Titelbild
Titelbild

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de/literatur

Die Originalausgabe erschien 1961, die überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 2015, beide unter dem Titel »I racconti« bei Giangiacomo Feltrinelli Editore, Mailand.

Herausgegeben von Nicoletta Polo

Mit Einführungen und Erläuterungen von Gioacchino Lanza Tomasi

Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn

ISBN 978-3-492-97393-9

Mai 2017

© Giangiacomo Feltrinelli Editore, Milano, 1961, 1988 All rights reserved 

First published by Giangiacomo Feltrinelli Editore in 1961 Copyright der Einführungen © 2014, Gioacchino Lanza Tomasi 

»Torretta« copyright © 1995, the Estate of Giuseppe Tomasi di Lampedusa 

© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: Kornelia Rumberg

Covermotiv: Cynea / shutterstock.com

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Kurze Anmerkungen zum
Fall Lampedusa

von Gioacchino Lanza Tomasi

Die Erzählungen von Giuseppe Tomasi di Lampedusa erschienen im Juni 1961 im Verlag Feltrinelli. Luchino Viscontis Film nach dem Roman Der Gattopardo sollte damals erst noch gedreht werden, wohingegen der 1958 postum veröffentlichte Roman lange Zeit an der Spitze der Bestsellerlisten stand und in der Frage der Einigung Italiens gestern wie heute das umstrittenste Werk darstellte. Er war bereits in die wichtigsten westlichen Sprachen übersetzt worden.

Im Jahr zuvor hatte die Witwe des Schriftstellers, die Fürstin Alessandra Wolff Stomersee, die maschinengeschriebenen Manuskriptseiten von vier unveröffentlichten Stücken aus dem literarischen Nachlass ihres Gatten Giorgio Bassani übergeben, der damals Verlagsleiter bei Feltrinelli war. Diese Seiten waren wahrscheinlich von ihrer Schwester Olga Wolff Stomersee-Biancheri redigiert worden. Die Ausgabe von 1961 war – abgesehen von kleineren Änderungen, die in der Folge aber berichtigt wurden – zuverlässig und textgetreu, was die drei Prosastücke Die Freude und das Gesetz, Die Sirene, Die blinden Kätzchen betrifft. Die Kindheitserinnerungen dagegen unterzog die Fürstin einer Überarbeitung. Die Absichten dabei waren zweierlei: die Erkennbarkeit und die gegen einige Personen – insbesondere die Verwandten – gerichteten Sarkasmen sollten aufgehoben werden; und der Text, der sich als eine vor allem von einem ungeheuer starken Emotionsdruck angefachte onirische Entwurfkladde darstellte, sollte eine erzählerische Abfolge erhalten.

Die Fürstin blieb bis zu ihrem Ableben (1982) die entscheidende Instanz. Sie hätte gerne ihr eigenes Bild des Ehemannes, des Aristokraten und Schriftstellers, als offizielle Version fingiert, doch diese Darstellung geriet in Konflikt mit den politischen, literarischen und philologischen Interpretationen, die der postum veröffentlichte Roman nach sich zog. Der erste Zwischenfall zeigte sich bei den Einwänden Carlo Muscettas, Ordinarius für italienische Literatur in Catania, mit Blick auf die Ausgabe von 1958, die Giorgio Bassani betreut hatte.

Im März jenen Jahres hatte ich Bassani das handschriftliche Manuskript von 1957 zur Verfügung gestellt. Bassani hatte es vor Augen, doch das Buch lag schon in den ersten Fahnen vor, und die sechs maschinenschriftlichen Teilstücke wurden nicht nach dem handschriftlichen Text neu getippt. 1969 übernahm ich die Aufgabe, die Version des Gattopardo nach dem Manuskript von 1957 zu veröffentlichen, das heißt: die Version, die Tomasi di Lampedusa in einem testamentarischen Brief vom Mai 1957 als die bezeichnete, der gefolgt werden sollte, sofern es den Erben gelingen würde, einen Verleger zu finden. Massimo Gangi, damals Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Giangiacomo-Feltrinelli-Stiftung, hatte dem Vorsitzenden Giuseppe Del Bo vorgeschlagen, mich anstelle eines aus Italianisten zusammengesetzten Verlagskomitees mit der Erarbeitung einer dem Manuskript von 1957 entsprechenden Ausgabe zu betrauen. Von da an widmete ich mich neben den vielen anderen Tätigkeiten meines Lebens zunehmend der Pflege des Werks von Tomasi di Lampedusa und führe diese Arbeit auch heute so fort.

Nach der Veröffentlichung der auf dem handschriftlichen Manuskript beruhenden Ausgabe stimmte die Fürstin der Veröffentlichung oder Überarbeitung anderer, noch unpublizierter Schriften nicht mehr zu. Livia De Stefani versuchte vergebens, die Rechte an einer für Francesco Orlando redigierten Ausgabe der Unterrichtsskripte über Französische Literatur und Englische Literatur für den Rizzoli Verlag zu erwerben; sie wollte der Fürstin sogar einen Maschinenschreiber für die Niederschrift zur Seite stellen. Doch diese hatte sich inzwischen an Giovanni Macchia und Gabriele Baldini gewandt, deren Kälte sie aber dermaßen abschreckte, dass darauf gar nichts mehr folgte.

Nach dem Tod von Alessandra Wolff Stomersee war es meine zweite Frau, Nicoletta Polo, die mich drängte, die Lampedusa-Papiere wieder in die Hand zu nehmen. Nicoletta durchforstete die schier endlose Menge von Papieren und Büchern, die im Palazzo der Via Butera verstreut waren. Auf diese Weise eröffnete sich eine zweite Phase der Publikationsgeschichte unseres Schriftstellers. 1988 erschienen bei Feltrinelli die Erzählungen, mit der Originalversion der Kindheitserinnerungen; 1990/91 bei Mondadori Englische Literatur; 1995, ebenfalls bei Mondadori, in der Reihe »Meridiano« Opere, worin der gesamte mehrmals überarbeitete literarische Nachlass des Autors zusammengefasst wurde und bis heute die sechste Auflage erreicht hat. Mit der Ausgabe des »Meridiano« schien der Fall Lampedusa abgeschlossen zu sein, doch bald darauf sollte sich eine dritte Phase eröffnen, und zwar mit der Veröffentlichung des Viaggio in Europa. Epistolario 1925 – 30 (Mailand, 2006), deutsche Erstausgabe unter dem Titel »Ein Literat auf Reisen. Unterwegs in den Metropolen Europas«, Piper Verlag 2009, auf den neue biografische Forschungen folgten und ebenso die Entdeckung einiger Passagen, die in die vorliegende neue Ausgabe der Erzählungen aufgenommen und durch einen umfangreichen kritischen Apparat ergänzt wurden. So werden die historischen und dynastischen Hintergründe erläutert und die Ortsnamen entschlüsselt, die Quellen kenntlich gemacht und die Zitate analysiert. Dieser Apparat verfolgt das Anliegen, den kreativen Prozess des Autors darzustellen – sein Verhältnis zu Fantasie und Wirklichkeit – und seine persönliche Technik der Maskerade, die der Ausgangspunkt seiner feinen, maliziösen Ironie ist.

Kindheitserinnerungen

Einführung zu »Kindheitserinnerungen«

Vor Kurzem habe ich die Kindheitserinnerungen erneut gelesen und überarbeitet. Die Gelegenheit bot sich angesichts einer neuen englischen Ausgabe, die im März 2013 erschien. Ich wollte den Text in seiner Vollständigkeit abschreiben, auch die Stellen, die lediglich ein Stimulus für das Gedächtnis sensibler und mithin dauerhafter Erinnerungen sind.

Das Originalmanuskript stellt sich als Entwurfkladde dar. Und diese Kladde ist so etwas wie ein Wunschtraum, hingeschrieben mit der Wucht und der mangelnden Übereinstimmung des Erwachens, der Unterdrückung der temporären Folgeerscheinung und der nur Augenblicke währenden Vorstellung einer erregenden Triebhaftigkeit, gewissermaßen eine Selbstanalyse auf dem libidinösen Weg des eigenen Lebens. Im Frühjahr 1955 hatte Tomasi di Lampedusa den ersten Teil des Gattopardo abgeschlossen und überarbeitet. Die ursprüngliche Idee, den Roman innerhalb einer Zeitspanne von vierundzwanzig Stunden (Vorbild Ulysses) spielen zu lassen, wird aufgegeben. Lampedusa hatte Henry Brulard (»Mitte Juni 1955«) wiedergelesen und nimmt sich vor, dessen »Methode … bis hin zur Zeichnung der ›Baupläne‹ von Hauptszenen« anzustreben.

In der Einführung erklärt der Autor, diese »Memoiren« in drei Teile gliedern zu wollen: »Der erste Teil, ›Kindheit‹, soll bis zu meinem Besuch des Gymnasiums gehen. Der zweite, ›Jugend‹, bis 1925. Der dritte, ›Reife‹, bis heute, einer Zeit, in der, meiner Meinung nach, das Alter beginnt.« Die Erinnerungen (schon vor der Einführung geschrieben) rufen weiter zurückliegende Ereignisse wach und bringen sie in ein chronologisches Bewusstsein. Machtvoll steigt der Wunsch auf, das »Haus« erneut zu besitzen, nämlich den Palazzo Lampedusa, der im Bombenhagel des 5. April 1943 zerstört wurde. Um die Visualität seiner Erinnerung erfahrbar zu machen, skizziert Lampedusa zwei »Pläne«: das Frisierzimmer der Mutter und einen allgemeinen Plan des Erdgeschosses. Danach folgen weiße Blätter und vermutlich eine zeitweilige Unterbrechung wegen der Niederschrift der Einführung. Und danach dann gleich Kindheit – Die Orte: Das angekündigte Projekt nimmt Gestalt an. Wir befinden uns nach wie vor in der Kindheit, ein Titel, der den beiden Orten vorangestellt wird, die genauer behandelt werden sollen. Der erste ist der Palazzo Lampedusa, der zweite der Palazzo Filangeri di Cutò in Santa Margherita Belìce. Die Beschreibung seines Geburtshauses ist von größtmöglicher Genauigkeit, ein überquellender Strom, der Bilder und Ergriffenheit miteinander verbindet. Beinahe so, als wollte Giuseppe es zurückholen und bergen, es Winkel um Winkel und Stück um Stück noch einmal erfahren und genießen. In Kindheit – Die Orte – Die anderen Häuser listet der Autor die ländlichen »Nebengebäude« auf, welche die Faszination des »Stammhauses« nur vergrößern: den Palazzo Filangeri di Cutò in Santa Margherita Belìce, die Villa Cutò in Bagheria, den Palazzo in Torretta, das Landhaus in Reitano. Ein anderer Untertitel: Das Schicksal dieser Häuser. Dann folgt der ausführlichste Teil der Erinnerungen: die lange, freudvolle und gleichzeitig herzzerreißende Erzählung einer glücklichen Kindheit im mütterlichen Schoß, den der Palazzo Filangeri in Santa Margherita und seine auf dem Land verstreuten Nebengebäude verkörperten. Diese Erkundung wird durch einen Einschub unterbrochen, Die Reise. Dann wird sie fortgesetzt mit einer Auflistung wenig gebrauchter Gegenstände – alter Tischwäsche, Schreibmaterialien, einigen Porträts örtlicher Notabeln – und schließt mit den ersten Unterrichtsstunden im Lesen, die dem achtjährigen kleinen Prinzen von einer zwar vom Land kommenden, aber tüchtigen Grundschullehrerin erteilt werden.

Die Skizzenkladde der »Memoiren« endet hier und wird nie wieder aufgeschlagen: Der Autor hat sich wieder ganz in den Gattopardo vertieft.

Alle Schriftsteller, die sich über den Gattopardo geäußert haben – von Eugenio Montale bis Marguerite Yourcenar, von Amos Oz bis Javier Marías, von Mario Vargas Llosa bis Jorge Guillén – sprechen mit Bewunderung über die Intensität der Fabulierkunst bei Lampedusa, über seinen Beitrag zum Fortbestand des historischen Romans als Abfolge sensibler Daten, subjektiver Erinnerungen, die mit der Wucht einer mythischen Erfahrung auftauchen und daher gleichgültig gegenüber dem Raum und den Beiläufigkeiten der Zeit sind. An diesem Punkt löst sich die Frage, ob der Autor zu spät oder zu früh erschienen ist, in Wohlgefallen auf. Viele Kollegen haben das Werk Lampedusas als einen wichtigen Augenblick ihrer eigenen Entwicklung angesehen. Sie haben hervorgehoben, wie er, von Proust ausgehend, die subjektive Anschauung präferierte und der Wahrheit voranstellte. Ohne alle Skrupel vollzieht Lampedusa mit Stil und Vergnügen die persönliche Aneignung von Geschichte. In diesem Kontext stellen die Kindheitserinnerungen, wenn man sie als Werkstatt der Reminiszenzen betrachtet, einen grundlegenden Übergang dar. Ein verantwortlich geführtes Leben kann glücklich, wenngleich auch melancholisch sein. In ihrer Eigenart als Kladdeneinträge lassen die Erinnerungen die Bergung der Geschichte als das Auftauchen unauslöschlicher Zeichen erahnen. Und ihre Enthüllung durch vorausgegangene oder nachfolgende Leser und Schriftsteller hat den Ehrgeiz, die menschliche Natur als Geschichte der Zuneigung und des Gefühls zu erzählen, als sensible Daten, unabhängig von der historischen Dokumentation und in ihrer Breite mitteilbar als Zeichen der Spezies. Tomasi geht – worauf, neben anderen, auch Jean-Paul Manganaro in einer französischen Neuausgabe der Erzählungen (Paris, 2014) aufmerksam macht – über Proust hinaus. In seinem einführenden Essay Appartenances weist er unter anderem auf den Ulysses und Virginia Woolf als Vorläufer hin; und auch T. S. Eliot müsste dazugezählt werden, vor allem sein Essay Hamlet and His Problems und seine Theorie des »objektiven Korrelativs«.[1]

Als meine Frau Nicoletta im Jahr 1989 zufällig ein Buch aus der historischen Bibliothek Tomasi di Lampedusas aufschlug, fand sie ein Blatt mit dem Anfang einer weiteren Erinnerung. Dieses Fragment ist alles, was von einem als Die anderen Häuser bezeichneten Textabschnitt übrig blieb. Darin wird über den Baronalpalast von Torretta erzählt. Von diesem Palazzo haben sich nur zwei Fotos erhalten: eines, das mit der Beschreibung des Schriftstellers übereinstimmt, nämlich mit einem Brunnen – der einzigen Wasserversorgung für das Dorf – vor der Hauptfassade; und das andere, das nach dem Bau eines Aquädukts aufgenommen wurde, auf dem der Brunnen verschwunden ist. Der Brunnen wirkt älter als die Fassade aus der Zeit des Übergangs vom 17. zum 18. Jahrhundert. Der Palazzo ist aus dem 18. Jahrhundert und weist die typische Bauweise eines Baronalpalasts auf, von dem wir hier ein weniger bedeutendes Beispiel haben. Auch dieser Palazzo wird kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verschwinden und damit das gleiche Schicksal erleiden wie alle von Lampedusa geliebten Orte. 1950 wird er abgerissen, und an seiner Stelle werden die Schulen des Orts erbaut: ein Gebäude des staatlichen Bauamts von scheußlichstem Geschmack, dessen Stahlbeton – in der Sprache Tomasi di Lampedusas – allmählich zerbröckelt. Torretta wurde von Rosalia Traina, Nichte des Erzbischofs von Agrigent, Francesco, als Mitgift in die Ehe mit Giulio Tomasi eingebracht.

Torretta erinnerte die Tomasis der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an die Schwindsucht, welche die Familie in mehreren Wellen dezimiert hatte. Umsonst hatte man einen Onkel des Schriftstellers nach Torretta geschickt, damit er sich in der Höhenluft des Orts erholen sollte; und an Schwindsucht starben auch der einzige direkte Cousin des Schriftstellers – Sohn seines Onkels Francesco – und die beiden einzigen männlichen Nachkommen Tomasi, die zu Beginn der Vierzigerjahre lebten. Und mit ihnen starb, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, auch die direkte Linie der Tomasi aus. Zudem war Torretta ein Nest der Mafia. Die Tomasis, die dort lebten, hatten Drohungen und Ehediktate hinnehmen müssen, und das noch bevor der Ort in die internationale Ehrenriege dieser Vereinigung aufgenommen wurde durch die Gründung der »Tower connection« – eines Clans, der zu fürchten war und dessen Mitglieder allesamt aus Torretta stammten (Torretta-Tower-Turm). Ich erinnere mich noch an den Sarkasmus, mit dem Tomasi di Lampedusa die Mafia-Razzien nach den Attentaten in den Fünfzigerjahren kommentierte. Die Di Maggios, die Badalamentas, die Gambinos erfreuten sich fast immer der Ehren der Lokalnachrichten, was seine zufriedene Zustimmung auslöste: »Donnerwetter!«, oder »Oh! Das hatte uns ja noch gefehlt!«, wenn, und das war meistens der Fall, die Familien von Torretta als die Drahtzieher dieser Bande verdächtigt wurden.

Das Torretta-Fragment, das die Vorder- und die Rückseite eines Blatts umfasst und mitten im Satz aufhört, lässt noch Spielraum für eine mögliche Fortsetzung. Und es dient uns als Schlüssel zu Sizilien: einem Sizilien voller Verzweiflung, wie es sich bei dem fahlen, trostlosen Aufbruch Chevalleys im Morgengrauen von Donnafugata zeigt.

Wenn der Leser das Grab Lampedusas bei den Kapuzinern in Palermo besucht, wird er dort oft Blumen finden. Ich denke mir, sie sind von Lesern dort niedergelegt worden, die in seinen Schriften den einen oder anderen Abschnitt gefunden haben, der sie mit dem Leben wieder versöhnt hat: Die Erinnerungen des Schriftstellers haben eine Komplizenschaft in den Erinnerungen des Besuchers wachgerufen. Der magmatische Zustand der Kindheitserinnerungen ähnelt dem einiger erhaltener Entwürfe zum Gattopardo. In seinen allerersten Niederschriften ist der Roman noch eine histoire sans nom, und die Namen der Protagonisten sind andere als die, die wir kennen. Die Niederschrift vermittelt in beiden Fällen den Eindruck eines stenografischen Rechenschaftsberichts zum zukünftigen Andenken. In den Kindheitserinnerungen hat der Autor einige Hypothesen einer Sinnesänderung kundgetan. Mitunter verweist er auf eine andere Sequenz der erhalten gebliebenen Materialien. Zudem weist das Manuskript der Erinnerungen verschiedene Streichungen auf. Teilweise sind sie sicher der Gattin zuzuschreiben, doch andere stammen vom Autor selbst. Einige Streichungen hängen von einer gemeinsamen Sichtweise ab: Für die Familie allzu persönliche und beleidigende Tatsachen werden zensiert. Zum Beispiel die respektlose Ablehnung des Hauses in der Via Butera (»das ist nicht mein Haus«) oder sein Bericht über die veraltete orthografische Ansicht des Onkels Pietro Tomasi della Torretta hinsichtlich des Worts »repubblica«: Das ist Teil einer bösartigen moquerie, die Giuseppe mit seinem Cousin, dem Dichter Lucio Piccolo, gemeinsam war und die im Grunde einen typischen Wesenszug der Linie Cutò darstellte. Alessandro Tasca Filangeri di Cutò ebenso wie seine Schwestern Maria Tasca Filangeri und Beatrice Tomasi di Lampedusa haben eine reiche Sammlung schneidender und schlagfertiger Anekdoten dieser Art hinterlassen und den Ruf, scharfzüngig zu sein, der von der Antipathie gegenüber ihren Opfern begleitet wurde: wicked jokes, die die engsten Familienmitglieder und die besten Freunde ins Visier nahmen und auch einen (komplizenhaften) Teil unserer Freundschaft ausmachte.

Andere Male sind die Streichungen, vor allem die endgültigen, in Tinte vorgenommenen, der Umformung des Textes für den Gattopardo zuzuschreiben: Der Abschnitt, in dem erzählt wird, dass Don Onofrio den vom Fürsten halb voll zurückgelassenen Cognacschwenker aufbewahrt hatte, ist wild durchgestrichen und für die vorliegende Ausgabe gegen das Licht entziffert worden.

Die unzensierten Erinnerungen verraten indessen dem Leser und Freund etwas über das wiedergewonnene Glück eines Mannes von achtundfünfzig Jahren. Das Spiel des aristokratischen Privilegs drückt sich nicht nur in Nostalgie aus, sondern auch in einer feinen, absichtsvoll verschwiegenen verbalen Arglist, gepaart mit einer reichhaltigen, köstlichen Anekdotensammlung der Familie.

Abgesehen von einer Rückkehr zum Licht, zur Identität nach einer Verlorenheit – einer Ausgrenzung aus persönlichen und, im sizilianischen Kontext, kollektiven, die eigene Klasse betreffenden Gründen –, öffnen die Kindheitserinnerungen auch die Werkstatt des Schriftstellers zur Zeit seines Meisterwerks. Wie ich schon im Vorwort zum Gattopardo angedeutet habe, wollte eine erste Fassung die gesamte Handlung des Romans in einem Zeitrahmen von vierundzwanzig Stunden unterbringen: Er wurde mehrmals sehr sorgfältig umgearbeitet, und auch wenn er um eine Erinnerungssequenz (die Unterhaltung mit Ferdinand II. in Caserta) bereichert wurde, konnte er ganz zweifellos die Sizilien- und Familienfabel nicht erschöpfend behandeln. Und so betreten an dieser Stelle die Erinnerungen den Schauplatz. Der Schriftsteller spürt die Dringlichkeit, über das von ihm selbst abgesteckte Feld hinaus zu erzählen. Und der Beginn ruft seinen Schmerz hervor: Den Palazzo Lampedusa gibt es nicht mehr; der Autor wird nicht in dem Zimmer sterben, in dem er geboren wurde und in dem er zu sterben hoffte. Doch als es zur Erkundung von Santa Margherita kommt, lässt die Stimmlage des Erzählten die Tröstung durch die Erinnerung hindurchscheinen. Die Niederschrift verfällt bisweilen in den Ton des Vermerks. Zum Beispiel wird die Beschreibung des großen Vorzimmers in Santa Margherita von einer Auflistung unterbrochen »[Campieri – Mützen, Uniformen, Gewehre, Hasen]«, und dieser Vermerk wird bei der Beschreibung der Miliz weiterentwickelt, die Don Onofrio bei der Begrüßung des Fürsten begleitet. Oder bei der Reise, nach dem Satz »Die Staubwolke stieg auf«, erscheint in den Erinnerungen »[Anna I, die doch immerhin in Indien gewesen war]«[2] eine Beobachtung, die sich auf S. 58[3] folgendermaßen verwandelt: »Mademoiselle Dombreuil, die französische Gouvernante, [war] völlig aufgelöst und – sich an die in Algerien bei der Familie von Marschall Bugeaud[4] verbrachten Jahre erinnernd – immerfort ›Mon Dieu, mon Dieu, c’est pire qu’en Afrique!‹ klagend …«. Und dieses Eindringen der Erinnerungen in den Roman wiederholt sich wenige Zeilen später wieder: »Alle waren bis zu den Wimpern, bis zu den Lippen, bis zu den Schleppen weiß vom Staub.« Indizien für eine möglicherweise kontextuelle Fassung.

Andererseits borden in dem Roman die Erinnerungen in alle Richtungen über. Die Ortsbezeichnung von Santa Margherita und der gesamten Umgebung wird übernommen, und jeder Schauplatz des Gattopardo hat seine Vorgeschichte in den Erinnerungen. Auch die Säle des Palazzo Ponteleone, die dem Autor besonders viel bedeuteten, sind den Räumlichkeiten des Settecento im Palazzo Lampedusa nachgebildet. Das positive Zeichen, das mit dem wiedereroberten Objekt verbunden ist, ist der Ariadnefaden dieser Transpositionen vom Gedächtnis zur Fantasie. Die literarische Konstruktion des Gattopardo verleiht der romanhaften Darstellung eine Beschleunigung, die typisch ist für einen Wunschtraum. In dieser Vision präsentiert sich der Roman als die Kompensierung dessen, was aus eigenem Verschulden oder aus dem Verschulden anderer verloren gegangen ist. Zeitliche Aufeinanderfolge und Wahrheit verlieren an Bedeutung, und an ihrer Stelle steigt eine Epiphanie sensibler, glorifizierter Geschehnisse auf. Psychologie und historisches Bewusstsein überführen eine private in eine exemplarische Erfahrung.

Giuseppe Tomasi erklärte sich gelegentlich zum Atheisten, und doch war er nicht davon überzeugt, dass alles hier unten zu Ende gehen würde. Die sensiblen Daten waren im Buch der Geschichte eingetragen und würden, solange die menschliche Spezies fortdauerte, über den Tod unserer hinfälligen Natur und unserer immerwährenden Emotionen hinaus Zeugnis ablegen. Die Geschichte der Freuden und Schmerzen, die Geschichte der Wünsche und Begierden, dieses Wirrspiel der Emotionen, sie tauchen immer wieder in der zeitgenössischen Literatur auf; die sensiblen Daten sind deren tragende Struktur, unauslöschlich und wirklichkeitsfremd. Die dauerhafte Bedeutsamkeit Tomasi di Lampedusas nach mehr als fünfzig Jahren seit der Veröffentlichung des Gattopardo liegt wahrscheinlich in dem begründet, was Olga Ragusa als die Fähigkeit des Romans, andere Romane hervorzubringen, beschrieben hat.[5] Die Literatur hat seit gut einem Jahrhundert den Versuch unternommen, die Gewissheit einer nach Abszissen und Ordinaten (Zeit und Raum) modellierten Welt aufzuheben. Die Moderne neigt dazu, das Orphische und den antiken Mythos wiederzuerlangen. Nach Platon haben die Künstler die Besonderheit der menschlichen Natur zu gestalten gewusst und sich damit in eine Reihe mit den Bakchen gestellt: »Sokrates: Daher nimmt der Gott ihnen [den Dichtern] den klaren Verstand und macht sowohl sie als auch die Seher und die Orakelkünder zu Dienern, damit wir als Hörer gewahr werden, dass nicht sie, welche diese so wertvollen Äußerungen von sich geben, es sind, denen kein klarer Verstand innewohnt, sondern der Gott selbst es ist, der da spricht, und er nur durch deren Mund für uns vernehmlich wird.«[6]

G. L. T.

Kindheitserinnerungen

Vorwort des Autors

Kindheitserinnerungen bestehen bei allen, glaube ich, aus einer Reihe visueller Eindrücke, von denen einige gestochen scharf sind, allerdings ohne jeden chronologischen Zusammenhang.

Ich glaube, es ist unmöglich, eine »Chronik« der eigenen Kindheit zu erstellen: Selbst bei allem guten Glauben würde man nur einen falschen Eindruck vermitteln, der oftmals auf erschreckenden Anachronismen beruht. Daher folge ich der Methode einer Themenanordnung und versuche, eher einen umfassenden Eindruck im Raum als eine zeitliche Abfolge darzustellen. Ich werde über die Welt meiner Kindheit sprechen, über Personen, die sie umgaben, über meine Gefühle, bei denen ich versuchen werde, nicht »a priori« deren Entwicklung zu folgen.

Ich könnte versprechen, nichts zu sagen, was falsch ist. Aber ich will nicht alles sagen. Ich behalte mir das Recht vor zu lügen, indem ich Dinge auslasse.

Es sei denn, ich ändere meine Meinung.

In diesen Tagen (Mitte Juni 1955) habe ich »Henry Brulard«[7] wiedergelesen, was ich seit 1922 nicht getan habe. Daran sieht man, dass ich noch unter der Obsession der »schönen Ausdrücklichkeit« und des »subjektiven Interesses« stand, und ich erinnere mich, dass mir das Buch nicht gefiel.

Jetzt aber kann ich denen nicht unrecht geben, die darin gewissermaßen Stendhals Meisterwerk erblicken. In ihm begegnet einem eine Unmittelbarkeit der Empfindungen, eine offensichtliche Ernsthaftigkeit, eine bewunderungswürdige Anstrengung, die aufeinanderfolgenden Erinnerungsschichten freizuschaufeln, um auf den Grund zu gelangen. Und was für eine Klarheit des Stils! Was für eine Anhäufung ebenso kostbarer wie ganz gewöhnlicher Eindrücke!

Ich möchte das Gleiche tun. Es scheint mir sogar eine Verpflichtung. Wenn man sich an der Neige des Lebens befindet, ist es geboten zu versuchen, so viele Gefühle wie möglich zu bündeln, die unseren Organismus durchströmt haben. Wenigen gelingt es, auf diese Weise ein Meisterwerk zu schaffen (Rousseau, Stendhal, Proust), doch allen sollte es möglich sein, dieserart etwas aufzubewahren, das ohne diese geringe Anstrengung für immer verloren gehen würde. Ein Tagebuch zu führen oder in einem bestimmten Alter die persönlichen Erinnerungen aufzuschreiben sollte eine »vom Staat auferlegte« Pflicht sein: Das nach drei oder vier Generationen angesammelte Material würde einen unschätzbaren Wert haben, viele psychologische und historische Probleme, welche die Menschheit bedrängen, würden sich lösen. Es gibt keine Erinnerungen, auch die von wenig bedeutenden Menschen geschriebenen, die nicht auch gesellschaftliche und pittoreske Werte ersten Ranges in sich tragen würden.

Das außergewöhnliche Interesse, das Defoes Romane erregen, liegt in der Tatsache begründet, dass sie gewissermaßen Tagebücher sind, und zwar geniale, weil apokryphe. Könnt ihr euch vorstellen, was dann erst die wirklichen wären? Könnt ihr euch das Tagebuch einer Pariser Kupplerin zur Zeit der Regentschaft Philipps von Orléans vorstellen oder die Erinnerungen des Kammerdieners von Byron während der Zeit in Venedig?

Ich werde versuchen, mich so eng wie möglich an die Methode des »Henry Brulard« zu halten, selbst noch beim Skizzieren der »Pläne« für die wichtigsten Szenen.[8]

Doch kann ich mich, was die »Qualität« der Erinnerung betrifft, mit Stendhal nicht einverstanden erklären. Er interpretiert seine Kindheit als eine Zeit, in der er Tyrannei und Anmaßung erfuhr. Für mich ist die Kindheit ein verlorenes Paradies; alle waren gut zu mir, ich war der König im Haus. Auch die Personen, die mir gegenüber später eine feindselige Haltung einnahmen, waren damals »aux petits soins«, sie lasen mir jeden Wunsch von den Augen ab. – [Die wirtschaftlichen Verhältnisse befanden sich in üppigster Blüte: … die meine Familie in jener Zeit heiter und ausgelassen verschlang … doch ans Geld…] –[9]

Ich möchte diese »Memoiren« in drei Teile gliedern. Der erste, »Kindheit«, führt bis zu meinem Besuch des Gymnasiums. Der zweite, »Jugend«, bis 1925. Der dritte, »Reife«, bis heute, ein Lebensabschnitt, mit dem, so denke ich, das Alter beginnt.

Erinnerungen

Eine meiner frühesten Erinnerungen, die ich zeitlich genau festlegen kann, weil sie sich auf eine historisch verifizierbare Tatsache bezieht, geht auf den 30. Juli 1900 zurück, mithin auf eine Zeit, zu der ich ein paar Tage älter als dreieinhalb Jahre war.

Ich befand mich zusammen mit meiner Mutter[10] und ihrer Zofe (wahrscheinlich Teresa aus Turin) in ihrem Ankleidezimmer. Dieses Zimmer war eher lang als breit und bekam sein Licht von zwei sich gegenüberliegenden Fenstertüren, die an den schmalen Seiten lagen, von denen die eine auf den engen Garten hinausblickte, der unser Haus vom Oratorium der heiligen Zita trennte, die andere auf einen kleinen Innenhof. Der Toilettentisch in »Haricot«-Form hatte eine Glasauflage, unter der ein rosafarbener Stoff zu sehen war, und seine Beine waren in eine Art spitzenbesetztes Untergewand eingewickelt. Er stand vor der Fenstertüre mit dem Ausblick zum Garten, und auf ihm befand sich neben Bürsten und anderen Gegenständen ein großer Spiegel, dessen Rahmen ebenfalls mit sternenverziertem Spiegelglas und sonstigen Kristallornamenten dekoriert war, die mir sehr gefielen.

Es war Vormittag, gegen 11 Uhr, glaube ich, und ich sehe das große Licht des Sommers, das durch die geöffnete Fenstertüre, aber bei geschlossenen Lamellenläden hereindrang.

Meine Mutter kämmte sich, dabei half ihr die Zofe, und ich saß – ohne heute noch zu wissen, was ich damals tat – auf dem Boden mitten im Zimmer. Ich weiß nicht, ob auch mein Kindermädchen bei uns war, Elvira aus Siena, doch ich glaube nicht.

Plötzlich hören wir hastige Schritte auf der Innentreppe, die die Verbindung zu den Gemächern meines Vaters[11] herstellte, die sich im unteren Mezzanin befanden, gleich unterhalb von uns. Ohne anzuklopfen tritt er ein und sagt aufgeregt einen Satz. Ich erinnere mich äußerst gut an den Tonfall dessen, was er sagte, aber nicht mehr an die Worte, noch an ihre Bedeutung.

Stattdessen »sehe ich« noch die Wirkung, die sie hervorriefen: Meine Mutter ließ die silberne Bürste mit langem Griff fallen, die sie in der Hand hielt. Teresa sagt »Bon Signour!«, und das ganze Zimmer ist bestürzt.

Mein Vater war gekommen, um die Ermordung König Umbertos[12] mitzuteilen, die sich am Abend zuvor, am 29. Juli 1900, ereignet hatte. Ich wiederhole: Ich »sehe« alle Licht- und Schattenstreifen der Fenstertüre, ich »höre« die erregte Stimme meines Vaters, das Geräusch der Bürste, die auf das Glas des Toilettentischs fällt, den piemontesischen Aufschrei der guten Teresa, ich »spüre wieder« die bedrückte Atmosphäre, die uns alle erfasste. Doch das alles bleibt persönlich abgetrennt von der Nachricht über den Tod des Königs. Die sozusagen historische Bedeutung wurde mir später mitgeteilt, und sie dient mir dazu, mir die Fortdauer der Szene in meiner Erinnerung zu erklären.

Eine andere Erinnerung, die ich zeitlich genau festlegen kann, ist die an das Erdbeben von Messina (28. Dezember 1908). Das Beben wurde in Palermo sehr deutlich wahrgenommen, doch daran erinnere ich mich nicht. Ich glaube, es hat meinen Schlaf nicht unterbrochen. Allerdings »sehe« ich sehr klar die große englische Pendeluhr meines Großvaters, die damals, völlig deplatziert, im großen Wintersaal stand und zur fatalen Stunde, nämlich 5 Uhr 20, stehen geblieben war. Ich höre einen meiner Onkel (ich glaube, es war Ferdinando, der nach allem, was mit Uhren zu tun hatte, verrückt war), wie er mir erklärt, dass sie wegen des Erdbebens der vergangenen Nacht stehen geblieben sei. Dann erinnere ich mich noch, dass ich abends gegen halb acht im Esszimmer meiner Großeltern[13] war (ich war oft zur Zeit des Abendessens bei ihnen, denn sie aßen früher als ich), als ein Onkel von mir, wahrscheinlich auch wieder Ferdinando, mit einer Abendzeitung hereinkam, die von »Schweren Schäden und zahlreichen Opfern in Messina aufgrund des Erdbebens heute Morgen« berichtete.

Ich spreche über »das Esszimmer meiner Großeltern«, sollte aber eigentlich sagen »meiner Großmutter«, denn mein Großvater war ein Jahr und einen Monat zuvor gestorben.[14]

Diese Erinnerung ist wesentlich weniger lebhaft als die vorhergehende, ist aber unter dem Gesichtspunkt »Was sich ereignet hat« wesentlich genauer.

Ein paar Tage später kam mein Cousin Filippo[15] aus Messina an, der seinen Vater und seine Mutter bei dem Erdbeben verloren hatte. Er logierte bei meinen Cousins, den Piccolos[16], zusammen mit seinem Cousin Adamo, und ich erinnere mich, wie ich zu den Piccolos ging, um ihn an einem bedrückenden Regentag im Winter zu besuchen. Ich erinnere mich, dass er einen Fotoapparat (schon damals!) bei sich hatte, den er geistesgegenwärtig an sich gerissen hatte, als er aus den Trümmern seines Hauses in der Via della Rovere floh, und wie er an einem Tisch beim Fenster die Umrisse von Kriegsschiffen zeichnete und dabei mit Casimiro über das Kaliber der Kanonen und die Stellungen der Türme diskutierte. Diese distanzierte Haltung bei ihm inmitten all des schrecklichen Unglücks, das ihn getroffen hatte, wurde damals zwar in der Familie kritisiert, doch mildtätig dem »Schock« (damals nannte man das »Impression«) zugeschrieben, den das Unheil ausgelöst hatte und der nach allgemeiner Ansicht allen Überlebenden von Messina eigen war. Später erkannte man darin wohl richtiger die Kälte seines Charakters, der nur vor technischen Fragen zu jubeln begann, wie eben die Fotografien und die Türme der ersten »dreadnoughts«.[17]

Hinsichtlich des Erdbebens von Messina erinnere ich mich auch an den Schmerz meiner Mutter, als einige Tage darauf die Nachricht eintraf, dass die Leichen ihrer Schwester Lina und ihres Schwagers aufgefunden worden seien. Ich sehe meine Mutter schluchzend in einem großen Sessel des Grünen Salons sitzen, in den sich nie jemand setzte (denselben allerdings, in dem ich meine Urgroßmutter sitzen »sehe«), eingehüllt in ein kurzes Cape aus »Astrachan Moiré«. Ich erinnere mich auch an die großen Militärkarren, die durch die Straßen zogen, um Wäsche und Decken für die Flüchtlinge einzusammeln; einer von ihnen zog auch durch die Via Lampedusa, und von einem Balkon unseres Hauses ließ man mich einem Soldaten, der aufrecht auf dem Karren stand, zwei Wolldecken reichen. Der Soldat mit seiner blauen, orangefarben betressten Militärkappe gehörte der Artillerie an; ich sehe noch sein gerötetes Gesicht und höre, wie er mit emilianischem Tonfall sagt »Grazzie, ragazzo«. Auch erinnere ich mich, wie man zueinander sagte, dass die Flüchtlinge, die überall einquartiert waren, auch in den Logen der Theater, miteinander »auf unanständigste Weise« umgehen würden, und an meinen Vater, der lächelnd sagte, »Sie wollen liebend gern die Toten ersetzen« – eine Anspielung, die ich problemlos verstand.

Von meiner Tante Lina, die beim Erdbeben gestorben war (und deren Ende die Serie tragischer Todesfälle unter den Schwestern meiner Mutter eröffnete, die den ganzen Katalog der drei Arten von gewaltsamem Tod bot: das Unglück, der Mord und der Selbstmord),[18] bewahre ich keine gestochen scharfe Erinnerung auf. Sie kam nur selten nach Palermo. Dagegen erinnere ich mich an ihren Gatten, der zwei quicklebendige Augen hinter seiner Brille hatte und einen leicht ergrauten, zerzausten Bart trug.

Ein weiterer Tag hat sich mir deutlich ins Gedächtnis eingeprägt. Ich kann ihn zwar nicht genau bestimmen, aber es war ganz sicher lange Zeit vor dem Erdbeben in Messina, ja, ich glaube, es war kurz nach dem Tod von König Umberto. Wir waren zu Gast bei den Florios in deren Villa in Favignana, es war Hochsommer. Ich erinnere mich, dass Erica, das Kindermädchen, mich früher wecken kam als sonst, gegen 7[19]auf die Stirn

Am Nachmittag wurde mir erklärt, dass die alte Dame Eugénie war, die einstige Kaiserin der Franzosen, deren »Yacht« vor Favignana vor Anker lag. Sie war am Abend zuvor bei den Florios zum Nachtessen gewesen (wovon ich natürlich nichts wusste) und hatte am Morgen einen Abschiedsbesuch abgestattet (zu dieser Uhrzeit, um sieben, womit sie mit imperialer Gleichgültigkeit meine Mutter und Signora Florio einer wahren Folter unterzog), bei dem man die Sprösslinge vorstellen wollte. Der Satz, den sie sagte, bevor sie mich küsste, war wohl: »Quel joli petit!«[20]