Günzel, Klaus Das Weimarer Fürstenhaus

PIPER

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ISBN 978-3-492-97446-2

April 2017

© Böhlau Verlag GmbH & Cie., Köln 2001

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Anna Rosina de Gasc (»Anna Amalia Herzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach mit ihren Kindern Carl August und Constantin«; Ausschnitt; Stiftung Weimarer Klassik/Goethe-Nationalmuseum, Foto: Sigrid Geske)

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1. Kapitel

Verlierer der Geschichte

 

Die beiden Brüder, die an einem Novembertag des Jahres 1485 in Leipzig zur Teilung ihrer Ländereien schritten, gehörten einer Familie an, die damals bereits seit einem halben Jahrtausend in Mitteldeutschland eine Rolle spielte, eine immer größere sogar, seit das Heilige Römisch-Deutsche Reich vor sich hin zu bröckeln begann. Es waren die Wettiner, die, einst an der Grenze Frankens nach Thüringen ansässig, sich langsam, aber zäh und beharrlich den Weg aus dem Dunkel einer fast noch sagenhaften Vorzeit ins hellere Licht der dokumentarisch belegbaren Geschichte gebahnt hatten. Sachte war man vorwärts gekommen, hatte auf Schlachtfeldern seinen Blutzoll wider Ungarn und Araber entrichtet, hatte Landbesitz erworben, erheiratet, ererbt, erschachert, erstritten, die Landgrafschaft Thüringen und das Markgrafentum Meißen gewonnen, ja war wenigstens ein- oder zweimal von der Kaiserkrone gar nicht so weit entfernt gewesen. Zwar hatte es gelegentlich auch innerfamiliäre Zerwürfnisse gegeben, einmal sogar einen regelrechten Bruderkrieg, der noch gar nicht lange zurücklag, aber insgesamt war den Wettinern doch eine Erfolgsgeschichte gelungen, zu der es im Zentrum des Reiches keine Parallele gab.

Auch Erbteilungen waren mehrfach vorgekommen, die freilich als nichts Besonderes galten in einer Epoche, für die über den Umgang mit Ländereien noch dynastische Auffassungen und Ansprüche entschieden. Die Folgen solcher Teilungen hatten die Wettiner immer wieder kompensieren können, vor allem seit es ihnen gelungen war, auf der hierarchischen Stufenleiter des Reiches immer höher zu steigen. 1423 war es Friedrich dem Streitbaren gelungen, vom Kaiser mit dem Herzogtum Sachsen-Wittenberg belehnt zu werden, das dem Wettiner die Kurwürde eintrug. Damit fiel ihm die Pfründe des Erzmarschalls zu, der in dem Teil Deutschlands, in dem das sächsische Recht galt, als Reichsvikar das Kaiseramt zu verwalten hatte, wenn ein Kaiser gestorben und noch kein neuer gewählt war. Die Wahl des Römischen Königs und Kaisers war Aufgabe des obersten Reichs-Senats, des siebenköpfigen Kurfürsten-Kollegiums, in dem von nun an ein Wettiner saß. Die Bezeichnung »Sachsen« ging schnell auf alle wettinischen Besitzungen über, auch auf die thüringischen. Als 1482 Herzog Wilhelm III. von Thüringen starb, der bereits in Weimar residiert hatte, fiel sein Landesteil an die Hauptlinie des Hauses Wettin zurück.

1483, im Geburtsjahr Martin Luthers, erstreckte sich ein fast geschlossenes wettinisches Staatswesen von der Werra und dem Main bis östlich über die Elbe hinweg, von Coburg und dem Kamm des Erzgebirges bis fast vor die Tore Berlins. An der Elbe lagen die Residenzen Dresden, Meißen, Torgau und Wittenberg. Eine Landesordnung manifestierte den wettinisch-sächsischen Staatsgedanken. Auf dem Meißner Burgberg begann der geniale Arnold von Westfalen mit dem Bau der Albrechtsburg, die gleichermaßen Herrschersitz und Verwaltungszentrum sein sollte. Bezahlt wurde der imposante Bau mit dem Silber, das neuerdings aus den Tiefen des Erzgebirges in die Kassen der Kurfürsten von Sachsen floß. Fürwahr: nichts schien dem Glück des Brüderpaares Ernst und Albrecht zu gleichen, die diesen Besitz zunächst gemeinsam verwalteten und dadurch das mächtigste deutsche Fürstenhaus repräsentierten! Allenfalls das Haus Habsburg, das meistens den Kaiser stellte, übertraf noch die Wettiner an Einfluß und Geltung, jedoch nicht an Reichtum.

Trotzdem sollte der ungeteilte wettinisch-sächsische Flächenstaat nur wenige Jahre bestehen. Keine Schläge von außen bereiteten ihm im Augenblick seiner größten Ausdehnung das Ende, sondern die Teilungsabsichten des älteren Bruders Ernst, der die Kurwürde besaß. Vermutlich haben ihn Mißhelligkeiten mit dem jüngeren Bruder Albrecht dazu gebracht, der weitblickend genug war, von der Teilung abzuraten, vielleicht weil er ahnte, daß aus den Siegern der Geschichte rasch deren Verlierer werden können. Aber am Teilungsplan des Bruders Ernst vermochte er nicht mehr zu rütteln. Im Juni 1485 wurde das Projekt beschlossen und am 11. November des gleichen Jahres zu Leipzig, in Gegenwart einiger Vertreter der Stände, vollzogen.

Altem sächsischem Brauch folgend, hatte Ernst den Vorschlag für die Teilung des Landes vorzulegen, während Albrecht die Wahl überlassen blieb. Er entschied sich für den größten Teil der alten Markgrafschaft Meißen mit Dresden, Freiberg und Leipzig. Ernst behielt das Herzogtum Sachsen mit Wittenberg und die daran geknüpfte Kurwürde sowie Thüringen einschließlich Weimar und Coburg, außerdem hatte ihm der jüngere Bruder 50 000 Gulden zu zahlen. Gemeinsam wollte man auch künftig den Silberbergbau im Erzgebirge verwalten und ausbeuten, die bedeutendste Quelle des wettinischen Reichtums. Die Dynastie spaltete sich fortan in zwei Linien auf, deren Namen an die beiden Brüder erinnerten: die Ernestiner und die Albertiner, die nie wieder zusammenfinden sollten.

Es dauerte nicht lange, bis sich die Leipziger Teilung als folgenschwere Fehlentscheidung, ja geradezu als der Sündenfall der wettinisch-sächsischen Geschichte erwies, der das Gewicht Sachsens im Reich drastisch verminderte und den späteren Aufstieg Brandenburg-Preußens zur deutschen Vormacht begünstigte. Es spricht für den politischen Instinkt Albrechts, daß er in seinem Land ein Hausgesetz erließ, das die Primogenitur-Erbfolge einführte. Fortan sollte im albertinischen Sachsen nur der älteste Sohn erbberechtigt sein und jede Teilung unterlassen werden. Wir aber haben hier von den Ernestinern zu erzählen.

Kurfürst Ernst, der Begründer dieser Linie und Initiator der unseligen Teilung, starb schon im Jahr danach, Ende August 1486. Nachfolger wurde sein Sohn, Kurfürst Friedrich III., der das Land zusammen mit seinem jüngeren Bruder Johann regierte. Als Friedrich der Weise figuriert er in der Galerie der Wettiner, von denen viele mit dergleichen Beiworten ausgestattet sind, wie etwa »der Reiche«, »der Erlauchte« oder »der Sanftmütige«. Wenn je ein Fürst die Kennzeichnung, die ihm die Geschichte zuerkannte, wirklich verdient hat, so war es Friedrich der Weise, denn als ein gelassener, gebildeter und über dem täglichen Getümmel stehender Mann, eben als ein Weiser, ist er schon den Zeitgenossen erschienen. Er war ein Humanist auf dem Thron, dem Typus des Gelehrten nahekommend, besonnen, unspektakulär und von schwerer Körperlichkeit, dabei durchaus pfiffig und listenreich, wenn es die Staatsräson erforderte.

Friedrich war der Protagonist einer Übergangszeit, der genau am Schnittpunkt zweier Epochen agierte. Man hatte ihn noch nach den Normen des Rittertums erzogen, aber später wurde ihm die Ratsstube wichtiger als der Turnierplatz. Er wurzelte noch im Mittelalter und absolvierte eine Pilgerreise ins Heilige Land. Er trug eine Sammlung von nicht weniger als fünftausend Reliquien zusammen, die er für sakrosankt und jedenfalls auch für echt hielt. Derartige noch mittelalterlich geprägte Neigungen haben ihn nicht daran gehindert, ein Freund der Wissenschaften zu sein und die Universität Wittenberg zu gründen. Sein albertinischer Vetter, Herzog Georg der Bärtige, besaß in Leipzig bereits eine Alma mater. Warum sollte Friedrich, der Ernestiner, seinem Verwandten die Reputation überlassen, ein Protektor der Wissenschaften und der studentischen Jugend zu sein? Wenn solche Erwägungen, die auf Konkurrenz mit den albertinischen Anverwandten hinausliefen, tatsächlich die Wittenberger Gründung beflügelt haben, so würden sie genügen, den Kurfürsten als einen Mann kenntlich zu machen, der schon sehr moderner Kalkulationen fähig war.

Zweimal, jeweils nach dem Tod eines Kaisers, hat Friedrich der Weise das Reichsvikariat ausgeübt, und nach dem Tod Maximilians I., im Januar 1519, hätte er selbst Kaiser werden können. Die meisten seiner kurfürstlichen Kollegen und sogar der Papst wären damit einverstanden gewesen. Daß ihm die beträchtlichen finanziellen Mittel dazu, besonders zur Gewinnung der Kurfürsten, gefehlt haben, wie dann behauptet worden ist, trifft wohl kaum zu, denn wenn ein deutscher Fürst wirtschaftlich zu einem solchen Schritt in der Lage war, so wäre es dieser Ernestiner gewesen. Aber die Zeitläufte standen auf Sturm, für dessen Bändigung sich der Sechsundfünfzigjährige wohl schon als zu alt und zu untauglich empfand. Auch bei der Konfrontation mit dieser Schicksalsfrage hat sich Friedrich als »der Weise« bewährt. So entschied er mit seiner Stimme die Wahl des jungen Habsburgers Karl V. zum Kaiser, setzte aber auch eine Wahlkapitulation auf, die dessen Macht begrenzen sollte. Schon einige Jahre zuvor hatte er den Maler Lucas Cranach an seinen Hof und den Augustinermönch Martin Luther an seine Universität gerufen. Diese Entscheidung war, bei allen ihren Folgen, kaum mit einer anderen in der deutschen Geschichte vergleichbar, denn unter der Ägide des Kurfürsten ging Luther an sein Werk, begann sich der Ordensmann zum Reformator zu wandeln. Die einzelnen Stationen, die er dabei durchlief, sind bekannt. Sie führten ihn von der wegweisenden Auslegung des Römerbriefs bis zu den Thesen gegen den Ablaßhandel; von der mehrfachen Verweigerung eines Widerrufs bis zu den reformatorischen Kampfschriften; von seiner öffentlichen Verbrennung der Bulle mit der Androhung des Kirchenbannes bis zur Exkommunikation; vom Reichstag zu Worms, wo er sich vor Kaiser und Reich zu seiner Lehre bekannte, bis auf die Wartburg, wo er, in Sicherheit gebracht vor den drohenden Folgen der Reichsacht, als »Junker Jörg« zehn Monate lebte und das Neue Testament übersetzte. Dieser Siegeslauf innerhalb weniger Jahre wäre nicht möglich gewesen ohne die schützende Hand des Kurfürsten Friedrich, der die Auslieferung seines Untertanen an die römische Kurie ablehnte und ihn schließlich auf die Wartburg entführen ließ, unerreichbar für päpstliche und kaiserliche Häscher. Dabei war der Kurfürst ein eher konservativer, bedächtiger Herr, der den Welthändeln lieber aus dem Wege ging. Aber er besaß auch einen Spürsinn für die kommenden Kräfte, die er durch die alten Gewalten nicht ausgelöscht sehen wollte, und vollends war ihm der Gedanke unerträglich, »seinen« Professor dem Scheiterhaufen zu überantworten. So, mit vorsichtiger Toleranz, hat er Luther gerettet und der Reformation mehr gedient, als wenn er sich der neuen Lehre Hals über Kopf in die Arme geworfen hätte.

Der Sturm, der über Deutschland tobte, war nun allerdings durch behutsames Taktieren nicht mehr zu beschwichtigen, nicht einmal durch Luthers eigene Rufe zur Mäßigung. Die letzten Lebenstage des Kurfürsten wurden verdüstert durch die Signale des Bauernkrieges, der bei ihm noch die Befürchtung rege werden ließ, »daß man vielleicht den armen Leuten zu solchem Aufruhr Ursache gegeben«. Friedrich der Weise starb am 5. Mai 1525 im Schloß Lochau, auf dem Sterbebett versehen mit dem Abendmahl in beiderlei Gestalt, dadurch sein Einverständnis besiegelnd mit der Lehre, die ohne ihn wahrscheinlich zugrunde gegangen wäre. Zehn Tage später, am 15. Mai, metzelte ein fürstliches Heer bei Frankenhausen fünftausend thüringische Bauern nieder. Zu den Führern der Truppen, die mit beispielloser Grausamkeit vorgingen, gehörte Friedrichs Bruder, der neue sächsische Kurfürst Johann.

Dieser Fürst hatte zwölf Jahre lang von Weimar aus die thüringischen Besitztümer der Ernestiner verwaltet, womit die noch ganz unbedeutende, ländliche Stadt an der Ilm auf ihre spätere Rolle als Residenz schon vorbereitet worden war. Zu Luther hatte er sich konsequenter als sein Bruder bekannt und war dafür vom Reformator mit der Widmung des »Sermons von den guten Werken« bedacht worden. Im Vergleich zu Friedrich dem Weisen erscheint Johann entschlossener, forscher, kompromißloser, allerdings auch eindimensionaler, phantasieloser und weniger listig. Das subtile Stiften des Ausgleichs, das dem eigenen Streben eine Hintertür sichert, war nicht seine Sache, sondern das schiere Entweder-Oder. Religiöse und sozialrevolutionäre Schwärmer jedoch stießen ihn ab, wie Thomas Müntzer erfahren mußte, der vor Johann seine berühmte »Fürstenpredigt« gehalten hatte.

Mag sein, daß eine solche Mentalität geeignet war, der Reformation in dem Stadium, das sie nun erreicht hatte, über die nächsten Hürden zu helfen. Eine Kirchenvisitation diente dem Aufbau einer Evangelischen Landeskirche, an deren Spitze der Kurfürst nun auch als oberster Bischof amtierte. Daß die Vereinigung von weltlicher und geistlicher Macht in der Hand des Landesherrn der von Luther einst postulierten »Freiheit eines Christenmenschen« schlecht bekam und sich von der alten Kirche höchstens durch ein viel provinzielleres Regiment unterschied, ist damals wohl noch nicht absehbar gewesen.

Dennoch hat der von Johann beschrittene Weg dorthin geführt. Auf den Reichstagen verfocht er mutig die evangelische Sache und protestierte gegen die erneute Einschärfung des Wormser Edikts, was ihm sowie den gleichgesinnten Reichsfürsten und Reichsstädten die Bezeichnung »Protestanten« eintrug. Auf dem Reichstag zu Augsburg, im Jahre 1530, agierte der Kurfürst als unangefochtenes Haupt der deutschen Protestanten und unterschrieb die Augsburgische Konfession, die dann eine der grundlegenden Bekenntnisschriften des Luthertums wurde. Die Einigung mit der katholischen Religionspartei mißlang jedoch, so daß der Ernestiner tief enttäuscht die Rückreise antrat.

Damit war eine Situation entstanden, deren Lösung das Kombinationsvermögen und das Instrumentarium des Kurfürsten bei weitem übertraf. Gegen alle Bedenken trat er an die Spitze des Schmalkaldischen Bundes, eines politisch-militärischen Schutz- und Trutzbündnisses der evangelischen Reichsstände, wodurch das Überleben des lutherischen Glaubens ebenfalls auf die politischmilitärische Ebene geriet. Johann hätte das gern vermieden, wie er auch nicht wahrhaben wollte, daß man im Schmalkaldischen Bund letztlich eine gegen den Kaiser gerichtete Koalition sehen mußte. Der Nürnberger Religionsfriede, von Kaiser Karl V. Anfang August 1532 verkündet, dürfte den Kurfürsten in der trügerischen Sicherheit bestärkt haben, daß die dringendste Gefahr erst einmal vom Protestantismus gewichen schien. Er starb völlig überraschend, aber vermutlich zufrieden mit dieser neuen Wendung der Dinge, am 16. August 1532 in Schleinitz und wurde an der Seite seines Bruders in der Schloßkirche zu Wittenberg bestattet. Der dankbare Luther hielt ihm die Grabpredigt, die dankbaren Lutheraner ehrten ihn als Johann »den Beständigen«.

Zu einem ihrer Märtyrer war des Kurfürsten Sohn Johann Friedrich ausersehen, der sich seinen Beinamen »der Großmütige« unter schweren Heimsuchungen verdienen mußte. Er war neunundzwanzig Jahre alt, als er das Staatsruder Kursachsens ergriff, vom Humanisten Georg Spalatin und vor allem von Luther persönlich mit einem beachtlichen Bildungsvorrat ausgerüstet, der Jagd und dem Turnier ergeben, mehr aber noch dem Schwelgen im Speisen und Trinken nachgebend, was Auswirkungen hatte für seinen Leibesumfang, der wiederum seiner Beweglichkeit, offenbar auch in geistiger Hinsicht, schadete. Daß er den Ränken der kaiserlichen Diplomatie intellektuell nicht gewachsen war, ist seine Tragik gewesen, aber auch sonst war kein protestantischer Fürst zur Stelle, der Karl V. hätte Paroli bieten können. Was Johann Friedrich an geistiger Souveränität gefehlt haben mag, hat er mit geistlicher Unerschütterlichkeit reichlich wettgemacht. An seinem Luthertum hielt er fest, standhaft, konzessionslos, trutzig bis zur Starrköpfigkeit, ja man könnte sagen, daß ihn selbst die Staats- und die Kriegskunst nur als Wehr und Waffe der neuen Lehre interessierten, auch unter Hintansetzung persönlicher und dynastischer Belange.

Das Verhältnis zu Karl V. war von Anfang an gespannt, da der Kaiser seine Schwester dem Kurprinzen erst als Braut versprochen, dann aber vorenthalten hatte, wohl um sie nicht dem lutherisch-sächsischen Fegefeuer auszuliefern. Nachdem Johann Friedrich Kurfürst geworden war, legte er sich zunächst aufs behutsame Taktieren, scheint jedoch bald davon überzeugt gewesen zu sein, daß ein Krieg mit dem Kaiser eines Tages unvermeidlich sein würde. Zusätzlich kompliziert wurde die Lage noch dadurch, daß des Kurfürsten albertinischer Verwandter, Herzog Moritz von Sachsen, sich als gefährlicher Rivale zu erkennen gab, der energisch daran arbeitete, Einfluß und Macht auszubauen, womöglich auf Kosten des Ernestiners. Auch Moritz war Lutheraner, was ihn nicht daran hinderte, mit dem katholischen Kaiser gemeinsame Sache zu machen, wenn er es für nützlich hielt. Von seinen Feinden später als »Judas von Meißen« geschmäht, war er Johann Friedrich an Entschlußkraft, Courage und staatsmännischem Ideenreichtum bei weitem überlegen.

Der Ernestiner, obwohl eher eine phlegmatische und zu Skrupeln neigende Natur, suchte der Welt das Gegenteil davon vorzuspiegeln und verfiel einem Aktionismus, der ihn zu Rechtsbrüchen verleitete. Er lehnte das vom Papst einberufene Konzil ab und erwog die Anberaumung eines Gegenkonzils. Er besetzte den Naumburger Bischofsstuhl mit einem Protestanten und marschierte im Stift Wurzen ein, wohl um diese Gebiete der Reformation zuzuführen und dem Kurfürstentum Sachsen einzuverleiben. Zusammen mit dem Landgrafen Philipp von Hessen besiegte er den Herzog von Braunschweig, einen Gegner des Schmalkaldischen Bundes, und nahm ihn gefangen. Dieser Bruch des Reichsfriedens wurde dem Kurfürsten zum Verhängnis: gemeinsam mit Philipp von Hessen verfiel er der Reichsacht.

Es war der Anfang vom Ende, das Karl V., auf der Höhe seiner Macht stehend, den »Rebellen wider Kaiser und Reich« zu bereiten gedachte. Im Sommer 1546 begann der Schmalkaldische Krieg, der dem Ketzerwesen ein für allemal den Garaus machen sollte. Johann Friedrich stand an der Spitze der Truppen des Schmalkaldischen Bundes, obwohl er kaum über das militärische Format verfügte, das diese Aufgabe erfordert hätte. Nach anfänglichen Erfolgen bekam er es, unweit der Stadt Wittenberg, mit dem kaiserlichen Hauptheer zu tun, das immerhin von Karl V. persönlich angeführt wurde, der sich auf erfahrene Feldherren wie den Herzog von Alba verlassen konnte. Auch Herzog Moritz von Sachsen, Johann Friedrichs albertinischer Vetter, kämpfte unter Habsburgs Fahnen, seiner lutherischen Konfession zum Trotz.

Die Schlacht, die am 24. April 1547 nördlich der Stadt Mühlberg entbrannte, war schnell entschieden, nachdem Albas spanische Söldner im Schutz des Nebels die Elbe überschritten hatten. In einem Waldstück mußte der Kurfürst, bis zuletzt tapfer kämpfend und selbst verwundet, sein Schwert übergeben: Jede Gegenwehr war sinnlos geworden. Als Gefangener wurde er vor Karl gebracht, den er stammelnd anredete: »Allergnädigster Kaiser!« Doch der wies ihn rauh zurecht: »Ihr hättet uns besser längst dafür gehalten!« Die Folgen der Niederlage trafen Johann Friedrich nun Schlag auf Schlag. Am 10. Mai verurteilte ihn ein kaiserliches Kriegsgericht vor den Wällen des belagerten Wittenberg zum Tode. Das Urteil wurde zwar nicht vollstreckt, aber am 19. Mai mußte der Besiegte in der Wittenberger Wahlkapitulation auf alle östlich der Saale gelegenen Teile seines Landes und auf die Kurwürde verzichten. Beides, Land und Kurhut, fielen dem albertinischen Vetter Moritz zu. Am 23. Mai rückten die Kaiserlichen in Wittenberg ein, das Johann Friedrich nie wiedersah.

Die Katastrophe, von der die Ernestiner betroffen waren, konnte verheerender nicht sein. Es war noch keine dreißig Jahre her, daß Friedrich dem Weisen die Kaiserkrone sicher gewesen wäre, wenn er sie nur gewollt hätte. Jetzt mußte sein Neffe den Weg in die Gefangenschaft antreten, die fünf Jahre dauern sollte. Was noch schlimmer wog: die Ernestiner hörten für immer auf, eine achtbare Größe unter den deutschen Fürsten zu sein. Wenn künftig im Reich die Rede von Sachsen war, galt dies allein dem Staatswesen der Albertiner, die damit auch den Vorsitz der evangelischen Reichsstände gewannen. Die ernestinischen Fürstentümer in Thüringen jedoch fielen immer neuen Teilungen anheim, gelegentlich auch Wiedervereinigungen, denen wiederum Teilungen folgten, je nach Ehevertrag oder Testament – ohnmächtig, ohne jeglichen Einfluß, am Rand der Lebensfähigkeit entlangbalancierend, eine Karikatur auf den deutschen Partikularismus.

Ob Johann Friedrich diese Aussichten bewußt gewesen sind, bleibt unerforschlich, aber sie hätten für ihn wohl nur wenig gezählt gegenüber dem lutherischen Glauben, der durch den kaiserlichen Sieg zwar schwer getroffen, aber doch keineswegs aus der Welt geschafft war. Über viele Dinge hat er in seinem Gewahrsam mit sich reden lassen, nur nicht über sein Luthertum, das jenseits aller irdischen Siege und Niederlagen unveräußerbar leuchtete. Ein evangelischer Prediger und der Rat Erasmus von Minkwitz erleichterten ihm die Gefangenschaft, die er zunächst in Augsburg, dann in Innsbruck verbringen mußte. Später durfte er noch den uralten Lucas Cranach nachkommen lassen, der ihn malte und mit Gesprächen über bessere Zeiten unterhielt. Freundlich gegen jedermann, stoisch, im Einklang mit dem Schicksal und seinem lutherischen Glaubenseifer hingegeben, akzeptierte Johann Friedrich die Rolle des Märtyrers und behandelte auch Gegner und Verächter mit Großmut. Gnädig wurde ihm gestattet, sich »geborener Kurfürst« nennen zu dürfen: ein Zugeständnis, das ja ebenfalls eine Demütigung enthielt.

Ende August 1552 durfte Johann Friedrich in das Zwergenland zurückkehren, das ihm geblieben war, erst nach Coburg, dann nach Weimar, das von nun an die Residenz der Ernestiner blieb. Die Bevölkerung begrüßte ihn mit frenetischem Jubel, der hier einmal, selten genug, einem Verlierer der Geschichte zuteil wurde. Die Einsicht, mit Wittenberg auch die Universität für immer eingebüßt zu haben, brachte den »geborenen Kurfürsten« noch auf den Gedanken, die Gründung einer weimarischen Landesuniversität in Jena anzuregen, aus der dann die Alma Mater Salana hervorging. Es war ein Impuls, der weit hinein in eine Zukunft wirkte, die damals niemand voraussehen konnte. 250 Jahre nach dem glanzlosen Ende von Johann Friedrichs Herrscherlaufbahn wurde die Jenaer Universität zu einem Sammelbecken von Gelehrten und Schriftstellern, ohne die es keine Klassik und Romantik gegeben hätte.

Auf diese noch ganz fernliegende Epoche weist, wenn man so will, noch ein anderer Vorgang hin, der ohne den geschlagenen Kurfürsten nicht Wirklichkeit geworden wäre. Johann Friedrich brachte aus der Gefangenschaft den achtzigjährigen Lucas Cranach mit nach Weimar, der seit einem halben Jahrhundert im Dienst der Ernestiner stand. Der Künstler nahm Quartier am Markt, im Haus seines Schwiegersohnes, des Kanzlers Christian Brück, und begann mit der Arbeit an dem großen Alterstriptychon, das erst sein Sohn, Lucas Cranach d. J., vollenden konnte. Es ist eine zum Bild gewordene Predigt über die Erlösung des Menschen durch den gekreuzigten Christus, aus dessen Seitenwunde ein Blutstrahl auf das Haupt des Malers Lucas Cranach gelenkt wird, den sein Sohn hier, zwischen Luther und Johannes dem Täufer, portraitiert hat. Das Bild, Predigt und gemaltes Welttheater zugleich, krönt den Altar in der Stadtkirche St. Peter und Paul, die nun, für mehr als zwei Jahrhunderte, die Grablege der Ernestiner wurde. Lucas Cranach hat es nicht mehr erlebt, er starb am 16. Oktober 1553 und wurde auf dem Weimarer Jakobsfriedhof begraben. Wenn ihm auch nur ein Jahr des Wirkens in der Stadt an der Ilm vergönnt gewesen ist, so war er doch die erste jener schöpferischen Persönlichkeiten, die der Ruf eines ernestinischen Fürsten dorthin beschied. Es dauerte freilich mehr als zwei Jahrhunderte, bis ähnliches wieder geschah.

Auf der Innenseite des linken Altarflügels hat der Meister Johann Friedrich den Großmütigen und dessen Gemahlin Sybille dargestellt, auf den Knien das Heilsgeschehen anbetend, das die mittlere Haupttafel zeigt. Es ist die Haltung, die dem unglücklichen Landesvater am meisten gemäß war: die Haltung des Beters, der duldet und stumm verehrt, auch wenn seinen gefalteten Händen ein großes Erbe entglitten ist. Der »geborene Kurfürst« folgte seinem Malerfreund schon am 3. März 1554, erst einundfünfzigjährig, in den Tod. Seine letzten Stunden soll er mit geistlichen Betrachtungen verbracht haben, nicht mehr erreichbar für die Händel dieser Welt. In der Weimarer Stadtkirche, vor Lucas Cranachs Triptychon, erwartet er seither die Auferstehung von den Toten.

Auf der Innenseite des rechten Altarflügels, genau gegenüber von Johann Friedrich dem Großmütigen und seiner Frau, verewigte der Künstler die drei Söhne des fürstlichen Paares, ebenfalls in andächtigem Gebet: Johann Friedrich II. den Mittleren, Johann Wilhelm sowie Johann Friedrich den Jüngeren, alle drei Herzöge von Sachsen. Der schwergeprüfte Vater rief die Söhne noch zur Einigkeit auf und warnte sie vor Aktivitäten, die gegen Kaiser und Reich gerichtet waren. Aber der Appell, der doch auf schmerzlichen Erfahrungen beruhte, verhallte nahezu ungehört. Waren die Ernestiner bereits durch den »geborenen Kurfürsten« zu Verlierern der Geschichte geworden, so blieb es den Söhnen vorbehalten, das Unheil weiter zu mehren und den fast vollständigen Ruin herbeizuführen.

Zunächst regierten sie den Rest der ernestinischen Länder gemeinsam und versuchten, dem Städtchen Weimar das Ansehen einer Residenz zu geben. Mit dem Bau des Roten und des Grünen Schlosses wurde begonnen, während die Hofapotheke, das Cranach-Haus am Markt sowie das Deutschritterhaus, das Geleithaus und das spätere Kirms-Krackow-Haus anzeigten, daß es ein paar vermögende Bürger gab, die sich in der Nachbarschaft des Hofes gebürend zu präsentieren wußten. Überhaupt hat die Stadt Weimar vom Niedergang des Herrscherhauses eher profitiert. Da die Ernestiner auf diesen Ort beschränkt blieben und, trotz mancher Versuche, sich woanders keine Basis mehr zu schaffen vermochten, wurden sie zu Urhebern einer städtischen Entwicklung, die es sonst wohl nicht gegeben hätte. Bescheiden und schleppend genug ging sie vonstatten.

Im Jahr 1565 jedoch wurden Johann Friedrich der Mittlere und Johann Wilhelm, die beiden älteren Brüder, wieder einmal vom Erbübel ihrer Familie, dem Verlangen nach einer Teilung, erfaßt, die sie so vereinbarten, daß die Landesteile Coburg und Weimar alle drei Jahre den Regenten wechseln sollten. Kurz nach dieser absurden Regelung stürzte sich Johann Friedrich der Mittlere in ein Abenteuer, das seiner Laufbahn ein jähes Ende setzen sollte. Umgetrieben von dem Wunsch, die Kurwürde zurückzuerlangen, die der Vater verloren hatte, nahm er den Ritter Wilhelm von Grumbach in seine Dienste, der wegen Landfriedensbruchs mit der Reichsacht behaftet war. Ein geistesgestörter Bauernjunge, der »Engelseher« Hans Tausendschön, prophezeite ihm den Wiederaufstieg der Ernestiner. Verblendet von solchen Weissagungen und angefeuert von der Scharfmacherei des Ritters Grumbach, verfiel Johann Friedrich selber der Reichsacht. Es geschah zum zweiten Male binnen zwanzig Jahren, daß einen Ernestiner die schwerste Verfemung traf, die es im Römisch-Deutschen Reich gab.

In Gotha trotzte er ein Vierteljahr lang mit dem Mut der Verzweiflung den Reichstruppen, die unter dem Befehl seines albertinischen Verwandten, des Kurfürsten August von Sachsen, standen. Daß in dem gegen ihn aufgebotenen Heer auch sein eigener Bruder Johann Wilhelm kämpfte, verrät deutlich genug, wohin es mit den Ernestinern gekommen war. Nach dreimonatiger Belagerung fiel Gotha, der Ritter Grumbach und der Kanzler Brück, Cranachs Schwiegersohn, wurden auf dem Markt öffentlich gevierteilt. Johann Friedrich der Mittlere kam, wie einst der Vater, in kaiserliche Gefangenschaft, die er im österreichischen Steyr verbringen mußte. Dort starb er achtundzwanzig Jahre später, ohne je wieder die Freiheit erlangt zu haben.

Aber auch der Bruder Johann Wilhelm, der zunächst die ernestinischen Landfetzen übernehmen durfte, blieb ein glückloser Mann. Das von ihm geleitete »Altenburger Religionsgespräch«, das die Differenzen zwischen den verschiedenen protestantischen Strömungen ausräumen sollte, wurde ein Mißerfolg und vertiefte nur noch den Gegensatz zu den Albertinern. Im Gefolge des Allerchristlichsten Königs von Frankreich zog er gegen die Hugenotten zu Felde, die ihm doch eigentlich hätten näherstehen müssen als die katholische Majestät. Bei alledem gewann er weder Ruhm noch Macht. Nach der Rückkehr in die Heimat, im Jahr 1572, mußte er sich mit der Erfurter Teilung abfinden, die ihn zur Abtretung einiger seiner Gebiete an seine Neffen zwang. Darunter waren die Städte Eisenach, Coburg und Gotha. Johann Wilhelm, zuletzt ein gescheiterter Duodezfürst, starb 1573, verbittert und erst dreiundvierzig Jahre alt. Nur Weimar, Jena und Altenburg waren ihm geblieben.

Seine noch unmündigen Kinder wurden unter die Vormundschaft des Kurfürsten August von Sachsen gestellt, zum Mißvergnügen seiner Witwe Dorothea Susanna, einer geborenen Pfalzgräfin bey Rhein, die eine ungewöhnliche und selbstbewußte Dame gewesen sein muß. Sie stand ganz am Beginn des Reigens starker und entschlossener Frauen, die, aus anderen Dynastien stammend, auch später immer wieder den Ernestinern angetraut wurden. Sie sollten dem weimarischen Fürstenhaus zu einer stets erneuerten Zufuhr an Begabungen und Temperamenten verhelfen, gegen welche die Männer oft farblos und platt wirkten. Was wäre noch Weimars großes Jahrhundert ohne Anna Amalia, ohne Maria Pawlowna und ohne Sophie von Oranien gewesen? Dorothea Susanna allerdings blieb eine solche Ausstrahlung verwehrt. Sie mußte, mit dem Schicksal hadernd, ihre Witwenschaft im Roten Schloß verbringen.

Auch ihre Schwiegertochter Dorothea Maria, eine geborene Prinzessin von Anhalt-Zerbst, wollte es nicht bei der Aufgabe bewenden lassen, die ihr als Gebärerin des fürstlichen Nachwuchses vor allem zugewiesen war. Immerhin hat sie auch diese dynastische Mission glänzend erfüllt, denn sie schenkte ihrem Gemahl, dem Herzog Johann, nicht weniger als elf Söhne, was ihr den Ruhm einer »Mutter der Ernestiner« verschaffte. Um die Söhne mit mehr als nur einer durchschnittlichen Bildung auszustatten, setzte Dorothea Maria die Berufung des bedeutenden Pädagogen Wolfgang Ratke, genannt Ratichius, nach Weimar durch. Er suchte sein pädagogisches Reformprogramm in die Praxis umzusetzen und unterrichtete am Hof Kinder und Erwachsene gemeinsam, wobei er die deutsche Sprache gleichberechtigt neben der lateinischen benutzte. Daß dieser Vorläufer des Comenius die Stadt an der Ilm bald wieder verlassen mußte, war die Schuld der lutherischen Geistlichkeit, nicht des Hofes. Eine große weimarische Tradition hingegen begründeten die elf »Capelisten«, die 1602 der Herzog Johann aus Altenburg kommen ließ. Die Tonkunst besaß von da an eine feste Heimstatt in Weimar, stets gefördert durch das Fürstenhaus. Es war der Beginn eines Weges, der über die Besuche von Heinrich Schütz und das Wirken Bachs zur herzoglichen Hofkapelle und schließlich zu Franz Liszt führen sollte.

Kulturelle Ambitionen kosteten jedoch viel Geld, das die Weimarer Serenissimi wahrlich nicht besaßen. Diesem Übel gedachte Johannes Ernst I., der Sohn Johanns und Dorothea Marias, auf abenteuerliche Weise abzuhelfen, als er einen »Goldmacher« namens Samuel Kluge aus dem böhmischen Kuttenberg engagierte. Die Rezeptur, über die er verfügte, erklärte der Alchimist, sei bisher nie ausprobiert worden, weil es an einem geräumigen Laboratorium gefehlt habe, aber die Kellergewölbe des Weimarer Schlosses halte er für eine ideale Experimentierküche. Dort unten begann nun tatsächlich ein geheimnisvolles Mischen, Sieden und Zündeln, bis am 2. August 1618, um die Vesperzeit zwischen 3 und 4 Uhr, ein verzehrendes Feuer ausbrach. Es wütete bis zum Abend des nächsten Tages und legte weite Teile des Schlosses in Schutt und Asche. Die Bemühungen der Ernestiner um die Erschaffung eines kultur- und kunstfreundlichen Klimas in ihrer Residenz erlitten durch die Feuersbrunst einen schweren Rückschlag. Der Herzog berief zwar den italienischen Baumeister Giovanni Bonalino, der ihm eine opulente Schloßanlage in barockem Stil entwarf, aber der Neubau kam nur zögernd und mit erheblichen Unterbrechungen voran. Der Dreißigjährige Krieg setzte andere Prioritäten.

Vor größeren militärischen Ereignissen blieb man bewahrt, da sich Weimars ungünstige geographische Lage, weitab von den großen Heerstraßen, jetzt eher vorteilhaft bemerkbar machte. Plündernde, sengende und brennende Landsknechtsrotten verirrten sich kaum hierher. Dafür kamen scharenweise Flüchtlinge, so daß zeitweilig mehr Fremde als Einheimische zwischen den Stadtmauern eingepfercht waren. Die Übervölkerung auf engstem Raum schuf Brutstätten für die Pest, die mit periodischer Regelmäßigkeit über die Stadt herfiel. Allein im Jahr 1635 raffte der schwarze Tod über tausend Menschen dahin.

Johann Ernst, der Protektor des unglückseligen Alchemisten, starb 1626, erst vierunddreißigjährig und kinderlos, im fernen Ungarn, wohin ihn der Dreißigjährige Krieg verschlagen hatte. Im heimischen Weimar übernahm einer seiner elf Brüder, der achtundzwanzigjährige Wilhelm IV., das Amt des Herzogs. Auch er war in das Kriegsgeschehen von Anfang an verstrickt, hatte in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag tapfer gekämpft und war, nach weiteren Gefechten, in Gefangenschaft geraten, aus der ihn ein Fußfall vor dem Kaiser wieder befreite. Wilhelm regierte bereits sein Herzogtum, als er sich dem Siegeslauf der Schweden unter Gustav Adolf anschloß. Er eroberte Erfurt und das Eichsfeld, zog mit in München ein, war am Sturm auf Wallensteins Lager bei Nürnberg beteiligt und focht bei Nördlingen mit. Damit jedoch scheint Wilhelms Begehren nach Waffentaten gestillt gewesen zu sein, denn 1635 gehörte er zu den Unterzeichnern des Prager Friedens, den Kursachsen mit dem Kaiser einging. Bisher hatte der Herzog nur das Zerstörungswerk des Krieges befördert. Jetzt sollte sich zeigen, daß in ihm auch eine Sehnsucht nach Werten und Werken rege war, denen er überzeitliche Bedeutung und eine lange Dauer beimaß.

Diese Neigung kam vor allem in der Sammelleidenschaft zum Ausdruck, die er auf zahlreiche Gebiete ausdehnte. Wilhelm sammelte Noten, Musikinstrumente, Bilder und besonders Bücher, mit denen er den Grundstock zu der kostbaren Weimarer Bibliothek legte, die noch heute besteht. Er nahm sich der Hofkapelle an, komponierte selber und erlernte, schon an der Schwelle zum Alter stehend, das Klavierspiel. Auch seine Lust am Bauen hing mit dem Bemühen zusammen, der eigenen Vergänglichkeit ein paar bleibende Zeugnisse abzugewinnen. Er ließ das Schloß in Jena errichten und wandte sich wieder dem Weimarer Schloßbau zu, der durch den Krieg ins Stocken geraten war. Der Landbaumeister Johann Moritz Richter nahm die alten Pläne des Italieners Bonalino wieder auf, veränderte sie jedoch zu einem Dreiflügelbau, dessen Hof sich nach Süden öffnete. Die Wilhelmsburg, wie die neue Anlage nach ihrem Bauherrn genannt wurde, entstand bei stets knapper Kassenlage, die auch später anhielt und alle kulturellen Aktivitäten der Weimarer Fürsten nur um so bewundernswerter macht. Auch der Wilhelmsburg war lediglich eine vergleichsweise kurze Frist beschieden. Ein neuerlicher Brand vernichtete sie im Mai 1774, ein Jahr bevor Goethe nach Weimar kam. Nur der Schloßturm, der aus dem Mittelalter stammt, überstand alle Katastrophen.

Das segensreiche Wirken des Herzogs Wilhelm bleibt schließlich für alle Zeit mit einer schöngeistigen Sozietät verbunden, die als »Fruchtbringende Gesellschaft« in die Annalen der deutschen Literatur und Sprache eingegangen ist. Sie war 1617 in Weimar gegründet worden und dann nach Köthen übersiedelt, wo ihr der Fürst Ludwig I. von Anhalt-Köthen als Oberhaupt vorstand. Nach seinem Tod übernahm der Weimarer Herzog Wilhelm die Leitung, so daß die Gesellschaft nun an ihren Gründungsort zurückkehrte. Nach ihrem Wahrzeichen, einer Palme, wurde die Akademie auch der »Palmenorden« genannt. Der Herzog von Weimar stand als »Der Schmackhafte« an der Spitze, auch jedes andere Mitglied erhielt einen schmückenden Beinamen.

Das wichtigste Anliegen der Gesellschaft galt einer dezidierten Pflege der deutschen Sprache, die vor drohender Überfremdung und Verwilderung geschützt werden sollte. Jeder Deutsche, der dieses hohe Ziel anerkannte und vertrat, durfte beitreten, ohne Ansehen des Standes und Glaubens. In ihrer Glanzzeit besaß die Gesellschaft nahezu 800 Mitglieder, womit sie die größte ihrer Art im damaligen Europa war. Fast alle Repräsentanten der deutschen Barockliteratur zählten dazu, unter ihnen Friedrich von Logau, Andreas Gryphius, Martin Opitz und Philipp von Zesen. Aber es ging nicht nur um die Poesie, sondern ebenso um die Sprachkultur im Alltag, etwa um deutsche Konversation und um das Schreiben von Briefen. Als Sekretär oder »Erzschreinhalter« der Gesellschaft fungierte seit 1653 der Dichter Georg Neumark, der Schöpfer des Liedes »Wer nur den lieben Gott läßt walten«. Der Herzog bestellte diesen Poeten zu seinem Bibliothekar und Hofdichter und führte ihn höchstpersönlich in den »Palmenorden« ein. Die enge Beziehung, die zwischen dem Fürsten und seinem Dichter wuchs, erscheint bereits wie eine erste Skizze des Verhältnisses, das weit über ein Jahrhundert später den Herzog Carl August mit Goethe verbinden sollte.

Unter den zahlreichen Brüdern des Herzogs Wilhelm haben sich noch einige rühmlich hervorgetan, nur einer von ihnen fiel als schwarzes Schaf der Familie allgemeiner Verachtung anheim. Es war Johann Friedrich, dessen Name bereits nichts Gutes verhieß, denn er erinnerte an den letzten unglücklichen Kurfürsten der Ernestiner, den Verlierer von Mühlberg. Offenbar war er mit einer religiösen Paranoia geschlagen, die ihn überall behaupten ließ, er habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Gewalttätig wie er war, machte er sich erst im protestantischen, dann im kaiserlichen Heer unmöglich, wo er einem Offizier den Degen durch den Leib stieß. Die letzte Zeit verbrachte der erst Achtundzwanzigjährige in Weimar, neun Wächter vermochten kaum seiner Herr zu werden. Der Rasende gestand noch den Satans-Kontrakt, den er mit seinem eigenen Blut unterschrieben haben wollte. Am nächsten Morgen fand man ihn tot, das Gesicht zur Erde gekehrt, zusammengekrümmt, eine blutende Wunde an der Seite.

Hingegen hat sich ein anderer Bruder Wilhelms, der 1601 geborene Ernst, hohes Ansehen erworben. Seine Stunde schlug, als ihm 1640, bei einer abermaligen Teilung des Landes, Gotha zur Residenz angewiesen wurde. Es ist ihm gelungen, das winzige Herzogtum Sachsen-Gotha zu einem wahren Musterländchen zu machen, das er aus dem Geist einer streng lutherischen Ethik heraus vorbildlich regierte. Die Leitgedanken dazu hat Ernst in seinem Testament niedergelegt: »Und bestehet das Fürstenamt nicht in großem Pomp und äußerlicher Anstalt, sondern vielmehr in ordentlicher Führung des Regiments und fleißiger guter Aufsicht, daß es im Land allenthalben, sowohl in geist- als weltlichen Sachen, richtig daher gehe, Gottes Ehre befördert, jedermann gleich und unpartheyisch Recht ertheilet, das Gute belohnet, das Böse gestrafet, und was sonst versprochen, Fürstlich gehalten werde.« Es waren keine Phrasen, sondern die Grundsätze, die dieser Herzog tatsächlich befolgt hat, so daß er mit Recht als Ernst der Fromme in die Geschichte eingegangen ist. Nach seinem Tod, der 1675 erfolgte, wurde das kleine Gothaer Staatswesen jedoch unter seine sieben Söhne aufgeteilt.

Zu höchstem Ruhm und zu einer legendären Gestalt noch bei Lebzeiten stieg Wilhelms und Ernsts jüngster Bruder Bernhard auf, dem der Dreißigjährige Krieg zum Schicksal wurde. Als protestantischer Truppenführer durchlief er eine rasche Karriere. Am 16. November 1632 übernahm Bernhard in der Schlacht bei Lützen, unmittelbar nach dem Tod des Königs Gustav Adolf, das Oberkommando der protestantischen Armee, sammelte die wankenden Reihen und verwandelte die bereits drohende Niederlage in einen gloriosen Sieg. Von da an war er eine Symbolfigur der evangelischen Sache und ihr bedeutendster Feldherr. Der Generalissimus eroberte Regensburg, gewann sich das Herzogtum Franken, das er aber wieder verlor, paktierte mit Frankreich, gedachte den Krieg in die habsburgischen Erblande zu tragen und besetzte das oberrheinische Breisach nach viermonatiger Belagerung. Dort starb der Fünfunddreißigjährige am 18. Juli 1639, unter nie ganz geklärten Umständen. Der kurzen Krankheit sei, behaupteten einige seiner Paladine, mit Gift nachgeholfen worden. Erst 1655 wurden die Gebeine Bernhards vom Breisacher Münster in die Weimarer Stadtkirche überführt. Sein Ruhm ist im protestantischen Deutschland lange lebendig geblieben. Noch Goethe trug sich mit dem Gedanken, die Biographie des Feldherrn zu schreiben.

Herzog Wilhelm IV., der »Schmackhafte« des »Palmenordens« sowie Bruder Ernsts des Frommen und des Kriegshelden Bernhard, starb am 17. Mai 1662. Er ist nicht nur als der Schirmherr der »Fruchtbringenden Gesellschaft«, als ingeniöser Sammler und als Erbauer der Wilhelmsburg in Erinnerung geblieben. Ihm verdankte auch der welsche Garten südlich der Ackerwand seine Entstehung, eine Parkanlage im streng abgezirkelten Geschmack des Barock. Er ließ seine besondere Fürsorge der Hofkapelle angedeihen und holte mehrfach den großen Heinrich Schütz zum Musizieren nach Weimar. Der Tod des Herzogs Wilhelm markierte das Ende einer Ära, in der die Residenz an der Ilm zum ersten Male einen Ruf als Kulturstadt in Deutschland gewann. An den ernestinischen Erbgepflogenheiten hat allerdings auch dieser kunstsinnige Herr nichts ändern können oder wollen. Es kam wieder zu einer Teilung, bei der sogar Jena vorübergehend zu einem selbständigen Herzogtum wurde.

Die Folge war, neben politischer und wirtschaftlicher Ohnmacht, ein wuchernder Dschungel dynastischer Verzweigungen, den selbst der geübte Genealoge nur mit Mühe zu lichten vermag. Auch bieten diese Erben der Nachwelt keinen günstigen und schon gar keinen lohnenden Anblick. Johann Ernst II., der von seinem Vater das Weimarer Herzogsamt übernahm, muß eine subalterne Natur gewesen sein, eifrig nur im Umgang mit Jägern und Hunden. Noch als Erbprinz hatte er, auf Geheiß des Vaters, eine Kavalierstour nach Holland, Frankreich und Italien unternommen, aber das Resultat der Reise war dürftig. Sonst hätte er nicht, kaum an die Regierung gelangt, die Hofkapelle entlassen und den Weiterbau des Schlosses eingestellt. Die »Fruchtbringende Gesellschaft« zog nach Halle um. Seinem Kanzler schrieb der Herzog einmal, daß er durch die Erledigung einiger Schriftstücke buchstäblich krank geworden sei und nur mit Hilfe von Medikamenten Linderung erfahren habe, was künftig darauf hinauslief, daß er die Geschäfte gleich ganz dem Kanzler überließ. Immerhin begriff er, daß es mit den Teilungen des Landes nicht mehr so weitergehen konnte wie bisher. Das Herzogtum sollte künftig nur noch dann geteilt werden, wenn »fürstliche Portionen« dabei herauskommen würden. Das mußten sich die beiden Söhne gesagt sein lassen, die noch unmündig waren, als Johann Ernst II. am 15. Mai 1683 starb. Vorsorglich hatte er sie in seinem Testament für mündig erklärt, so daß sie ungehindert die Nachfolge antreten konnten.