicherheitlichung« (securitization) und als postdemokratische Symbolpolitik bezeichnen könnte: Rufe nach Zäunen, ja sogar nach Schießbefehlen an den Grenzen wurden laut; der französische Präsident verhängte den Ausnahmezustand und erklärte, das Land befinde sich im Krieg. Unfähig, die globalen Ursachen von Herausforderungen wie Migration, Terrorismus oder wachsender Ungleichheit mit nationalen Mitteln anzugehen oder ihnen mit langfristigen Strategien zu begegnen, setzen immer mehr Politiker auf Law and Order im Inneren und das Versprechen, das jeweilige Land wieder »groß« zu machen.3 In ihren Rollen als Arbeitnehmerinnen, Mit-Souveräne, Schüler oder Nutzerinnen der öffentlichen Infrastruktur kann man den Bürgerinnen und Bürgern im Zeitalter der Austerität offenkundig nicht mehr viel bieten. Also verlagert sich der Schwerpunkt des politischen Handels auf die Dimension der nationalen Zugehörigkeit, auf das Versprechen von Sicherheit und der Wiederherstellung des (vermeintlichen) Glanzes vergangener Zeiten.

Man könnte die Liste der Symptome des Rückfalls fast beliebig verlängern: um die Sehnsucht nach einer anarchischen, unilateralen Deglobalisierung oder das Entstehen der Identitären Bewegung zum Beispiel in Frankreich, Italien und Österreich, um die zunehmende Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie, um eine Welle der sogenannten Hasskriminalität und natürlich um den Aufstieg autoritärer Demagogen wie Rodrigo Duterte, Recep Tayyip Erdoğan oder Narendra Modi.

All dies ging bereits im Spätherbst 2015 mit einer Hysterisierung und Verrohung des öffentlichen Diskurses und einem gewissen apokalyptischen Herdentrieb seitens der etablierten Medien einher. Anscheinend konnte man nicht länger über Flucht und Migration reden, ohne Begriffe aus den Wortfeldern »Naturkatastrophen« und »Epidemien« zu verwenden.4 Anstatt zu Gelassenheit und Pragmatismus aufzurufen oder die Ereignisse historisch zu kontextualisieren und damit zu relativieren, wurden Terrorgefahr und Migration nicht nur in Deutschland zur größten Herausforderung seit – wohlgemerkt nicht der Wiedervereinigung, sondern – dem Zweiten Weltkrieg stilisiert. Und bei Demonstrationen sowie im Internet kursierten plötzlich Begriffe wie »Lügenpresse«, »Kanzlerinnendiktatur« und »Volksverräter«.

 

Symptome wie diese werden im vorliegenden Buch unter dem Begriff der »großen Regression« diskutiert. Jenseits aller – von dem Begriff möglicherweise implizierten – naiven Fortschrittsgläubigkeit soll er zum Ausdruck bringen, dass in den unterschiedlichsten Bereichen Sperrklinkeneffekte außer Kraft gesetzt scheinen und wir Zeugen eines Zurückfallens hinter ein für unhintergehbar erachtetes Niveau der »Zivilisiertheit« werden.5 Der Terminus soll aber zugleich ein weiteres rätselhaftes Phänomen bezeichnen: den Umstand, dass die Debatte über die Auswirkungen der Globalisierung phasenweise ihrerseits hinter den Stand zurückgefallen ist, den sie vor fast zwanzig Jahren schon einmal erreicht hatte. An zwei aus heutiger Sicht prophetische Mahnungen wurde bereits unmittelbar nach der Wahl Donald Trumps vielfach erinnert: An Ralf Dahrendorfs Satz, das 21. Jahrhundert könne das »Jahrhundert des Autoritarismus« werden.6 Und an Richard Rortys Buch Stolz auf unser Land, in dem er die Auswirkungen der Globalisierung (und die Rolle der »kulturellen Linken«) problematisiert und eine ganze Reihe möglicher Rückschritte auflistet: den Aufstieg »ordinärer Demagogen«, eine Zunahme der sozialen und ökonomischen Ungleichheit, den Anbruch einer »Orwellschen Welt«, ein Aufbegehren der Abgehängten, eine Rückkehr des »Sadismus«, des Ressentiments sowie der abwertenden Bemerkungen über Frauen und Angehörige von Minderheiten.7

Der Sammelband, in dem sich der zitierte Ausblick Dahrendorfs findet, erschien 1998 und damit auf dem Höhepunkt einer ersten Welle des Nachdenkens über die Globalisierung. Blättert man Bücher aus diesen Jahren durch, stößt man auf weitere Sätze, die sich als Kommentare zu Ereignissen im Jahr 2016 lesen lassen. Wilhelm Heitmeyer warnte vor »einem autoritären Kapitalismus«, »staatlicher Repressionspolitik« und »rabiatem Rechtspopulismus«.8 Dani Rodrik prophezeite, die Globalisierung werde zu »sozialer Desintegration« führen, und mahnte, ein »protektionistischer Rückschlag« sei kein unrealistisches Szenario.9

Viele der entsprechenden Einschätzungen basieren auf so etwas wie der »polanyischen Mechanik« einer Zweiten Großen Transformation. Der österreichisch-ungarische Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi zeichnet in seinem 1944 erschienenen Klassiker The Great Transformation nach, wie die kapitalistische Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert aus kleineren, feudalen, agrarisch geprägten, politisch, kulturell und institutionell integrierten Zusammenhängen ausbricht, was zu einer Reihe von Nebenfolgen und Gegenbewegungen führt, bis die Ökonomie auf der Ebene nationaler Wohlfahrtsstaaten wieder eingebettet wird.10 Diese geografisch wie sozial raumgreifende Entwicklung wiederholt sich nun, da der Kapitalismus die Grenzen des Nationalstaates hinter sich lässt – erneut mit vielerlei Nebenfolgen und Gegenbewegungen.11 Man denke nur an die Gründung von Attac 1998, die sogenannte »Battle of Seattle« 1999 und das erste Weltsozialforum 2001 in Porto Alegre auf der linken12 beziehungsweise die ersten Erfolge globalisierungskritischer Populisten auf der rechten Seite: an Pat Buchanans überraschend starkes Abschneiden bei den Vorwahlen der US-Republikaner 1996 (auf das sich Rorty und Rodrik bezogen) oder den Erfolg von Jörg Haiders FPÖ, die 1998 bei den österreichischen Parlamentswahlen die zweitmeisten Stimmen holte.

Fasst man die damaligen Lösungsvorschläge zusammen, so wurde – im Anschluss an die von Polanyi beschriebene Bewegung – eine Wiedereinbettung der entfesselten Ökonomie auf globaler Ebene gefordert: Durch den Aufbau transnationaler Institutionen sollte die Politik in die Lage versetzt werden, globale Lösungen für globale Probleme zu suchen. Parallel dazu sollte eine entsprechende Geisteshaltung entstehen, ein kosmopolitisches Wir-Gefühl.13

Die bittere Ironie besteht darin, dass die seinerzeit skizzierten Globalisierungsrisiken in den folgenden Jahren allesamt real wurden – internationaler Terrorismus, Klimawandel, Finanz- und Währungskrise, schließlich große Migrationsbewegungen –, man aber dennoch politisch nicht darauf vorbereitet war. Und auch auf der subjektiven Seite ist es offenbar nicht zur Etablierung eines robusten kosmopolitischen Wir-Gefühls gekommen. Vielmehr erleben wir heute eine Renaissance ethnischer, nationaler und konfessioneller Wir/sie-Unterscheidungen. Nach dem vermeintlichen »Ende der Geschichte« hat die Logik eines »Kampfes der Kulturen« überraschend schnell die Freund-Feind-Schemata des Kalten Krieges ersetzt.

Hatte man die um sich greifende Regression vor diesem Hintergrund im Spätherbst 2015 einmal im Blick, fügten sich die nächsten Ereignisse – der Konflikt in Syrien, das Ergebnis der Brexit-Abstimmung, der Anschlag in Nizza, die Erfolge der AfD in Deutschland, der Putschversuch in der Türkei und die politischen Reaktionen darauf, der Wahlsieg Trumps etc. – zu einem düsteren Panorama.

War bislang vor allem von Globalisierungsrisiken die Rede, betonen viele der Essays in diesem Band, dass es sich um eine marktradikale Form der Globalisierung handelt, weshalb man mit gleichem Recht von Neoliberalismusrisiken sprechen könnte. Insofern lassen sich die hier versammelten Beiträge auch als Studien zu der Frage lesen, in wie vielen verschiedenen Hinsichten – um Ernst-Wolfgang Böckenförde variierend zu zitieren14 – neoliberale Demokratien von Voraussetzungen leben, die sie selbst nicht garantieren können: Medien, die einen gewissen Meinungspluralismus bieten, intermediären Assoziationen wie Gewerkschaften, Parteien oder Vereinen, in denen Menschen so etwas wie Selbstwirksamkeit erfahren können; von wirklich linken Parteien, denen es gelingt, die Interessen unterschiedlicher Milieus zu artikulieren, und von einem Bildungssystem, das Bildung nicht auf die Bereitstellung von »Humankapital« und das Auswendiglernen von Pisa-Aufgaben reduziert.

Möglicherweise ist die große Regression, die sich derzeit beobachten lässt, also das Ergebnis eines Zusammenwirkens von Globalisierungs- und Neoliberalismusrisiken: Die Probleme, die sich aufgrund mangelnder politischer Steuerung der globalen Interdependenz ergeben, treffen Gesellschaften, die darauf institutionell und kulturell nicht vorbereitet sind.

Dieses Buch will an die Globalisierungsdiskussion der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts anknüpfen und sie fortführen. Wissenschaftlerinnen und öffentliche Intellektuelle äußern sich hier zu drängenden Fragen: Wie sind wir in diese Situation geraten? Wo stehen wir in fünf, zehn oder zwanzig Jahren? Wie kann man die globale Regression stoppen und wieder umkehren? Es handelt sich um den Versuch, im Angesicht einer Internationale der Nationalisten auf drei Ebenen so etwas wie eine transnationale Öffentlichkeit herzustellen: auf der Ebene der Beiträgerinnen und Beiträger, auf der Ebene der untersuchten Phänomene und auf der Ebene der Distribution: Der Band erscheint zeitgleich in mehreren Ländern.

 

Mein erster Dank gilt natürlich den Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre Bereitschaft, an diesem Unterfangen mitzuwirken und in relativ kurzer Zeit substanzielle Texte zu verfassen. Des Weiteren danke ich den internationalen Partnerverlagen für ihr Vertrauen in das Projekt sowie Mark Greif und John Thompson für ihre Ratschläge. Dieser Band ist auch ein Verlagsprojekt, das ohne meine Kolleginnen und Kollegen bei Suhrkamp nicht möglich gewesen wäre. Ein besonderer Dank geht daher an Edith Baller, Felix Dahm, Andrea Engel, Eva Gilmer, Petra Hardt, Christoph Hassenzahl, Christian Heilbronn, Nora Mercurio und Janika Rüter.

 

Berlin, im Dezember 2016
Heinrich Geiselberger

Anmerkungen

1

  

Ulrich Beck, »Kooperieren oder scheitern. Die Existenzkrise der Europäischen Union«, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2 (2011), S. 41-53.

2

  

J. ‌J. Messner, Fragile State Index 2016, Washington: The Fund for Peace 2016, S. 7.

3

  

Vgl. dazu Zygmunt Bauman, Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache, Berlin: Suhrkamp 2016.

4

  

Was visuell noch dadurch unterstrichen wurde, dass die entsprechenden Fotos oft Menschen mit Mundschutz (wofür es pragmatische Gründe geben mag) zeigten, wie auch die ungarische Kamerafrau einen trug, die im September 2015 nach Flüchtlingen trat.

5

  

Vgl. dazu und zum Begriff der »regressiven Modernisierung« Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin: Suhrkamp 2016.

6

  

Ralf Dahrendorf, »Anmerkungen zur Globalisierung«, in: Perspektiven der Weltgesellschaft, herausgegeben von Ulrich Beck, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 41-54, S. 52f.

7

  

Richard Rorty, Stolz auf unser Land. Die amerikanische Linke und der Patriotismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, insbesondere Kapitel 4 »Eine kulturelle Linke«, S. 43-103, S. 81ff.

8

  

Wilhelm Heitmeyer, »Autoritärer Kapitalismus, Demokratieentleerung und Rechtspopulismus. Eine Analyse von Entwicklungstendenzen«, in: Schattenseiten der Globalisierung. Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer Regionalismus in westlichen Demokratien, herausgegeben von Dietmar Loch und Wilhelm Heitmeyer, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 497-534, S. 500 (dort kursiv).

9

  

Dani Rodrik, Grenzen der Globalisierung. Ökonomische Integration und soziale Desintegration, Frankfurt am Main/New York: Campus 2000 [1997], S. 86. Nennen könnte man in diesem Zusammenhang außerdem u. ‌a. Benjamin Barber, Coca-Cola und Heiliger Krieg. Wie Kapitalismus und Fundamentalismus Demokratie und Freiheit abschaffen, Bern/München/Wien: Scherz 1996; Noam Chomsky, Profit Over People. Neoliberalismus und globale Weltordnung, Hamburg/Wien: Europa Verlag 2000; Viviane Forrester, Der Terror der Ökonomie, Wien: Zsolnay 1997; Robert B. Reich, Die neue Weltwirtschaft. Das Ende der nationalen Ökonomie, Berlin/Frankfurt: Ullstein 1993; Harald Schumann und Hans-Peter Martin, Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1996; Joseph E. Stiglitz, Die Schatten der Globalisierung, Berlin: Siedler 2002.

10

  

Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978 [1944].

11

  

Vgl. dazu – mit explizitem Bezug auf Polanyi – Philip G. Cerny, »Globalisierung und die neue Logik kollektiven Handelns«, in: Politik der Globalisierung, herausgegeben von Ulrich Beck, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 263-296.

12

  

Seinerzeit begleitet von weiteren einflussreichen publizistischen und theoretischen Diagnosen, man denke nur an Bücher wie Naomi Kleins No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht – ein Spiel mit vielen Verlierern und wenigen Gewinnern (München: Riemann 2001) oder Empire. Die neue Weltordnung von Michael Hardt und Toni Negri (Frankfurt am Main/New York: Campus 2002).

13

  

Vgl. dazu u. ‌a. Ulrich Beck, Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004.

14

  

Bei Böckenförde heißt es, wenngleich in einem anderen Kontext: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.« (Ernst-Wolfgang Böckenförde, »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation«, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977 [1967], S. 42-64, S. 60)

Demokratiemüdigkeit
Arjun Appadurai

Die entscheidende Frage unserer Zeit ist, ob wir gerade die weltweite Ausmusterung der liberalen Demokratie und ihre Ersetzung durch irgendeine Form des populistischen Autoritarismus erleben. Deutliche Anzeichen für eine solche Entwicklung lassen sich in Trumps Amerika, Putins Russland, Modis Indien und Erdoğans Türkei beobachten. Und auch in vielen EU-Ländern sind autoritäre Regierungen entweder bereits an der Macht, wie Orbán in Ungarn oder Duda in Polen, oder autoritäre rechte Parteien haben, wie in Frankreich und Österreich, gute Chancen, demnächst an die Macht zu kommen. Die Bevölkerung dieser Länder macht zusammen fast ein Drittel der Weltbevölkerung aus. Angesichts dieses globalen Rechtsrucks wächst das Unbehagen, doch gute Erklärungen sind bislang Mangelware. Im Folgenden möchte ich mich an einer Erklärung versuchen und das Programm für eine von Europa ausgehende Gegenoffensive skizzieren.

Führer und Anhänger

Wir müssen uns einen neuen Begriff von dem Verhältnis machen, das in den heutigen populistischen Bewegungen zwischen Führern und Anhängern besteht. Den herkömmlichen analytischen Rastern zufolge haben wichtige gesellschaftliche Entwicklungen im Bereich des Politischen mit Dingen wie Charisma, Propaganda, Ideologie etc. zu tun, die eine starke Verbindung zwischen Führern und Anhängern voraussetzen. Natürlich stehen Führer und Anhänger auch heutzutage in einer Verbindung zueinander, doch diese Verbindung muss man eher als zufällige Schnittmenge zwischen den Ambitionen, Visionen und Strategien der Anführer und den Ängsten, Wunden und Ressentiments ihrer Anhänger betrachten. Die Führer, die durch die neuen populistischen Bewegungen hochgekommen sind, pflegen typischerweise einen fremdenfeindlichen, patriarchalischen und autoritären Stil. Während einige dieser Tendenzen auch bei ihren Anhängern vorhanden sein mögen, sind Letztere doch zudem ängstlich, wütend und empört über das, was ihre Gesellschaften ihnen beschert oder angetan haben. Dennoch passen ihre Profile zueinander und kommen insbesondere bei Wahlen, so gesteuert und manipuliert diese auch möglicherweise sind, zur Deckung. Das ist nicht ganz leicht zu verstehen. Warum gibt es in Indien und den Vereinigten Staaten Muslime, die für Modi beziehungsweise für Trump stimmen? Warum gibt es amerikanische Frauen, die Donald Trump vergöttern? Warum gibt es gesellschaftliche Gruppen in der ehemaligen DDR, die jetzt rechtsextreme Politiker wählen? Wenn wir Antworten auf diese Fragen finden wollen, müssen wir die Führer der neuen populistischen Bewegungen und ihre Anhänger ein Stück weit getrennt voneinander betrachten.

Die Botschaft von oben

Die neuen populistischen Führer erkennen, dass sie in einer Zeit nach der nationalstaatlichen Macht greifen, in der die nationale Souveränität in einer Krise steckt. Das auffälligste Symptom für diese Krise der Souveränität ist, dass kein moderner Nationalstaat mehr die Kontrolle über das besitzt, was man seine Volkswirtschaft nennen könnte. Von diesem Problem sind die reichsten Nationen ebenso betroffen wie die allerärmsten. Ein beträchtlicher Teil der US-amerikanischen Wirtschaft ist in chinesischem Besitz, die Chinesen sind elementar auf Rohstoffe aus Afrika, Lateinamerika und anderen Teilen Asiens angewiesen, in gewissem Maße sind wir alle vom Öl aus dem Nahen Osten abhängig, und praktisch kein moderner Nationalstaat kann auf die hoch entwickelten Rüstungsgüter einer Handvoll wohlhabender Länder verzichten. Ökonomische Souveränität als Grundlage für die nationale Souveränität war immer ein zweifelhaftes Prinzip. Heute aber verliert es zunehmend an Plausibilität.

Angesichts der Tatsache, dass es keine Volkswirtschaften mehr gibt, deren Schutz und Entwicklung moderne Staaten zu ihrer Aufgabe erklären könnten, muss man sich nicht wundern, dass real existierende Staaten und aufstrebende populistische Bewegungen auf der ganzen Welt versuchen, die nationale Souveränität auf dramatische Art und Weise zu reinszenieren, indem sie eine die Mehrheit repräsentierende chauvinistische Leitkultur und einen Ethnonationalismus ausrufen und innenpolitisch jeden intellektuellen und kulturellen Widerspruchs unterdrücken. Der allgemeine Verlust der ökonomischen Souveränität führt, mit anderen Worten, zu einer Aufwertung der kulturellen Souveränität. Diese Besinnung auf Kultur als den Hort nationaler Souveränität hat viele Gesichter.

Nehmen wir Russland unter der Herrschaft Wladimir Putins. Im Dezember 2014 unterzeichnete Putin ein Dekret, in dem für Russland eine staatliche Kulturpolitik nach der Devise »Russland ist nicht Europa« festgeschrieben wurde. Unverhohlen bringt das Dekret Putins Feindseligkeit gegenüber der westlichen Kultur und dem europäischen Multikulturalismus zum Ausdruck, den er selbst mit zwei sexuell abfälligen Ausdrücken als »kastriert und unfruchtbar« charakterisiert,1 und erklärt die russische Männlichkeit zur politischen Kraft. Diese Rhetorik, die sich auf eine lange Tradition slawophilen Empfindens und russophiler Kulturpolitik gründet, beschwört eine Rückkehr zu traditionellen russischen Werten. Zu den unmittelbaren Begleitumständen des Dokumentes gehörte die Schlacht um die Zukunft der Ukraine; die Absage der Konzerte des kremlkritischen russischen Rockmusikers Andrej Makarewitsch muss man in diesen Zusammenhang einordnen; und auch die langjährige Schikanierung der Popgruppe Pussy Riot ist Ausdruck derselben Denkungsart. Hier wird eine Politik des »homogenen Kulturraums« für ganz Russland propagiert und klargestellt, dass Russlands kulturelle Einheit und Einzigartigkeit sowohl gegen kulturelle Minderheiten im Inland als auch gegen politische Feinde im Ausland eine schlagkräftige Waffe darstellt.

Auch die Türkei hat unter Recep Tayyip Erdoğan die Kultur in ein Theater der Souveränität verwandelt. Wesentlicher Bestandteil dieser Strategie ist die Forderung nach einer Rückkehr zu den Traditionen, Sprachformen und der imperialen Größe des Osmanischen Reiches – eine Ideologie, die Erdoğans Kritiker »Neo-Osmanismus« getauft haben. Das damit verbundene Türkei-Bild zeugt von geopolitischen Ambitionen, vom Widerstand gegen die russischen Einmischungen im Nahen Osten, und es bildet eine Art Gegengewicht zu den Bestrebungen eines türkischen EU-Beitritts. Doch die neo-osmanische Pose ist für Erdoğan auch ein probates Mittel, um den säkularen Nationalismus Kemal Atatürks, jenes Inbegriffs einer modernen Türkei, an den Rand zu drängen und durch eine theokratischere und imperialere Form der Herrschaft zu ersetzen. Ausdruck dieser Politik war nicht nur die gewaltsame Unterdrückung des breiten politischen Widerstands, der sich 2013 im Istanbuler Gezi-Park formiert hatte, sondern auch die massive Zensur, mit der die Kunst- und Kulturinstitutionen des Landes belegt werden.

In vielerlei Hinsicht stellt der rechte Ideologe Narendra Modi, der gegenwärtig den Posten des indischen Premierministers bekleidet, das beste Beispiel dafür dar, wie die neuen autoritären Führer ihre populistischen Strategien entwickeln und absichern. Modi kann auf eine lange Karriere als Parteisoldat und Aktivist der hinduistischen Rechten in Indien zurückblicken. Von 2001 bis 2004 diente er als Chief Minister von Gujarat. Nachdem in Gujarat damals einige Muslime einen Zug mit Hindu-Pilgern angegriffen hatten, kam es 2002 im ganzen Bundesstaat zu einem Genozid an Muslimen, bei dem offenbar auch Modi seine Hände im Spiel hatte. Obwohl viele indische Linke bis heute davon überzeugt sind, dass Modi diesen Genozid aktiv befördert hat, ist es ihm bislang gelungen, allen straf- und zivilrechtlichen Verurteilungen zu entgehen. 2014 wurde er schließlich sogar zum indischen Premierminister gewählt. Modi bekennt sich offen zum Hindu-Nationalismus der Ideologie des hindutva, die eine Herrschaft nach hinduistischen Regeln anstrebt. Wie viele der autoritären populistischen Führer unserer Tage verbindet er einen extremen Kulturnationalismus mit einer ausgesprochen neoliberalen politischen Agenda. Während seiner nun fast dreijährigen Amtszeit hat Indien eine bislang beispiellose Beschneidung der sexuellen, religiösen, kulturellen und künstlerischen Freiheiten erlebt. Diese Vorgänge sind nichts anderes als eine systematische Demontage des säkularen und sozialistischen Erbes Jawaharlal Nehrus und der gewaltfreien Visionen Mahatma Gandhis. Unter Modi ist ein Krieg mit Pakistan stets in greifbarer Nähe, Indiens Muslime leben in permanenter Angst, und die Dalits – die auf der untersten Stufe des indischen Kastenwesens stehenden ehemals so genannten »Unberührbaren« – sind tagtäglich dreisten Übergriffen und Demütigungen ausgesetzt. Modi hat den Diskurs der ethnischen Reinheit mit Vorstellungen über Sauberkeit und Hygiene kombiniert. Im Ausland hat er ein kulturelles Image Indiens propagiert, das digitale Modernität mit hinduistischer Authentizität verschmilzt, im Innern hat er die Vorherrschaft des Hinduismus befördert. Diese beiden Aspekte sind heute tragende Säulen der indischen Souveränität.

Nichts anderes ist von Donald Trump zu erwarten, dessen Sieg bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen vom 8. November 2016 den jüngsten Alptraum dieser Reihe verkörpert. Das Ereignis ist noch so frisch, dass man bisher kaum fundiert Rückschau halten kann. Doch durch die Ernennung seiner Kabinettsmitglieder und die Ankündigung diverser politischer Maßnahmen hat Trump längst begonnen, seine Wahlversprechen in die Tat umzusetzen. Wir sollten nicht erwarten, dass der Wahlsieg einen mäßigenden Einfluss auf seinen Stil haben wird. Trumps politischen Aussagen, die in einer für die jüngere Vergangenheit unvergleichlichen Weise Frauenfeindlichkeit, Rassismus, Xenophobie und Größenwahn verbinden, liegen im Wesentlichen zwei extreme Botschaften zugrunde, von denen die eine ausdrücklich vorgetragen, die andere implizit mittransportiert wird. Das erklärte Ziel besteht darin, Amerika »wieder groß zu machen«: In diesem Zusammenhang wird die Möglichkeit eines militärischen Eingreifens der Vereinigten Staaten aufpoliert und das Neuverhandeln diverser Handelsabkommen in Aussicht gestellt, die Trump als schädigend für den Wohlstand und das Ansehen der Vereinigten Staaten betrachtet; er ist dabei, amerikanische Unternehmen diverser steuerlicher und ökologischer Verpflichtungen zu entbinden; vor allem seinen Ankündigungen, man werde alle Muslime in den USA »registrieren«, alle illegalen Einwanderer abschieben und die amerikanischen Grenzen unter anderem durch einen massiven Ausbau der Einreisekontrollen undurchlässiger machen, hat Trump teilweise schon Taten folgen lassen. Die unterschwellige Botschaft ist rassenbezogen und rassistisch; sie richtet sich an jene weißen Amerikaner, die glauben, ihre politische und wirtschaftliche Vorherrschaft an Schwarze, Latinos und sonstige Einwanderer verloren zu haben. Trumps erfolgreichster rhetorischer Coup war es, die Griechen des »Weiß-Seins« systematisch in das trojanische Pferd jeder einzelnen seiner Botschaften über die »amerikanische« Größe eingeschleust zu haben. Er hat den Schlachtruf »Make America great again« zur öffentlichen Maske des Versprechens werden lassen, das weiße Amerika wieder stark zu machen. Eine Aussage über Amerikas Macht in der Welt fungierte damit erstmals als Chiffre für die Botschaft, die Weißen sollen wieder die herrschende Klasse der USA und in den USA werden. Aus der Botschaft über die Rettung der amerikanischen Wirtschaft ist unter der Hand eine Botschaft über die Rettung der weißen Rasse geworden.

Die Führer der neuen autoritären Populismen sind sich also allesamt darüber im Klaren, dass sie ihre Volkswirtschaften nicht wirklich kontrollieren können, weil auch diese letztlich nur eine Variable im Spiel der ausländischen Investoren, der globalen Abkommen, des transnationalen Finanzsektors, der Arbeitsmigration und des Kapitals im Allgemeinen sind. Alle preisen die nationale kulturelle Reinigung als Königsweg zu weltpolitischer Macht. Alle sind dem neoliberalen Kapitalismus freundlich gesinnt, wobei sie ihre jeweils eigenen Vorstellungen davon haben, wie dieser für Indien, die Türkei, die USA oder Russland funktionieren soll. Alle versuchen sie, weiche Macht in harte Macht zu übersetzen. Und keiner von ihnen hat irgendwelche Skrupel, Minderheiten und Dissidenten zu unterdrücken, die Meinungsfreiheit zu beschneiden oder das Recht zu beugen, um die eigenen politischen Gegner auszuschalten.

Dieses weltweit verbreitete Gebräu wird auch in Europa angeboten: in Theresa Mays England, Viktor Orbáns Ungarn, Andrzej Dudas Polen; ja, eigentlich bekommt man es von den zahllosen, sich immer lautstärker Gehör verschaffenden »etablierten« Rechtsparteien in jedem zweiten Land serviert. Was diesen Trend in Europa derzeit befeuert, sind die von der jüngsten Einwanderungswelle ausgelöste Angst, die Wut und das Entsetzen angesichts der Terroranschläge in verschiedenen europäischen Hauptstädten und natürlich der Schock über die Brexit-Abstimmung. Die populistischen Führer und autoritären Demagogen stehen also auf dem gesamten alten Kontinent in den Startlöchern. Dabei operieren sie mit derselben Mischung aus Neoliberalismus, Kulturchauvinismus, einwanderungsfeindlicher Wut und dem rasenden Zorn der Mehrheit auf die Minderheit wie in den hier eingehender diskutierten Beispielen.

Wir haben nun einen ersten Eindruck von den Führern der neuen autoritären Populismen und ihren Appellen. Was aber ist mit ihren Anhängern?

Vox Populi

Ich habe bereits angedeutet, dass eine Erklärung für den weltweiten Erfolg autoritärer populistischer Bewegungen nicht davon ausgehen sollte, dass die Anhänger die Überzeugungen der von ihnen scheinbar vergötterten Führer im Ganzen teilen oder reproduzieren. Eine gewisse Überschneidung oder Vereinbarkeit zwischen dem, was diese Führer anprangern oder versprechen, und dem, was ihre Anhänger glauben oder befürchten, ist natürlich vorhanden. Es handelt sich dabei aber nur um eine partielle Überschneidung. Die breiten Gefolgschaften, die es Modi, Putin, Erdoğan und Trump oder auch May, Orbán und Duda ermöglichten, an die Macht zu kommen und sich dort zu halten, haben ihre eigenen Überzeugungs-, Gefühls- und Motivationswelten. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie diese Welten aussehen, möchte ich auf Ideen zurückgreifen, die der Philosoph und politische Ökonom Albert O. Hirschman in seinem brillanten Buch Abwanderung und Widerspruch entwickelt hat.2 Hirschman legte eine einleuchtende Interpretation dessen vor, wie Menschen auf einen Leistungsabfall bei Produkten, Organisationen oder Staaten reagieren: Ihm zufolge bleiben sie entweder loyal oder lösen die Geschäftsbeziehung auf oder erhalten sie unter Protest gegen den Leistungsabfall aufrecht – in der Hoffnung, durch ihren Widerspruch, ihren Widerstand oder ihre Beschwerden Korrekturen oder Reformen anzustoßen. Die große Originalität von Hirschmans Analyse besteht darin, das Konsumentenverhalten mit Organisationsverhalten und politischem Verhalten verknüpft zu haben. Sein Ansatz hat die Frage, wie lange und unter welchen Umständen normale Menschen ihre Enttäuschungen über Güter und Dienstleistungen tolerieren, bevor sie Marken, Organisationsmitgliedschaften oder Länder wechseln, entscheidend vorangebracht. Hirschmans 1970 unter dem Originaltitel Exit, Voice, and Loyalty veröffentlichtes Buch gewährt einen tiefen Einblick in die Funktionsweise moderner kapitalistischer Demokratien zu einer historischen Zeit, als die Globalisierung noch nicht begonnen hatte, die Logik der Nationalökonomien, die lokalen Gemeinschaften und die ortsgebundenen Identitäten aufzulösen. Da Hirschmans Buch zudem lange vor dem Aufkommen des Internets und der sozialen Medien geschrieben wurde, war nicht vorauszusehen, welche Formen die Enttäuschung und der Protest in der Welt des 21. Jahrhunderts annehmen würden.

Dennoch können wir im Sinne Hirschmans festhalten, dass es beim Brexit in erster Linie um Abwanderung geht und dass diese immer in einem irgendwie gearteten Verhältnis zu Loyalität und Widerspruch steht. Wie lassen sich Hirschmans Begriffe für die Gegenwart fruchtbar machen? Ich möchte vorschlagen, dass die heute von viel zu vielen befürwortete Abwanderung aus Sicht der Massen, die Trump, Modi, Erdoğan und andere etablierte oder aufstrebende Gestalten des autoritären Populismus mit einer solchen Begeisterung folgen, eine Form des Widerspruchs und keine Alternative hierzu darstellt. Hirschman hatte, genauer gesagt, recht mit seiner Behauptung, dass Wahlen für Bürger den bevorzugten Weg darstellen, um ihren Widerspruch zum Ausdruck zu bringen und zu zeigen, inwieweit sie von ihren Führern enttäuscht oder mit ihnen zufrieden sind. Mittlerweile aber erweisen sich Wahlen, wie uns die jüngsten Ereignisse in den Vereinigten Staaten so plastisch vor Augen geführt haben, offenbar weniger als Mittel zur demokratischen Korrektur und Infragestellung der Politik denn als Gelegenheit, um aus der Demokratie selbst »abzuwandern«. Die ca. 62 Millionen Amerikaner, die Trump wählten, haben für ihn und gegen die Demokratie gestimmt. In diesem Sinne war ihre Stimme eine Stimme für die »Abwanderung«. Genau dasselbe gilt für die Wahlen Modis und Erdoğans sowie die Pseudo-Wahlen Putins.

In jedem dieser Fälle und auch in vielen der populistischen Nester Europas können wir einen Überdruss an der Demokratie selbst konstatieren, und dieser Überdruss ist der Nährboden für den Wahlerfolg jener Führer, die versprechen, all die liberalen, deliberativen und inklusiven Komponenten ihrer nationalen Erscheinungsformen der Demokratie abzuschaffen. Natürlich verdanken alle populistischen Führer ihren Aufstieg einer solchen Demokratieenttäuschung, so ließe sich entgegenhalten; schon Stalin, Hitler, Perón und Konsorten haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus dem Versagen ihrer Demokratien Kapital geschlagen. Was also ist neu an der heutigen Demokratiemüdigkeit?

In dreierlei Hinsicht zeichnet sich das Gefühl, von der Demokratie selbst genug zu haben, das heute so weitverbreitet ist, durch eine eigene Logik und charakteristische Umstände aus. Zunächst einmal haben die Tatsache, dass immer größere Teile der Gesellschaft Zugang zum Internet und zu sozialen Medien haben, und die im Internet allgegenwärtige Mobilisierung, Propaganda, Identitätsbildung und Suche nach Gleichgesinnten die gefährliche Illusion geschaffen, wir könnten, ungeachtet unserer Person und unseres Anliegens, immer und überall Ansprechpartner, Verbündete, Freunde, Helfer, Genossen und Gleichgesinnte finden. Zweitens hat mittlerweile wirklich jeder Nationalstaat in seinem Bestreben, den Schein ökonomischer Souveränität aufrechtzuerhalten, an Boden verloren. Und drittens hat die globale Verbreitung der Ideologie der Menschenrechte dazu geführt, dass Fremde, Ausländer und Migranten praktisch in allen Ländern einen gewissen Kredit genießen, auch wenn ihnen, wo immer sie hingehen, ein kühler Empfang und schwierige Lebensbedingungen relativ gewiss sind. Diese drei Faktoren sind mitverantwortlich dafür, dass Rechtsstaatlichkeit, deliberative Rationalität und politische Geduld, die jedes demokratische System unbedingt braucht, auf der ganzen Welt immer schlechter gelitten sind. Wenn wir zu diesen Faktoren noch das weltweite Anwachsen ökonomischer Ungleichheit, die globale Erosion der Sozialstaatlichkeit und das universale Wuchern jener Finanzindustrien hinzurechnen, die vom beständigen Anheizen des Gerüchts leben, wir alle stünden unmittelbar vor dem finanziellen Ruin, dann sehen wir, wie ein beständiges Klima panischer wirtschaftlicher Angst den Unmut über das langsame Mahlen der demokratischen Mühlen weiter befördert. Ebenjene populistischen Führer, die ein Wirtschaftswachstum für alle versprechen, schüren diese Panik oft ganz bewusst. Narendra Modis Entscheidung, die indische Wirtschaft ein für alle Mal vom »Schwarzgeld« (unversteuerten Barvermögen) zu befreien, indem man die 500- und 1000-Rupien-Banknoten aus dem Verkehr zieht, ist ein wunderbares Beispiel für eine derart künstlich induzierte wirtschaftliche Not und Finanzpanik. Für die indischen Arbeiter, Konsumenten und kleinen Dienstleister aus der Unter- und Mittelschicht sind diese Geldscheine, die umgerechnet etwa sieben respektive vierzehn Euro wert sind, ein unverzichtbarer Bestandteil ihres täglichen Lebens.

In der Weltgeschichte des autoritären Volkspopulismus wird mithin ein neues Kapitel geschrieben, das von der partiellen Überschneidung zwischen den Zielen und Versprechen der Führer und der Mentalität ihrer Anhänger kündet. Die Führer hassen die Demokratie, weil sie ihrer eigenen monomanischen Machtgier im Weg steht. Die Anhänger wiederum leiden an Demokratiemüdigkeit und sehen die Wahlpolitik als willkommene Gelegenheit, um sich aus der Demokratie gleich ganz zu verabschieden. Der Hass der einen und die Müdigkeit der anderen finden fast schon organisch im Raum kultureller Souveränität zueinander, in dem missgünstigen Mehrheiten weiche Macht verheißen und für sie ein Theater des Triumphs ihrer Rasse, der nationalen ethnischen Reinheit und des globalen Wiedererstarkens ihrer Nation aufgeführt wird. Vor dem gemeinsamen kulturellen Hintergrund löst sich die tiefe Widersprüchlichkeit zwischen der zumeist neoliberalen Wirtschaftspolitik dieser autoritären Führer und ihrer gut dokumentierten Vetternwirtschaft einerseits und den realen Finanznöten und existenziellen Ängsten ihrer Gefolgschaft andererseits scheinbar in Wohlgefallen auf. Diese vermeintliche Homogenität bildet dann die Grundlage für eine neue Ausschließungspolitik, die sich entweder gegen Migranten oder gegen einheimische ethnische Minderheiten oder gegen beide richtet. Solange die Arbeitsplätze immer weniger werden, Renten und Einkommen immer weiter sinken, wird man nicht aufhören, Einwanderer und heimische Minderheiten zum Sündenbock zu machen, es sei denn, die linksliberalen Reformideen zu einer Umstrukturierung der Einkommen, der Sozialhilfe und der öffentlichen Güter lassen sich irgendwann einmal in ein überzeugendes politisches Programm übersetzen. Realistischerweise muss man sagen, dass dies kein kurzfristiges Projekt sein kann, sondern eines, das mittelfristig mit höchster Priorität verfolgt werden muss. Da Europa hier eine Vorreiterrolle zufällt, kehre ich am Schluss meines Aufsatzes noch einmal zum alten Kontinent zurück.

Wohin steuert Europa?

Die Folgen der Brexit-Abstimmung sind noch längst nicht absehbar. Ihr Ergebnis aber weist auf eine Stimmung in Europa hin, die offenbar mit dem globalen Rechtsruck und der wachsenden EU-Ambivalenz vieler Mitgliedsstaaten in Zusammenhang steht. Abgesehen von einigen Besonderheiten der britischen Politik lassen sich ein paar allgemeine Beobachtungen festhalten.

Zunächst stellt der Brexit nur die jüngste Variante einer langen und wiederkehrenden Debatte um das Wesen und die Bedeutung Europas dar. Die Debatte ist so alt wie die Idee von Europa selbst. Die Frage der Grenzen, der Identität und der Mission Europas wurde nie wirklich geklärt. Ist Europa ein Projekt des westlichen Christentums? Ist es ein Nachfahre des römischen Rechts und Reichs? Oder der Rationalität und der demokratischen Werte des alten Griechenlands? Oder des Humanismus und Säkularismus der Renaissance? Oder des Universalismus und Kosmopolitismus der Aufklärung? Diese unterschiedlichen Motive liegen seit Jahrhunderten im Streit miteinander, was bis heute zu einer tiefen Spaltung führt. Es sind Bilder, die zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlichen Klassen, Regionen, Staaten und Intellektuellen propagiert wurden, und keines dieser Bilder hat jemals das Privileg uneingeschränkter Vorherrschaft genossen; doch wurde auch keines je ganz ad acta gelegt. Sie haben blutige innereuropäische Kriege, massive Glaubensspaltungen, brutale Versuche der Auslöschung von Minderheiten, Fremden, Häretikern und politischen Dissidenten erlebt und überlebt. Die genannte Kombination von Motiven spielt bis heute eine Rolle.

Man kann unschwer erkennen, dass die Furcht vor neuen Zuwanderern (sowie vor existierenden Migrantengruppen) in den Kernländern der EU, etwa in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland, aber auch in Polen, Ungarn und Slowenien wesentlich für die gegenwärtige Konjunktur EU-kritischer Argumente verantwortlich ist. Viele Bürger nehmen es der Brüsseler EU

Die unterschiedlichen Bewegungen, die in Europa irgendeine Form der »Abwanderung« aus der EU propagieren, sind dieselben, die Wahlprozesse so, wie ich es für die Vereinigten Staaten, Indien, Russland und die Türkei beschrieben habe, für einen Ausstieg aus der Demokratie funktionalisieren. Was die europäischen Fälle von Demokratiemüdigkeit überaus deutlich zum Vorschein bringen, ist der seitens vieler politischer Gruppierungen und Bewegungen vorhandene Wunsch, die Vorteile der Globalisierung zu nutzen, ohne die Lasten der Demokratie zu tragen; und im Falle Großbritanniens ist die Mitgliedschaft in der Europäischen Union in einen assoziativen Zusammenhang mit der liberalen Ideologie im Land geraten.

Der jüngste Besuch, den Theresa May Indien abstattete, um sich mit Narendra Modi auszutauschen, gibt einen kleinen Vorgeschmack auf die Zukunft des globalen Neoliberalismus in einer von der Last der Demokratie befreiten Welt. Die beiden verstanden sich blendend, wo es um Fragen des grenzüberschreitenden Terrorismus (anders gesagt: um Pakistan) und der britischen Investitionen in die indische Infrastruktur ging, kritisierten sich aber gegenseitig scharf in Bezug auf Visaquoten für indische Studenten in Großbritannien und den Status von Indern, die sich mit abgelaufenen Visa in England aufhalten. Eine Tory-Chefin, die durch die Brexit-Entscheidung an die Macht kam, und ein autoritärer indischer Rechtspopulist von Weltrang handeln also miteinander aus, wie man das internationale Kapital am besten strömen lässt, während sie um Visa und Migranten schachern. So etwa dürften die neuen autoritären Führer der Welt miteinander Geschäfte machen, wenn sie erst einmal von den demokratiemüden Massen ihrer Heimatländer an die Macht gebracht worden sein und den Ballast der Demokratie abgeworfen haben werden. Längst haben Trump und Putin zarte Bande zueinander geknüpft, und auch die in den USA lebenden indischen Anhänger von Modi und Trump sind schon eng verbündet.

Die liberale Demokratie in Europa befindet sich am Rande einer gefährlichen Krise. Die Demokratiemüdigkeit ist auch hier angekommen; sie ist von Schweden bis Italien, von Frankreich bis Ungarn überall mit Händen zu greifen. In Europa sind Wahlen ebenfalls zu einer Gelegenheit geworden, der liberalen Demokratie eine Absage zu erteilen. Innerhalb dieses Szenarios steht Deutschland an einem wichtigen und riskanten Scheideweg. Es kann sich mit seinem erstaunlichen Reichtum, seiner wirtschaftlichen Stabilität und seinem reflexiven historischen Bewusstsein dafür einsetzen, die Ideale der Europäischen Union zu verteidigen, die Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten willkommen zu heißen, nach friedlichen Lösungen für die großen weltpolitischen Herausforderungen zu suchen und die Stärke des Euro zum Schrittmacher für mehr Gleichheit im eigenen Land und in Europa zu machen. Oder es kann seinerseits abwandern, seine Grenzen schließen, seinen Reichtum horten und das übrige Europa (sowie den Rest der Welt) seinen Problemen überlassen. Letzteres ist wahrscheinlich die politische Botschaft der deutschen Rechten. Doch es wäre ein törichter Weg. An der globalen ökonomischen Interdependenz führt kein Weg vorbei, und der deutsche Reichtum ist heute so abhängig von der Weltwirtschaft wie jeder andere. Die »Abwanderungs«-Option wäre nicht gut für Deutschland. Deutschland hat keine andere Wahl, als auf ein demokratisches Europa zu drängen, und ein demokratisches Europa ist für den weltweiten Kampf gegen den autoritären Populismus von entscheidender Bedeutung.

Doch damit diese Rechnung für Deutschland aufgehen kann, muss es seine Partner in der Europäischen Union, insbesondere in Süd- und Osteuropa, davon überzeugen, dass es nicht der Einpeitscher einer Sparpolitik und aufgezwungenen Finanzdisziplin ist. Eine weiche Einwanderungspolitik und kulturelle Toleranz im Innern lässt sich nicht gut mit einer unnachgiebigen Schuldenpolitik in Europa und einer dramatischen Beschneidung der fiskalischen Souveränität anderer Länder – Griechenland, Spanien, Italien usw. – vereinbaren. Das Problem ist vertrackt, da der deutsche Wohlstand auch von einem stabilen Euro abhängt und die deutsche Liberalität höchstwahrscheinlich ohne den deutschen Wohlstand nicht lange überleben würde. Deutschland muss also die Quadratur des Kreises gelingen, in den europäischen Ländern, die gerade einen Rechtsruck erleben, die liberalen und demokratischen Kräfte zu stärken, ohne dabei (wieder einmal) in die Rolle des europäischen Hegemons zu geraten. Für dieses Dilemma gibt es keine einfache Lösung, doch es lässt sich auch nicht umgehen. Die freiheitliche Demokratie in Deutschland ist in einem Europa der autoritären Populismen nicht lebensfähig. Und so bleibt am Ende nur ein einzig möglicher Weg: Liberal eingestellte Bevölkerungsgruppen (Arbeiter, Intellektuelle, Aktivisten, Politiker) müssen sich europaweit zusammenfinden, um gemeinsam für einen ökonomischen und politischen Liberalismus zu streiten. Wir brauchen eine liberale Multitude. Sie ist die einzige Antwort auf die regressive Multitude, die gegenwärtig in und jenseits von Europa auf dem Vormarsch ist.

 

Aus dem Englischen von Bettina Engels

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Wladimir Putin, Botschaft des Präsidenten an die Föderalversammlung vom 12. Dezember 2014; eine englische Übersetzung der Rede ist online verfügbar unter: {http://en.kremlin.ru/events/president/news/19825} (Stand Januar 2017).

 

Albert O. Hirschman, Abwanderung und Widerspruch. Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten, Tübingen: Mohr 1974.