Matt Ralphs

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Fire Witch

Dunkle Bedrohung

6

Aus dem Englischen
von Doris Hummel

Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

bloomoon, München 2017

Text copyright © 2016 by Matt Ralphs

First published 2016 by Macmillan Children’s Books,

an imprint of Pan Macmillan,

a division of Macmillan Publishers International Limited

Titel der Originalausgabe: Fire Witch

Die Originalausgabe erschien 2016 bei Macmillan Children’s Books, ein Imprint von Pan Macmillan, London.

© 2017 arsEdition GmbH, Friedrichstr. 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Matt Ralphs

Übersetzung: Doris Hummel

Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung

von Material von Fred van Deelen und Shutterstock

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978-3-8458-2191-7

ISBN Printausgabe 978-3-8458-1641-8

www.bloomoon.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Inhalt

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Cover

Titel

Impressum

Widmung

Hudibras von Samuel Butler

Prolog

1. Feuerzauber

2. Vor den Toren

3. Die Geschmückte Mähre

4. Flask und Stubbs

5. Ein einfacher Plan

6. Frische Luft

7. Der Weiße Turm

8. Das Auswahlverfahren

9. Eine riskante Enthüllung

10. Der Generalhexenjäger

11. Der alte Seb

12. Eine Beförderung

13. Drei Sommer alt

14. Gewisse Methoden

15. Hopkins’ Bekenntnis

16. Die Geschichte einer Haselmaus

17. Die Ordensgranden versammeln sich

18. Dorn

19. Das Gesicht hinter Glas

20. Eine kurze Besprechung

21. Bringt die Toten heraus

22. Zusammengefügt

23. Hazel spielt ihren Trumpf aus

24. Hopkins’ Bruder

25. Ein hart erkämpftes Treffen

26. Nur ein Ausweg

27. Das Haus des Pestarztes

28. Pläne und Komplotte

29. Ein hochverehrter Besucher aus Preußen

30. Auf dem einen Weg hinein

31. … und auf einem anderen wieder hinaus

32. Zurück ins Versteck

33. … wo die Drachen wohnen

34. Kommt ein Vogel geflogen

35. Ein winkender Finger

36. Die Schlachtbank

37. Blut und Knochen

38. Ein kühner Vorschlag

39. Der Schlachtraum

40. Der Tag der Tage

41. Die Hinrichtungsarena

42. Die Anesidora

43. Die große Parade

44. Feuer vom Himmel

45. In die Arena

46. Eiskalte Täuschung

47. Der Scheiterhaufen

48. Rache

49. Ein Mann auf sich gestellt

50. Ein neuer Anfang

Epilog

Über den Autor

Danksagungen

Weitere Titel

Leseprobe zu "THE SLEEPING PRINCE"

Das hier ist für meine großartige Schwester.

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Hat nicht das heut’ge Parlament

einen Befugten ausgesend’t,

auf dass ihm zeigen die Dämonen,

wo noch rebellische Hexen wohnen?

HUDIBRAS von Samuel Butler

6

Prolog

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London, England, 1656

Matthew Hopkins, Generalhexenjäger, schenkte dem Gefangenen ein freundliches Lächeln. »Nun, Nicolas?«, fragte er. »Möchtest du nicht herauskommen? Und Gottes frische Luft atmen?«

Zerlumpt, blass und von Ketten gebeugt trat Nicolas Murrell blinzelnd auf das Dach des Cromwell Towers. Eine warme Sommerbrise wehte die Schatten des Gefängnisses fort und einen herzzerbrechenden Augenblick lang ließ er seinen Gedanken freien Lauf.

Wie lange bin ich schon hier?, überlegte er. Drei Tage? Drei Wochen?

Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an.

Noch vor nicht allzu langer Zeit war er ein gefürchteter Gesetzloser und Dämonologe gewesen und hatte einen Hexenzirkel gegen den Orden der Hexenjäger angeführt. Nun waren seine Pläne jedoch zu Staub zerfallen, und alles, was noch vor ihm lag, war ein langsamer Tod durch die Hand von Matthew Hopkins, seinem erbittertsten Feind.

Murrell richtete sich auf. Ich habe keine Angst.

»Klirr, klirr, die Ketten.« Hopkins packte lächelnd Murrells Arm und führte ihn entlang des Pfads aus Steinplatten.

Gitterrosen erfüllten die Luft mit ihrem Duft. Bienen summten zwischen den Blüten umher, sonnentrunken und gierig nach Nektar.

»Du bist nun schon seit einem Monat mein Gast in diesem Turm und hast noch kein einziges Wort gesprochen«, bemerkte Hopkins kopfschüttelnd.

Murrell erhaschte beim Gehen einen heimlichen Blick auf den Mann, der ihn gefangen und eingesperrt hatte. Man sah Hopkins an, dass er bis ins mittlere Alter, in dem er sich jetzt befand, ein recht angenehmes Leben geführt hatte. Sein Gesicht wirkte frisch und weich – aber seine Augen, oh ja, seine Augen waren so hart wie eh und je.

»Das ist wirklich ein Jammer, denn so alte Bekannte wie wir haben sich schließlich einiges zu erzählen.« Hopkins blieb stehen, zwickte mit Daumen und Zeigefinger eine Rosenblüte von ihrem Stängel und ließ sie fallen. »Krank. Verrottet.« Er zerquetschte sie unter seinem Stiefel. »Wie so vieles in dieser Welt.«

Sie gingen weiter, bis sie einen perfekt gepflegten Garten mit erhöhten, in Sonne getauchten Blumenbeeten erreichten. Üppiger Klatschmohn, leuchtende Ranunkeln und pralle, herzförmige Tulpen – Rot, wohin Murrell auch blickte. Überall Rot. Blutrot. Wie Hopkins’ mörderischer Orden.

»Willkommen in meinem Ort der Zuflucht«, sagte Hopkins. »Wunderschön, nicht wahr?«

Murrell verbarg sein Unwohlsein hinter einem leeren, starren Blick. Tief unter ihnen erstreckte sich London mit seinen Dächern und Türmen, die in der diesigen Hitze flirrten.

Dieser monströse Turm ragt höher auf als jedes andere Gebäude der Stadt, dachte Murrell. Er muss aus meilenweiter Entfernung zu sehen sein.

»Ich hege und pflege meinen Garten voller Fürsorge und er belohnt mich dafür mit Schönheit und Farbenpracht.« Hopkins deutete auf seine Umgebung. »In diesem Geiste bewahre ich auch dich vor all jenen, die lautstark deine sofortige Hinrichtung fordern, und doch bekomme ich von dir zum Dank nicht das Geringste zurück. Was ist nur aus dem guten alten Quid pro quo geworden?«

Die Sonne funkelte wie ein geschwollenes Auge am Himmel. Murrell blinzelte. Er schwitzte. Ich habe keine Angst, sprach er sich innerlich Mut zu. Ich habe keine … Angst.

»Ich weiß trotzdem bereits eine Menge«, fuhr Hopkins fort und zupfte einen Dorn aus seiner Fingerkuppe. »David Drake, der Lehrling des Hexenfinders, mit dem du dich ja unbedingt anlegen musstest, hat uns berichtet, was du und dein Zirkel in Rivenpike getrieben habt. Tss, tss, tss. Gemeinsame Sache mit Dämonen zu machen und schwarze Magie zu praktizieren, in dem Versuch, meinen geliebten Orden zu Fall zu bringen? Aber alte Gewohnheiten wird man eben nur schwer wieder los, was, Nicolas?«

Murrell sah zu, wie ein Rotkehlchen mit einem offensichtlich lahmen Beinchen, das es in seine Federn hochgezogen hatte, aus einer nahen Hecke hervorhüpfte. Bildete er sich das nur ein oder sah der kleine Vogel ihn ebenfalls an?

»Drake kooperiert.« Hopkins leckte einen Tropfen Blut von seinem Finger. »Wenn du dasselbe tun würdest … könnte das unser beider Leben um so vieles einfacher machen.«

Das Rotkehlchen hüpfte näher, den Kopf zur Seite geneigt, die schwarzen Augen leuchtend.

»Du fragst dich wahrscheinlich, warum ich mich diesmal nicht auf dieselbe Weise um dich gekümmert habe«, fügte Hopkins mit einem Lächeln hinzu. »Nun, das habe ich schon früher versucht und es hat mich in keinerlei Hinsicht weitergebracht. Nicht einmal, als ich«, er ahmte mit den Fingern eine Schere nach, »einige Teile von dir abgeschnitten habe. Es kommt einem vor, als wäre das nun schon eine Ewigkeit her, nicht wahr? Erinnerst du dich noch daran?«

Murrell spürte ein Jucken an der Stelle, an der einst sein Daumen gewesen war. Und ob er sich daran erinnerte. Er erinnerte sich sogar noch sehr gut an jene Nacht.

»Daher habe ich beschlossen, in deinem Fall diesmal einen etwas radikaleren Ansatz zu verfolgen. Hier entlang, bitte.« Schmetterlinge schwirrten um Hopkins herum, als er einem weiteren Pfad folgte. Einen kurzen Augenblick lang verschwand er aus Murrells Blickfeld.

Murrell nutzte seine Chance, hob das wehrlose Rotkehlchen vom Boden auf und spürte sofort eine warme Verbindung zwischen sich und dem Vogel. Ganz schwindlig vor Erleichterung sprach er einige magische Worte und flüsterte dann: »Sei mir gegrüßt, mein neuer Freund. Willst du hier, auf die Schnelle, mein geheimer Vertrauter werden? Willst du mir helfen, aus diesem Gefängnis zu fliehen?«

»Ich will«, antwortete das Rotkehlchen und wurde von einer beruhigenden Woge der Magie durchströmt.

»Mein Name ist Dorn und du bist nicht mehr allein.«

»Ich danke dir«, hauchte Murrell und ließ das Rotkehlchen wieder davonflattern. »Ich danke dir …«

Hopkins wartete neben einer niedrigen Metallluke auf ihn, die zwischen den Zinnen eingelassen war. Auf sein Zeichen hin tauchten zwei Soldaten scheinbar aus dem Nichts auf und packten Murrell an den Armen.

»Ich nenne es den Ofen«, erklärte Hopkins und riss die Klappe auf. »Früher war es eine Kohlenschütte. Wie du siehst, ist sie recht klein.«

Recht klein?, dachte Murrell. Sie ist winzig! Er will mir doch gewiss nicht sagen … Angst schnürte ihm die Luft ab, als ihm bewusst wurde, was Hopkins vorhatte.

Der steckte den Kopf in die Dunkelheit. »Meine Güte, das ist ja wie in einem Hochofen da drin!« Er tauchte mit einem Grinsen wieder auf und nickte den Wachen zu, die ihren Griff um Murrells Hals verstärkten und ihn in die Luke stießen.

Durch die Enge war er gezwungen, den Kopf zur Seite zu neigen und die Knie bis ans Kinn hochzuziehen. Er schnappte nach Luft. Aber wo Luft hätte sein sollen, war nichts als Hitze, die auf seiner Kopfhaut prickelte und seine Kehle versengte.

»Du kannst kooperieren«, sagte Hopkins, »oder du kannst braten. Es ist deine Entscheidung.«

Das Letzte, was Murrell sah, bevor die Luke mit einem Scheppern zuknallte, war, wie der Generalhexenjäger eine Schnecke vom Boden aufhob und sie über die Zinnen warf.

1
Feuerzauber

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Hier beginnt verheißungsvoll der zweite Teil dieses Werkes.

MALLEUS MALEFICARUM oder
DER HEXENHAMMER von Dr. Heinrich Hoefer

6

Hazel öffnete ihr Herz und ließ der Magie freien Lauf. Feuer strömte durch sie hindurch und erhitzte ihr Blut. Sie atmete Schwefel ein und fühlte sich mächtig, gefährlich.

Titus’ Worte hallten in ihrem Kopf wider: Du musst deine Magie verstehen und lernen, sie zu kontrollieren. Sie stellte die Füße weiter auseinander, um das Gleichgewicht zu halten, als das Feuer noch intensiver wurde. Ihr Herz raste, jeder Schlag ging hämmernd in den nächsten über, immer schneller und schneller.

Ich bin eine Trägerin, dachte sie. Eine Feuerhexe. Und ich habe die Kontrolle.

Der Mond zeigte sich nur als Sichel am Himmel, aber die Waldlichtung erstrahlte taghell, als Hazel sich in einen brennenden Kokon aus Magie hüllte. Das Licht der Flammen brachte die Bäume zum Glühen und schimmerte durch die Blätter hindurch.

Sie konzentrierte sich auf eine dunkle Gestalt, die zwanzig Schritt entfernt von ihr stand – groß, gekrümmt und mit geschwollenem, missgestaltetem Kopf. Ein Dämon, ein Ungeheuer, ein Feind, der verbrannt werden musste … Die Flammen tobten noch lauter, als sie sie mit schierer Willenskraft zu einem lodernden Ball um ihre linke Faust bündelte.

Ziel auf den Kopf …

Hazel verlagerte das Gewicht auf den hinteren Fuß, winkelte den Arm an, holte aus und schleuderte den Feuerball keuchend vor Anstrengung in einer einzigen fließenden Bewegung von sich. Er sauste davon wie ein gelber Komet mit einem Schweif aus Rauch, aber sie wusste sofort, dass ihr Wurf misslungen war.

Zu viel Kraft … Er wird …

Die Gestalt wurde nach hinten gegen einen Baum geworfen und explodierte in einem grellen Blitz, der in Hazels Augen brannte. Sie bedeckte ihr Gesicht, um sich vor der Explosion zu schützen. Als sie den Blick wieder hob, hatte sich das Feuer aufgelöst und nur den Geruch von Rauch und ein paar glimmende Grasbüschel zurückgelassen. Sie sank auf die Knie, zitternd vor Erschöpfung.

Ein Mann in einem langen schwarzen Mantel tauchte hinter einem Baum auf und betrachtete die Verwüstung mit finsterer Miene. »Oh ja«, sagte er. »Wirklich gut gemacht. Sehr kontrolliert.«

»Ich bin mir sicher, dass niemand im Umkreis von fünfzehn Kilometern diese kleine Darbietung gesehen hat«, fügte die Haselmaus hinzu, die auf dem Kopf des Mannes saß.

Hazel erhob sich, versuchte mit aller Würde, die sie aufbringen konnte, ihr wildes rotes Haar wieder glatt zu streichen, und fauchte die Haselmaus an: »Ich bin wirklich nicht in der Stimmung für deinen Sarkasmus, Bramley. Und Titus: Ich gebe schließlich mein Bestes, oder etwa nicht?«

»Dein Bestes ist aber nicht gut genug«, erwiderte der alte Mann und kam auf sie zu. Sein Name war Titus White, und Hazel hatte ihn angeheuert, damit er ihre Mutter fand, nachdem sie von dem Dämonologen Nicolas Murrell entführt worden war. »Du übst mit deinen Zauberkräften nun schon seit Wochen und bist immer noch ein hoffnungsloser Fall.«

Bramley, Hazels engster Freund und magischer Vertrauter, hüpfte auf ihre Schulter und vergrub sich in ihrem Haar.

»Ich habe das Ziel doch jetzt getroffen«, verteidigte sie sich hitzig. »Jedes Mal.«

»Ja, und alles drum herum, verdammt noch mal.« Titus hob die rauchenden Überreste einer Vogelscheuche auf und warf sie auf den Haufen mit den anderen, die Hazel in dieser Nacht bereits geopfert hatte. Er schnipste mit den Fingern. »Komm mit, Mädchen.«

Hazel stampfte wütend gegen den Boden und folgte ihm zum Rand der Lichtung. Dämmrige Felder und Wälder breiteten sich über einen Hang bis zu einer weitläufigen Ansammlung funkelnder Lichter aus.

»Schau nach dort unten«, sagte Titus. »Das ist London. Wir werden morgen dort eintreffen, und wenn irgendjemand auch nur einen Hauch deiner Magie erahnt, dann werden wir beide verhaftet und auf den Scheiterhaufen geworfen.«

»Ich habe dich nie gebeten, mit mir zu kommen«, blaffte Hazel ihn an und verschränkte die Arme. »Du hast darauf bestanden

»Ja, weil deine Mutter es so gewollt hätte«, erwiderte Titus. »Und ich werde ihrem Wunsch Folge leisten – oder mir selbst die Kehle aufschlitzen.«

»Und worüber beschwerst du dich dann?«

»Ich beschwere mich, weil es ihr Wunsch wäre, dass ich dich davon abhalte, deinen Plan weiterzuverfolgen. Es ist einfach zu gefährlich, sie zu retten.«

»Ich kann sie nicht einfach Baals Fängen überlassen – wer weiß, mit welchen Folterungen dieser Dämon sie quält?« Eine kleine Feuerwelle zischte durch Hazels Haar. »Ich hole sie mir zurück, Titus, und du kannst mich nicht aufhalten.«

»Ich könnte dich in einer Truhe einsperren«, knurrte er.

Hazel funkelte ihn böse an. »Versuch es ruhig! Ich brenne mich einfach wieder raus.«

»Verdammt noch mal, Mädchen, kannst du denn nicht vernünftig sein? Murrell ist der Gefangene des Ordens. Nach allem, was wir wissen, könnte er bereits tot sein. Und selbst wenn es dir wie durch ein Wunder gelingt, mit ihm zu sprechen – warum sollte er dir helfen? Dem Mädchen, dessen Einmischung er es zu verdanken hat, dass er überhaupt erst verhaftet wurde?«

»Ich weiß es nicht, aber ich werde es trotzdem versuchen.« Hazel stampfte zurück auf die Lichtung. »Bleib hier, wenn du willst. Ich brauche deine Hilfe nicht.«

»Und was ist mit Bramley?«, rief Titus ihr nach. »Lässt du ihm eine Wahl, ob er sich den Gefahren wirklich aussetzen will, in die du ihn mit hineinstürzt?«

Titus’ riesiges Pferd Ajax war an einem Baum festgebunden. Hazel hörte auf, mit der Hand über seine Nüstern zu streicheln. »Ich tue das Richtige«, murmelte sie, und als hätte er ihre Zweifel gespürt, stupste sie der alte Hengst zärtlich mit der Nase an.

Hazel überließ ihn wieder seinem Gras und kletterte in den Kutschenwagen, den sie und Titus ihr Zuhause nannten. Das Innere bestand aus einem einzigen Raum mit Stockbetten, einem Tisch und einer Werkbank und befand sich in seinem üblichen Zustand wundersamen Durcheinanders. Bücher, Karten und seltsame mechanische Apparate lagen über sämtliche Oberflächen verstreut. Auf einem zufrieden glühenden Ofen köchelte ein Topf mit Milch. Hazel holte tief Luft und spürte, wie sich ein Teil ihrer Beklommenheit wieder auflöste. Die Kutsche war in den vergangenen Wochen ihr Zuhause geworden und mittlerweile hing sie sehr daran.

»Du bist ja so still, Bram«, sagte sie, pflückte ihren winzigen Vertrauten aus ihrem Haar und setzte ihn sich auf die Handfläche.

»Ich bin müde«, erwiderte Bramley gereizt und versuchte, wieder in Hazels zerzauste rote Locken zu krabbeln. »Ich habe heute erst drei Nickerchen gemacht.«

»Du verstehst doch, warum ich nach London gehe, oder?«, wollte Hazel wissen und hob ihn direkt vor ihre Augen. »Jede weitere Sekunde, die Ma in der Unterwelt gefangen ist, tut mir weh. Ich kann es in meinem Herzen spüren, so als würde es sich verkrampfen und schrecklich verdrehen. Ich muss versuchen, sie zu retten, und ich brauche deine –«

»Hilfe«, beendete er den Satz für sie und sprang auf den Tisch hinunter. »Es ist alles gut, Hazel, ich will das ja auch. Du bist meine Hexe, und wo du hingehst, gehe auch ich hin.«

Bevor sie die Chance hatte, ihn zu fragen, ob er das auch wirklich so meinte, riss Titus die Tür auf und stürmte herein. »So ist es richtig, Mädchen, lauf nur weiter weg. Es ist ja auch viel einfacher, die brutale Wahrheit zu ignorieren und sich zu weigern, ihr direkt in die Augen zu schauen, hab ich nicht recht?«

»Die Wahrheit?« Wütende Magie knisterte durch Hazels Haar. »Ist es das, was du willst? Wie wär dann das hier als erste Portion: Du bist ein abgewrackter Säufer, Titus White, und es war deine Vernachlässigung, die deinen Lehrling verjagt und auf die Seite der Hexenjäger getrieben hat.«

»Aber du warst diejenige, wegen der er fast von diesem Spinnendämon getötet worden wäre!«, kläffte Titus zurück und stürzte sich auf sie.

Hazel warf sich hinter den Tisch und bündelte einen apfelgroßen Ball ihrer Magie zwischen den Händen. Sie vergewisserte sich, dass er nicht so heiß war, dass er wirklich jemandem wehtun konnte, und schleuderte ihn auf Titus’ Brust. Überrascht stieß er einen Schrei aus und fiel rückwärts auf einen Stuhl.

Bevor einer der beiden einen weiteren Schlag landen konnte, ob mit Worten oder im körperlichen Sinne, schoss Bramley mit einem warnenden Blitz seiner eigenen Feuermagie dazwischen. »Könnt ihr zwei bitte ausnahmsweise mal versuchen, miteinander auszukommen?«, keifte er. »Hazel – auch wenn Titus zahlreiche Fehler und schlechte Angewohnheiten hat, ist er unser Freund und wir brauchen seine Hilfe.«

»Aber –«, begann Hazel.

»Still!« Bramley drehte sich zu Titus um. »Titus – Hazel ist starrköpfig und wird tun, was immer sie will, ganz egal, was wir sagen. Deshalb können wir uns auch einfach damit abfinden und weitermachen, hab ich recht?« Sein haariges Stirnrunzeln wurde noch tiefer. »Hab ich recht?«

Hazels Wut legte sich bereits wieder. Sie wusste, dass es nicht fair war, Titus die Schuld für Davids Verrat zu geben. Immerhin hatte sie die beiden angeheuert, damit sie ihre Mutter fanden, und deshalb gingen all die Schwierigkeiten, in die sie seither geraten waren, ganz allein auf ihr Konto.

»Weißt du, Hazel«, begann Titus und tastete sich von Kopf bis Fuß ab, um zu sehen, ob er verletzt war, »ich dachte, ich würde es hassen, als Bramley beschlossen hat, hin und wieder so mit mir zu reden, als sei er mein Vertrauter und nicht deiner, aber gelegentlich gibt er durchaus Sinnvolles von sich.«

»Ich schätze, das tut er«, lenkte auch Hazel ein. Sie nahm Titus’ Hand und half ihm auf.

»Deine Treffsicherheit hat sich deutlich verbessert«, lobte er und klopfte seinen Mantel ab.

Hazel zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, es kommt immer darauf an, wie wütend ich auf mein Ziel bin.«

Um Titus’ Mundwinkel zuckte ein Lächeln. »Und dein Zauber … war kalt.«

»Ich wollte dich nur treffen und dich nicht bei lebendigem Leib verbrennen.« Hazel wandte den Blick ab. »Tut mir leid«, murmelte sie.

»Wieder Freunde?«, fragte Bramley, kletterte in seine Lieblingsteetasse und gähnte ausgedehnt. »Gut.«

Titus setzte sich an den Tisch und begann, seinen Pfeifenkopf auszuklopfen. Hazel schenkte ihnen beiden eine Tasse Milch aus dem Topf ein und ließ sich auf ihr Bett sinken.

»Also, dann werden wir morgen in London sein?«, fragte sie.

»Richtig. Wir lassen die Kutsche hier und reiten den Rest des Weges auf Ajax. Wenn David wirklich mit den Hexenjägern zusammenarbeitet, dann hat er ihnen höchstwahrscheinlich alles über uns erzählt, deshalb müssen wir inkognito reisen.«

»Ha! David …«, fauchte Bramley. »Dieser miese kleine Überläufer.«

Hazel starrte in ihre Milch. David Drake, Titus’ ehemaliger Lehrling: Mutig, zuvorkommend und gut aussehend – zumindest war er das gewesen, bevor Spindel, der Spinnendämon, ihn vergiftet und ein Auge gekostet hatte. Meine Schuld, dachte sie. Nicht Titus’. Meine.

Die drei Gefährten saßen eine Weile lang schweigend da, während die Blätter der Bäume, die die Lichtung umgaben, wie Kieselsteine an einem Strand rauschten.

»Deine Mutter würde wollen, dass ich dich aufhalte, das weißt du«, durchbrach Titus schließlich die Stille.

»Ich weiß.«

»Aber das kann ich nicht, oder?«

Hazel blickte nicht auf. »Nein.«

Titus seufzte und steckte die Pfeife in seine Tasche. »Ist ja kein Wunder, dass mich das in den Alkohol treibt.«

»Ich brauche deine Hilfe«, erwiderte Hazel leise. »Ich schaffe das wirklich nicht ohne dich.«

»Ich bin doch noch hier, oder?« Titus warf eine Decke über ihren Kopf. »Und jetzt schlaf ein bisschen, du törichte Hexe. Denn wer weiß schon, was morgen bringt?«

»Schwierigkeiten, was sonst?«, grummelte Bramley in seiner Teetasse. »Und Streit.«

2
Vor den Toren

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»Ich beschloss, nach London zu gehen,
der Bühne für all mein zukünftiges Elend.«

Joseph Cotton (gestorben an der Pest, 1655)

6

»Nun, da wären wir«, verkündete Titus und brachte Ajax auf dem Gipfel eines sonnenüberfluteten Hügels zum Stehen. »London.«

Hazel richtete sich im Sattel auf und lugte über seine Schulter. »Oh weh …«

Eine riesige Stadt bedeckte den Grund des Tals, braun und diesig unter dem Rauch aus fünfzigtausend Schornsteinen. Kirchtürme, Zinnen und Tempel ragten zwischen den Dächern empor, und mittendurch schlängelte sich ein breiter grauer Fluss. Wohnhäuser und Speicher säumten das Nordufer und neigten sich vor, als hätten sie Mühe, sich gegen die erdrückende Kraft der Gebäude hinter ihnen zu behaupten.

Hazel schüttelte vor Staunen den Kopf. »Das ist das Unglaublichste, was ich jemals gesehen habe.«

»Es stinkt, sogar von hier aus«, fiepste Bramley, der auf ihrer Hutkrempe saß.

»Er hat recht. Die Stadt ist eine einzige Jauchegrube«, pflichtete Titus Bramley bei und drängte Ajax weiter vorwärts.

Sie folgten einem Weg, der am Waldrand entlangführte, bis er auf eine Pflasterstraße traf, auf der deutlich mehr Verkehr herrschte: Bauern trieben ihr Vieh, Kaufleute schoben Handkarren und Straßenhändler mit prall gefüllten Tragekörben auf den Schultern priesen schreiend ihre Waren an. Sie alle waren unterwegs nach London.

Titus lenkte Ajax hinter einem schaukelnden Heuwagen in den steten Strom. Hazel wusste gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollte. Sie hatte noch nie zuvor so viele Menschen auf einmal gesehen. Ich frage mich, ob ein paar von ihnen Hexen sind und ihre Kräfte ebenso geheim halten wie ich. Bramley, der Lärm überhaupt nicht ausstehen konnte, vergrub sich wieder in ihrem Haar.

Titus kaufte bei einem Händler am Straßenrand eine Fleischpastete und reichte sie Hazel. »Vergiss nicht: Wir sind Rattenfänger. Meine Name ist Arthur Lowe, und du bist meine Tochter, Demelza.«

»Warum muss ich denn einen so albernen Namen haben?«, fragte Hazel mit einem Mundvoll Pastete.

»Ich hatte mal einen Hund, der Demelza hieß, deshalb kann ich mir den Namen leichter merken.«

Bramley krabbelte hinter Hazels Ohr und fügte schelmisch hinzu: »Du siehst wie eine Demelza aus. Das passt zu dir.«

»Wir sind schon fast am Tor«, sagte Titus. »Pass auf, dass deine Ratte nicht aus ihrem Versteck kommt.«

»Wie kannst du es wagen?«, quiekte Bramley. »Ich bin eine Haselmaus und –«

»Still, Bram«, unterbrach Hazel ihn. »Du kannst ihn ausschimpfen, wenn wir drin sind. Aber lass dich für den Moment besser nicht blicken.«

Die Weizenfelder und Weiden fanden ein jähes Ende, als sie den Fuß eines gigantischen Erdwalls erreichten, ein Überbleibsel des Hexenkrieges, der ganz London umschloss. Die hölzernen Brüstungen waren jedoch bereits seit Langem verschwunden und seine Hänge inzwischen mit Gras überwuchert. Das mit Stein befestigte Tor stellte hingegen nach wie vor eine eindrucksvolle Verteidigung dar.

Soldaten mit Sturmhauben unterzogen sämtliche Passanten einem kurzen Verhör, bevor sie sie in die Stadt einließen. Hazels Herzschlag raste immer schneller, je weiter sie sich ihnen näherten. Sie kam sich furchtbar auffällig vor, so als seien ihre Zauberkräfte für jedermann deutlich zu erkennen.

»Dann wollen wir mal«, murmelte Titus, als sie einer der Soldaten mit seinem Speer zu sich winkte.

»Was führt Euch her?«, fragte er.

»Ich bin Arthur Lowe, Rattenfänger aus Bristol«, antwortete Titus mit dem passenden West-Country-Akzent.

Der Soldat richtete seinen durchdringenden Blick auf Hazel. »Und du?«

»Lizzie Lowe«, stellte Hazel sich vor. »Rattenfänger-Lehrling und Buchhalterin des Unternehmens.«

»Rattenfänger, ja?« Der Soldat runzelte die Stirn. »Wo sind Eure Käfige? Habt Ihr denn gar keine Frettchen dabei?«

»Mein Bruder kommt später mit unserer Ausrüstung nach«, antwortete Hazel.

Der Soldat grunzte. »Von dem Pferd runter, alle beide. Ich muss Euch auf Anzeichen für Pest untersuchen.«

»Aber wir sind kerngesund«, erwiderte Titus freundlich. »Kein Hauch von Pest.«

»Wollt Ihr mir etwa Schwierigkeiten machen?« Der Soldat hob seinen Speer.

»Nein, Sir«, versicherte Hazel und stupste Titus in die Rippen. »Wir helfen gerne.«

Sie stieg vom Pferd und erlaubte es dem Soldaten, ihren Kopf mit seiner behandschuhten Hand nach hinten zu kippen und ihren Hals nach Pestbeulen abzusuchen. Er berührte sie sehr zögerlich, nur für den Fall, dass sie doch infiziert war.

»Mit Euch scheint alles in Ordnung zu sein«, verkündete er schließlich, nachdem er sie beide untersucht hatte. »Aber wenn Ihr auch weiterhin pestfrei bleiben wollt, dann seht Euch vor, wohin Ihr geht. In Southwark wimmelt es nur so von Erregern. Betrachtet Euch hiermit als gewarnt.«

»Darum sind wir hier«, erwiderte Titus, stieg wieder auf Ajax’ Rücken und half Hazel hinter sich in den Sattel. »Wir werden diesem Ungeziefer schon bald den Garaus machen –«

»Das Ungeziefer ist nicht die Ursache«, schnitt ihm der Soldat das Wort ab. »Es sind diese dreckigen Hexengefangenen, die der Orden auf dem Fluss zusammengepfercht hat.«

»Ach ja? Sind wohl viele, was?«

»Hunderte. In einem Schiffswrack eingesperrt. Die atmen ihren fauligen Dunst überallhin aus. Sie sind die Ursache für diese Seuche. Denkt an meine Worte.«

»Man sollte sie allesamt verbrennen, das ist meine Meinung«, sagte Hazel und konnte die Hässlichkeit ihrer Worte förmlich schmecken.

»Keine Ahnung, warum sie das nicht schon längst getan haben! Hopkins erledigt die Arbeit nicht, für die er bezahlt wird …« Der Soldat verstummte. »Aber ich glaube, ich habe schon genug gesagt. Weiter mit Euch.«

»Vielen Dank«, sagte Titus und tippte sich an den Hut, bevor er Ajax wieder antrieb.

»Fang, Mädchen!«, rief der Soldat und warf Hazel eine Birne zu, die sie mit einer Hand auffing.

»Danke!«, rief sie zurück.

»Ich hab dir doch gesagt, dass dein Name Demelza ist«, zischte Titus, als sie durch das Tor trotteten.

»Mein Name, meine Entscheidung.« Hazel wischte die Birne an ihrem Kleid ab. »Und ich bevorzuge Lizzie – nach Königin Elizabeth Tudor. Du hast mir doch erzählt, dass sie Hexen mochte.«

»Ja, schon, aber heutzutage sehen die Dinge leider anders aus, also sei vorsichtig. Die Hexenjäger werden nach uns suchen, also halte dich an unsere Geschichte und verstecke deine Zauberkräfte.«

»Und das bedeutet auch, dass du dein Temperament im Zaum halten musst«, fügte Bramley hinzu.

»Hört auf, an mir herumzunörgeln, alle beide«, wehrte sich Hazel. »Ich bin die ausgeglichenste Person, die man sich nur vorstellen kann.«

»Wenn das tatsächlich der Fall ist«, stöhnte Bramley, »dann sind wir alle dem Untergang geweiht.«

3
Die Geschmückte Mähre

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Southwark ist ein widerwärtiger Moloch
der Bestialität und Verdorbenheit.

DER BEDACHTE REISENDE von Gerhardt Ohler

6

Die Southwark High Road führte in einer geraden Linie zwischen schönen Holzhäusern bis zur London Bridge und der Themse. Es war Markttag, und ein wogendes Meer aus Menschen strömte zwischen Ständen und Handkarren hindurch und feilschte um alle erdenklichen Waren, von Hüten bis zum Honigbrot. Von ihrer erhöhten Position auf Ajax’ Rücken aus sah Hazel einen Wasserverkäufer, der unter der Last seiner Gefäße schwankte; einen Drucker, der mit tintebefleckten Händen neue Pamphlete anpries; zwei Edelmänner in Gehröcken und mit Perücke auf dem Kopf, die Arm in Arm aus einem Kurzwarenladen kamen, und ein bettelndes Kind, das ihnen hinterherschlich, den Blick starr auf ihre Jackentaschen gerichtet.

»Hör auf zu zappeln«, blaffte Titus Hazel an, die hinter ihm im Sattel hin und her wackelte. »Halt still!«

»Aber ich will sehen, was hier los ist.«

»Oh, na dann komm her.« Titus hob sie hoch und setzte sie vor sich wieder ab. »Jetzt zufrieden?«

Hazel grinste und nickte.

»Nun, ich aber nicht«, meckerte Bramley hinter ihrem Ohr. »Diese Stadt ist viel zu laut. Und was, wenn ich runterfalle? Ich würde unter all diesen Füßen zu Brei zertrampelt.«

Ein Metzger tauchte aus seinem Laden auf und schüttete einen Eimer mit Eingeweiden in die Gosse. Räudige Köter und krätzige Kinder stürzten sich auf die Reste und kämpften verbissen darum.

»Pass doch auf, du Idiot!«, brüllte Titus.

Der Metzger machte eine Geste, von der Hazel annahm, dass sie ungeheuer unhöflich war, und stampfte wieder nach drinnen.

»Wann warst du denn das letzte Mal in London?«, wollte sie wissen.

»Vor ungefähr tausend Jahren«, antwortete Titus. »Die Akademie für Hexenfinder war in Baynard’s Castle untergebracht, obwohl ich den Großteil meiner Zeit auf den Straßen verbracht habe. Ich habe mich noch nie gerne lange an ein und demselben Ort aufgehalten.«

»Was glaubst du, wo sie Murrell eigesperrt haben?«, fragte Bramley.

»Wahrscheinlich halten sie ihn im Tower von London gefangen. Aber ich weiß, wo wir das mit Sicherheit herausfinden können.«

»Du führst uns in eine Schänke, hab ich recht?«, vermutete Hazel und bohrte einen Ellenbogen in Titus’ Rippen.

»Tue ich, und das aus drei guten Gründen. Erstens: Wir brauchen einen diskreten Ort, an dem wir absteigen können. Zweitens: Informationen. Wenn du irgendetwas wissen willst, dann erkundigst du dich danach am besten in einer Schänke. Und drittens –«

»Kannst du dich dort betrinken«, vollendete Bramley den Satz.

»Jetzt hört mir mal gut zu, Mädchen und seine Ratte«, knurrte Titus. »Wir sind nun schon seit fast einem Monat unterwegs. Mir tut der Hintern weh, meine Stimmung ist im Keller und dieses närrische Unterfangen könnte gut und gerne meinen Tod bedeuten. Also, ja: Ich werde mir ein Gläschen genehmigen, verdammt noch mal.«

»Ich glaube, es ist am besten, wenn wir uns darüber nicht streiten«, flüsterte Bramley. Hazel stimmte ihm zu.

Titus lenkte Ajax aus der Menschenmenge in eine ruhige Nebenstraße. Die Dachrinnen der Häuser ragten an beiden Seiten so weit hervor, dass sich die Dächer beinahe berührten und sie in der Mitte der Gasse reiten mussten, um sich nicht die Köpfe zu stoßen. Der Lärm des Trubels verebbte, während der Geruch von Abfall immer intensiver wurde.

Hazels ursprüngliche Begeisterung, als sie die Stadt betreten hatten, wich nach und nach einem beunruhigenden Gefühl der Enge. Hier gab es zu viele Menschen, zu viele Soldaten, zu viele Mauern und Tore …

Bramley streichelte mit seinem Schwanz über ihren Nacken, während sie langsam immer weiter der schiefen Gasse in Southwarks Labyrinth aus Nebenstraßen folgten – es war ein luftloser, verrottender Ort, an dem die Menschen, die an ihnen vorübergingen, schmutzig und mager waren und sie aus zusammengekniffenen Augen beobachteten.

»Die mögen hier keine Fremden«, bemerkte Titus.

»Und wir sind noch dazu ein ziemlich eigenartiger Haufen«, fügte Bramley hinzu.

Schließlich tauchten sie auf einem sonnenüberfluteten Vorplatz aus der Gasse auf. Am anderen Ende befand sich eine strohgedeckte Schänke mit Holzbalkon und einem Schild in Form eines sich aufbäumenden Pferdes.

»Ich bin wirklich froh, dass meine Beine noch funktionieren«, sagte Titus, als er von Ajax abstieg und sich reckte und streckte, wobei seine Gelenke hörbar knacksten.

Ein dreckverschmierter Junge mit mehreren Strohhalmen im Haar tauchte aus einem Stall auf. »Wollt Ihr in der Geschmückten Mähre übernachten, mein Herr?«, fragte er.

»Wollen wir.« Titus warf ihm eine Münze zu. »Das ist mein Pferd Ajax. Er braucht frischen Hafer und muss dringend gebürstet werden.«

Der Junge nickte und griff nach den Zügeln, während Hazel aus dem Sattel rutschte und sich zu Titus an die Tür gesellte.

Er blickte auf sie hinunter. »Rattenfänger, richtig?«

»Richtig. Und ich bin Elizabeth, richtig

Titus grunzte und ging ihr in einen Schankraum mit niedriger Decke voraus, in dem selbst am frühen Nachmittag vereinzelt Gäste saßen. Hazel war erfreut, wie kühl es im Inneren war, und ein wenig überrascht, dass es durchaus nicht unangenehm nach Tabak und Bier roch.

Hinter der Theke bediente niemand, daher wandte sich Titus an eine grimmig aussehende Frau, die mit einem Feudel energisch den Boden wischte. »Entschuldigt, Madame …?«

»Mr Treacher!«, bellte sie, ohne aufzublicken.

Eine fröhliche Stimme ertönte aus dem Hinterzimmer: »Ich komme schon, mein Täubchen!«

Titus sah Hazel mit hochgezogener Augenbraue an und sie versteckte ihr Grinsen hinter ihrer Hand.

Ein Mann mit der Figur eines Fasses und bordeauxroter Nase tauchte hinter dem Tresen auf. »Da ist sie«, trällerte er. »Die Frau, die ich geheiratet habe. Rotgesichtig und wutentbrannt, genau so, wie ich sie mag.«

»Ein wahres Prachtexemplar des schönen Geschlechts«, bemerkte Titus.

»Ja, das ist sie in der Tat.« Mr Treacher warf seiner Frau einen bewundernden Blick zu, während sie den Eimer mit schmutzigem Wasser zur Haustür hinausschüttete und dabei nur knapp eine vorbeiziehende Gruppe von Hafenarbeitern verfehlte.

»Mein Name ist Arthur Lowe«, stellte Titus sich vor, »und ich hätte gerne einen Krug von Eurem Besten. Das hier ist meine Tochter, Lizzie. Sie nimmt ein kleines Bier.«

»Mir wäre ein Wasser lieber«, entgegnete Hazel und hüpfte auf einen Hocker.

»Wasser?« Treacher lachte und reichte Titus sein Getränk. »Das würde ich dir nicht empfehlen, Lizzie.«

»Warum denn nicht?«

Titus starrte in seinen Krug, als enthielte er den Sinn des Lebens, und trank dann einen ausgedehnten Schluck. »Das Wasser in London sollte man besser nicht trinken. Du nimmst ein kleines Bier.«

»Na schön. Aber ich will kein kleines. Ich hätte gerne ein normal großes, bitte.«

»Klein bedeutet nicht klein im Sinne von klein«, erklärte Treacher. »Ein kleines Bier ist ein verwässertes Bier, das man trinken kann, ohne betrunken zu werden.«

»Und macht überhaupt keinen Spaß«, fügte Titus hinzu. »Ist aber perfekt für kleine Mädchen.«

»Na schön, dann nehme ich ein großes kleines Bier, bitte.«

»Kommt sofort«, sagte Treacher.

»Ich nehme nicht an, dass ich was zu trinken bekomme?«, flüsterte Bramley Hazel ins Ohr.

»Habt Ihr noch zwei Kammern frei, Mr Treacher?«, erkundigte sich Titus.

»Haben wir«, antwortete der und reichte Hazel einen Krug. »Jede Menge sogar. Die Geschäfte laufen für die Geschmückte Mähre nicht besonders gut, fürchte ich.«

»Warum denn nicht?«, wollte Hazel wissen.

»Hier in der Gegend ist die Pest ausgebrochen.«

»Der Soldat am Stadttor hat uns erzählt, dass die Hexengefangenen des Ordens die Ursache dafür sind«, bemerkte Hazel. Sie trank einen vorsichtigen Schluck von ihrem Bier und stellte fest, dass es ihr Inneres auf überraschend angenehme Weise wärmte.

»Hm, nun, da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte Treacher. »Ich bin alt genug, um mich an die Zeiten zu erinnern, in denen den Hexen nicht für alles Böse, das uns ins Haus wehte, die Schuld gegeben wurde. Auch Mrs Treachers Großmutter – Gott sei ihrer Seele gnädig – verfügte über gewisse magische Kräfte und sie hat niemandem jemals auch nur ein Haar gekrümmt.« Er seufzte. »Die Zeiten haben sich geändert, aber gewiss nicht zum Besten.«

»Da stimme ich Euch zu.« Titus senkte die Stimme. »Wir haben außerdem gehört, dass die Hexenjäger Nicholas Murrell gefangen genommen haben.«

Treacher nickte finster. »Ja. Sie haben ihn vor ein paar Wochen hergebracht. Wie man hört, hat er versucht, einen Dämon heraufzubeschwören, indem er kleine Kinder geopfert hat …« Er warf Hazel einen Blick zu und fügte abschwächend hinzu: »Ich weiß natürlich nicht, ob das wahr ist, aber eine Menge Leute sind bereit, es zu glauben.«

»Sie halten ihn im Tower fest, oder?«, hakte Titus nach.

Treacher schüttelte den Kopf. »Einen so wichtigen Gefangenen wie ihn sperren sie auf Cromwell Island ein.«

»Was ist Cromwell Island?«, fragte Hazel.

Treacher lehnte sich näher zu ihr. »Das ist das neue Gefängnis der Hexenjäger. Sie haben es erst vergangenes Jahr fertiggestellt. Es wurde mitten auf der Themse erbaut.« Er erschauderte. »Ein schrecklicher Ort. Ausbruchsicher.«

»Eine ausbruchsichere Insel?«, quiekte Bramley. »Das klingt nicht gerade, als dürften wir uns allzu große Hoffnungen machen.«

»Von der London Bridge aus kann man sie sehen, falls Ihr neugierig seid«, fuhr Treacher fort. »Gut, dann will ich mal Eure Zimmer fertig machen. Möchtet Ihr in der Zwischenzeit etwas essen?«

Hazels Magen knurrte. »Ja, bitte.«

»Und noch ein Bier«, fügte Titus hinzu und tippte an seinen Krug.

»Kommt sofort.«

Hazel und Titus fanden einen ruhigen Tisch in einem Nebenraum und ließen sich daran nieder.

»Ich habe dir doch gesagt, dass wir in einem Gasthaus etwas Neues erfahren«, sagte Titus.

»Mir gefällt gar nicht, was der Wirt über diese Insel erzählt hat«, wimmerte Bramley und kletterte auf Hazels Schoß. »Wenn sie wirklich so unbezwingbar ist, wie er sagt …«

Hazel tippte auf seine Nasenspitze. »Lass uns erst mal abwarten, bis wir sie gesehen haben, bevor wir in Panik ausbrechen.«

Mr Treacher brachte ihnen frisches Bier und ein mit Brot, Butter, Käse und dicken Scheiben Schinken beladenes Brett. »Bitte sehr. Gebt mir Bescheid, falls Ihr noch irgendetwas braucht.«

»Da ist ja gar nichts für mich dabei«, winselte Bramley.

»Ich dachte, Ratten mögen Käse«, erwiderte Titus und biss genüsslich in eine Scheibe Brot.

Hazel sah, wie Bramley die Nackenhaare aufstellte, schnitt hastig ein Stück von ihrer Birne ab und legte sie in ihren Schoß, damit er daran knabbern konnte. Sie aßen schweigend, bis Titus sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und Hazel mit einem tiefen Stirnrunzeln betrachtete.

»Ja?«, fragte sie und stocherte in den Schinkenresten herum. »Spuck’s schon aus.«

»Ich will, dass du vorbereitet bist.«

»Worauf vorbereitet?«

»Ein Scheitern. Wenn ich in meinem langen und ereignisreichen Leben irgendetwas gelernt habe, dann, dass die Dinge oft kein glückliches Ende nehmen.« Er senkte gedankenverloren den Blick. »Verflucht, manchmal nehmen die Dinge gar kein Ende, sondern werden immer nur noch schlimmer.«

Hazel betrachtete das zerfurchte Gesicht des Hexenfinders und fragte sich zum allerersten Mal, welche Sorgen und Nöte er im Laufe der Jahre bereits durchlitten hatte. »Vielleicht hast du recht«, sagte sie. »Aber das wird mich nicht davon abhalten, es zu versuchen.«

»Ich bewundere deine Entschlossenheit, aber wenn etwas unmöglich ist, dann ist es unmöglich – und dann muss man sich nun einmal damit abfinden, richtig?«

Hazel verschränkte die Arme. »Falsch.«

»Schauen wir uns diese Insel doch erst mal an, ja?«, schlug Bramley vor. »Und dann können wir darüber diskutieren, was wir als Nächstes tun.«

Titus leerte den letzten Schluck von seinem Bier. »Na schön, aber erzähl mir hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, Schiet-Elfe.«

Sie wollten gerade gehen, als ein Mädchen mit schmutzigem Haar in einem zerlumpten Kleid an ihren Tisch trat und eine Hand ausstreckte. »Ein kleine Münze für eine Pest-Waise?«

Titus funkelte sie mit seinem finstersten Blick an. »Sehe ich aus, als hätte ich Geld zu verschenken?«

Hazel lächelte das Mädchen an und schob die Reste des Essens über den Tisch zu ihr hin. »Hier, nimm das.«

»Nicht die Birne!«, fauchte Bramley Hazel an. »Oh, zu spät«, fügte er niedergeschlagen hinzu, als das Mädchen hastig alles in ein dreckiges Taschentuch wickelte.

»Wie alt bist du?«, wollte Titus wissen.

»Elfeinhalb«, antwortete die Kleine.

»Elfeinhalb?«, platzte er heraus. »Du siehst aus wie sechs. Da hab ich ja schon mehr Fleisch an einer schmutzigen Gabel gesehen.«

Hazel verpasste ihm unter dem Tisch einen Tritt.

»Oh, von mir aus«, gab er sich geschlagen und reichte dem Mädchen ein paar Münzen. »Und jetzt verschwinde von hier.«

Das Mädchen machte einen kurzen Knicks und flitzte davon.

»Zu gutherzig, das ist mein Problem«, grummelte Titus.

Hazel schnaubte. »Komm jetzt, schauen wir uns diese Insel mal an.«

4
Flask und Stubbs

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»Wohlan, ins Kaffeehaus.«

Samuel Pepys, Parlamentsabgeordneter,
Friedensrichter und Tagebuchschreiber

6

Obwohl sie von ihrer Reise nach Southwark noch recht müde waren, rappelten Hazel und Titus sich erneut auf und traten in die erdrückende Nachmittagssonne hinaus. Bramley machte es sich hinter Hazels Ohr bequem und begann, seine Schnurrhaare vom Birnensaft zu säubern.

»Du solltest dir den Weg gut einprägen, Hazel«, sagte Titus. »Wenn wir uns verlieren, musst du alleine wieder hierher zurückfinden. Glaub mir, du willst dich in Southwark nicht verlaufen.«

»Mach dir um mich keine Sorgen. Ich habe einen ausgezeichneten Orientierungssinn.«

»Seit wann?«, meldete sich Bramley.

»Seit immer.«

Titus blieb in der Mitte des Vorhofs stehen. »Dann beweise es. Bring uns zurück zur Southwark High Road.«

»Na schön.« Hazel entschied sich für eine Gasse, von der sie sich ziemlich sicher war, dass sie sie bereits auf ihrem Weg zur Schänke entlanggekommen waren. »Wir müssen da lang.«

Durch die Hitze, die sich unter den Dachtraufen staute, bildete sich kribbelnder Schweiß auf ihrer Haut. Das Kleid klebte an ihrem Rücken. In beide Richtungen zweigten weitere Gassen ab, die noch schmaler waren, schon bald hinter Ecken verschwanden und nicht mehr zu sehen waren.

Sie blieb an einer Tür stehen, auf die ein großes rotes Kreuz gemalt war. »Was hat das zu bedeuten?«