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Für Lucia Stanescu

Übersetzung aus dem Italienischen von Luis Ruby

ISBN 978-3-492-97611-4

Mai 2017

© Sellerio Editore, Palermo 2015

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Getty Images und Shutterstock

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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Ich lebte nicht. Stumm auf den stummen Seiten

Beschrieb ich ihn, erstaunte mich zuzeiten.

Ich lebe nicht. Allein, eisig, daneben,

Sehe ich mich lächelnd selber leben.

Guido Gozzano

EIN KÖNIGLICHES THEATER

Lustspiel in drei Akten

Figuren in der Reihenfolge ihres Auftretens:

RUGGERO BALESTRIERI: Tenor und zudem militanter Anarchist. Überzeugter Vertreter der Idee, dass alle Menschen gleich sind, er ausgenommen.

BARTOLOMEO CANTALAMESSA: Impresario und Alleinverantwortlicher der renommierten Kompanie »Nomadisches Arkadien«, dessen wichtigste Aufgabe darin besteht, Streit zwischen den dort beschäftigten Sängern zu verhindern. Womit er ganz schön zu tun hat.

ALFREDO FRASSATI: Herausgeber der Tageszeitung La Stampa. Hat einen Sohn, der einst seliggesprochen werden wird.

ERNESTO RAGAZZONI: Journalist bei La Stampa, Dichter und Musik- und Kunstkenner. Liebt die Farbe Rot, ob auf Fahnen oder im Weinglas. Läuft keinerlei Gefahr, kanonisiert zu werden.

TERSILIO BENTROVATI: Intendant des Neuen Theaters in Pisa. Ein guter Mann, der versucht, sein Bestes zu geben. Was wie so häufig nicht ausreicht.

GIANFILIPPO PELLEREY: Carabiniere, Leutnant beim Korps der Königlichen Wache. Von hohem Wuchs und hohen Werten.

RENATO MARIA MALPASSI: Dirigent. Brutal gegenüber den Wehrlosen, unterwürfig gegenüber den Vierschrötigen, zartfühlend zu den Tenören und hysterisch zu den Sopranen.

CLETO STRAMBINI: Aufseher und Faktotum am Neuen Theater in Pisa. Tritt nur ein einziges Mal auf und ist nicht der Mörder, machen wir also keine weiteren Worte um ihn.

ULRICO DALMASSO: Hauptmann beim Korps der Königlichen Wache. Unmittelbarer Vorgesetzter von Leutnant Pellerey und ein ganzer Kerl. Wobei man sich fragt, ganz was?

BARTOLO AMIDEI, genannt CHARON: Steinmetz aus Carrara und daher Anarchist. Hat den Auftrag, den heiligen Kaspar in Stein zu meißeln.

ARTEMIO CATTONI, genannt BARABBAS: siehe oben.

RENATO BRANDINI, genannt TAMBURIN: siehe oben, nur dass er an einer Statue des heiligen Vitalis arbeitet.

ROSILDO CASTRIOTA, genannt TARALLO: siehe oben, aber auf etwas höherem Niveau in puncto Bildung und ihm zuerkannter Autorität.

GIUSTINA TEDESCO: Sopranistin mit schöner Stimme, schönem Äußeren und schönen Aussichten. Einzige Frau der Kompanie – schließlich gibt es in Tosca ja nur eine weibliche Rolle.

PIERLUIGI CORRADINI: Waffenmeister der Kompanie. Adrett und elegant, aber auch ehemaliger Soldat und stets bereit, zur Verteidigung seiner Ehre die Waffe zu ziehen.

TESEO PARENTI: Bass und auch körperlich eher in tiefen Lagen unterwegs. Wenn er den Raum betritt, klopfen die anderen zu ihrer Verteidigung auf Holz.

ANTONIO PROIETTI: Statist, also Randfigur, wobei er durchaus eine gute Figur macht, weil groß, gut aussehend und intelligent. Wenn auch weniger, als er sich einbildet.

ROMOLO BONAZZI & REMO POMPONAZZI: Bühnentechniker. So genial wie anarchistisch, und sie sind wirklich Anarchisten. Stets zusammen, im Leben wie auf dem Theater. Zu Gesicht bekommt man sie nie, doch ohne sie wäre dieses Buch nicht denkbar. Wie bei jedem Schauspiel, das auf sich hält.

OUVERTÜRE

oder Tosca aus Sicht eines Toskaners

Nichts kann so schnell wie eine Oper in kürzester Zeit vom Bewegenden zum Lächerlichen wechseln, wenn das Schicksal es so will.

Tatsächlich ist ja schon die Oper an sich eine künstliche und nur durch ein Wunder haltbare Situation, die uns Belcanto-Fans einen geradezu maßlosen Abstraktionswillen abverlangt. Es fällt nicht leicht, gerührt zu sein, wenn ein Bariton, dem ein Messer in den Leib gerammt wurde, aus voller Kehle eine Romanze intoniert, anstatt auf offener Bühne zusammenzubrechen, wie es von einem halbwegs wohlerzogenen Menschen zu erwarten wäre, dem gerade die Niere durchbohrt wurde. Und es bedarf einer gewaltigen Konzentration auf die Musik, um nicht laut loszulachen, wenn ein siebzigjähriger Tenor in der Rolle des verliebten Jünglings die Schönheit einer Mezzosopranistin preist, die so viel Raum einnimmt wie zwei Kontrabässe.

Die Oper steht kraft ihrer eigenen Natur außerhalb der Wirklichkeit. Und der Melomane, der einzig wahre Opernliebhaber, der stets neuen Interpretationen immer gleicher – und gleich unglaublicher – Arien lauscht, sucht genau dies.

Leider vergisst die Wirklichkeit zuweilen ihre gute Kinderstube und stürmt hinaus auf die Bühne, und das mit einem Enthusiasmus, der jenem des obsessiven Opernfreunds in nichts nachsteht. Und wenn sie sich dazu entschließt, einen Sänger umzugrätschen, dann fast immer bei einer Inszenierung von Tosca.

Von den tausend und mehr Anekdoten über barocke Verwicklungen, die sich ergeben können, wenn eine Oper auf die Bühne gebracht wird, dreht sich mehr als die Hälfte um die Sopranistin, die sich in den Maler Cavaradossi verliebt. Und fast alle ereignen sich wie einem Naturgesetz folgend am Schluss der Aufführung.

Bekanntlich muss Tosca am Ende der Oper erkennen, dass ihr geliebter Maler von echten Gewehrkugeln durchsiebt wurde und nicht von Platzpatronen. Das Erschießungskommando auf den Fersen, beschließt sie, sich das Leben zu nehmen, indem sie sich von den Basteien der Engelsburg stürzt. In dieser bei Regisseuren so beliebten wie beim Rest der Kompanie gefürchteten Szene muss sich eine Sängerin aus nicht unbeträchtlicher Höhe fallen lassen. Die wenigsten Bühnenkünstler sind in körperlicher Hochform, von den Tänzern einmal abgesehen. Weshalb bei einer der ersten Aufführungen in Übersee die Techniker der New Yorker Metropolitan Opera, um der Sopranistin den Kontakt von Zahnfleisch und Bühne zu ersparen, unterhalb der Kulissen, also der Festung, einen elastischen Teppich aufspannten. Dieser Teppich war auf das Gewicht der Titular-Tosca ausgerichtet, die um die fünfzig Kilo wog, nicht jedoch auf das ihrer Stellvertreterin, die auf die hundert zuging.

Bedauerlicherweise sang am vierten Abend die Stellvertreterin.

Und stürzte sich so schwer wie glaubhaft in die Tiefe, wo sie dann auf dem Teppich auf- und abprallte, bald hinter den Bastionen aus Pappmaché auftauchend, bald wieder darunter verschwindend, während das Orchester diese olympiareife Leistung in Unkenntnis des Dramas mit wehmütigen Akkorden unterlegte.

In diesem Fall war der Dung am Dampfen, weil der Regisseur ein Übermaß an professionellem Einsatz verlangt hatte. In anderen Fällen gründet das Malheur darauf, dass es gerade hieran fehlt. So wie an der Oper von Pittsburgh, wo man mangels Statisten Schüler von der örtlichen Highschool für das Erschießungskommando einteilte. Und neben den Einschränkungen beim Personal litt die Produktion auch an zeitlicher Enge. So kam es, dass die Generalprobe nur unvollständig stattfand und die Schüler das Stück nicht bis zum Ende miterlebten. Vor der Premiere erkundigten sich die Mitglieder des bartlosen Pelotons beim Regisseur, was sie zu tun hätten, und der Regisseur antwortete: »Erst erschießt ihr den Mann, dann folgt ihr der Frau.« Und daran hielten sie sich: Nachdem Cavaradossi erschossen worden war, folgten die Grenadiere der Tosca bis hinauf auf die Basteien, wo sich die Sopranistin voller Verzweiflung in die Tiefe stürzte. Voller Verzweiflung und mit dem gesamten Erschießungskommando hinterdrein, dessen Mitglieder ins Leere sprangen wie ihren Weisungen getreue Marines.

Nicht immer freilich ereignet sich das Unerwartete auf der Bühne. Manchmal tragen auch die Zuschauer ihr Scherflein bei, so wie am Teatro di San Carlo in Neapel, wo die Rolle des Cavaradossi an einen derart ungeeigneten und beschränkten Tenor fiel, dass nach seiner Erschießung das gesamte Publikum, vom Parkett bis in die letzte Reihe, seine grauenhafte Darbietung mit einem spontanen Beifallssturm quittierte, zur Feier des Pelotons, der ihn gerade füsiliert hatte.

Das alles sind gewiss peinliche Situationen; doch wenn man objektiv sein möchte statt meloman, so kann man im Grunde mit einem herzlichen Lachen darüber hinweggehen. Ganz anders lägen die Dinge, würde am Ende der Oper tatsächlich jemand auf der Bühne erschossen.

Und genau das geschah am 1. Juni des Jahres 1901 am Neuen Theater in Pisa, vor den Augen Seiner Exzellenz Viktor Emanuel III., der damals bereits Fürst von Neapel war und noch nicht Kaiser von Äthiopien, durchaus aber König von Italien, wenn auch erst seit weniger als einem Jahr.

Erster Akt