Doris Dörrie

In einem fremden Wald

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Doris Dörrie

© Dieter Mayr

Doris Dörrie, geboren in Hannover, studierte Theater und Schauspiel in Kalifornien und in New York, entschloss sich dann aber, lieber Regie zu führen. ›Männer‹, ihr dritter Kinofilm, wurde ein Welterfolg. Parallel zu ihrer Filmarbeit (zuletzt der Kinofilm ›Grüße aus Fukushima‹) veröffentlicht sie Kurzgeschichten, Romane und Kinderbücher. Seit einigen Jahren hat sich Doris Dörrie auch als Opernregisseurin einen Namen gemacht. Sie lebt in München.

Über das Buch

Als die Monster kommen und ihr Land in Schutt und Asche legen, wird die 12-jährige Pula von ihrer Mutter in ein fremdes Land geschickt. Ein schöneres Leben soll sie dort haben, heißt es. Doch das schöne Leben scheint zunächst in weiter Ferne. Bis Pula auf Pelge trifft: Gemeinsam geraten sie in einen unheimlichen Wald und finden Zuflucht im Haus einer älteren Frau. Doch die scheinbare Sicherheit trügt, denn in dem Haus gehen unheimliche Dinge vor sich …

 

Packend, von großer Aktualität und zeitloser Kraft: eine hoch originelle Geschichte der Regisseurin und Bestsellerautorin Doris Dörrie

Impressum

Originalausgabe

© 2017 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: Isabella Grill/dtv

unter Verwendung von Fotos von gettyimages

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43205-4 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-71746-5

 

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ISBN (epub) 9783423432054

 

 

 

 

 

 

 

»Pula! Schau mich an, wenn ich mit dir rede! Wasch dir die Hände vor dem Essen, sonst bekommst du Bandwürmer wie Tante Zia, willst du das? Spiel nicht mit Spinnen. Benutz nicht meinen Lippenstift. Pula! Halt die Knie zusammen, wenn du sitzt, sonst denkt man, du bist eine Schlampe. Wasch den Salat ordentlich oder willst du Schnecken essen? Bedank dich am Morgen bei deinen Eltern, Großeltern und all deinen Vorfahren, dass du am Leben bist. Pula! Guck nicht so muffig. Halt dich gerade oder willst du einen Buckel bekommen wie Olina?«

»Ja, Mama, ich halte mich gerade. Ich benutze bestimmt nicht deinen Lippenstift, und ich wasche gar keinen Salat und noch nicht mal meine Hände vorm Essen, denn oft bekomme ich gar nichts zu essen.«

Als ich noch zu Hause war, konnte ich das Gezeter meiner Mutter kaum ertragen: »Pula! Putz dir die Zähne. Wasch dich zwischen den Beinen. Aber nicht mit demselben Waschlappen. Klopf deine Schuhe ab und bring keinen Staub mit ins Haus. Hör auf zu heulen, du bist kein Baby mehr. Pass auf deine Brüder auf. Lass die Kleinen auch mal ran. Teil gefälligst! Sei nicht so zickig. Gib mir einen Kuss. Hör auf zu maulen. Lach mal. Du bist so hübsch, Pula, wenn du lachst.«

Jetzt vermisse ich es. Ich höre meine Mutter, als ginge sie neben mir. Ihre Stimme laut in meinem Kopf: »Geh weiter, Pula, trödel nicht rum, geh weiter. Jetzt geh schon, Pula!«

Aber wohin denn, verdammt noch mal? Wohin soll ich denn gehen? Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich will zurück. Nach Hause. Zu meiner Mutter. Denn meine Mutter geht nicht neben mir. Sie ist weit weg. Mit jedem Schritt entferne ich mich weiter von ihr und dennoch wird sie immer lauter. Und ich bin nicht verrückt, auch wenn das manche von mir sagen. »Pula, die spinnt doch. Die erzählt Geschichten.«

»Du bist verrückt, mein Kind«, hat meine Mutter oft zu mir gesagt und dabei gelächelt. Im Grunde genommen mag sie es, wenn ich seltsames Zeug erfinde, mir die riesige, geblümte Unterhose von Tante Zia auf den Kopf setze und den Wischmopp als Mikrofon benutze.

Ich hab mal davon geträumt, Sängerin zu werden, aber seit die Monster in unser Leben gekommen sind, singe ich nicht mehr, und meine Mutter lacht nicht mehr.

Sie nennt sie nie »Soldaten«, das wäre zu viel der Ehre, sondern immer nur »Monster«. Sie sind über Nacht gekommen, sie tragen Masken vor dem Gesicht und große Waffen, sie sind grau, von Staub bedeckt, sie haben alles zerstört, alles kaputt gemacht, die Schule, die Stadt, auch unser Haus, aber meine Mutter ermahnt uns immer noch aufzuräumen, nicht zu trödeln, unsere Schuhe ordentlich hinzustellen. Manchmal habe ich Angst, sie wird verrückt.

Die Monster haben starre Augen hinter ihren Masken, sie sehen einen nicht an. Sie kommen immer wieder, schwärmen aus, zerren uns aus den Häusern. Sie nehmen unsere Väter und Onkel und Großväter mit. Unsere Brüder. Die größeren Jungen müssen ihre Arme heben, und wer schon Haare unter den Achseln hat, wird mitgenommen. Meine Brüder sind zum Glück noch klein. Auch größere Mädchen nehmen sie mit. Meine Mutter rasiert mir jeden Morgen die Achseln, dabei sprießt bei mir kein einziges Haar.

»Gott sei Dank hast du noch keinen Busen, Pula«, sagt sie und wirft sich meinen Arm um den Hals wie einen Schal, rasiert mir erst die eine Achsel, dann die andere. Es gibt keinen Rasierschaum mehr zu kaufen. Meine Achselhöhlen brennen den ganzen Tag lang wie Feuer.

»Kratz dich nicht unter den Achseln wie ein Affe, Pula. Du machst einen ganz verrückt. Sitz still. Beklag dich nicht. Es könnte alles noch schlimmer sein.«

Tiefe Linien sind wie mit einem Stift in ihre Haut gezogen, sie werden jeden Tag tiefer.

Die Monster kommen immer öfter, fast jeden Tag.

Und da schickt sie mich weg. Meine Mutter schickt mich weg.

»Pula, mein Kind, meine große Tochter, ich schicke dich nicht weg, ich schicke dich los, das ist ein großer Unterschied. Du musst gehen, sonst holen dich die Monster, das weißt du doch. Weine nicht, wein doch nicht. Du bist doch die Große, die Vernünftige. Willst du, dass ich mir wegen dir die Augen aus dem Kopf weine wie schon um Vater? Willst du das?«

»Nein, Mama, das will ich nicht. Aber ich will nicht weg. Ich will nicht, ich will nicht.«

»Sprich nicht mit Fremden. Wasch dir vor dem Essen die Hände und iss kein …«

»… rohes Fleisch, ich weiß. Sonst bekomme ich einen Bandwurm wie Tante Zia.«

»Lach nicht«, sagt meine Mutter, »das ist wahr. Wir alle dachten, sie ist schwanger, weil ihr Bauch immer dicker wurde. Aber sie stöhnte und ächzte und klagte und eines Tages kam er raus.«

»Wer?«, frage ich, obwohl ich es ganz genau weiß, aber immer wieder will ich diese grässliche Geschichte hören.

»Der Bandwurm. Sechs Meter war er lang«, sagt meine Mutter. »Tante Zia musste ihn aus sich rausreißen.«

Aaargh. »Und wie kam er aus ihr raus?«

»Naja, sie ging aufs Klo und als sie sich umsah, lag er in der Kloschüssel …«

An dieser Stelle kreische ich jedes Mal vor Ekel und Vergnügen und frage mich, wer hier verrückte Geschichten erzählt, meine Mutter oder ich.

»Erzähl mir noch mal die Geschichte von Tante Zia und dem Bandwurm«, sage ich zu meiner Mutter, obwohl sie so weit weg ist, und dann höre ich ihr zu, während ich weitergehe, immer weiter durch fremde Länder, und das einzig Vertraute ist die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf. Wenn ihre Stimme leiser zu werden droht und ich sie nicht mehr richtig hören kann, bitte ich sie, mit mir zu schimpfen, mich zu ermahnen, mir Ratschläge zu geben, und gleich ist sie wieder da:

»Pula, schlurf nicht so. Heb die Füße beim Gehen. Kämm dir die Haare. Wenn eine Fledermaus in deine Haare fliegt, denkt ein toter Verwandter an dich. Bohr nicht in der Nase. Hab immer saubere Unterwäsche an. Wenn dir was passiert und deine Unterwäsche ist dreckig, hält man dich für eine Schlampe. Bürste deine Haut, damit sie weich bleibt. Bürste dein Haar, damit es glänzt. Watschel nicht wie eine Ente.«

»Zum Glück siehst du mich nicht, Mama. Meine Haare sind verfilzt, meine Haut ist verbrannt und rissig von der Sonne. Hab lang nicht mehr in einen Spiegel gesehen, aber ich kann es fühlen. Ich bin eine andere, du würdest mich gar nicht mehr erkennen. Hast du dir das so vorgestellt, als du mich weggeschickt hast, Mama? Seit drei Wochen und drei Tagen bin ich unterwegs. Mein Handy zählt die Tage. Vierundzwanzig Tage, seit du mich weggeschickt hast.«

»Pula, mein Kind, ich hab dich losgeschickt, damit dich die Monster nicht holen und du es besser hast. Und bald, ganz bald, kommen wir hinterher, dann sind wir alle wieder zusammen und alles wird gut.«

»Mama, glaubst du das wirklich? Erzähl mir keine Geschichten.«

Ihr Foto auf meinem Handy schau ich mir immer nur ganz kurz an, um Akku zu sparen. Wenn ich mein Telefon verliere, verliere ich sie und sie mich. Ich verliere meine Brüder, meine ganze Familie. Wenn mein Handy aufgibt, bin ich verloren. Bisher hatte ich in jedem Land, durch das ich gelatscht bin, den falschen Stecker zum Aufladen, und kaum jemand mag seinen Adapter ausleihen, aus Angst, dass man damit abhaut. Nur ganz kurz also, zwei Sekunden lang, einundzwanzig, zweiundzwanzig, sehe ich sie an, das reicht auch, sonst heul ich.

 

 

Zu Hause kam ich mir schon halb erwachsen vor, jetzt fühl ich mich wie ein Baby. Zu Hause hab ich meine Mutter verflucht, ihr Gemecker, ihre blöden Ansichten, ihre ganze Art ging mir auf die Nerven, alles. Selbst wie sie einen Apfel isst. Sie macht so komische Quietschgeräusche, da könnte ich schreien. Jetzt rede ich den ganzen Tag mit ihr, obwohl sie mich nicht hören kann. Ja, ich hab meine Unterwäsche gewaschen. Erst im Meer, das ich früher so schön fand. Als alles noch so friedlich war und wir von Monstern keine Ahnung hatten. Als wir noch im Paradieswunderland gelebt haben, als es noch zu essen und zu trinken gab, so viel man wollte, und die Menschen noch halbwegs nett zueinander waren.

Erst hab ich meine Unterwäsche im Meer gewaschen und dann in dreckigen Waschbecken von verlausten Unterkünften, wo ich ewig in der Schlange stehen musste und nur ganz wenig Zeit hatte, weil hinter mir schon geschimpft wurde. Zum Glück habe ich noch nicht meine Tage. Dann wäre alles noch viel schwieriger, das sehe ich an den anderen Frauen. Manche betteln um einen Tampon, als wäre er wertvoll wie Gold. Ich war die Letzte in der Klasse, aber das hat mir nie was ausgemacht, weil meine Schulfreundinnen immer nur stöhnten, sie hätten Bauchschmerzen und Kopfschmerzen und wären schlecht drauf. Wer will das freiwillig?

Meine Mutter nennt es »Besuch von der Tante«. »Hattest du schon Besuch von der Tante?« Zum Totlachen.

»Nein, Mutter, ich hatte noch keinen Besuch von der Tante. Wenn sie kommt, bringt sie mir was Hübsches mit?«

Aber wenn es jetzt passiert, wem sag ich es dann? Wenn die Tante kommt, will ich meine Mutter in der Nähe haben, auch wenn das kindisch klingt.

Tante Zia meint, ich wäre zu dünn, daran läge es. Kein Speck auf den Hüften, dann kommt die Tante nicht. Also bin ich in Sicherheit, ich spüre meine Rippen unterm Hemd, und an meinem Hüftknochen kann ich mich festhalten wie an einem Steuerknüppel. Wir sind jetzt alle dünn, wer hat denn noch Speck auf den Hüften? Nur die Familien mit Verwandten im Ausland, die Geld schicken. Man kann es sofort sehen: Wer ein bisschen dicker ist, hat Familie im Ausland. Ich werde Geld nach Hause schicken, tonnenweise Geld, damit ihr euch alle rund und dumm fressen könnt, jeden Tag werde ich Geld schicken, ich verspreche es.

Heulende Mütter sind das Allerschlimmste, sie machen dich weich wie ein Handtuch. »Pula, mein Kind, pass gut auf dich auf! Sprich nicht mit Fremden. Wasch deine Unterhosen.«

Kannst du an nichts anderes denken, Mama? Meine Unterhosen haben inzwischen Löcher, aber sauber sind sie. Ah, da atmest du auf: Wenigstens hat das Kind eine saubere Unterhose an. Dafür stinken meine Kleider nach Staub, Schweiß und Angst. Angst stinkt, ich erkenne den Geruch genau.

Manchmal sehne ich mich nach nichts mehr als nach einem frischen, weißen T-Shirt oder einem sauberen, gebügelten Kleid.

Mutter bügelt mit schnellen, kraftvollen Bewegungen, sie schimpft dabei, sie hasst Bügeln. Ich dagegen liebe es. Das Dampfbügeleisen, das wie ein kleiner Drache faucht, wenn es über den Stoff gleitet, und den Geruch nach frisch gebügelter Wäsche. So riecht meine Mutter. Ich rieche sie manchmal ganz deutlich und das bringt mich fast um. Das ist wie ein Messer, das ich mir selbst zwischen die Rippen jage.

Mein Kopf macht, was er will. Je müder ich werde, desto schlimmer werden die Gedanken. Es war einmal, flüstert mein Kopf, es war einmal eine Mutter, die schickte ihre eigene Tochter weg, weit weg über das Meer. Einfach so. Nein, stöhne ich, sie musste es doch tun, sie musste. Sie wollte wenigstens mich außer Gefahr bringen, und die anderen sind noch so klein. Aber dich hat sie weggeschickt, zischt die Stimme in meinem Kopf, nur dich, die anderen durften bleiben. Aber sie wollte es doch nicht, eigentlich wollte sie nicht, und da fange ich schon an zu flennen wie ein Baby.

Pula, du bist jetzt allein, murmelt mein Kopf, du bist jetzt ganz allein. Mutterseelenallein.

Dieses Flennen hasse ich mehr als alles andere, es macht mich schwach, manchmal so schwach, dass ich, wenn ich Glück habe, einschlafe, aber meist geht das nicht, weil es zu laut ist, zu viele Menschen neben mir liegen und im Schlaf schnarchen und keuchen, oder weil ich einfach Angst habe, zittere vor Angst, bis alle sich müde und mürrisch aufrappeln und es weitergeht, im Boot, im LKW, im Zug oder zu Fuß.

Weiter, weiter, weiter.

Wohin eigentlich? Ich habe keine Ahnung. »Überall ist es besser als in unserem Land«, hat meine Mutter gesagt.

Bisher war es nirgendwo besser, Mama, nirgendwo, hörst du? Ich will, dass sie das weiß, und dann wieder wünsche ich mir, dass sie es nicht weiß, weil ich es nicht ausstehen kann, wenn sie sich Sorgen macht. Die beste Mutter ist eine fröhliche Mutter, die einen in Ruhe lässt, weil sie fröhlich ist, aber wann war meine Mutter zuletzt fröhlich? Nur die Kleinen lachen noch manchmal, weil sie keine Ahnung haben.

 

 

Damit ich nicht dauernd flenne, denke ich mir aus, dass das Ganze ein Spiel ist. Ich bin im Fernsehen, sie haben mich geschminkt, mir Dreck ins Gesicht getupft, die Klamotten sorgfältig zerrissen, meine Haare hat ein Friseur kunstvoll zerzaust und Fett reingerieben, damit es so aussieht, als hätte ich ewig nicht mehr geduscht. Ich soll gequält schauen und auch ruhig mal heulen, das kommt gut an, das mögen die Leute. Und dann soll ich flüstern, »ich kann nicht mehr, ich kann einfach nicht mehr«, und zusammensinken am Wegesrand. Im Staub warten, bis mir jemand vielleicht was zu trinken gibt oder mich fragt, ob alles okay ist, was in Wirklichkeit nie, nie vorkommt. Alle rennen weiter und weiter, als wüssten sie genau, wohin. Und irgendwann rappele ich mich wieder auf und humpele weiter.