Attwood, Margaret Das Herz kommt zuletzt

PIPER

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Für Marian Engel (1933–1985)

Angela Carter (1940–1992) und

Judy Merril (1923–1997)

 

Und, wie immer, für Graeme

 

Aus dem Englischen von Monika Baark


ISBN 978-3-8270-7937-4

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Heart Goes Last bei Bloomsbury Publishing Plc, London /New York.

© O. W. Toad Ltd. 2015

Für die deutsche Ausgabe

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2017

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Lawrence Manning / getty images

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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»Schneeiges Elfenbein mit seltnem Geschick und Gelingen schnitzt er indes und verleiht ihm Gestalt … Wirkliche Jungfrau scheint die Gestalt, und man meinte, lebendig sei sie und wolle, wofern nicht Scham es verböte, sich regen. So lässt Kunst nicht sehen die Kunst … Küsse auch gibt er und glaubt sie erwidert und spricht und umarmt sie …

Ovid, Metamorphosen, Zehntes Buch, Pygmalion

»Am Ende aber fühlen sich die Dinger einfach nicht richtig an. Sie sind aus gummiartigem Material, das sich nicht mal annähernd wie ein menschliches Körperteil anfühlt. Das wiederum versuchen sie wettzumachen, indem sie sagen, man soll sie erst in warmem Wasser einweichen und dann haufenweise Gleitcreme benutzen …«

Adam Frucci, »I Had Sex With Furniture«, Gizmodo, 10/17/09

»Verliebte und Verrückte

Sind beide von so brausendem Gehirn,

So bildungsreicher Phantasie, die wahrnimmt,

Was nie die kühlere Vernunft begreift.«

William Shakespeare, Ein Sommernachtstraum

I – WOHIN?

 

BEENGT

Das Schlafen im Auto ist beengt. Als Dritte-Hand-Honda ist es ohnehin schon kein Palast. Wär’s ein Transporter, hätten sie mehr Platz, aber sich so einen leisten zu können, nie im Leben, nicht mal damals, als sie noch Geld zu haben glaubten. Stan sagt, sie hätten Glück, überhaupt ein Auto zu haben, und das stimmt, aber dieses Glück macht das Auto nicht größer.

Charmaine findet eigentlich, dass Stan hinten schlafen sollte, weil er mehr Platz braucht – es wäre nur fair, er ist größer –, aber er muss vorne sein, um im Notfall schnell losfahren zu können. Unter solchen Bedingungen zu funktionieren, traut er Charmaine nicht zu: Sie wäre viel zu beschäftigt mit Schreien, sagt er. Also kann Charmaine den geräumigeren Rücksitz haben, wobei nicht mal sie sich ausstrecken kann, sondern sich wie eine Schnecke zusammenrollen muss.

Die Fenster lassen sie meist zu, wegen der Mücken und der Gangs und der allein herumziehenden Vandalen. Letztere haben eher selten Gewehre oder Messer dabei – wenn ja, muss man dreimal so schnell das Weite suchen –, sind aber dafür meist massiv gestört, und ein Irrer mit einem Stück Metall oder einem Stein oder selbst einem hochhackigen Schuh kann jede Menge Schaden anrichten. Die halten einen für einen Dämon oder einen Zombie oder eine Vampirhure, und nichts, was man auch nur irgendwie zur Beruhigung zu ihnen sagen könnte, wird sie von dieser Überzeugung abbringen. Wie Oma Win immer zu sagen pflegte: Um Verrückte sollte man einen Bogen machen oder am besten gleich die Beine in die Hand nehmen.

Bei den bis auf einen winzigen Spalt geschlossenen Fenstern wird die Luft irgendwann knapp und schwer von ihren eigenen Ausdünstungen. Es gibt kaum Möglichkeiten, zu duschen oder seine Sachen zu waschen, und das schlägt Stan aufs Gemüt. Auch Charmaine schlägt es aufs Gemüt, aber sie bemüht sich, dieses Gefühl zu verdrängen und die Sache positiv zu sehen, denn was nützt das Jammern?

Was nützt überhaupt irgendwas?, denkt sie des Öfteren. Aber was soll es nützen, auch nur zu denken, Was nützt es? Also sagt sie stattdessen: »Sind wir doch optimistisch, Schatz!«

»Wozu?«, könnte Stan erwidern. »Nenn mir einen verdammten Grund, verdammt noch mal optimistisch zu sein.« Oder er könnte sagen: »Halten wir lieber die Klappe, Schatz«, wobei er ihren leichten, positiven Tonfall imitiert, was gemein von ihm ist. Er kann gemein sein, wenn er schlechte Laune hat, doch im Grunde seines Herzens ist er ein guter Mann. Die meisten Menschen sind im Grunde ihres Herzens gut, wenn sie die Chance bekommen, ihre Güte zu zeigen: Charmaine ist wild entschlossen, auch weiterhin daran zu glauben. Eine Dusche bringt das Gute im Menschen hervor, denn, wie Oma Win zu sagen pflegte: Reinlichkeit kommt gleich nach Frömmigkeit, und Frömmigkeit bedeutet Gutmütigkeit.

Das war so einer ihrer Sprüche, genau wie: Deine Mutter hat sich nicht das Leben genommen, das ist dummes Gerede. Dein Vater hat sein Bestes getan, aber irgendwann wurde es ihm zu viel. Du solltest wirklich versuchen, alles andere zu vergessen, ein Mann ist nicht zurechnungsfähig, wenn er getrunken hat. Und dann sagte sie: Lass uns Popcorn machen!

Und dann machten sie Popcorn, und Oma Win sagte: Guck nicht aus dem Fenster, Herzchen, das willst du gar nicht sehen, was die da draußen machen. Das ist nicht schön. Die brüllen einfach aus Lust und Laune. Das ist Selbstdarstellung. Komm, setz dich zu mir. Es ist doch jetzt alles gut, denn schau, du bist hier, und wir sind jetzt glücklich und in Sicherheit!

Aber es war nicht von Dauer. Das Glück. Die Sicherheit. Das Jetzt.

WOHIN?

Stan rutscht im Fahrersitz hin und her und sucht nach einer bequemen Lage. Aber keine Chance. Was kann er also tun? Wohin können sie sich wenden? Es gibt keinen sicheren Ort, es gibt keine Anweisungen. Es ist wie von einem heftigen, aber sinnlosen Wind im Kreis herum geweht zu werden. Ausweglos.

Er fühlt sich so einsam, und Charmaines Gegenwart verstärkt dieses Gefühl manchmal sogar noch. Er hat sie enttäuscht.

Ja, er hat einen Bruder, aber das wäre die letzte Instanz. Er und Conor haben damals, höflich ausgedrückt, getrennte Wege eingeschlagen. Unhöflich ausgedrückt: eine betrunkene nächtliche Schlägerei mit dem großzügigen Austausch von Worten wie Wichser und Schlappschwanz und Gehirnamputierter, das war der Weg, für den Conor sich bei ihrer letzten Begegnung entschieden hatte. Streng genommen hatte auch Stan diesen Weg gewählt, nur hatte er noch nie so ein dreckiges Mundwerk gehabt wie Con.

Stans Ansicht nach – seiner damaligen Ansicht nach – stand Conor schon immer mit einem Fuß im Gefängnis. Stan dagegen war in Cons Augen ein Opfer des Systems, Arschkriecher, Witzfigur und Feigling. Eier wie ’ne Kaulquappe.

Wo ist er heute, der aalglatte Con, was treibt er? Zumindest wird er im großen Wirtschafts- und Finanzcrash, der diesen Teil des Landes in eine Rostlaube verwandelt hat, nicht seinen Job verloren haben: Wer keinen Job hat, kann ihn nicht verlieren. Anders als Stan wird er nicht entlassen, vertrieben und zu einem hektischen Flüchtlingsleben mit verklebten Augen und ungewaschenen Achselhöhlen verurteilt worden sein. Con hat immer von dem gelebt, was er anderen abschwatzen oder abnehmen konnte, schon seit frühester Kindheit. Stan hat alles noch auf dem Schirm, sein Schweizer Messer, mühsam zusammengespart, seinen Transformer, seinen Nerf-Blaster mit Schaumstoffmunition: Alles war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt, während sein kleiner Bruder Con immer nur kopfschüttelnd dastand und sagte: Wer, ich? Ich doch nicht!

Nachts schreckt Stan aus dem Schlaf und glaubt für einen Moment, er sei zu Hause in seinem Bett oder wenigstens in irgendeinem Bett. Er tastet nach Charmaine, aber sie liegt nicht neben ihm, und dann fällt es ihm wieder ein, er ist in seinem miefigen Auto und muss pinkeln, hat aber Angst, die Tür aufzumachen wegen der plärrenden Stimmen und der Schritte, die knirschend über den Kies oder donnernd über den Asphalt kommen, und vielleicht wegen der Faust, mit der irgendeiner gegen das Autodach hämmert, bevor ein vernarbtes Gesicht mit grinsendem Mund voller Zahnstümpfe durchs Fenster glotzt: Na, wen haben wir denn da! Fickware! Mach auf die Karre! Gib mal die Brechstange!

Und dann Charmaines entsetztes Flüstern: »Stan! Stan! Wir müssen hier weg!« Ach was. Der Zündschlüssel steckt immer. Aufheulender Motor, quietschende Reifen, Gebrüll und Gejohle, Herzrasen, und dann? Alles wieder auf Anfang, anderer Parkplatz, andere Seitenstraße, irgendwo anders. Ein Maschinengewehr müsste man haben; was Kleineres würde es nicht mal annähernd bringen. So jedoch ist Flucht seine einzige Waffe.

Er fühlt sich vom Unglück verfolgt, als wäre das Unglück ein Straßenhund, der seine Witterung aufgenommen hat, der hinter der nächsten Biegung lauert. Der unterm Gebüsch hervorspäht, um ihn mit seinem bösen Blick, seinem gelben Augenpaar zu fixieren. Vielleicht braucht er vor allem einen Hexendoktor, irgendeinen handfesten Voodoozauber. Dazu ein paar Hunderter, um die Nacht im Hotel verbringen zu können, mit Charmaine an seiner Seite statt unerreichbar auf dem Rücksitz. Das wäre das Mindeste: Sich mehr zu wünschen würde den Bogen überspannen.

Charmaines Mitgefühl macht die Sache nicht besser. Sie gibt sich so viel Mühe. »Du bist kein Versager«, sagt sie. »Nur weil wir das Haus verloren haben und im Auto schlafen müssen, und nur weil du …« Gefeuert wurdest will sie nicht sagen. »Du hast nicht aufgegeben, zumindest suchst du immer noch Arbeit. Das mit dem Haus, und, und … so was ist vielen passiert. Den meisten.«

»Aber nicht allen, verdammte Scheiße«, sagt Stan dann. »Nicht allen.«

Nicht den Reichen.

 

Anfangs war alles so vielversprechend gewesen. Sie hatten beide einen Job. Charmaine arbeitete als Eventmanagerin in einem Seniorenheim der Ruby-Slippers-Kette – sie habe ein Händchen für ältere Menschen, sagten ihre Vorgesetzten – und machte dort gerade Karriere. Auch er war erfolgreich: Er war bei Emo-Robotics in der Qualitätssicherung, er testete das Empathiemodul für die Kundenbetreuung. Die Leute wollten nicht nur ihre Einkäufe in Tüten gepackt bekommen, erklärte er Charmaine damals gern: Sie wollten das Rundum-Shoppingerlebnis, und dazu gehörte ein Lächeln. Und das hatte seine Tücken; ein Lächeln konnte schnell zur Grimasse oder zu einem anzüglichen Grinsen werden, aber wenn man’s überzeugend rüberbrachte, waren die Leute spendabler. Wahnsinn, wenn man bedenkt, wofür die Leute damals Geld ausgegeben haben.

Sie heirateten im kleinen Kreis – nur Freunde, da es auf beiden Seiten kaum noch Familie gab, die Eltern waren tot, auf die eine oder andere Art. Charmaine sagte, ihre Eltern hätte sie ohnehin nicht eingeladen, und dabei blieb es, weil sie nicht gern darüber redete, nur ihre Oma Win, die hätte sie gern dabeigehabt. Und wer wusste schon, wo Conor gerade war? Stan machte sich nicht eigens auf die Suche, denn Con hätte ja doch nur versucht, Charmaine zu begrabschen oder anderweitig Aufmerksamkeit zu heischen.

Dann hatten sie die Flitterwochen in Georgia verbracht. Ein echtes Highlight. Da sind sie, die beiden, auf den Fotos, goldblond und lächelnd in einem Dunst aus glitzerndem Sonnenlicht, und prosten sich zu mit ihrem – was war das noch mal, irgendein tropischer, limettenlikörlastiger Cocktail. Charmaine in einem geblümten schulterfreien Retro-Top und Wickelrock, Hibiskusblüte hinterm Ohr, die blonden Haare glänzend und vom Wind zerzaust, er in einem grünen Hemd mit Pinguinen, ausgesucht von Charmaine, und mit Panamahut; na ja, keinem echten, aber das war die Idee. Sie wirkten so jung, so unberührt. So begierig aufs Leben.

Stan schickte Conor ein Foto, um ihm zu beweisen, dass er endlich ein Mädchen hatte, das Conor ihm nicht abspenstig machen konnte; auch als Beispiel für den Erfolg, den selbst Con erwarten könnte, wenn er denn mal zur Ruhe kommen und anständig werden und nicht dauernd im Knast landen und aufhören würde, am Rande der Gesellschaft krumme Dinger zu drehen. Nicht dass Con nicht schlau war: Er war eher zu schlau. Er ließ halt nichts anbrennen.

Con schrieb zurück: Titten und Arsch nicht übel, großer Bruder. Kann sie kochen? Die Pinguine sind aber scheiße. Typisch Con: immer diese hämischen Bemerkungen, immer austeilen. Das war, bevor er sich aus dem Netz verabschiedet und jeglichen Kontakt unmöglich gemacht hatte.

 

Oben im Norden hatten sie damals eine Anzahlung auf ein Haus geleistet, ihr erstes kleines Häuschen, das etwas Zuwendung brauchte, aber mit genug Platz für die Familienplanung, wie der Makler mit einem Augenzwinkern sagte. Es schien erschwinglich, aus heutiger Sicht jedoch war der Kauf eine Fehlentscheidung – es gab Renovierungsarbeiten, Reparaturen, also zusätzliche Belastungen. Sie redeten sich ein, sie könnten es stemmen: Sie lebten sparsam, sie arbeiteten hart. Und das war das Fatale: die Schufterei. Er hatte sich den Arsch aufgerissen. Hätte er sich alles schenken können angesichts dessen, was ihm geblieben war. Er könnte ausrasten bei dem Gedanken, wie er geschuftet hatte.

Dann ging alles vor die Hunde. Gefühlt über Nacht. Nicht nur in seinem Leben; das ganze Kartenhaus, das ganze System fiel in sich zusammen, Abermillionen Dollar wurden von den Bilanzen gewischt wie Dunst von einer Scheibe. Horden von billigen Experten gaben im Fernsehen vor zu erklären, wie es passiert war – Demografie, Vertrauensverlust, ein gigantisches Schneeballsystem –, alles Schwachsinn, reine Spekulation. Irgendwer hatte gelogen, irgendwer hatte getrickst, irgendwer hatte Leerverkäufe gemacht, irgendwer die Inflation geschaffen. Zu wenig Jobs, zu viele Menschen. Oder nicht genug Jobs für Normalverbraucher wie Stan und Charmaine. Den Nordosten, ihre Gegend, traf es am härtesten.

Die Zweigstelle von Charmaines Seniorenheim geriet in finanzielle Not: Die Ruby-Slippers-Kette war im oberen Preissegment, und viele Familien konnten es sich nicht mehr leisten, ihre alten Leute dort zu parken. Die Zimmer leerten sich, Betriebskosten wurden gekürzt. Charmaine bewarb sich auf eine andere Stelle – an der Westküste ging es der Kette immer noch gut –, aber statt Versetzung kam die Freisetzung. Dann brach Emo-Robotics die Zelte ab und zog nach Westen, und Stan bekam nicht einmal eine Abfindung.

Sie saßen in ihrem neuen Haus auf ihrem neuen Sofa mit den passenden geblümten Dekokissen, nach denen Charmaine so lange gesucht hatte, hielten sich in den Armen und beteuerten einander ihre Liebe, und Charmaine weinte und Stan tätschelte ihr den Rücken und fühlte sich nutzlos.

Charmaine fand einen befristeten Job als Kellnerin; als der Laden dichtmachen musste, fand sie einen neuen Job. Dann wieder einen neuen, in einer Bar. Alles keine Nobelschuppen; die machten alle zu, denn jeder, der sich tolles Essen leisten konnte, verschlang es weiter im Westen oder in irgendwelchen exotischen Ländern, wo Mindestlohn ein Fremdwort war.

Stan hatte nicht so viel Glück mit seinen Nebenjobs: Er sei überqualifiziert, hieß es bei der Stellenvermittlung. Er beteuerte, er sei nicht wählerisch – er würde auch Fußböden wischen oder Rasen mähen –, worauf sie spöttisch grinsten (welche Fußböden? Welchen Rasen?) und versprachen, ihn in ihre Kartei aufzunehmen. Aber dann machte die Stellenvermittlung selbst zu, denn was nützte eine Stellenvermittlung, wenn es keine Stellen gab?

 

Sie hielten an ihrem Häuschen fest, lebten von Fastfood und dem Verkauf ihrer Möbel, sparten an Strom und Heizung und saßen im Dunkeln, hoffend, dass sich die Dinge zum Besseren wenden würden. Am Ende warfen sie das Haus auf den Markt, aber es gab keine Käufer mehr; die Nachbarhäuser zu beiden Seiten standen schon leer, die Plünderer waren damit durch und hatten alles ausgeräumt, was sich zu Geld machen ließ. Eines Tages war kein Geld mehr da für die Hypothekenzahlung, und ihre Kreditkarten wurden gesperrt. Sie gingen freiwillig, bevor man sie auf die Straße setzte, sie fuhren davon, bevor die Gläubiger ihr Auto pfänden konnten.

Zum Glück hatte Charmaine etwas Bargeld gehortet. Das und ihr kleines Gehalt aus der Bar plus Trinkgeld reichte bisher für Benzin und ein Postfach, falls doch noch was auftauchte für Stan, und hin und wieder für den Waschsalon, wenn sie’s in ihren dreckigen Klamotten nicht mehr aushielten.

Zweimal hatte Stan sein Blut verkauft, aber nicht viel dafür bekommen. »Sie werden’s nicht glauben«, sagte die Frau, als sie ihm nach der zweiten Blutabnahme einen Pappbecher künstlichen Fruchtsaft reichte, »aber wir hatten schon Leute, die haben uns gefragt, ob wir nicht das Blut ihres Babys kaufen wollten, das müssen Sie sich mal vorstellen.«

»Echt?«, sagte Stan. »Wieso? Babys haben doch gar nicht so viel Blut.«

Es sei kostbarer, lautete die Antwort. In der Zeitung habe gestanden, eine komplette Bluterneuerung, junges Blut gegen altes, könne vor Altersdemenz schützen und die biologische Uhr bis zu dreißig Jahre zurückdrehen. »Bisher wurde es nur an Mäusen ausprobiert«, sagte sie. »Mäuse sind keine Menschen! Aber es gibt Leute, die greifen nach jedem Strohhalm. Wir haben bestimmt ein Dutzend Babyblut-Angebote abgelehnt. Wir sagen immer, das können wir nicht annehmen.«

Irgendjemand nimmt es aber an, dachte Stan. Darauf kannst du wetten. Hauptsache, es bringt Geld.

 

Könnten die beiden doch nur irgendwohin, wo die Aussichten besser sind. Oregon boomt ja angeblich – angetrieben durch die Entdeckung von Seltenerdmetallen, der Hauptabnehmer ist China –, aber wie hinkommen? Sie müssten auf Charmaines Geldrinnsal verzichten, und irgendwann wäre das Benzin alle. Sie könnten das Auto stehen lassen und versuchen zu trampen, aber Charmaine hat schreckliche Angst davor. Das Auto ist ihr einziger Schutz vor einer Gruppenvergewaltigung, und das gelte nicht nur für sie, sagt Charmaine, wenn man bedenke, was nachts da draußen ohne Hosen durch die Gegend streift. Und sie hat recht.

Was soll er tun, um sie aus dieser Misere zu retten? Er würde alles machen. Die Arbeitswelt wimmelte einst von Arschkriecherjobs, aber die Ärsche sind unerreichbar geworden. Die Banken haben die Region verlassen, ebenso wie die Betriebe; die Überflieger-Start-ups sind auf fetteres Weideland in gedeihlichere Regionen und Nationen abgewandert. Früher galt der Servicesektor als Heilsversprechen, aber diese Jobs sind zu selten, zumindest hier in der Gegend. Ein inzwischen verstorbener Onkel von Stan war Koch, damals zu der Zeit, als Koch noch eine gute Sache war, weil die Oberschicht auf dem Festland lebte und Nobelrestaurants glamourös waren. Anders als heute, wo dieserart Kunden auf steuerbefreiten Meeresplattformen hinter der Offshore-Grenze vor sich hin dümpeln. Leute, die so reich sind, nehmen ihre Köche mit.

 

Wieder Mitternacht, wieder ein Parkplatz. Es ist der dritte in dieser Nacht; von den ersten beiden mussten sie fliehen. Jetzt sind sie so nervös, dass sie nicht mehr schlafen können.

»Vielleicht sollten wir’s noch mal am Automaten probieren«, sagt Charmaine. Sie hatten ein Mal gespielt und zehn Dollar gewonnen. Nicht viel, aber immerhin hatten sie nicht alles verloren.

»Auf keinen Fall«, sagt Stan. »Das können wir nicht riskieren. Wir brauchen das Geld für Benzin.«

»Hier, nimm einen Kaugummi, Schatz«, sagt Charmaine. »Entspann dich ein bisschen. Schlaf jetzt. Dein Gehirn ist zu aktiv.«

»Welches Gehirn?« Gekränktes Schweigen: Er sollte es nicht an ihr auslassen. Arschloch, sagt er zu sich. Sie kann doch nichts dafür.

Morgen wird er seinen Stolz überwinden. Er wird Conor aufspüren, er wird ihn unterstützen bei seinen krummen Deals, egal was es gerade ist, er wird sich der kriminellen Halbwelt anschließen. Er hat schon eine Idee, wo er anfangen kann zu suchen. Vielleicht haut er Con auch einfach nur um Geld an, vorausgesetzt, Con ist flüssig. Früher war es genau umgekehrt, früher hat Conor ihn angehauen, als sie noch jünger waren und bevor Conor dahinterkam, wie man das System austrickst – jetzt wird er es tunlichst vermeiden, Conor an die frühere Rollenverteilung zu erinnern.

Oder vielleicht sollte er das doch tun. Con ist ihm einiges schuldig. Er könnte sagen, jetzt bin ich dran, oder so was. Nicht dass er am längeren Hebel säße. Aber dennoch, Con ist sein Bruder. Und er ist Cons Bruder. Für irgendetwas muss das doch gut sein.

II – ‎PITCH

 

GEBRÄU

Es war keine gute Nacht. Charmaine bemühte sich noch um ein tröstliches Wort: »Wir wollen uns auf das konzentrieren, was wir haben, ja?«, hatte sie in die feuchtwarme miefige Dunkelheit des Autos hinein gesagt. »Wir haben uns.« Sie hatte Anstalten gemacht, über den Vordersitz zu greifen und Stan zu berühren, ihn zu beruhigen, aber dann hatte sie sich besonnen. Stan könnte es falsch verstehen, er würde zu ihr auf die Rückbank wollen, er würde Sex haben wollen, und das konnte extrem unbequem werden, zu zweit dahinten; sie würde mit dem Kopf gegen die Autotür gedrückt werden und langsam vom Sitz rutschen und Stan würde sie bearbeiten, als wenn sie ein Job wäre, den er ganz schnell hinter sich bringen müsste, und ihr Kopf würde gegen die Innenseite der Tür schlagen, wumms wumms wumms. Es war nicht gerade inspirierend.

Außerdem wäre es ihr unmöglich, sich zu konzentrieren, denn es könnte sich draußen immer jemand anschleichen, und was dann? Stan hätte die Hose in den Kniekehlen und müsste so schnell wie möglich auf den Vordersitz klettern und den Motor starten, und die Gangster würden gegen die Scheiben trommeln und versuchen, sie aus dem Wagen zu zerren. Aber in erster Linie ginge es nicht um sie. Worauf sie es abgesehen hätten, das einzig wirklich Wertvolle, wäre das Auto. Sie wäre nur ein Nebenprodukt, nachdem sie Stan beseitigt hätten.

Es waren schon Autobesitzer auf die Straße geworfen worden, ganz in der Nähe, abgestochen und mit eingeschlagenem Schädel verblutet. Es kümmert sich niemand mehr um diese Fälle, niemand sucht nach den Tätern, das würde ja Zeit kosten, und nur reiche Leute können sich Polizei leisten. Alles, was wir nie zu schätzen wussten, bis wir’s nicht mehr hatten, wie Oma Win immer sagte, denkt Charmaine reumütig.

Oma Win wollte auf keinen Fall ins Krankenhaus, als sie schwer krank wurde. Viel zu teuer, sagte sie zu Recht. Also starb sie zu Hause; bis zuletzt von Charmaine gepflegt. Verkauf das Haus, Liebes, hatte Oma Win gesagt, als sie noch klar im Kopf war. Geh studieren, mach das Beste aus dir. Du kriegst das hin.

Und Charmaine hatte das Beste aus sich gemacht. Sie hatte Gerontologie und Spieltherapie studiert, weil Oma Win sagte, damit hätte sie beide Seiten abgedeckt, sie sei empathisch und habe eine besondere Gabe, Menschen zu helfen. Sie hatte ihr Studium abgeschlossen.

Nicht dass das jetzt noch irgendeine Rolle spielen würde.

 

Wenn irgendwas passiert, ist jeder von uns auf sich selbst gestellt, sagt Stan viel zu oft zu ihr. Kein beruhigender Gedanke. Kein Wunder, dass er’s so eilig hat, wenn er es dann doch mal schafft, sich auf sie zu wälzen. Er muss ununterbrochen auf der Hut sein.

Also hat sie Stan letzte Nacht nicht berührt, sondern geflüstert: »Schlaf gut. Ich liebe dich.«

Stan sagte irgendetwas. »Ich dich auch« vielleicht, wobei es eher wie ein Murmeln klang, mit einem sanften Schnauben. Wahrscheinlich schlief er schon, der Arme. Er liebt sie wirklich, er werde sie immer lieben, hat er gesagt. Sie war so dankbar damals, als sie ihn gefunden hat oder als er sie gefunden hat. Als sie einander gefunden haben. Er war so ausgeglichen und zuverlässig. So wäre sie auch gern, ausgeglichen und zuverlässig, selbst wenn sie ihre Zweifel hat, dass sie das jemals hinkriegt, denn sie ist furchtbar schreckhaft. Aber sie muss härter werden. Sie braucht ein bisschen mehr Mumm. Sie will keine Last sein.

 

Sie wachen beide früh auf – es ist jetzt Sommer, das Licht dringt viel zu hell durch die Scheiben. Vielleicht sollten sie sich Vorhänge anschaffen, denkt Charmaine. Dann bekämen sie mehr Schlaf und wären weniger gereizt.

Im nächstgelegenen Einkaufszentrum holen sie sich Schoko-Donuts vom Vortag und kochen sich im Auto mit dem Tauchsieder Instantkaffee, der viel billiger ist als der Kaffee aus dem Donutladen.

»Fast wie ein Picknick«, sagt Charmaine munter, wobei das Ganze – bei leichtem Nieselregen im Auto zu sitzen und alte Donuts zu essen – wenig von einem Picknick hat.

Stan geht auf ihrem Prepaid-Telefon die Websites mit den Stellenangeboten durch, was sich als deprimierend erweist. Immer wieder sagt er: »Nichts, Scheiße, nichts, Scheiße, nichts«, also sagt Charmaine, wie wär’s mit einer Runde Joggen? Damals, als sie noch ihr Haus hatten, haben sie so etwas oft gemacht: früh aufstehen, vor dem Frühstück joggen gehen und danach eine heiße Dusche. Man fühlt sich so energiegeladen, so sauber. Aber Stan guckt sie an, als hätte sie den Verstand verloren, und sie sieht es ein, ja, es wäre bescheuert, das Auto mit ihrem ganzen Zeug drin, Kleidung zum Beispiel, unbeaufsichtigt zu lassen und sich zusätzlich auch noch all den Gefahren auszusetzen, denn wer weiß, was im Gebüsch lauert? Außerdem, wo sollten sie joggen? Durch die Straßen mit den verrammelten Häusern? Parks sind zu gefährlich, die sind voll mit Drogensüchtigen, das weiß jeder.

»Joggen, klar«, sagt Stan nur. Er ist ruppig und schlecht gelaunt, und er müsste sich mal die Haare schneiden lassen. Vielleicht kann sie ihn nachher mit einem Handtuch und einem Rasierer in ihre Bar schmuggeln, damit er sich in der Männertoilette waschen und rasieren kann. Kein Luxus, aber es kommt immerhin noch Wasser aus der Leitung. Zwar rostrot, aber Wasser.

 

PixelDust heißt die Bar. Sie stammt noch aus der Zeit, als es hier einen Mini-Boom gab – einen Haufen Start-ups und App-Entwickler –, und die jungen Nerds sollten mit Games und Tischfußball und Pool und Online-Autorennen angelockt werden. Es gibt große Flachbildschirme, auf denen als cooler Wandschmuck damals Filme ohne Ton liefen; einer ist kaputt und über die anderen flimmert nur noch normales Fernsehen, auf jedem eine andere Sendung. Es gibt ein paar kleine Nischen und Ecken für intelligente Gespräche – Thinktank, hieß dieser Bereich. Das Schild ist noch da, nur hat irgendwer mal das Wort Think durchgestrichen und durch das Wort Fuck ersetzt, weil zwei Nutten dort regelmäßig ihre Dienste anbieten. Als es vorbei war mit dem Mini-Boom, hat irgendein Klugscheißer die Pixel-Hälfte des LED-Schilds demoliert, und jetzt steht da nur noch Dust.

Im wahrsten Sinn des Wortes, denkt Charmaine: Auf allem liegt eine permanente Schmutzschicht. Die Luft riecht nach ranzigem Fett vom Hähnchengrill nebenan; die Kunden bringen das Essen in Papiertüten mit und reichen es herum. Die Chicken Wings sind ziemlich widerlich, doch Charmaine greift trotzdem zu, wenn ihr etwas angeboten wird.

Den Laden gäbe es längst nicht mehr, wäre er nicht, wie sie vermutet – oder eigentlich sogar weiß –, die Hauptanlaufstelle der örtlichen Drogendealer. Hier treffen sie ihre Lieferanten und Kunden; sie brauchen keine Angst zu haben, dass sie erwischt werden, nicht hier, nicht mehr. Es gibt ein paar Stammgäste, dazu die beiden Nutten, zwei harmlose, lustige Mädchen, gerade mal neunzehn. Beide sind sehr hübsch, die eine ist blond, die andere hat lange dunkle Haare. Sandi und Veronica, aufgebrezelt in Paillettentops und ultrakurzen Shorts. Beide waren an der Uni, bevor alle hier ihr Geld verloren, das behaupten sie zumindest.

Es wird nicht mehr lange gutgehen mit den beiden, jedenfalls ist Charmaine dieser Meinung. Entweder werden sie verprügelt und sie beenden das hier, oder sie resignieren und fangen an, diese Drogen zu nehmen, was auf dasselbe hinausläuft. Oder ein Zuhälter nimmt sich ihrer an; oder sie verschwinden eines Tages durch ein Loch im Universum, und niemand wird sie jemals wieder erwähnen wollen, denn sie werden tot sein. Ein Wunder, dass noch nichts von alldem passiert ist. Charmaine würde ihnen dringend raten, hier abzuhauen, aber wohin, und außerdem geht es sie nichts an.

Wenn sie nicht im Fucktank beschäftigt sind, sitzen sie am Tresen und trinken Light-Getränke und plaudern mit Charmaine. Sandi erzählte ihr mal, sie würden nur anschaffen, während sie auf richtige Arbeit warteten, und Veronica sagte: »Ich arbeite mir den Arsch ab«, und dann lachten beide. Sandi möchte Fitnesstrainerin werden, Veronica Krankenschwester. So, wie sie reden, könnte man meinen, das wäre realistisch. Charmaine widerspricht ihnen nicht, denn Wunder gibt es immer wieder, wie Oma Win zu sagen pflegte. Dass Charmaine zu ihr gezogen sei – das sei zum Beispiel ein Wunder gewesen!

Also wer weiß? Sandi und Veronica waren ein paarmal da, als Stan sie von der Arbeit abholte, und sie hatte sie notgedrungen miteinander bekannt machen müssen. Draußen im Auto sagte er: »Werd diesen Nutten gegenüber bloß nicht zutraulich«, und Charmaine sagte, sie sei nicht zutraulich, die beiden seien eigentlich total süß, und er sagte, süß, genau, was ihrer Meinung nach nicht sehr nett von ihm war. Doch sie hielt ihren Mund.

Hin und wieder kommen Fremde reingeschneit, junge Typen meist, Touristen aus wohlhabenderen Ländern oder Städten, die sich mal unters Volk mischen wollen, auf der Suche nach dem billigen Kick; dann muss sie wachsam sein. Sie kennt inzwischen viele der Stammgäste, von denen wird sie in Ruhe gelassen – es hat sich herumgesprochen, dass sie nicht so ist wie Sandi und Veronica, sie hat einen Mann –, und nur ein Neuer könnte auf dumme Ideen kommen.

Sie hat die Nachmittagsschicht, da ist es ziemlich ruhig. Die Abendschicht wäre besser fürs Trinkgeld, aber Stan will nicht, dass sie abends arbeitet, da seien zu viele Besoffene, wobei er da vielleicht nachgeben muss, falls sie die Schicht angeboten bekommt, denn ihr Geldvorrat geht langsam echt zur Neige. Nachmittags sind es nur sie und Deirdre, ein Überbleibsel aus besseren PixelDust-Zeiten – sie war mal Programmiererin, sie hat ein Möbiusband-Tattoo auf dem Arm und immer noch zwei mädchenhafte braune Zöpfe, diesen leicht schrägen Detektivin-Harriet-Look. Und dann ist da noch Brad, der Randalierern wenn nötig böse Blicke zuwirft.

Sie kann auf den Flachbildschirmen fernsehen, alte Elvis-Filme aus den Sechzigern, die haben was total Beruhigendes; oder Soaps, auch wenn die eigentlich gar nicht lustig sind, und überhaupt sind Komödien kalt und herzlos, sie machen sich lustig über menschliches Elend. Viel lieber sind ihr die Dokudramen, wo Leute entführt oder vergewaltigt oder in ein finsteres Loch gesperrt werden und man eigentlich nicht lachen soll. Man soll verstört sein, so wie man es wäre, wenn es einem selbst passieren würde. Verstört zu sein ist ein Gefühl von Wärme, von Nähe, kein distanziertes, unterkühltes Gefühl wie beim Auslachen von Leuten.

Früher hat sie immer eine Realityshow – nein, keine Sitcom – namens Heimatfront mit Lucinda Quant geguckt. Lucinda war mal eine superwichtige Moderatorin, aber dann wurde sie älter, und dann lief Heimatfront nur noch auf Kabel. Lucinda zog durch die Gegend und interviewte Leute, die zwangsgeräumt wurden, und man konnte zugucken, wie die ganze Habe dieser Menschen auf der Straße landete, Sofas und Betten und Fernseher, was total traurig war, aber auch interessant, alles, was sie sich mal gekauft hatten, und Lucinda fragte sie, was ihnen im Leben passiert sei, und sie erzählten, wie hart sie gearbeitet hätten, aber dann habe die Fabrik zugemacht oder das Stammhaus sei umgezogen oder was auch immer. Die Zuschauer sollten dann Geld spenden, um diesen Leuten zu helfen, was manchmal sogar geschah, und das war dann der Beweis für das Gute im Menschen.

Charmaine fand Heimatfront ermutigend, denn was ihr und Stan passiert war, konnte jedem passieren. Doch dann erkrankte Lucinda Quant an Krebs und bekam eine Glatze und begann direkt aus dem Krankenhaus Videos von ihrer Krankheit zu posten, und das fand Charmaine deprimierend, also hörte sie auf, Lucinda zu gucken. Wobei sie ihr alles Gute und baldige Genesung wünschte.

Manchmal plaudert sie mit Deirdre. Sie erzählen sich ihre Lebensgeschichte; die von Deirdre ist schlimmer als die von Charmaine, mit weniger liebevollen Erwachsenen wie Oma Win und mehr Missbrauch, auch eine Abtreibung kommt vor; nichts, wozu sich Charmaine jemals durchringen könnte. Im Moment nimmt sie die Pille, sie kriegt sie billig über Deirdre, aber sie wollte immer ein Baby, wobei sie keine Ahnung hat, was wäre, wenn sie aus Versehen schwanger würde, jetzt, wo sie und Stan im Auto leben. Andere Frauen – die von früher, zähere Frauen – sind ja auch mit Babys auf engem Raum zurechtgekommen, zum Beispiel auf Ozeandampfern und Planwagen. Aber vielleicht nicht in Autos. Gerüche gehen so schwer aus Autopolstern raus, also müsste man besonders aufpassen, wenn das Baby spuckt und so weiter.

 

Gegen elf essen sie und Stan noch einen Donut. Dann machen sie halt hinter einem Suppenlokal, aber sie haben Pech, die Müllcontainer sind alle schon zerpflückt worden. Gegen Mittag fährt Stan sie zum Waschsalon in einem der Einkaufszentren – den kennen sie, zwei der Maschinen funktionieren noch –, und er passt auf das Auto auf, während sie eine Ladung Wäsche wäscht und mit ihrem Telefon bezahlt. Alles Weiße hat sie entsorgt – sogar ihre Baumwollnachthemden – und durch Farbiges ersetzt. Es ist einfach zu schwierig, weiße Sachen wieder sauber zu kriegen, und sie hasst schmuddelige Klamotten. Zu Mittag essen sie ein paar Scheiben Käse und einen alten Bagel, dazu noch eine Tasse Instantkaffee. Heute Abend wird es was Besseres geben, weil Charmaine ihren Lohn bekommt.

Dann fährt Stan sie zum Dust und verspricht ihr, sie um sieben wieder abzuholen.

Brad sagt, Deirdre habe sich krankgemeldet, aber das ist okay, es ist ohnehin nicht viel los. Es sitzen nur ein paar Typen an der Bar und trinken Bier. Auf der Tafel stehen tolle Mixgetränke, die jedoch nie einer bestellt.

Sie macht sich auf die übliche nachmittägliche Langeweile gefasst. Sie arbeitet hier erst seit ein paar Wochen, doch es fühlt sich länger an. Warten, warten, warten, bis sich Leute entscheiden, bis irgendetwas passiert. Es erinnert sie ans Ruby-Slippers-Seniorenheim, dessen Motto war: »Zu Hause ist’s am schönsten«, was, so gesehen, ein bisschen krank war, da die Leute ja gerade deshalb dort lebten, weil sie zu Hause nicht mehr zurechtkamen. Meist brachte man den alten Leuten in regelmäßigen Abständen Mahlzeiten und Getränke, genau wie im Dust, war nett zu ihnen, genau wie im Dust, und lächelte viel, genau wie im Dust. Hin und wieder organisierte sie etwas Unterhaltung: therapeutische Clowns, therapeutische Hunde, einen Zauberer oder irgendeine Musikgruppe, die ein gutes Werk tun wollten. Aber meist passierte sehr wenig, wie in diesen Tiercam-Websites mit den Adlerjungen, bis sie urplötzlich unter Krächzen und Federnstieben zerfleischt werden. Genau wie im Dust. Wobei in der Bar selbst niemand zusammengeschlagen wird, wenn es sich irgendwie verhindern lässt.

»Noch ’n Bier«, sagt ein Mann an der Bar. »Dasselbe noch mal.« Charmaine lächelt unpersönlich und bückt sich, um die Flasche aus dem Kühlschrank zu holen. Beim Aufrichten sieht sie sich im Spiegel – sie sieht immer noch gut aus, wirkt trotz der unruhigen Nacht nicht allzu müde – und ertappt den Mann dabei, wie er sie anglotzt. Sie wendet den Blick ab. Hat sie sich zu aufreizend gebückt? Nein, sie hat nur ihren Job gemacht. Soll er doch glotzen.

Letzte Woche fragten Sandi und Veronica, ob sie nicht auch Lust hätte auf ein paar Freier. Damit würde sie mehr verdienen als hinterm Tresen und noch viel mehr, wenn sie rausginge. Sie hätten in der Nähe ein paar Zimmer, stilvoller als der Fucktank, sogar mit Betten, die könnte sie mitbenutzen. Charmaine habe so was Frisches: Die Kunden hätten eine Vorliebe für süße, großäugige, kindliche Blondinen wie sie.

O nein, sagte Charmaine. O nein, das könnte ich nicht! Obwohl sie einen kleinen Schauder verspürte, als spähte sie durch ein Fenster und sähe dort eine andere Version von sich, die ein Parallelleben führt, ein verwegeneres und lohnenderes Parallelleben. Zumindest finanziell lohnender, und sie täte es schließlich für Stan, oder nicht? Und das würde, was auch immer passierte, rechtfertigen. Diese Dinge mit fremden Männern, diese anderen Dinge. Wie das wohl wäre?

Aber nein, das könnte sie nicht, es war viel zu gefährlich. Solche Männer waren unberechenbar, sie konnten sich vergessen. Zu sehr entfalten wollen. Und was, wenn Stan dahinterkäme? Er würde sich niemals darauf einlassen, egal wie dringend sie die Kohle bräuchten. Er wäre am Boden zerstört. Außerdem, so was gehörte sich einfach nicht.

ÜBERFRAGT

Stan versucht es mit Conors letzter bekannten Adresse, einem verrammelten Bungalow in einer Straße, die nur noch zur Hälfte bewohnt ist. Kann sein, dass jemand aus einem der Fenster guckt, oder auch nicht. Womöglich sind es nur Lichtreflexe. Dann ist da ein Park, zumindest war es früher vielleicht mal einer, mit etwas, das nach verwelkten Erbsenranken aussieht. Ein paar Holzpflöcke ragen aus dem stachligen kniehohen Unkraut. Auf dem kaputten Gehweg zur Veranda prangt ein roter Totenschädel; mit genau so einem haben er und Con ihr Clubhaus im elterlichen Geräteschuppen geschmückt; da war er zehn. Was hatten sie damals im Sinn? Bestimmt Piraten. Seltsam, dass die Symbole immer gleich bleiben.

Hier hatte Con gehaust, als Stan ihn zuletzt sah, vor zwei Jahren, oder waren es drei? Con hatte ihm eine SMS geschickt, es schien dringend zu sein, aber als er hinkam, war es das alte Lied: Con brauchte Geld.

Er fand ihn in Muskelshirt und Badehose mit Spinnentattoos auf dem Arm; Con zielte gerade mit einem Messer auf eine Innenwand des Hauses – um genau zu sein zielte er auf den mit lila Filzstift gezeichneten Umriss einer nackten Frau –, während ein paar seiner vollverblödeten Kumpels ein paar Joints herumreichten und ihn anfeuerten. Damals hatte Stan noch einen Job und Oberwasser, also hatte er die Große-Bruder-Nummer abgezogen und Con als faulen Sack beschimpft, und Con hatte gesagt, er solle sich ins Knie ficken. Einer der Kumpel hatte sich erboten, Stan was aufs Maul zu geben, aber Con hatte nur gelacht und gemeint, aufs Maul geben könne er selber, und dann hinzugefügt: »Der Arsch ist mein Bruder. Bevor er was rüberschiebt, kommt immer erst mal ’ne verfickte Moralpredigt.« Finstere Blicke, dann beidseitiges Rückenklopfen, und Stan hatte Con ein paar Hunderter geliehen, die er nie wiedersehen würde, aber heute ganz schön dringend gebrauchen könnte. Dann hatte Stan den Fehler gemacht, sich nach dem Schweizer Messer von damals zu erkundigen, und Con hatte ihn ausgelacht, wie man sich so ins Hemd machen könne wegen ’nem Scheißmesser, und am Ende hatten sie sich wütende Beleidigungen an den Kopf geworfen wie zwei Neunjährige.

Stan klopft gegen die Tür mit der abgesplitterten grünen Farbe. Keine Antwort, also drückt er dagegen, sie ist nicht abgeschlossen. Irgendwer muss drinnen Feuer gelegt haben, die Hütte ist halb ausgebrannt; heißes Sonnenlicht wird von den Scherben auf dem Fußboden zurückgeworfen. Es beschleicht ihn das mulmige Gefühl, dass Conor in Form eines schwarzen Skeletts noch irgendwo im Haus sein könnte, doch in keinem der verkohlten und dachlosen Räume ist jemand. Der Gestank von Rauch dringt aus den angekokelten Möbeln, in denen Mäuse genistet haben.

Als er wieder ins Freie tritt, späht gerade ein Mann in sein Auto und spielt bestimmt mit dem Gedanken, es zu klauen. Der Typ wirkt eher schmächtig und scheint keine Waffe zu haben, Stan könnte es also notfalls mit ihm aufnehmen. Trotzdem lieber nicht zu nah rangehen.

»Hey«, sagt er zu dem Typen im schmuddelig grauen Shirt und mit Halbglatze. Der Typ dreht sich auf dem Absatz um.

»Ich guck nur«, sagt er. »Schönes Auto.« Einschmeichelndes Lächeln, aber Stan lässt sich nicht für blöd verkaufen: In den tiefliegenden Augen ist ein verschlagenes Flackern. Vielleicht hat er doch ein Messer?

»Ich bin der Bruder von Conor«, sagt er. »Der hat hier mal gewohnt.« Irgendetwas ist plötzlich anders: Was immer der Typ vorhatte, er wird’s lassen. Das heißt, dass Con noch am Leben ist, mit einem noch schlechteren Ruf als vor zwei Jahren.

»Der ist hier nicht«, sagt der Typ.

»Ja, das seh ich«, sagt Stan. Schweigen. Entweder der Typ weiß, wo Conor ist, oder er weiß es nicht. Er versucht zu sondieren, was Stan die Information wert ist. Dann wird er entweder lügen oder versuchen, Stan in die Irre zu führen, oder eben nicht. Vor ein paar Jahren noch hätte Stan diese Situation beängstigender gefunden.

Schließlich sagt der Mann: »Aber ich weiß, wo er ist.«

»Gut, dann kannst du mich ja hinbringen«, sagt Stan.

»Drei Dollar«, sagt der Typ und hält die Hand auf.

»Zwei. Aber erst, wenn ich ihn sehe«, sagt Stan und behält seine linke Hand in der Tasche. Er hat nicht die Absicht, für eine Leerstelle ohne Connor zu blechen. Er hat sowieso nicht die Absicht zu blechen, zumal er keine zwei Dollar hat. Con kann ihn ja bezahlen. Das oder dem Typen die Zähne einschlagen, die paar, die er noch hat.

»Woher soll ich wissen, dass er dich sehen will?«, fragt der Typ. »Vielleicht bist du gar nicht sein Bruder.«

»Das ist dein Risiko«, sagt Stan lächelnd. »Fahren wir?« Das könnte gefährlich werden – er wird den Typ auffordern müssen, sich auf den Beifahrersitz zu setzen, und vielleicht hatte er doch eine Waffe. Aber er muss es riskieren.

Sie steigen ein, beide argwöhnisch. Die Straße runter, um die Biegung. Eine andere Straße entlang, wo ein paar verlotterte Jugendliche einen verbeulten Fußball hin und her kicken. Irgendwann taucht eine Wohnwagensiedlung auf oder zumindest einzelne geparkte Wohnwagen. Ein paar suspekt aussehende Typen vor der Einfahrt, die sich in den Weg stellen, einer braun, der andere nicht. Dann ist das hier wohl eine Art Festung.

Stan bremst, lässt das Fenster runter. »Ich will zu Conor«, sagt er. »Ich bin Stan. Sein Bruder.«

»Behauptet er zumindest«, sagt sein Beifahrer vorsichtshalber.

Einer der Wachposten versetzt dem linken Vorderreifen einen halbherzigen Tritt. Der andere telefoniert kurz. Er guckt durchs Fenster, telefoniert weiter – er beschreibt Stan, kein Zweifel. Dann bedeutet er ihm, auszusteigen. »Keine Sorge, wir passen drauf auf«, sagt der Telefonierer, der Stans Gedanken lesen kann, und die drehen sich im Moment um ein Auto ohne Reifen und ohne alles Mögliche andere. »Geh einfach durch. Herb bringt dich.«

»Dann bete mal, dass er der Bruder ist«, sagt der zweite Mann zu Herb. »Sonst kannst du zwei Löcher graben.«

 

Conor ist hinter dem hinteren Wohnwagen auf einem überwucherten Stück Gelände, das womöglich mal ein Häusergrundstück war. Er wirkt größer. Er hat abgenommen; eine Zeitlang war er ziemlich verwahrlost, aber jetzt sieht er gepflegt aus. Er schießt auf eine Bierdose, die auf einem Baumstumpf steht; nein, auf einem Stapel Ziegelsteinen. Die Waffe ist ein altes Luftgewehr, an das sich Stan noch aus seiner Kindheit erinnert. Es war mal seins, aber Conor hatte es beim Armdrücken gegen ihn gewonnen. Cons Vorstellung von einem Wettkampf war einfach: Man spielte so lange, bis er gewann, dann hörte man auf. Größer als Stan war er nicht, aber durchtriebener. Außerdem war er erheblich gewaltbereiter. Sein Ausschaltknopf funktionierte nicht sehr gut damals als Kind.

Ping! macht das Kügelchen, als es gegen die Dose trifft. Stans Begleiter unterbricht ihn nicht, er stellt sich an die Seite, wo Conor ihn nicht übersehen kann.

Es macht noch ein paarmal Ping: Con lässt sie warten. Schließlich hält er inne, lehnt das Luftgewehr gegen einen Zementblock und dreht sich um. Verdammte Scheiße, er ist sogar rasiert. Was ist bloß mit ihm passiert? »Bruderherz«, sagt er grinsend. »Wie geht’s, wie steht’s?« Er macht einen Schritt nach vorn, breitet die Arme aus, und sie umarmen sich unbeholfen und klopfen sich gegenseitig auf den Rücken.

»Ich hab ihn hergebracht«, sagt der schmächtige Mann. »Ich sollte doch auf das Haus aufpassen.«