Lee, Jessica J. Mein Jahr im Wasser

PIPER

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Übersetzung aus dem Englischen von Nina Frey und Hans-Christian Oeser

ISBN 978-38-270-7933-6

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Turning. A Swimming Memoir bei Virago Press / Little, Brown Book Group, London

© Jessica J. Lee 2016

Für die deutsche Ausgabe:

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: zero-media.net, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Um uns ist die Illusion unendlichen Raumes

oder keines Raumes, es gibt nur uns und

das in Dunkel gehüllte Ufer, das wir scheinbar

mit der Hand berühren können, das Wasser

dazwischen wie nicht vorhanden.

Margaret Atwood, Der lange Traum

MEINE SEEN

1. Krumme Lanke

2. Templiner See

3. Habermannsee

4. Liepnitzsee

5. Flughafensee

6. Straussee

7. Orankesee

8. Motzener See

9. Pätzer Vordersee

10. Pätzer Tonsee

11. Möllensee

12. Werlsee

13. Mühlenbecker See

14. Teufelssee

15. Nymphensee

16. Wandlitzer See

17. Kleiner Lottschesee

18. Bernsteinsee

19. Kiessee

20. Krumme Lake

21. Karpfenteich

22. Sacrower See

23. Stechlinsee

24. Klein Köriser See

25. Bogensee

26. Großer Tonteich

27. Lubowsee

28. Rangsdorfer See

29. Heiligensee

30. Frauensee

31. Butzer See

32. Plötzensee

33. Schlachtensee

34. Bötzsee

35. Stolzenhagener See

36. Neuer See

37. Zeesener See

38. Güterfelder Haussee

39. Mechesee

40. Schwielowsee

41. Groß Glienicker See

42. Großer Müggelsee

43. Neuendorfer See

44. Springsee

45. Helenesee

46. Jungfernsee

47. Großer Wannsee

48. Schermützelsee

49. Großer Däbersee

50. Tornower See

51. Teupitzer See

52. Hellsee

 

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Prolog

Wie kühle Seide gleitet es über mich hinweg. Die Intimität unbefangener Berührung, die an meinen Beinen hinaufsteigt, an meiner Taille, meinen Brüsten, bis zu meinem Schlüsselbein. Als ich den Kopf zurückwerfe und mich entspanne, rinnt mir der See in die Ohren. Das Geräusch gleicht einem gedämpften Brüllen, das Wasser verstärkt die Schwingungen des Körpers, jeder Laut dehnt sich zeitlupenhaft aus.

Über dem Wasser ist es ganz hell. Die Sonne flutet über die Gipfel des Waldes und badet die Seeoberfläche in Wärme. Ich lasse mich treiben, und in der lauen Luft spüre ich sie auf meinem Gesicht. Öffne ich die Augen, sehe ich nichts als wolkenloses Blau. Kiefern umranden mein Gesichtsfeld, sättigen die Luft mit ihrem goldenen Blütenstaub.

Gleich werde ich mich auf den Bauch drehen und mit dem ganzen Körper eintauchen. Unter Wasser werde ich ausladende, bogenförmige Bewegungen machen und nach jeder den Kopf zum Atmen heben. Beim seitlichen Wegschieben der Arme werde ich den leichten Druck auf meinen Handflächen spüren, dann den sanften Rückstoß meiner Beine, wenn sie sich spreizen und wieder zusammenfinden in elliptischer, wiederkehrender Bewegung. Die Gliedmaßen weit ausgestreckt und dann wieder eng an meinen Körper gepresst, jeder Zug so präzise wie der Tanz eines Wasserläufers auf der Oberfläche des Sees.

Doch für einen Augenblick noch verharre ich auf dem Rücken, bewege mich an der Grenze zwischen Luft und Wasser.

SOMMER

Schichtung: Bei der Erwärmung

des Sees scheidet sich

das Wasser in drei Schichten.

Die kälteste, das Hypolimnion, sinkt

auf den Grund. Die wärmste,

das Epilimnion, setzt sich an

der Oberfläche ab. Dazwischen

liegt eine instabile Zone,

die Thermokline.

Unter Wasser

Schwimmer spüren es, wenn der See umschlägt. Zu jeder Jahreszeit gibt es den Moment, da das Wasser sich verändert. Man kann es nicht sehen, man fühlt es. Im Frühling schmilzt das Eis des Winters, und Warm und Kalt des Sees vermischen sich, fließen ineinander. Im Sommer, wenn der See sich erwärmt, ist die Wasseroberfläche mit grünem Algenschaum bedeckt, und wenn er im Herbst wieder abkühlt, verschwindet das Grün. Die Luft wird dünner. Die Blätter leuchten rot und golden. Und das Wasser wälzt sich um.

Die gleichmäßige Kühle des Frühlings und die träge Wärmeschicht auf einem sommerlichen See werden einem vertraut. Klärt sich im Herbst dann das Wasser, spürt man es: Der See fühlt sich sauberer an auf den Armen, weniger wie Samt, eher wie Glasscherben. Und schärfer denn je, wenn der Winter kommt. Ganzjahresschwimmen bedeutet, die Veränderungen eines Sees willkommen zu heißen.

Im Englischen gibt es einen Ausdruck für die Veränderungen des Sees: the breaking of the meres, das »Brechen der Weiher«. Er beschreibt den Augenblick im Spätsommer, wenn Flachwasserseen – meres – ein trübes Blaugrün annehmen und sich auf der Oberfläche Algen ausbreiten wie der Hefebruch der Bierwürze in der Sudpfanne. Dann verwandelt sich das Wasser in ein schleimiges Grün und perlt geradezu vor schimmernden Algen – der See ist, wie man im Deutschen sagt, »umgekippt«.

Doch dieses Umkippen erfasst nur jenen einzelnen Moment des Algenausbruchs, das Sterben des Sees an zu vielen Algen und zu wenig Sauerstoff. Wir neigen dazu, immer nur das Offensichtliche wahrzunehmen – wie den aufsteigenden Glanz einer Algenblüte –, und reduzieren die Bedeutung eines Worts auf diesen kurzen Augenblick, diesen grünen Fleck auf der Wasseroberfläche.

Die Umwälzung des Sees – die »Schichtung« und »Durchmischung« – ist weitreichender; sie umfasst ein ganzes Jahr an Veränderungen im Wasser. Sie findet immerfort statt. Sie bezieht sich auf die größeren Wandlungen im Wasser, wenn die unteren Schichten emporwabern und unter der Oberfläche eine neue Ordnung annehmen. Der See lebt auch im Winter, unter dem Eis.

Ich sehne mich nach dem Eis. Danach, wie das eisige Wasser mir in die Füße schneidet. Nach dem unermesslichen Schwarz des Sees, wenn er am kältesten ist. Dann bedeutet Schwimmen Kälte und Schmerz und Hochgefühl.

Mit achtundzwanzig Jahren wurde ich, fast aus Versehen, für einen fünfmonatigen Forschungsaufenthalt nach Berlin geschickt. Ich bezog eine Altbauwohnung im zweiten Stock, eine dieser riesigen zerbröselnden Wohnungen, die einen geradewegs in einen Stasi-Spionagefilm versetzten. Von dem alten Haus, dessen Keller einst als Ausgangspunkt für Fluchttunnel gedient hatte, brach ich auf in eine Welt aus Kiefern und seidigem Wasser, aus klapperndem Kopfsteinpflaster und abblätternder Farbe.

Berlin hatte Ähnlichkeit mit anderen Orten, die ich mein Zuhause nannte – Kanada, Großbritannien –, aber nur entfernt: darin, wie die skelettartigen Kiefern den See einrahmten, wie sich das Moos in dichten Matten auf die alten Steine legte. Schmerz, Helligkeit, Verlust und Erneuerung waren in der Landschaft aufeinandergeschichtet: im satten Schatten des Tiergartens, der zu Zeiten meines Großvaters noch öde, kahlgeschlagen und aus blanker Not in Kleingärten aufgeteilt worden war, und in den verwitterten Betonmauern, die, während meine Altersgenossen heranwuchsen, langsam abgetragen worden waren. Als die Mauer fiel, war ich drei Jahre alt. Ich habe keine Erinnerung daran, aber ich lernte sie auf meine Art kennen.

Wo einst die Mauer verlief, war jetzt ein Wanderweg. Stolpersteine ließen einen innehalten, sie waren aus Messing und erinnerten an die Opfer. Straßen wiesen sternförmig in alle Richtungen wie Stundenstriche auf einem Ziffernblatt, gleich einer aufs Stadtbild gepressten Hand. Die Straßen hier mussten so breit sein, dachte ich, allein schon, um die Gespenster fassen zu können.

Ein halbes Jahr später tauchte ich aus der dunklen Phase einer Depression mit der skurrilen Idee auf, Schwimmen könnte die Lösung meiner Probleme sein. Ich war zornig, dass ich der leeren Düsternis meiner Stimmungen erlegen war, als sei ich selbst daran schuld. Ich hatte ein gebrochenes Herz. Vor allem dachte ich, Schwimmen könnte mir – nachdem ich in einem Jahr fünfmal die Adresse gewechselt hatte – dabei helfen, einen neuen Platz in der Welt zu suchen. Einen Ort in einer Stadt, die nicht die meine war und in deren Straßen sich all die Veränderungen und das Leid eines Jahrhunderts übereinandergeschichtet hatten, Gespenster in der Landschaft. Vielleicht war es naiv, aber ich glaubte, wenn ich diesen Ort in der Mitte des Sees fände, wo jegliche Empfindung von einem abfällt, könnte ich die Verletzung ungeschehen machen.

Wieder war ich umgezogen – diesmal in ein grellweißes Zimmer mit einer Decke, die dreimal so hoch war wie ich –, aber ich hielt mich nicht lange damit auf, auszupacken und anzukommen, sondern schaute gleich in den Stadtplan. Das Zentrum durchschnitten von einem Fächer breiter Prachtstraßen und von Flüssen, am Stadtrand jählings das flache Land. Hunderte blauer Flecken, die sich exponentiell vermehrten, je weiter die Stadt in die umliegende Landschaft kroch. Diese Seen und Flüsse, deren filigran gewebtes Muster von den schmelzenden Gletschern der letzten Eiszeit auf die Norddeutsche Tiefebene gelegt worden war, hatten einen winzigen Haken in mein Herz gebohrt, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu schwimmen.

Vielleicht war es eine drastische Reaktion. Die Depression hatte aus mir einen Menschen gemacht, der ich nicht sein wollte: entleert und verhärtet. Ich hatte das Gefühl, entsprechend darauf antworten zu müssen, als könnte das Wasser der Seen meine Trauer und meine Angst wegsprengen. So beschloss ich, ein Jahr lang zu schwimmen, in der Hoffnung, einen versteckten Vorrat an Freude und Mut in mir zu entdecken. Es war ein Mittel, den Gespenstern zu begegnen – meinen und anderen –, wann immer sie unerwartet um die Ecke lugten. Hier gab es keine unberührte Landschaft, das war mir klar: Manche Verletzungen lassen sich nicht ungeschehen machen. Ich suchte einen Weg, meiner Verletzung beizukommen, mit ihr zu leben.

Von all den Seen in Stadtnähe wollte ich zweiundfünfzig durchschwimmen, einen pro Woche, zu jeder Jahreszeit. Ich neige dazu, Regeln aufzustellen. Meine Rahmenbedingungen waren einfach: kein Auto, kein Neopren. Gelegentlich würde ich Freunde mitnehmen. Mein tägliches Leben würde weitergehen wie gewohnt. Ich befand mich im letzten Jahr meines Doktoratsstudiums und revidierte gerade die Endfassung meiner Dissertation in Umweltgeschichte. Von meiner Familie, von meiner Heimat trennte mich ein ganzer Ozean. Ich musste mich zusammenreißen. Schwimmen wäre eine Möglichkeit, mit meinen Ängsten zu leben, meinen Alltag zu bestehen. Vor allem hoffte ich, eine gewisse Balance zu finden.

Der Berliner Sommer begann kühl und war dann auf einen Schlag da, ausgereift und heiß. Auf dem Kopfsteinpflaster dehnten sich helle Streifen Sonnenlicht, und der Himmel hatte kornblumenblaue Farbe aufgelegt. Die Temperatur stieg an, als ein heißer, trockener Juni in der Stadt Einzug hielt, aber die Luft wurde nur geringfügig schwüler.

Ich betrachtete den Stadtplan, fuhr mit den Fingern entlang der Seen, die ich bereits kannte – Krumme Lanke, Weißer See, Liepnitzsee, Bötzsee, Mühlenbecker See –, und beschloss, eher aus Gewohnheit, am Anfang anzufangen. Krumme Lanke, mein erster deutscher See.

Die Sicht der Schwimmerin

Mitten in der Provinz Ontario, zwei Stunden nördlich von Toronto, im Herzen von Kanadas »Cottage Country«, liegt eine Bucht. Es ist ein Ort aus Felsen, Wasser und Weite. Immer wenn ich in Kanada bin, gehe ich dort schwimmen, in meiner Kindheit jedoch hätten mich keine zehn Pferde dazu gebracht. Das Wasser war so tief und so dunkel, dass ich wie gelähmt am Ufer verharrte. Die wirren Tausendblattknäuel im Seichten wirkten gefährlich: klammernde Hände aus Seegras, die nach meinen Beinen griffen. Das war kein Ort zum Schwimmen.

Aber es war das Land, das meine Eltern sich erwählt hatten. Beide waren mit dem Vorsatz nach Kanada ausgewandert, dort ihrer Vorstellung von einem idealen Leben näherzukommen. Mein Vater war in den frühen siebziger Jahren eingetroffen, mit zwanzig Dollar in der Tasche. Mit sechzehn war er in Wales von der Schule abgegangen und hatte sich in halb Europa mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen, bevor er seine erste Boeing 747 bestieg. Bei seiner Ankunft in Kanada fand er ein Gewirr von Vorstadthäusern vor, die stark renovierungsbedürftig waren, und so wurde er Handlungsreisender und erneuerte in der Provinz landauf, landab alternde Schindeln und Scheiben. Kein Jahrzehnt später betrieb er sein eigenes Unternehmen und stellte Verkäufer ein, wie er einer gewesen war.

Meine Mutter kam 1974 als Zwanzigjährige an. Englisch sprach sie nur bruchstückhaft. Ihre Leistungen an der Sekretärinnenfachschule in Taiwan wurden in Kanada nicht anerkannt, und so steckte man sie in die Abschlussklasse der örtlichen Highschool. Sie fühlte sich fehl am Platz und sehnte sich nach Hause. Und dann heiratete sie meinen Vater, ein Anker in der Fremde.

In den achtziger Jahren führte unsere Familie bereits ein kanadisches Vorstadtleben, und wir lernten, Kanadier zu sein. Meine Schwester Nika und ich besuchten wochentags die Grundschule und am Wochenende die chinesische Schule. Wir lernten Schlittschuh laufen, nahmen an Sommercamps teil, erhielten Ballettunterricht. Aus unserem Vorort zogen wir in einen hübscheren. Mein Vater entwarf das Logo für sein Hausrenovierungsunternehmen – mit einem kanadischen Ahornblatt als i-Tüpfelchen. Wir wurden zum Schwimmunterricht im YMCA geschickt, denn in einem Land voller Wasser schien Schwimmunterricht unabdingbar. Meine Eltern konnten beide nicht schwimmen.

Anfangs sprachen wir wie meine Mutter Mandarin, doch mit der Zeit verflüchtigten sich die Wörter. Zu Hause sprachen wir später nur Englisch. In der Schule brachte man uns Französisch bei.

Heute, wo ich um die halbe Welt gereist bin und gelernt habe, deutsch zu sprechen, muss ich daran denken. An die Sprache, die ich verloren, und an die Sprachen, die ich erworben habe. An die Orte, die mich geformt haben und wo ich zu Hause bin.

Ich erinnere mich an die Stimme meiner Mutter, wenn sie abends in die Tür trat. »Chinesisches Zeichen 回來了«, »Wǒ huíláile« – einer der Ausdrücke auf Mandarin, die sie immer wieder verwendete, als spräche sie zu niemandem im Besonderen. Ich hatte immer gedacht, er bedeute »Ich bin zu Hause«, aber inzwischen weiß ich, dass er lediglich »Ich bin zurück« oder »Ich bin zurückgekehrt« bedeutet. »回«, »Rückkehr« – ein Kästchen, das geborgen in einem größeren Kästchen liegt –, bietet einen gewissen Trost. Das Schriftzeichen ist von einer Spirale abgeleitet, die auf eine Art Regelmäßigkeit verweist, auf die Rotation des Kommens und Gehens. Zuhause ist der Ort, an den man zurückkehrt.

Wenn ich durch die Tür meiner Berliner Wohnung trete, nehmen die Wörter in meinem Mund hin und wieder Gestalt an. Eine Art Routine – so, wie der jeweilige Uferabschnitt, von dem aus ich hinausschwimme, für Sicherheit steht. Wenn ich mir neue Worte und Orte zurechtrücke, entschlüpfen mir zwischen dem Englischen und dem Deutschen auch Fragmente des Chinesischen. Rückkehr. Ein Zuhause wurzelt ebenso sehr in einer Sprache wie in einer Landschaft.

Im deutschen Wort »Landschaft« ist die Kulturlandschaft stets mitgedacht. Sie ist geradezu die Grundlage. In Deutschland von »Landschaft« zu sprechen heißt, von einem Ort zu sprechen, der von Menschen geformt ist, und angesichts der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts ist es nicht immer leicht, davon zu sprechen. Aber die landwirtschaftlichen Nutzflächen, die romantisch verklärten Wälder und Hügel, die geschichtenumrankten Flüsse, die das Land durchziehen – sie alle sind auf einer bestimmten Ebene kulturelle Phänomene: kulturgeformt und kulturformend.

Der Name »Berlin«, so erzählt man, geht auf ein altslawisches Wort für »Sumpf« zurück. Schwerlich ein anziehender Ausgangspunkt und doch ein treffender Name: Berlin steht auf nassem Grund. Spree und Havel schieben sich quer durch die Stadt, feuchte Pflastersteine säumen die Kanäle, aus sandigem Boden steigt Grundwasser. Ein Ring aus Wasser umgibt Berlin: eine von Seen gesprenkelte Landschaft. Süßwasser stürzt in ehemalige Sandgruben, Heide fällt zu Mooren ab, Flüsse strömen durchs flache Land und treten über die Ufer.

Berlin wird von Brandenburg umschlossen. Eine Landschaft im Widerstreit mit der Stadt und eine Gegend, die zu lieben ich am allerwenigsten erwartet hätte. Berliner witzeln über Brandenburg, über seine »Armut«, seine »Rückständigkeit«, seine »Borniertheit«. Sie fragen mich, ob die Neonazis mir das Leben schwer gemacht hätten. Sie warnen mich, dass ich meine Deutschkenntnisse verbessern müsse, wenn ich in Brandenburg durchkommen will. In alldem steckt ein Körnchen Wahrheit.

Doch noch vor alldem hatte ich die Gegend anhand ihrer Gewässer kennengelernt. Wenn man die Stadt verlassen, wenn man schwimmen möchte, kommt man an Brandenburg nicht vorbei. Es ist eine Gegend für Sommernachmittage, für Ferienwohnungen und Waldwanderwege. Es ist eine Gegend, wo Forstwirtschaft gedeiht, wo Menschen Landwirtschaft betreiben, wo Menschen leben. Es ist eine Gegend, die mich stärker gemacht hat.

Man stelle sich einen Adler mit ausgebreiteten Flügeln vor. Das ist Brandenburg. Berlin ist sein Herz. Die Berliner Landschaft kennen heißt auch die brandenburgische Landschaft kennen.

1862 begann Theodor Fontane, einer der herausragendsten Schriftsteller des deutschen Realismus im neunzehnten Jahrhundert, seine märkischen Reisen zu veröffentlichen. Seine fünfbändigen Wanderungen durch die Mark Brandenburg, entstanden über einen Zeitraum von siebenundzwanzig Jahren, gelten noch heute als eines der beliebtesten Werke der deutschen Reiseliteratur. In Brandenburg selbst unverändert geschätzt, ist das Werk in der englischsprachigen Welt ein wenig in Vergessenheit geraten, was sicher auch daran liegt, dass der Landstrich bis 1989 schwer zugänglich war. Doch es bietet noch immer ein detailreiches persönliches Porträt der Mark Brandenburg vor der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, ein Porträt, das sich ihrer unsicheren Situation angesichts der Industrialisierung sehr wohl bewusst war. Vom bewaldeten, spärlich besiedelten Nordwesten der Region bis zum Moorland im Osten sprechen Fontanes Reiseberichte von einem auf Wasser gegründeten Landstrich, einem Landstrich, der seine Blütezeit seinem Wasserreichtum verdankte.

Fontanes Wanderungen begann ich zu lesen, als ich nach Berlin zog. Ich übersetzte einzelne Passagen aus dem Deutschen, suchte den Text nach Seen und nach Städten ab, die ich kannte. Fontanes Landschaft war geformt von Geschichten und Erinnerungen; sein Brandenburg, noch unberührt vom zwanzigsten Jahrhundert, lag Schichten unter dem Ort, den ich kennengelernt hatte.

Wie ich hatte Fontane den Beginn seiner Laufbahn in London verbracht. Er dokumentierte alles über sein Leben in der Stadt und seine Reisen durch England und Schottland. Die Briten haben bekanntermaßen ein Faible für Landschaftsbeschreibungen, eine innige Liebe für in den Boden eingeschriebene historische Details. Fontane empfand eine solche Liebe für Brandenburg und versuchte die Landschaft seiner Heimat zu entdecken, bevor ihm ein Ausländer zuvorkam. Hundertfünfzig Jahre später kann ich die Komik darin nicht übersehen.

Die damaligen Grenzen Brandenburgs entsprechen nicht ganz den heutigen, inzwischen sind die Felder einförmiger. In den Jahrhunderten vor und nach Fontanes Wanderungen hat sich das Land dramatisch verändert, doch viele der Orte, die Fontane beschreibt, sind geblieben. Vor allem die Seen.

Die Norddeutsche Tiefebene, die während der letzten Eiszeit Gestalt annahm, ist ein von Wasser gebildetes Tiefland: Kraterseen haben sich in den Boden gehöhlt, Gletscherüberläufe die nordwärts fließenden Flüsse geformt, und auch der poröse Sandmantel ist ein Überbleibsel des Eises. Viele der Senken und Mulden, in denen die etwa dreitausend märkischen Seen liegen, entstanden mit dem Rückzug der Gletscher in Nordeuropa vor ungefähr zehntausend Jahren. Es ist eine Gegend, die sich durch ihre Flachheit auszeichnet: plattes Ackerland, von Wald gekrönt. Heute sind ihre höchsten Erhebungen die wie Saat übers Land verstreuten Windturbinen.

Vielerorts hat sich die Region in Moorland verwandelt. Im Havelland westlich von Berlin, schrieb Fontane, pflegte das Vieh auf der Suche nach trockenem Boden im Morast stecken zu bleiben. Östlich der Stadt war der Oderbruch so von Nässe durchtränkt, dass er im Frühjahr drei Meter unter Wasser stand. Über den Sümpfen – undurchdringlichen Einöden, die so gar nichts gemein hatten mit der fruchtbaren Moorlandschaft Ostenglands – hingen Nebelschwaden. Die Sümpfe Brandenburgs hielten die Menschen fern. Das war, bevor das Land im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert unter Friedrich Wilhelm I. und seinem Sohn Friedrich dem Großen mit Hilfe niederländischer Ingenieure entwässert und trockengelegt wurde. Innerhalb von hundert Jahren verwandelten sich malariaverseuchte Sümpfe in einförmige, aber ertragreiche Felder. Zusammen mit seinen Sümpfen verlor Brandenburg allerdings auch einen Großteil seiner ursprünglichen Flora und Fauna.

Bären gibt es hier heute keine mehr, aber Wölfe. Einige wenige sind aus dem Osten zurückgekehrt und streifen zwischen den Bäumen umher. Vor über einem Jahrhundert bis zur Ausrottung bejagt, hat der Naturschutz sie den endlosen märkischen Wäldern zurückgegeben. Ein Drittel Brandenburgs ist mit Wald bedeckt, hauptsächlich allerdings mit Bäumen der berechenbaren, bewirtschafteten Art: Kiefern, die nur darauf warten, gefällt zu werden, eine Generation nach der anderen.

In den flachen, stark veränderten Naturräumen Brandenburgs – kultivierte Wälder, kanalisierte Sümpfe, regenerierte Moore – gibt es keine Landschaft ohne Menschen. Hier herrscht keine Wildnis.

Stattdessen herrscht Vertrautheit. Die Vertrautheit einer historisch geformten Landschaft, einer Gegend, die über menschliche Freude und menschliches Leid berichtet. Aber sie ist mehr als das: Sie ist der Boden für emporsprießende Pilze, für die Vielfalt der Moose. Vor allem ist sie ein Ort des Wassers. Es ist das Vertrauteste von allem.

In seinem Gedicht »Die Gazelle« beschreibt Rilke den Augenblick beim Schwimmen, da man im Wasser das eigene Spiegelbild entdeckt:

[…] wie wenn beim Baden

im Wald die Badende sich unterbricht:

den Waldsee im gewendeten Gesicht.

In der Stille der Seen verwischt die Grenze zwischen Natur und Kultur. Schwimmen ereignet sich an ebendieser Grenze, wie eine beständige Suche nach Heimat. Wasser ist ein Element, dem ich nicht angehöre, in dem ich mich aber gleichwohl finde. Jenseits meiner Kultur, jenseits meiner Erfahrung.

Schwimmen fordert mich noch immer, es fühlt sich jedes Mal neu und furchterregend an. Zwischen den einzelnen Zügen tut sich eine Kluft auf und füllt sich mit allen möglichen entsetzlichen Gedanken – daran, was passieren könnte, daran, was unter mir ist: eine überwältigende Finsternis. Dickflüssige Angst steigt in meiner Brust auf. Und ich gerate in Panik.

Heute weiß ich damit umzugehen. Ich fixiere meinen Blick auf einen Punkt am Horizont, schwimme voran und denke nur an das, was über der Wasseroberfläche ist, an jenen schneekugelartigen Bogen einer Welt voller Schönheit. Die Froschperspektive, nennt es Roger Deakin. Dort verharre ich und nehme nichts wahr außer der Empfindung von Wasser, das über nackte Haut rinnt. Angst lässt sich auflösen.

Doch mitunter kehrt sie wieder, ein schwerer Druck, der auf meinem Herzen lastet wie tiefes Wasser. Und ich bin wieder am Grund des Schwimmbeckens im YMCA, blicke hinauf durch das trübe, gechlorte Blau und sehe die Füße anderer Kinder. Vom Rand einer riesigen gelben Schaumstoffente baumeln ihre Beine ins Wasser. Ich kann nicht atmen. Ich bin unter Wasser. Ich weiß nicht, was tun, und ich kann nicht schwimmen.

Dies ist eine meiner frühesten Erinnerungen – ich weiß nicht, wie viele der Szenen den Berichten meiner Eltern entspringen, aber ich weiß, dass sie meine Erinnerung beeinflusst haben. Sonst würde ich sie nicht so deutlich vor mir sehen, wie sie mit den Fäusten ans Fenster der Zuschauerterrasse trommeln, um einen Bademeister zu alarmieren. Es ist jedes Mal das Gleiche. Sie schauen hinab ins Schwimmbecken und trommeln mit den Fäusten, und ihre Liebe und ihre Angst sind klar wie Quellwasser. Ich bin am Grund des Beckens und starre auf die winzigen baumelnden Füße. Die Entfernung scheint unermesslich.

Im YMCA in London, Ontario, gab es eines dieser Becken mit Hubboden, die man mit einem Druck auf den riesigen roten Knopf aus einem seichten Plansch- in ein Sprungbecken verwandeln konnte. Häufig sahen wir zu, wie sich der Boden vor der Schwimmstunde hob und wie er sich, wenn die großen Kinder kamen, wieder senkte. Gut möglich, dass das Wasser wirklich tief war. Ich war erst drei, vielleicht vier Jahre alt; mir kam es unendlich tief vor.

Ich sitze eine Ewigkeit dort unten, und das Wasser lastet auf mir, bis eine Trillerpfeife ertönt und ein Bademeister in roter Schwimmhose die Oberfläche durchbricht, zu mir herabschwimmt und mich in seinem Arm hinaufzieht, als wäre es die leichteste Sache der Welt. Für einen Erwachsenen ist der Abstand zwischen dem Beckengrund und der Welt dort oben eine Kleinigkeit.

Eine Herz-Lungen-Wiederbelebung führten sie nicht durch, doch eine Zeitlang wünschte ich, sie hätten es getan. Als hätte das meinen späteren Schrecken als verständlich gerechtfertigt. Ich erinnere mich an die Angst und die Wut. An die Wut meiner Eltern. Viel zu lange hatte es gedauert, bis jemand bemerkte, dass ich von der gelben Schaumstoffente gefallen war. Jemand, darauf beharrte ich noch jahrelang, hatte mich geschubst. Weshalb war das niemandem aufgefallen?

Heute lache ich ein wenig über die Vorstellung, ich hätte ertrinken können, nur weil ich von einer schwimmenden Schaumstoffente gefallen war. Nichts davon mindert die Angst oder macht sie weniger wirklich, wenn ich mich mitten in einem See befinde und sie mich wieder heimsucht und ich von neuem in Panik verfalle. Aber wenn ich in einem Kinderbecken oder am Strand ein riesiges Schaumstofftier sehe, breche ich unerklärlicherweise immer in Gelächter aus.

Wir lachen lauthals, und die Blätter zittern im Takt. Vor unserer Ankunft war der Wald still gewesen, doch nun bewegen sich die kleinen grünen Blattstreifen im Wind, und zwischen ihnen kommt das Licht hindurch und fällt auf den schlammigen Boden. Ich wende mich um, schaue Sennah, Rosie und Joy an. Sie sind aus Kanada zu Besuch, und ich tue mein Bestes, ihnen die Stadt zu zeigen. Die beste Stelle, erkläre ich ihnen, sei gleich um die Ecke.

Sie vertrauen mir, also laufen sie weiter und lachen noch immer über irgendeinen Witz, während ich vorausgehe in den schweigenden Wald. Dort kann ich die Stille begrüßen, einen Moment lang Atem schöpfen. Doch ich bin dankbar für ihr Gelächter, den Lärm und ihre Gesellschaft. Es ist erst Anfang Juni, der Anfang meines Schwimmjahres, und schon fürchte ich, mit meinem Projekt allein zu sein.

Der See liegt zu unserer Linken, und als wir das Ufer einer kleinen Bucht umrunden, glänzt er blau-schwarz in der Sonne. Im Schutz des Waldes fühlte es sich wärmer an, doch hier, auf dem kleinen, in Terrassen abfallenden Sand, tanzt der Wind über die Oberfläche, und es kommt mir weniger sommerlich vor. Meine Freundinnen wirken skeptisch.

Ich ziehe mich aus und steige ins Wasser – ein vertrautes Gefühl, und doch bin ich seit dem Neujahrstag, als der See mit Eis überzogen war, nicht mehr hier gewesen. Jetzt, wo es wieder warm ist, denke ich nicht an das Eis, sondern an die sonnensatten Sommernachmittage, die ich vergangenes Jahr hier verbracht habe, als ich gerade nach Berlin gezogen war. Als Neuling in der Stadt war ich oft in der Krummen Lanke geschwommen – bevor ich andere Seen kannte, bevor ich Freundschaften schloss. Ich war nach Berlin gekommen, hatte eine Forschungsstelle in den Außenbezirken angenommen und schrieb an meiner Dissertation in Umweltgeschichte. Schon bald hatte ich meine Arbeitstage früher beendet und war an die Krumme Lanke geradelt, deren schmaler Streifen Seewasser eine scharfe Grenze entlang des Grunewalds zog.

Der Grunewald liegt am westlichen Ende Berlins – wie schon der Name sagt, ein dichtes, grünes Waldgebiet, geschützt vor baulicher Erschließung. Einst königliches Jagdrevier, bot der Grunewald den Westberlinern während des Kalten Krieges den einzigen Zugang zu ländlicher Natur. Er war mein erstes Walderlebnis in Berlin. Die Krumme Lanke ist einer der zahlreichen Seen der Stadt. Das Wort »Lanke« stammt, wie so viele Ortsnamen im Osten Deutschlands, aus dem Slawischen; er bedeutet »Flussbiegung«, »Krümmung«, »Wiese« oder »Bucht«. Es handelt sich um einen langen, schlanken See, der sich am östlichen Waldrand entlangwindet.

In jenen ersten Berliner Tagen schwamm ich häufig – und immer allein. Mein grünes Fahrrad lehnte ich an die Bäume am Ufer und zog mich unter dem Laubwerk aus. Meist war auch noch ein älteres Damenpaar dort, das sich im nahen Gebüsch entkleidete und nackt schwamm, sowie ein athletischer Schwimmer, der auf der vollen Länge des Sees seine Bahnen zog. Ich selbst war weniger ehrgeizig. Mit regelmäßigen Zügen schwamm ich bis zur Mitte des Sees, drehte mich dort auf den Rücken und streckte die Arme weit aus. Von Wipfel zu Wipfel dehnte sich ein blauer Himmel. Eine ganze Welt drehte sich, ich in ihrem Mittelpunkt. In der Stadt kannte ich keinen Menschen, doch inmitten des Sees entdeckte ich ein kleines Stück selbstzentrierter Sicherheit, wie die Stecknadel auf einer Landkarte.

Jetzt schwimme ich wieder hinaus in die Mitte. Das Wasser ist kalt – es ist ja erst Juni –, und meine Freundinnen gehen nur bis zu den Knöcheln ins Wasser, bleiben in Ufernähe und schütteln den Kopf. Auf halbem Wege trete ich Wasser und blicke am grasgesäumten See entlang, wo der Wind kleine Wellenkämme aufpeitscht. Ich friere, und mir fällt auf, dass ich mich im Schatten einer ungeheuren Wolke befinde, also schwimme ich weiter hinaus zu einem blauen, sonnendurchfluteten Streifen Wasser und rufe meinen Freundinnen zu, es mir nachzutun. Mittlerweile haben Sennah und Joy sich bis zur Hüfte vorgewagt, sie kreischen und beäugen mich noch immer voller Misstrauen. Rosie sieht vom Ufer aus zu. Vielleicht sollte ich zurückschwimmen.

Als ich die drei erreiche, erinnert mich Joy daran, dass sie nicht schwimmen kann, und einen Augenblick lang bin ich zutiefst beschämt. So schnell hatte ich mich vergessen. Ich kenne ihre Furcht gut. Aber sie versichert mir, dass sie Spaß hat, ihre Grenzen nicht überschreitet. Sie kann kaum glauben, wie einfach es ist, in einer Stadt dieser Größe einen derart stillen See zu finden. Der Glaubenssatz, dass die Berliner Seen jeden, der genug Zeit in ihnen verbringt, früher oder später zum Freiwasserschwimmen bekehren, ist mir zwar nicht neu, aber ich bin erleichtert, ihn so früh aus ihrem Mund zu hören. Sie hat’s begriffen. Ich plansche in der Nähe, wo das seichte Ufer abfällt, und sehe zu, wie sie und Sennah die Knie beugen und die Schultern ins kalte Nass tauchen.

Ein Schwimmer nimmt einen See über seine Sinneseindrücke wahr, er erkennt ihn daran, wie sich das Wasser anfühlt, die Bewegungen, wenn er vom Ufer zur Mitte hinausschwimmt. Warm, schwer. Kalt, scharf.

Doch Sinneseindrücke allein können mir einen See nicht erklären. Sie erzählen mir nicht, wie der See in die Landschaft kam oder wie seine jahreszeitlichen Veränderungen vor sich gehen. Sie können meine Angst vor Seen nicht mindern. Dafür halte ich mich an Bücher. Im Frühsommer leihe ich mir in der Staatsbibliothek die gesamte limnologische Literatur aus, alte Standardwerke und neue Lehrbücher, als könnte ich meine Angst mit Wissen einzingeln.

Die Limnologie, die Wissenschaft von den Seen – genauer gesagt, ein Bündel von Wissenschaften, die sich Binnengewässern widmen –, ist eng mit Deutschland verknüpft. Das erste Institut für Süßwasserforschung, die Hydrobiologische Anstalt im schleswig-holsteinischen Plön (heute das Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie), wurde 1892 gegründet, und eine der wichtigsten Fachzeitschriften dieser Disziplin, die Internationale Revue der gesamten Hydrobiologie und Hydrographie, erschien erstmals 1908. Seinen Namen verdankt das Fach einem Schweizer Wissenschaftler, Françoise-Alphonse Forel, der den Begriff in seiner um die Jahrhundertwende entstandenen Studie des Genfer Sees (Lac Léman) einführte. Er beabsichtigte, eine einheitliche, umfassende Wissenschaft zu begründen, die sämtliche Aspekte der Seenforschung einschließen sollte: biologische, physikalische, chemische.

Es handelt sich um einen Forschungszweig, der in einigen Nischen dieser Welt floriert, insbesondere jenen, die reich an Süßwasser sind. Die Großen Seen, in deren Nähe ich aufwuchs, stellen einen wichtigen Schwerpunkt dar. Auch dem englischen Lake District sind viele Studien gewidmet. Und es überrascht wenig, dass die Region Berlin-Brandenburg mit ihrem Reichtum an Seen und Flüssen nach wie vor zu den wesentlichen Forschungsgegenständen der deutschen Limnologie zählt.

Ich bin keine ausgebildete Naturwissenschaftlerin, doch eine Umweltgeschichtlerin muss flexibel sein. Deshalb springe ich zwischen Geschichte, Ethnographie und Botanik hin und her. Archive, Interviews, Pflanzenbestimmungsschlüssel. Für eine Schwimmerin ist auch die Limnologie eine Art Schlüssel. Ein Mittel, die Seen lesen zu lernen.

Ein See wird bestimmt von allem, was er enthält. In seiner weitesten Definition ist ein See ein wassergefülltes Becken, das zu allen Seiten von Land umgeben ist. Doch jeder See erhält seinen Charakter aus dem Boden, der ihn umgibt, aus dem Wasser, das ihn speist, und aus den biotischen Formen, die ihn bewohnen.

Ich beginne mit einem etwas veralteten Klassiker, A Treatise on Limnology von G. E. Hutchinson. Seine Texte umfassen auch Seenbiologie und limnologische Botanik, doch Grundlage aller limnologischen Beschäftigung bleiben die Geologie, die Physik und die Chemie, die den See allererst formten.

Hutchinson hebt an mit den Typen der Seenbildung. Ist der See ein Produkt des Gletscherschwunds, des Vulkanismus, der Plattentektonik? Die nichtanthropogenen Seen Berlins und Brandenburgs wurden von Gletschern geschaffen, von Schmelzwasser, das sich unterhalb des Eises einen Weg bahnte, von Kesseln, die die weichende Eisdecke zurückließ. Nicht nur die Gestalt der Seen ist dem Eis geschuldet, sondern auch ihr sandiges, lehmiges oder schlammiges Bett.

All dies ist wichtig für mich, ob ich es mir nun bewusst mache oder nicht. Form, Tiefe und Grund des Sees lassen darauf schließen, wann das winterliche Eis einsetzt, wie vollständig der See zufrieren wird. Und so wühle ich mich durch die online verfügbaren Daten: Seentiefen, Wasserqualität, Eisdecken im historischen Längsschnitt. Die jahreszeitlichen Veränderungen in einem See werden nicht nur von seiner Gestalt, Größe und Klarheit beeinflusst, sondern auch vom Wind, der über die Oberfläche streift und das Wasser mit kleinen Verwirbelungen aufmischt. Darüber hinaus sind die Trübungsverhältnisse wichtig: Lässt das Wasser das Sonnenlicht bis auf den Grund vordringen? Besteht die Gefahr, dass der See im Sommer versumpft? Die Klarheit eines Sees wird vom Anteil an Plankton und Bakterien bestimmt, und da in der Welt des Sees alles mit allem zusammenhängt, bewegen diese sich je nach Lichtanteil nach unten oder nach oben. Eine zu starke Anreicherung mit Nährstoffen bei zu geringem Sauerstoffgehalt kann zur sogenannten Eutrophierung führen und im schlimmsten Fall zum Tod des Sees.

In Hutchinsons Treatise markiere ich Seiten, presse rosafarbene Post-its zwischen die vergilbten Blätter. Es ist, als lernte ich eine neue Sprache. Ich vergleiche seinen Text mit aktuelleren Lehrbüchern und schreibe E-Mails an örtliche Seenforscher. Beim Schwimmen werde ich auf die Unterschiede zwischen all den Seen achten. Ich will sie im Wasser spüren können.

Ein kurzer Zauber

Die Sonne hat ihren höchsten Stand erreicht, und keine Wolke ist zu sehen. Wir biegen um eine grüne Ecke, und vor uns liegt eine Eisenbahnbrücke, hinter der ich ein kleines Wäldchen ausmache. Dorthin müssen wir, näher ans Wasser. Die Hitze drückt auf meine Schultern.

Wie durch ein Wunder – das nicht von Dauer sein kann – haben einige Freunde sich entschlossen, mich zum Templiner See zu begleiten. Zweiundfünfzig Seen sind viel, daher bin ich dankbar für ihre Gesellschaft. Ich habe erst einige wenige Tage meines Schwimmjahres hinter mir, und schon kommt es mir vor, als hätte ich mich übernommen.

Obwohl ich noch nie hier gewesen bin, haben sie mir die Rolle der Führerin anvertraut und sind mir ein, zwei Kilometer lang gedankenverloren gefolgt. Allmählich, so fürchte ich, geht ihre Geduld zu Ende. Bestimmt hassen sie mich. Zu heiß ist es hier draußen, wo man über die ungeheure Weite tiefen Blaus blickt. Stumm bete ich darum, dass nach der nächsten Biegung die richtige Stelle auftaucht. Bitte!

Potsdam steht zu Berlin, an dessen Stadtrand es liegt, in demselben Verhältnis wie ein kleiner Trabant zu seinem Planeten. Die Hauptstadt Brandenburgs ist ein Ruhepol außerhalb Berlins, eine geordnete Szenerie von Schlössern und Gärten, durchzogen von geschäftigen Straßen. Letzten Winter stießen Bauarbeiter in der Erde auf eine nicht detonierte Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg – mitten im Zentrum dieser Pendlerstadt. Anwohner wurden evakuiert, Züge gestoppt, und die Fachleute des Kampfmittelräumdienstes verrichteten ihre schwierige Arbeit. Derartige Blindgänger tauchen gelegentlich auf, wie um uns daran zu erinnern, wo wir uns befinden. Auch während unseres Spaziergangs muss ich daran denken. Selbst an so sonnenhellen Tagen lässt die Landschaft nicht zu, dass wir vergessen.

Auch die Eisenbahnbrücke, die wir passieren, ist eines dieser Überbleibsel, ein DDR-Bauwerk aus den fünfziger Jahren, errichtet, um Westberlin zu umgehen. Ohne sie wäre die Mauer vielleicht nicht möglich gewesen. Sie ist lang, quert die ganze Breite des Sees, der an einem so heißen Tag eher wie ein kleines Meer wirkt. Wie die Großen Seen, mit denen ich aufwuchs, eignet er sich eher für Segelboote als für Schwimmer. Der lange Fußmarsch in der Hitze hat sein Übriges getan; schon habe ich – ungerechterweise, launischerweise – entschieden, dass dieser See nichts taugt.

Tatsächlich ist die kleine Lichtung, die sich endlich auftut, völlig in Ordnung. Nahe am Wasser liegen die verkohlten Überreste eines Lagerfeuers, sanfte Wellen umspülen den Strand. Ich gehe ins Wasser, stelle fest, dass der Sand weit hinausreicht, flach und seicht, und schwimme ein Stück hinaus. Zwanzig Meter vom Ufer kann ich noch stehen. Es ist gar nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte, aber Wildnis herrscht hier nicht, nichts, was einen überwältigen oder auch nur überraschen könnte. Es fühlt sich sicher an, als wäre der See doch nicht das kleine Meer, für das ich ihn gehalten hatte, sondern lediglich ein renaturierter großer Swimmingpool. Künstlich blau ist er und ohne Leben – nur wir sind da, die wir am Ufer planschen, ein Partyboot in unserer Nähe und, ein paar Meter weiter, ein kleines Kind und sein Vater, die sich gegenseitig nass spritzen.

Viele meiner Erinnerungen drehen sich um Schwimmbäder. In einer davon bin ich acht Jahre alt, und meine Eltern haben entschieden, dass ich endlich richtig schwimmen lernen muss. Seit dem Vorfall mit der Schaumstoffente war ich nicht mehr im YMCA gewesen, hatte aber eine Begeisterung für Wasser entwickelt, eine Liebe zum Schwimmen. Also fuhren meine Mutter und ich jeden Montagabend ins YMCA und nahmen dort wie Geschwister oder beste Freundinnen gemeinsam Privatstunden. Im Auto hörten wir Phil-Collins-Kassetten, und nach dem Unterricht kauften wir in der Kantine plastikverschweißte Käsescheiben von Black Diamond und Eiersalat-Sandwiches. Mom war eine Verbündete, eine Geheimnisbewahrerin. Ich war die Jüngste, das Baby.

Wie ich konnte sie nicht schwimmen. Aber sie war erwachsen, also brauchte sie länger, und während ich schon Seitenschwimmen lernte, meine Arme und Beine sich abwechselnd schlossen und streckten wie bei einem seltsamen Frosch, pustete sie noch am flachen Ende Luftblasen ins Wasser, die Augen hinter der beschlagenen Schwimmbrille versteckt.

Der Lehrer ließ mich Bahnen ziehen, während Mom den »Toten Mann« übte, wobei ihre Beine ins ein Meter tiefe Wasser absackten. Wir befanden uns im 25-Meter-Becken, und durch das Glasfenster am tiefen Ende konnte ich das große quadratische Sprungbecken mit seinem Hubboden sehen. Dort hinein gingen wir nie, und das war mir recht.

Die Stunden liefen immer gleich ab. Mom und ich schlüpften in unsere Badeanzüge (meiner war silbern, in jenem Jahr meine Lieblingsfarbe), glitten in unsere Flipflops und tapsten zum Pool. Unsere Brillen hatten wir bei unseren Handtüchern abgelegt, also konnten wir beide nicht viel erkennen. Moms Sehvermögen war schon immer schlechter gewesen als meins, und wenn ich sie mir im Wasser vorstelle, blinzelt sie immer ganz verkniffen hinter einer dicken schwarzen Schwimmbrille hervor. Damals konnte ich noch einigermaßen gut sehen, doch um die riesige, runde Uhr zu lesen, deren Sekundenzeiger unaufhaltsam die Zeit von acht bis halb neun herunterzählte, musste ich mich schon anstrengen. Mom war am flachen Beckenende, die Hände an der Wand, das Gesicht im Wasser, und ich zog zwischen den Schwimmleinen meine Bahnen. Im Tiefen ging es zwei Meter hinab, und nach dem Anschlagen verharrte ich erst einmal eine Minute am Rand, bevor ich tief Luft holte und kerzengerade untertauchte, bis meine Fußspitzen den Boden berührten. Montags abends um acht herrschte reger Betrieb, also hatte ich nichts zu befürchten.

Doch wirklich Angst machte mir, wenn an einem der ruhigeren Abende die einzigen anderen Badegäste im Begriff waren, das Schwimmbecken zu verlassen. Wenn sie aus dem Wasser stiegen, wäre ich die Einzige, die noch übrig bliebe. Dann spürte ich, wie mir das Herz in die Kehle sprang, und ich schwamm los, so schnell ich konnte, grapschte nach der Wand und wuchtete meine braungebrannten Beinchen auf die Fliesen. Die Einzige im Becken zu sein war mir gar nicht recht.

Im Jahr davor, als ich sieben war, blieb ich lange auf und sah mir YTV an, einen Kanal, der spätabends Horrorfilme für Kinder ausstrahlte, die man später in schrecklichen Buchausgaben des Scholastic-Verlags finden konnte. So saß ich im Pyjama an den äußersten Rand des beigen Sofas geknäult, klammerte mich an meine orangefarbene Decke und sah zu, wie Vorstadtteenager im Swimmingpool ihrer Schule ertränkt wurden, von einem unsichtbaren bösen Geist unter Wasser gezerrt. Der Pool war, wie sich im weiteren Verlauf herausstellte, auf einem uralten Friedhof errichtet und eine der Leichen bedauerlicherweise nicht exhumiert worden.

Mit acht Jahren dürfte ich mich an die Schaumstoffente kaum noch erinnert haben, aber das mit dem verwunschenen Pool war zu viel für mich. Während ich also im Schwimmunterricht meine Bahnen zog, das Schwimmen tatsächlich genoss und nicht einmal schlecht darin war, achtete ich stets darauf, dass ich nicht die letzte im Wasser Verbliebene war. Niemals allein schwimmen, besagten die Baderegeln, und ich nahm sie sehr, sehr ernst.

In diesem Sommer hängt eine frühe Hitzewelle über Berlin, und als endlich das Wochenende kommt, sehnen sich alle nach Erleichterung. Bei dieser Hitze mangelt es mir nicht an Schwimmpartnern. Mit Tom und Natasha habe ich mich schon seit Monaten nicht mehr getroffen, aber jetzt sind wir alle versammelt. Es ist Sommer, und wir sind aufgeregt.