Hamilton, Peter F. Fehlfunktion

PIPER

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PIPER

 

Übersetzung aus dem Englischen von Axel Merz

 

ISBN 978-3-492-96562-0
Mai 2017
© Peter F. Hamilton 1996
Titel der englischen Originalausgabe:
»The Reality Dysfunction, Part 2«, PanMacmillan, London 2012
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2017
Erstmals erschienen bei Bastei Lübbe AG, Köln 2000
Covergestaltung: Guter Punkt, München
Covermotiv: Guter Punkt, Stephanie Gauger unter Verwendung von Motiven von Shutterstock und Thinkstock
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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1. Kapitel

Graeme Nicholson saß auf seinem gewohnten Platz an der Bar im Crashed Dumper, dem Hocker, der am weitesten entfernt stand von dem plärrenden Audioblock, und lauschte Diego Sanigra, einem Besatzungsmitglied der Bryant, welcher sich über die Art und Weise beschwerte, wie Colin Rexrew mit dem Schiff umgesprungen war. Die Bryant war ein Kolonistentransporter und zwei Tage zuvor im Orbit über Lalonde eingetroffen, und bis jetzt war nicht einer der fünfeinhalbtausend Kolonisten an Bord aus seiner Null-Tau-Kapsel befreit worden. Die Geschichte sei ein einziger Skandal, behauptete Sanigra, und der Gouverneur besitze nicht das Recht, die Kolonisten an der Ausschiffung zu hindern. Und die Energie, die jede zusätzliche Stunde im Orbit verschlang, koste ein Vermögen. Die Liniengesellschaft würde die Schuld der Besatzung zuschieben, wie sie es immer tat. Sein Lohn würde geringer ausfallen, ein Bonus würde ersatzlos gestrichen, seine Aussichten auf eine Beförderung sinken, wenn nicht gar wie eine Seifenblase zerplatzen.

Graeme Nicholson nickte verständnisvoll, während seine neurale Nanonik die unzusammenhängende Geschichte in einer Speicherzelle sicherte. Es war nicht viel Brauchbares dabei, doch Sanigras Geschichte bot gutes Hintergrundmaterial. Wie der große Konflikt selbst Einzelschicksale berührte. Genau die Sorte von Reportage, die er so perfekt beherrschte.

Graeme war achtundsiebzig Jahre alt und seit zweiundfünfzig Jahren Reporter. Er war überzeugt, daß kein didaktischer Kurs über Journalismus ihm noch etwas Neues bieten könnte, nicht mehr. Mit seiner Erfahrung hätte er didaktische Kurse zusammenstellen sollen – nur, daß es in der gesamten Konföderation keinen Herausgeber bei einem Nachrichtenmagazin gab, der geduldet hätte, daß junge Nachwuchsreporter in einem derartigen Ausmaß korrumpiert wurden. Graeme war im buchstäblichen Sinne des Wortes ein Schreiberling mit einem todsicheren Instinkt, das alltägliche Leid in schlüpfrige, epische Tragödien zu verwandeln. Er hatte es auf den Bauch der Zuschauer abgesehen, und er war jemand, der das Elend und Unglück der kleinen Leute hervorhob, auf denen herumgetrampelt wurde und die sich nicht wehren konnten gegen die massive, seelenlose Gewalt von Regierungen, Bürokraten und großen Konzernen. Es hatte nichts mit einer moralischen Entrüstung zu tun; Graeme favorisierte seiner eigenen Meinung nach ganz gewiß nicht die Unterprivilegierten. Er hatte einfach das Gefühl, daß niedere Emotionen eine bessere Geschichte abgaben und damit höhere Zuschauerzahlen. Bis zu einem gewissen Grad hatte er sogar angefangen, wie die Opfer auszusehen, mit denen er so wunderbar mitfühlen konnte; teilweise unbewußt, denn sie waren nicht so mißtrauisch gegenüber jemandem, dessen Kleidung nicht genau paßte, der eine dicke, rötliche Haut besaß und wäßrige Augen.

Graemes Art von Sensationshascherei war bei den Boulevardsendern beliebt, doch indem er sich auf die zweifelhaften Aspekte konzentrierte, in denen er sich am besten auskannte, und sich auf diese Weise einen Ruf als Spezialist für Abfall und Unrat erwarb, fand er sich nach und nach aus den prestigeträchtigeren Aufträgen herausgedrängt. Er hatte seit einem ganzen Jahrzehnt keine halbwegs vernünftige Story mehr abgeliefert. Im Verlauf der letzten Jahre hatte er seine neurale Nanonik immer weniger dazu verwandt, Sens-O-Vis-Aufzeichnungen anzufertigen, und statt dessen Stimulationsprogramme laufen lassen. Time Universe hatte ihm vor acht Jahren einen umfassenden Auftrag erteilt und ihn damit auf all die kleinen schäbigen Jobs abgeschoben, die niemand sonst angenommen hätte, der auch nur eine Spur von Erfahrung besaß. Alles, um ihn von den Studios und den Büros der Nachrichtendirektoren fernzuhalten, in denen die anderen seines Jahrgangs mittlerweile gelandet waren.

Nun, das sollte sich jetzt ändern.

Jetzt war die Zeit für seine Revanche gekommen. Graeme Nicholson war der einzige Reporter vor Ort, und er hatte Einfluß und Prestige. Lalonde würde ihm den Lohn einbringen, der ihm all die Jahre vorenthalten worden war, und vielleicht sogar einen von diesen behaglichen, warmen Bürostühlen daheim auf Decatur. Graeme Nicholson war seit drei Monaten auf Lalonde, um eine Art Dokumentation über die neue Welt und ihre Entwicklung anzufertigen und allgemeine Sens-O-Vis Eindrücke von den Siedlern und der Landschaft aufzuzeichnen – für die Bibliotheksspeicher der Nachrichtenagentur.

Und dann war Lalonde in diese wunderbaren Kalamitäten geraten. Kalamitäten, die sowohl den Planeten als auch seine Bevölkerung trafen, den Gouverneur Colin Rexrew und den Stab der LEG, doch für Graeme Nicholson waren sie wie Manna, das vom Himmel fiel.

Es herrschte Krieg – oder eine Zettdee-Revolte oder eine Xeno-Invasion, abhängig davon, mit wem man sich gerade unterhielt. Graeme hatte alle drei Möglichkeiten untersucht und stichhaltige Hinweise auf seiner Flek gespeichert, die in der letzten Woche an Bord der Eurydice nach Avon gegangen war. Merkwürdig nur, daß der Gouverneur nach zweieinhalb Wochen noch immer keine offizielle Stellungnahme abgegeben hatte, was genau sich oben am Quallheim und am Zamjan River abspielte.

»Dieser Stellvertreter von Rexrew, dieser Terrance Smith – er redet davon, uns zu einer anderen Koloniewelt der Stufe Eins zu schicken«, polterte Diego Sanigra. Er nahm einen weiteren Schluck Bier aus seinem Krug. »Als würde uns das einen Deut weiterhelfen. Was würden Sie sagen, wenn Sie als Kolonist für eine Passage nach Lalonde bezahlt hätten, um sich nach dem Erwachen aus Null-Tau plötzlich auf Liao-tung Wan wiederzufinden? Eine ethno-chinesische Welt, wissen Sie? Sie würden die euro-christlichen Kolonisten hassen, die wir ihnen bringen.«

»Hat Terrance Smith etwa vorgeschlagen, die Kolonisten nach Liao-tung Wan zu bringen?« erkundigte sich Graeme Nicholson.

Sanigra grunzte unverbindlich. »Das sollte nur ein Beispiel sein.«

»Was ist mit Ihren Treibstoffreserven? Haben Sie genügend Helium-III und Deuterium an Bord, um zu einer anderen Koloniewelt zu fliegen und anschließend wieder zur Erde zurückzukehren?«

Diego Sanigra setzte zu einer Antwort an. Graeme Nicholson lauschte beiläufig, während seine Blicke durch das überfüllte Lokal schweiften. Am Raumhafen war gerade Schichtwechsel gewesen. Im Augenblick flogen die McBoeings nicht besonders häufig. Lediglich die drei Frachter im Orbit um Lalonde wurden entladen; die sechs Kolonistentransporter warteten auf eine Entscheidung Colin Rexrews, was mit ihren Passagierkomplementen geschehen sollte. Die meisten Raumhafenarbeiter zeigten sich lediglich kurz zu Beginn ihrer Schicht, damit sie weiterhin ihren vollen Lohn beanspruchen konnten.

Ich frage mich, was sie zum Ende der Überstunden sagen, dachte Graeme. Vielleicht ergibt sich daraus eine weitere Geschichte.

Der Crashed Dumper jedenfalls litt ganz sicher nicht unter den Unruhen, die den Rest der Stadt beeinträchtigten. Er lag zu weit abseits, und in dieser Gegend wurde nicht gegen Rexrew oder die Zettdees protestiert und demonstriert. Hier wohnten zu viele Angestellte der LEG mitsamt ihren Familien. An diesem Abend war das Lokal stark besucht; viele Leute waren gekommen, um ihre Sorgen in Alkohol zu ertränken. Die Kellnerinnen hetzten von einem Ende des langgestreckten Schankraums zum anderen. Die Ventilatoren an der Decke drehten sich rasch, doch sie konnte nicht viel an der Hitze ändern.

Graeme hörte, wie der Audioblock in der Ecke stockte. Die Stimme des Sängers wurde langsamer, vertiefte sich zu einem merkwürdigen Baßrumpeln. Dann wurde sie wieder schneller, zu schnell diesmal, und verwandelte sich in einen mädchenhaften Sopran. Die Menschen, die sich um den Block drängten, lachten zuerst, doch dann schlug einer mit der Faust auf den Apparat. Nach einem Augenblick kehrte die gewohnte Lautstärke zurück.

Graeme erblickte einen großen Mann und eine wunderschöne junge Frau. Sie schoben sich an ihm vorbei. Irgend etwas am Gesicht des Mannes erschien ihm vertraut. Die Frau erkannte er als eine der Kellnerinnen des Lokals, obwohl sie an diesem Abend eine Jeans und eine einfache Baumwollbluse trug. Doch der Mann – er war in mittlerem Alter, besaß einen kurzen Bart und einen Pferdeschwanz und trug eine elegante Lederjacke über aschgrauen Hosen. Und er war sehr groß. Fast wie ein Edenit.

Das Glas Lager fiel aus Graemes plötzlich taub gewordenen Fingern. Es prallte auf die Mayope-Dielen und zerplatzte, und der Inhalt durchnäßte seine Schuhe und Socken. »Verdammte Scheiße!« krächzte er. Die Furcht, die seine Kehle mit einemmal zusammenschnürte, ließ den Ausruf zu einem bloßen Flüstern werden.

»Alles in Ordnung?« fragte Diego Sanigra, weil jemand es gewagt hatte, ihn mitten in seiner Beschwerde zu unterbrechen.

Graeme riß sich vom Anblick des Pärchens los. »Ja«, stammelte er. »Ja, alles in Ordnung, danke.« Glücklicherweise hatte niemand den Zwischenfall beachtet. Wenn er sich umgedreht hätte … Graeme errötete im nachhinein und bückte sich, um die Glasscherben aufzuheben. Als er sich wieder aufrichtete, stand das Paar bereits an der Theke. Irgendwie war es ihnen gelungen, sich problemlos durch das Gedränge zu schieben.

Graeme startete ein Suchprogramm in seiner neuralen Nanonik. Nicht, daß er sich vielleicht hätte irren können. Das Programm fand ein Bild in der Datei mit den Persönlichkeiten öffentlichen Interesses, aufgenommen vor vierzig Jahren. Es paßte perfekt.

Laton!

 

Lieutenant Jenny Harris schnalzte mit den Zügeln, und das graubraune Pferd schlug einen weiten Bogen um den Qualtook-Baum ein. Abgesehen von einem didaktischen Kursus und einer Woche im Sattel vor fünf Jahren, im Verlauf einer ESA-Transportübung daheim auf Kulu, besaß sie keinerlei Erfahrung im Umgang mit Reitpferden. Und doch war sie jetzt hier und führte eine Expedition durch einen der dichtesten Dschungelabschnitte im gesamten Netzwerk aus Nebenflüssen des Juliffe, und gleichzeitig versuchte sie noch, der Aufmerksamkeit einer möglichen militärischen Invasionsstreitmacht zu entgehen. Es war nicht die beste Methode, um sich in die Kunst des Reitens zu vertiefen. Sie glaubte, das Pferd müsse ihr Unbehagen spüren, denn es benahm sich störrisch. Nach lediglich drei Stunden im Sattel schrie jeder einzelne Muskel vom Bauchnabel abwärts um Gnade. Ihre Arme und Schultern waren steif, ihr Hintern hatte erst noch von der ungewohnten Anstrengung geschmerzt und war dann taub geworden, bevor er sich anfühlte, als würden tausend Nadeln ihn durchbohren.

Ich frage mich, was diese Anstrengung mit meinen Implantaten macht.

In ihrer neuralen Nanonik lief ein erweitertes Sensor-Analyseprogramm, das ihre periphere Sicht erweiterte und die Hörschwelle für akustische Signale herabsetzte und beide Quellen nach Anzeichen von versteckten Feinden absuchte. Im Grunde genommen handelte es sich um nichts weiter als elektronische Paranoia.

Seit sie von Bord der Isakore gegangen waren, hatten sie nichts entdeckt, was auch nur entfernt nach Bedrohung ausgesehen hätte – mit Ausnahme eines einzelnen Sayce, und selbst der hatte sein Glück gegen drei große Pferde nicht auf die Probe stellen wollen.

Jenny hörte Dean Folan und Will Danza hinter sich und fragte sich, ob sie ähnliche Probleme mit ihren Pferden hatten. Die beiden Soldaten der ESA G66 Division (Taktischer Kampf) in ihrem Rücken waren ein stärkerer Trost als alles, was ein Stimulationsprogramm zustande bringen konnte. Jenny war in allgemeinen verdeckten Operationen ausgebildet, doch die Gene der beiden waren praktisch für den Kampf gezüchtet, und im Zusammenspiel mit ihren nanonischen Supplementen waren sie phantastische Kampfmaschinen.

Dean Folan war Mitte Dreißig, ein stiller, dunkelhäutiger Mann mit der Art von subtilem guten Aussehen, die fast allen genetisch Manipulierten zu eigen war. Er war nur durchschnittlich groß, doch seine Gliedmaßen waren lang und kräftig und ließen seinen Torso beinahe verkümmert wirken. Jenny wußte, daß es an der verstärkten Muskulatur lag; die siliziumfaserverstärkten Knochen waren verlängert worden, um den Muskeln eine bessere Hebelwirkung zu verschaffen – und um mehr Platz für Implantate zur Verfügung zu stellen.

Will Danza paßte genau in die Vorstellung, die Menschen von einem modernen Soldaten hatten: fünfundzwanzig Jahre alt, groß, breitschultrig, mit langen, geschmeidigen Muskeln. Er war der Genotyp des alten preußischen Gardisten, blond, höflich und ohne jeden Humor. Er war von einer fast körperlich spürbaren Aura der Gefahr umgeben; man legte sich in einer Kneipe nicht mit einem Typ wie Danza an, ganz egal, wieviel man getrunken hatte. Danza hatte im Verlauf der letzten drei Jahre an drei geheimen Aktionen teilgenommen. Jenny hatte seine Personalakte eingesehen, als der Dschungeleinsatz noch im Planungsstadium gewesen war; es waren harte Aktionen gewesen, und eine davon hatte ihm acht Monate in einem Hospital eingebracht, wo er aus geklonten Organen wiederhergestellt worden war, sowie einen Smaragdstern, verliehen vom Duke von Salion, dem ersten Cousin von Kulus Alastair II und Vorsitzenden der Sicherheitskommission des Geheimen Staatsrates von Kulu. Danza hatte während der gesamten Reise den Fluß hinauf kein Wort über die Geschichte verloren.

Ringsum veränderte sich der Dschungel nach und nach. Dicht an dicht stehendes Gestrüpp wich langen, schlanken Bäumen mit einer Krone, die sich in dreißig Metern Höhe wie Farnwedel ausbreitete. Eine dichte Decke aus Kriechpflanzen bedeckte den Boden und wand sich an den Stämmen hinauf, um das untere Drittel in ein dichtes konisches Geflecht zu hüllen. Die Sichtweite wurde dramatisch vergrößert, doch die Pferde mußten genau aufpassen, wohin sie ihre Hufe setzten. Hoch über ihren Köpfen sprangen Vennais mit unglaublichen Sätzen durch die Lüfte oder jagten an den schlanken Stämmen in die Höhe, um sich im Blattgewirr der Baumkronen zu verbergen. Jenny konnte nicht erkennen, wie sie sich an der glatten Rinde festhielten.

Nach weiteren vierzig Minuten erreichten sie einen kleinen Bachlauf. Jenny stieg mit vorsichtigen Bewegungen ab und ließ ihr Pferd trinken. In der Ferne sah sie eine Herde Danderil, die sich von dem schmalen Rinnsal entfernte. Von Westen her zogen weiße Wölken heran. In spätestens einer Stunde würde es regnen, erkannte Jenny.

Dean Folan stieg hinter ihr ebenfalls vom Pferd, und Will Danza blieb als letzter im Sattel, um von seinem erhöhten Aussichtspunkt aus Wache zu halten. Alle drei trugen identische Kleidung: einteilige, extrem strapazierfähige, projektilsichere Anzüge in Olivgrün mit einer äußeren Isolation, um die Strahlung von Energiewaffen zu streuen. Die leichten Kampfanzüge paßten wie angegossen und besaßen im Innern eine Schaumstoffschicht, um die Haut zu schützen. Thermoleitende Fasern hielten die Körpertemperatur auf einer voreingestellten Norm, was auf Lalonde ein echter Segen war. Wenn der Anzug von einem Projektil getroffen wurde, aktivierten sich die Mikro-Valenzgeneratoren an der Hüfte und verfestigten das Gewebe im Bruchteil von Mikrosekunden, um so den Aufprall abzufangen und die Geschoßenergie gleichmäßig zu verteilen. Auf diese Weise war der Träger sogar davor sicher, von Feuerstößen aus automatischen Waffen durch die Gegend gewirbelt zu werden. (Jenny bedauerte nur, daß der Anzug sie nicht vor dem durch das ungewohnte Reiten verursachten Wundsein schützen konnte.) Der Kampfanzug wurde vervollständigt durch einen Schalenhelm, der mit der gleichen Präzision paßte wie der Anzug. Der Helm verlieh ihnen mit seinen großen Sichtlinsen und dem kleinen, V-förmigen Atemventil ein insektenartiges Aussehen. Im Kragen befand sich ein Ring aus optischen Sensoren, auf die mit Hilfe einer neuralen Nanonik zugegriffen werden konnte und die Sicht nach hinten ermöglichte. Sie konnten sogar bis zu einer halben Stunde unter Wasser überleben, dank der Fähigkeit des Anzugs, Sauerstoff zu recyceln.

Der Bach war schlammig, die Steine von Algen überwuchert, doch das schien den Pferden nichts auszumachen. Jenny beobachtete, wie sie gierig das Wasser tranken, und saugte selbst ein wenig eiskalten Orangensaft aus dem Nippel des Spenders in ihrem Anzug. Dann machte sie sich daran, mit Hilfe des Trägheitsleitsystems ihre gegenwärtige Position zu bestimmen.

Dean und Will tauschten die Position, und Jenny befahl dem Kommunikatorblock ihres Anzugs, einen verschlüsselten Kanal zu Murphy Hewlett zu öffnen. Das ESA-Team und die Marines der Konföderierten Navy hatten sich getrennt, nachdem sie von Bord der Isakore gegangen waren. Sie gingen davon aus, daß ihre Chancen besser standen, einen der sequestrierten Kolonisten zu fangen, wenn sie getrennt operierten.

»Wir sind acht Kilometer von Oconto entfernt«, berichtete Jenny. »Bisher keinerlei Kontakt mit dem Feind oder mit Einheimischen.«

»Hier das gleiche«, antwortete der Lieutenant der Navy. »Wir befinden uns sechs Kilometer südlich von Ihnen, und außer uns ist kein Mensch in diesem Dschungel. Falls der Siedlungsbeauftragte von Oconto tatsächlich mit fünfzig Freiwilligen hinter den Zettdees her ist, dann war er jedenfalls nicht in unserer Gegend. Fünfzehn Kilometer von hier entfernt gibt es eine kleine Savanne mit vielleicht hundert Gehöften darauf. Ich schätze, wir versuchen dort unser Glück.«

Statisches Rauschen verstümmelte ihre Unterhaltung. Automatisch überprüfte Jenny ihre Detektoren auf elektronische Kampfmaßnahmen, doch sie vermeldeten keinerlei Aktivität. Offensichtlich handelte es sich um atmosphärische Störungen.

»In Ordnung. Wir rücken weiterhin auf das Dorf vor und hoffen, daß wir einen Kolonisten finden, bevor wir dort angekommen sind«, antwortete sie per Datavis.

»Verstanden. Ich schlage vor, daß wir uns von jetzt ab jede halbe Stunde in Verbindung setzen. Hier ist…« Die Stimme verlor sich in einem richtiggehenden Gewitter aus Statik.

»Verdammt! Dean, Will, unsere Kommunikation wird gestört!«

Dean überprüfte seine eigenen Prozessorblock auf elektronische Störmaßnahmen. »Keinerlei Aktivität feststellbar«, sagte er.

Jenny führte ihr Pferd vom Wasser weg und setzte einen Fuß in den Steigbügel, dann schwang sie das andere Bein über den Sattel. Will stieg neben ihr ebenfalls hastig auf. Alle drei suchten den umgebenden Dschungel ab. Deans Pferd wieherte nervös. Jenny zerrte an den Zügeln, um das unruhige Tänzeln ihres Tieres zu unterbinden.

»Sie sind irgendwo dort draußen«, sagte Will mit tonloser Stimme.

»Wo?« fragte Jenny.

»Ich weiß es nicht, aber sie beobachten uns. Ich kann es spüren. Und sie mögen uns nicht.«

Jenny schluckte die naheliegendste Antwort herunter. Abergläubische Soldaten waren nicht gerade das, was sie jetzt gebrauchen konnte – doch Will hatte mehr praktische Kampferfahrung als sie. Eine schnelle Überprüfung ihrer Ausrüstung förderte zutage, daß bisher nur ihr Kommunikatorblock betroffen war. Der Prozessorblock für elektronische Kriegführung schwieg beharrlich.

»Also schön«, sagte sie. »Wir wollen unter allen Umständen vermeiden, einer ganzen Gruppe von ihnen über den Weg zu laufen. Die Edeniten haben berichtet, daß sie um so mächtiger sind, je mehr von ihnen sich zusammenschließen. Ich denke, wir ziehen uns ein Stück zurück und versuchen, aus der Störzone herauszukommen. Wir sollten imstande sein, uns schneller zu bewegen als sie.«

»Welche Richtung?« fragte Dean.

»Ich möchte noch immer versuchen, bis zum Dorf vorzudringen, aber ich glaube nicht, daß der direkte Weg unter den gegebenen Umständen ratsam wäre. Wir halten uns in südwestlicher Richtung und schlagen einen Bogen zurück nach Oconto. Irgendwelche Fragen? Nein? In Ordnung, dann also los. Sie führen, Dean.«

Sie durchquerten den Bach. Die Pferde schienen froh, endlich wieder in Bewegung zu sein. Will Danza hatte seinen Thermoinduktionskarabiner aus dem Sattelholster gezogen; die Waffe ruhte in seiner linken Ellenbogenbeuge, mit dem Lauf nach oben. Die per Datavis übertragenen Informationen des Zielerfassungsprozessors bildeten ein stetiges Summen im Hintergrund seines Kopfes, das nicht ganz bis ins Bewußtsein vordrang. Es war genausosehr Bestandteil der Situation wie der Rhythmus der Pferde oder das helle Sonnenlicht und machte sie erst zu einem Ganzen.

Will ritt an letzter Stelle in der kleinen Prozession und beobachtete ununterbrochen die nach hinten gerichteten Kragensensoren seines Schalenhelms. Wenn jemand ihn gefragt hätte, woher er wußte, daß der Gegner in der Nähe war, hätte er nur mit den Schultern zucken und sagen können, daß er nicht imstande war, es zu erklären. Doch seine Instinkte waren untrüglich und warnten ihn mit der gleichen Intensität, mit der eine Biene von Pollen angezogen wurde. Sie waren da, und sie waren nah. Wer oder was auch immer sie waren.

Er drehte sich im Sattel um und erhöhte die Auflösung seiner Retinaimplantate auf das Maximum, doch es war nichts weiter zu sehen außer dünnen schwarzen Baumstämmen und ihren üppig grünen konischen Sockeln. Die Umrisse waberten in der Hitze und sorgten zusätzlich für einen instabilen Vergrößerungsfaktor.

Eine Bewegung.

Wills Karabiner ging los, bevor er auch nur einen bewußten Gedanken daran verschwenden konnte. Neonblau leuchtende Zieldiagramme legten sich über sein Gesichtsfeld, während er den Lauf in einer einzigen, geschmeidigen Bewegung senkte. Ein roter Kreis überlagerte das zentrale Gitter, und Wills neurale Nanonik löste eine Streusalve von fünfhundert Schuß aus.

Die Dschungelsektion im zentralen blauen Rechteck glitzerte und funkelte voller winziger orangefarbener Motten, als die Induktionspulse auf das Holz und die Blätter prasselten. Die gesamte Salve dauerte nicht länger als zwei Sekunden.

»Runter!« rief er per Datavis. »Feindliche Objekte auf vier Uhr!«

Er glitt bereits vom Pferd und landete mit den Füßen voran auf den breiten, dreieckigen Blättern der bodendeckenden Kriechpflanzen. Jenny und Dean gehorchten in einem automatischen Reflex und warfen sich aus den Sätteln. Sie gingen mit schußbereit erhobenen Thermokarabinern in die Hocke und bildeten rasch eine Rundumverteidigung. Jeder behielt einen anderen Abschnitt des umgebenden Dschungels im Auge.

»Was war das?« fragte Jenny.

»Zwei von ihnen, glaube ich.« Will spielte rasch die gespeicherte Aufnahme ab. Es war ein dunkler, fetter Schatten, der hinter einem der Bäume hervorschoß und sich dann teilte. Das war der Augenblick, in dem Will gefeuert hatte, und das Bild verwackelte. Doch die schwarzen Schatten wollten sich nicht auflösen, ganz gleich, wie viele Schärfungsprogramme er über die Aufnahme laufen ließ. Sie waren definitiv zu groß für Sayce – und sie hatten sich in Wills Richtung bewegt und dabei die überwucherten Baumstämme als Deckung benutzt.

Er spürte einen Anflug von Bewunderung. Sie waren wirklich gut.

»Was jetzt?« fragte er per Datavis. Niemand antwortete. Er wiederholte die Frage laut.

»Aufklärung und Auswertung«, sagte Jenny ebenfalls laut; sie hatte in diesem Augenblick festgestellt, daß die Dataviskanäle unterbrochen waren. »Wir befinden uns immer noch in Reichweite dieses verdammten elektromagnetischen Störeffekts.«

Über ihr gab es einen lautlosen orangefarbenen Blitz, und das obere Drittel eines zehn Meter entfernten Baums kippte langsam über. Es hing nur noch an ein paar Splittern fest, die stark verkohlt waren. In dem Augenblick, als die Krone die Horizontale erreicht hatte, fingen die Blätter Feuer. Sie flackerten hell auf und erzeugten einen Ring aus blau-grauem Rauch, und dann brannten sie richtig. Zwei Vennais sprangen heraus. Sie kreischten vor Schmerz, und ihre Felle waren schlimm verbrannt. Bevor die Krone in ihrer ganzen Länge zu Boden krachte, brannte sie mit einer Glut, die der Sonne gleichkam.

Die Pferde wieherten erschrocken und scheuten, doch sie wurden von aufgerüsteten Muskeln zu Boden gezerrt.

Jenny wurde bewußt, daß die Tiere rasch zu einer Belastung zu werden drohten, während sie ihr Pferd festhalten mußte. Ihre neurale Nanonik hatte einen Laserstrahl entdeckt, der den Baum getroffen und gefällt hatte. Doch es hatte keinen nachfolgenden Energieausbruch gegeben, der für das Feuer verantwortlich hätte sein können.

Deans Sensoren hatten den Laserstrahl ebenfalls aufgefangen. Er feuerte eine Fächersalve von fünfzig Schuß in die Richtung, wo er den Ursprung vermutete.

Das Feuer in der Krone des gefallenen Baums erlosch. Es hatte nichts außer einem schwelenden, spitz zulaufenden, verkohlten Stamm und einem Haufen Asche zurückgelassen. Ringsum schwelten in weitem Umkreis angesengte Kriechpflanzen.

»Was zur Hölle war das?« fragte Dean.

»Keine Daten«, antwortete Jenny. »Aber es wird kein Spaziergang.«

Kleine Kugeln aus lebhaftem weißen Feuer rasten an den Stämmen mehrerer nahestehender Bäume hinauf wie eine bizarre, astrale Flüssigkeit. Hinter ihnen schrumpfte die Rinde und schälte sich in langen Streifen ab, und das nackte Holz darunter brüllte wie ein offener Brennkessel, als es Feuer fing. Die Flammen verdoppelten ihre Intensität. Jenny, Will und Dean waren mit einemmal von zwölf riesigen Fackeln eingekreist.

Jennys Retinaimplantate hatten Mühe, mit dem Photonenbombardement fertig zu werden. Ihr Pferd scheute erneut und kämpfte gegen sie an. Es warf den Kopf hin und her, um ihren Griff abzuschütteln, und die Vorderhufe kreisten gefährlich dicht vor Jennys Kopf. Sie sah die Panik in den Augen des Tieres. Schaum stand vor seinem Maul, und die Flocken sprühten auf ihren Kampfanzug.

»Rettet die Ausrüstung!« rief sie. »Wir können die Pferde nicht mehr länger unter Kontrolle halten.«

Will hörte den Befehl in dem Augenblick, als sein eigenes Pferd zu bocken begann und mit den Hinterläufen nach imaginären Feinden austrat. Er schmetterte dem Tier die Faust auf den Schädel, genau zwischen die Augen, und für eine Sekunde erstarrte es in betäubter Überraschung. Dann brach es langsam ein und ging zu Boden. Einer der brennenden Bäume gab ein lautes Kreischen von sich und kippte um. Der Stamm krachte auf den Rücken des Pferdes, brach Rippen und Beine und sengte sich seinen Weg durch das Fleisch. Öliger Rauch stieg auf. Will schoß vor und zerrte am Sattelgurt. Wills Kampfanzug sandte eine Warnung in seine neurale Nanonik, als der Ansturm der Hitze gegen die äußere Isolierschicht brandete.

Kugeln aus orangefarbenen Flammen jagten über ihm durch die Luft und spuckten Ströme schwarzer Flüssigkeit aus: Vennais auf der Flucht und sterbend, während ihre Schlafplätze in lodernde Flammen aufgingen. Kleine verdorrte Körper prasselten ringsum zu Boden; einige bewegten sich noch schwach.

Dean und Jenny kämpften noch mit ihren Pferden, und unterdrückte Flüche hallten durch die Luft. Wills Anzug meldete vorsorglich, daß der thermische Input die Grenze dessen erreicht hatte, was die Isolierung vertragen konnte. Er spürte, wie der Sattelgurt nachgab, und sprang mit den Satteltaschen in den Händen zurück. Die äußere Wärmeableitschicht des Anzugs glühte kirschrot, als sie die aufgestaute Hitze abstrahlte, und von den Kriechpflanzen unter seinen Füßen stiegen kleine Rauchwölkchen auf.

Weitere Bäume stürzten um. Die Flammen verzehrten das Holz mit einer schier unvorstellbaren Geschwindigkeit. Einen Augenblick lang waren die drei Menschen vollständig von einer wabernden Wand aus unwahrscheinlichen, tödlich weißen Flammen eingeschlossen.

Jenny zog ihre Satteltaschen vom Pferd und ließ das Zaumzeug los. Das Tier raste blindlings davon, nur um panisch vor einem umstürzenden Stamm zu scheuen, der seinen Weg versperrte. Ein brennender Vennal landete auf seinem Rücken, und es rannte unter erbarmungswürdigen, gequälten Schreien direkt in die Flammenwand. Jenny sah, wie es stürzte. Es zuckte noch einige Male, versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, dann brach es schlaff zusammen und rührte sich nicht mehr.

Inzwischen brannte der Boden in einem weiten, hundert Meter durchmessenden Kreis. Lediglich ein kleiner Fleck in der Mitte blieb noch unberührt. Die drei gruppierten sich dort, während die beiden letzten Bäume fielen. Jetzt brannten nur noch die Kriechpflanzen. Gelbe, heiße Flammen und schwerer blauer Rauch stiegen in den Himmel.

Jenny zog ihre Ausrüstung zu sich heran und startete eine automatische Diagnose der Systeme. Es sah nicht gut aus. Das Trägheitsleitsystem gab erratische Daten aus, und der lasergestützte Distanzmesser ihres Anzugs funktionierte nicht mehr einwandfrei. Das elektromagnetische Störfeld des Gegners schien an Stärke zu gewinnen. Und nach den externen Temperatursensoren zu urteilen wären inzwischen längst alle drei bei lebendigem Leib geröstet worden, wenn ihre Kampfanzüge nicht über eine wärmereflektierende Isolierschicht verfügt hätten.

Sie packte den Thermokarabiner fester. »Sobald die Flammen schwächer werden, möchte ich Streufeuer im Umkreis von vierhundert Metern. Wir bekämpfen Feuer mit Feuer. Sie haben uns gezeigt, wozu sie imstande sind – jetzt ist die Reihe an uns.«

»In Ordnung«, murmelte Will zuversichtlich. »Kein Problem.«

Jenny kramte in ihren Taschen auf der Suche nach einer der schweren Hochleistungs-Energiezellen, die sie mit sich führte, und schob das spiralförmige Anschlußkabel in den Schaft ihres Karabiners. Ihre beiden Begleiter taten das gleiche.

»Fertig?« fragte sie. Die Flammen waren inzwischen nur noch ein paar Meter hoch. Die Luft war voll von fliegender Asche. Glühende Flocken verdunkelten die Sonne. »Dann los. Feuer!«

Sie sprangen auf, Schulter an Schulter, und bildeten ein Dreieck. Die Thermokarabiner blitzten und jagten einen Hagel von zweihundertfünfzig unsichtbaren, tödlichen Energiebällen in der Sekunde nach draußen. Ihre Zielprozessoren koordinierten die Flächendeckung und sorgten dafür, daß sich die Fächer überlappten. Neurale Nanoniken steuerten die aufgerüstete Muskulatur in präzisen Schritten und kontrollierten die Richtung der Energieblitze.

Eine Welle der Zerstörung raste über das bereits von Flammen gezeichnete Land hinweg und fraß sich in die Vegetation dahinter. Grelle orangefarbene Sterne sprühten über Baumstämme und Kriechpflanzen und entzogen dem organischen Gewebe sämtliche Feuchtigkeit, bevor sie Reben und Bäume ohne Unterschied in ein Flammenmeer verwandelten. Aus der anfänglichen Welle wurde innerhalb von Sekunden ein ausgewachsener Feuersturm, der vom nicht enden wollenden Energieausstoß der Thermokarabiner noch weiter aufgeheizt wurde.

»Brennt, ihr Wichser!« gellte Will triumphierend. »Brennt!«

Der gesamte Dschungel ringsum stand in Flammen, und eine Lawine aus Feuer wälzte sich nach draußen. Wieder einmal starben Vennais zu Hunderten, als sie von ihren schwelenden Ästen herab direkt in die Feuersbrunst stürzten.

Deans neurale Nanonik meldete plötzlich, daß sein Karabiner anfing zu stottern, wann immer er eine bestimmte Koordinate überstrich. Er richtete die Waffe auf die Stelle und hielt sein Feuer darauf konzentriert. Die Schußgeschwindigkeit fiel auf fünf Pulse pro Sekunde.

»Verdammt. Jenny, sie haben ihre elektronischen Störmaßnahmen auf den Zielprozessor meines Karabiners abgestimmt!«

»Gib mir die Richtung!« verlangte sie.

Er übergab ihr per Datavis die Koordinaten – plötzlich gab es kein Problem mehr mit der Kommunikation. Als Jenny ihren eigenen Thermoinduktionskarabiner auf die betreffende Stelle ausrichtete, sank auch ihre Feuergeschwindigkeit augenblicklich, doch die Blocks in ihrem Anzug funktionierten mit einemmal wieder. »Jesses, diese Burschen haben vielleicht eigenartige elektromagnetische Störmaßnahmen!«

»Soll ich es versuchen?« fragte Will.

»Nein. Zuerst beenden wir unser Fächerfeuer, dann kümmern wir uns um sie.« Sie wandte sich wieder ihrem Abschnitt zu. Ihr Herz begann wild zu pochen, als sie die unüberwindliche Wand aus Flammen sah, die über den Dschungel raste. Sie war es, die eine derart gewaltige Zerstörungskraft kommandierte, und dieses Gefühl raste euphorisierend durch ihre Adern und erzeugte eine gefährliche Hochstimmung. Sie mußte ihrer neuralen Nanonik einen Unterdrückungsbefehl erteilen, um die natürliche Ausschüttung von Adrenalin stark einzudämmen. Dann waren sie fertig mit dem Fächerfeuer, und ihre Erregung kühlte allmählich ab. Das Hochgefühl jedoch hielt noch eine ganze Weile an.

Hundertzwanzig Meter entfernt raste ein Holocaust aus Flammen. »In Ordnung, der Feind war so dumm, seine Position zu verraten«, sagte Jenny. »Hört zu, Dean und Will: Wir nehmen die Gaußgewehre. Splittergeschosse und Elektronenionisierungsgranaten; im Verhältnis vierzig zu sechzig.«

Will grinste unter seinem Schalenhelm und bückte sich, um die schwere Waffe aus dem Holster zu ziehen. Der Lauf des Gaußgewehrs war dunkelgrau und gut anderthalb Meter lang. Die Waffe wog dreißig Kilogramm, doch Will nahm sie, als bestünde sie aus Styropor. Er vergewisserte sich, daß der Gurtschlauch mit der sperrigen Magazinkiste zu seinen Füßen verbunden war, stellte per Datavis das Verhältnis ein, in dem die Munition zu mischen war, und richtete es auf das Flammenmeer und die Koordinaten, an denen der Feind vermutet wurde. Dean machte neben ihm das gleiche.

Jenny hatte unterdessen die Position sondiert. Sie hatte ihren Thermokarabiner benutzt, um den Bogenwinkel und die Richtung der toten Zone zu spezifizieren, indem sie einfach aufzeichnete, an welchem Punkt der Karabiner anfing zu stottern. Anschließend übermittelte sie die Koordinaten per Datavis an Will und Dean: ein ovales Gebiet von fünfzig Metern Breite in einer Entfernung von grob gerechnet dreihundert Metern.

»Hundertfünfzig Prozent Abdeckung!« befahl Jenny. »Feuer!«

Sie bewunderte die Art und Weise, wie die beiden Männer mit den schweren Waffen umgingen. Die Gaußgewehre verschossen zehn Projektile pro Sekunde mit einer Mündungsgeschwindigkeit von Mach fünf, und doch bewegten sich die beiden kaum, während der Rückstoß auf sie einhämmerte. Langsam schwenkten sie die Waffen von einer Seite auf die andere. Jenny bezweifelte, daß ihre aufgerüsteten Muskeln zu einer derartigen Leistung imstande gewesen wären.

Ein Stück weit hinter der Flammenwand brach in einem kleinen Bereich des Dschungels die Hölle los.

Explosionen in fünf Metern Höhe über dem Boden verschleuderten Hunderttausende von kleinen Kohlefaserschrapnellen. Sie jagten mit Überschallgeschwindigkeit durch die Luft, scharf wie Skalpelle und härter als Diamant. Die Bäume, die den Feuersturm überlebt hatten, lösten sich einfach auf. Sie wurden von dem brutalen Hagelschauer buchstäblich zerfetzt. Konfettigroße Bruchstücke flogen umher wie eine Wolke aus Pusteblumen in einem Tornado.

Der Rest der Schrapnelle schoß in den Boden, zerfetzte das verschlungene Gewirr aus Kriechpflanzen und drang dreißig oder vierzig Zentimeter tief in den feuchten, weichen Urwaldboden ein. Und trotzdem hatten sie nicht die kleinste Chance, zur Ruhe zu kommen. Die Elektronenionisierungsgranaten regneten herab und detonierten. Eine Schockwelle aus harter ionisierter Strahlung wurde frei. Fahnen aus schwarzem Rauch schossen in den von Asche dunklen Himmel hinauf. Das gesamte Gebiet wurde von zwei Meter tiefen Kratern überzogen, dicht an dicht wie die Wellenkronen auf einer vom Wind bewegten Dünung.

Die Zerstörung war umfassend. So sehr, daß die Vorstellung ans Absurde grenzte, auch nur ein Insekt könnte das Inferno überlebt haben, geschweige denn ein größeres Tier.

Die drei Agenten der ESA starrten durch die ersterbenden Flammen auf den dunklen Zyklon aus lehmigen Partikeln und Holzsplittern, der die Sonne verdunkelte.

Jennys neurale Nanonik startete eine Reihe von Diagnoseprogrammen und überprüfte die Prozessorblocks ihrer Ausrüstung. »Das warʹs«, sagte sie zufrieden. »Das elektromagnetische Störfeld ist verschwunden.« Ihre Stimme bebte schwach, als ihr die gewaltige Zerstörung bewußt wurde, die sie heraufbeschworen hatte. »Sieht ganz danach aus, als hätten wir sie erwischt.«

»Und jeder im weiten Umkreis weiß jetzt Bescheid«, sagte Dean tonlos. »Wahrscheinlich kann man das Feuer bis halb nach Durringham sehen. Der Feind wird mit Sicherheit größere Kräfte herschicken, um zu untersuchen, was sich ereignet hat.«

»Sie haben recht«, gestand Jenny.

»Sie sind immer noch da«, verkündete Will.

»Was?« fragte Dean ungläubig. »Das sind deine Nerven. Nichts könnte ein derartiges Inferno überleben, nicht einmal ein Kampfmechanoid. Wir haben diese Bastarde in die Hölle geschickt!«

»Haben wir nicht! Ich sage dir, sie sind immer noch dort draußen!« beharrte Will. Er klang nervös. Ganz und gar nicht normal für ihn.

Wills Nervosität kroch durch die komfortable Isolation von Jennys Kampfanzug. Halb hatten seine Worte sie bereits überzeugt. »Falls einer überlebt hat, um so besser«, hörte sie sich sagen. »Ich will immer noch einen Gefangenen für Ralph Hiltch. Los, wir sehen uns die Sache an. Wir müßten sowieso nachsehen. Und wir können nicht hierbleiben und warten, bis sie sich neu gruppiert haben.«

Rasch teilten sie die verbliebene Munition und die Energiezellen zusammen mit der restlichen Ausrüstung aus ihren Packtaschen untereinander auf. Jeder behielt seinen Thermokarabiner. Will und Dean schulterten die Gaußgewehre ohne ein Wort des Protestes.

Jenny führte die kleine Gruppe im Laufschritt über die schwelenden Überreste von Dschungel und Urwald in Richtung des Gebietes, das sie mit den Gaußgewehren ausgebombt hatten. Sie fühlte sich ungedeckt und verletzlich. Das Feuer war inzwischen erloschen: Es war nichts mehr übrig, das hätte brennen können. In einiger Entfernung sah sie, wie sporadische Flammen an Büschen und Schlingpflanzen aufloderten. Sie befanden sich in der Mitte einer neu geschaffenen Lichtung von nahezu einem Kilometer Durchmesser, und die einzige Farbe war Schwarz. Alles war verbrannt, die Überreste der Kriechpflanzen am Boden, zehn Meter hohe Überreste von Bäumen, die von natürlichen Flammen verzehrt worden waren (im Gegensatz zu der weiß leuchtenden Energie, die der Gegner eingesetzt hatte), gegrillte Vennais, die überall herumlagen, andere, kleinere Tiere, der schrecklich zugerichtete Kadaver eines der Pferde, selbst die Luft war erfüllt von schwebenden Partikeln aus schwarzer Asche. Sie befahl ihrem Kommunikatorblock per Datavis, einen gesicherten Kanal zu Murphy Hewlett herzustellen. Zu ihrer größten Überraschung antwortete er auf der Stelle.

»Mein Gott, Jenny, was ist passiert? Wir konnten Sie die ganze Zeit über nicht erreichen, und dann haben wir dieses irrsinnige Feuergefecht beobachtet. Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«

»Wir sind jedenfalls noch an einem Stück. Allerdings haben wir die Pferde verloren. Ich schätze, wir haben dem Gegner ebenfalls ein paar Verluste zugefügt.«

»Ein paar Verluste?«

»Ja. Murphy, achten Sie auf merkwürdiges weißes Feuer. Bis jetzt haben sie es nur benutzt, um die Vegetation in Brand zu stecken, aber unsere Sensoren waren nicht imstande herauszufinden, wie sie die Energie kontrollieren. Sie kommt scheinbar aus dem Nichts auf einen zu. Aber zuerst greifen sie mit einem elektromagnetischen Störfeld an. Mein Rat lautet: Falls Sie feststellen, daß Ihre elektronischen Ausrüstungsgegenstände einer nach dem anderen auszufallen beginnen, dann legen Sie augenblicklich Sperrfeuer. Löschen Sie den Gegner aus.«

»Mein Gott. Mit was zur Hölle haben wir es hier zu tun? Zuerst diese Illusion von einem Schaufelraddampfer auf dem Fluß, und jetzt Energiewaffen, die sich nicht entdecken lassen!«

»Ich weiß es nicht, Murphy. Noch nicht. Aber ich bin fest entschlossen, es herauszufinden.« Sie war überrascht, wie entschlossen sie geklungen hatte.

»Brauchen Sie Hilfe? Der Weg zurück zum Boot ist verdammt weit.«

»Negativ. Ich denke nicht, daß es gut wäre, wenn wir uns wieder vereinigen. Zwei Gruppen haben eine bessere Chance als eine, das Ziel unserer Mission zu erreichen. Daran hat sich bis jetzt nichts geändert.«

»In Ordnung. Aber denken Sie daran: Wir sind da, falls es zu rauh wird.«

»Danke. Hören Sie, Murphy, ich habe nicht vor, nach Einbruch der Dunkelheit in diesem Dschungel zu bleiben. Verdammt, wir können ja nicht einmal am hellichten Tag sehen, wenn der Gegner kommt!«

»Das klingt nach dem ersten sinnvollen Ratschlag, den Sie heute geben.«

Sie kontrollierte ihre neurale Nanonik. »Noch bleiben uns sieben Stunden Tageslicht. Ich schlage vor, daß wir versuchen, uns von jetzt an in sechs Stunden an der Isakore zu treffen. Falls es uns bis dahin nicht gelungen ist, einen Gegner zu fangen oder zumindest herauszufinden, was zur Hölle eigentlich in dieser Gegend vorgeht, dann können wir dort über die Lage diskutieren.«

»Einverstanden.«

»Jenny!« rief Dean mit drängender Stimme.

»Ich rufe zurück«, sagte sie zu Murphy.

Sie waren am Rand der Sperrfeuerzone angelangt. Nicht einmal die Baumstümpfe hatten hier überlebt. Krater überlappten sich gegenseitig und bildeten eine zerbröckelnde Landschaft aus instabilen Trichtern und Löchern; krumme braune Wurzeln ragten aus den meisten nackten Trichterrändern ins Freie. Rauchfetzen und langgestreckte Schleier wanden sich wie luftige Würmer über den zusammenstürzenden Verwerfungen und glitten in die Löcher, um sich am Grund zu sammeln.

Auf der gegenüberliegenden Seite sah sie drei Männer aus den Kratern klettern und schwerfällig in Richtung festem Boden flüchten. Sie stützten und zogen sich gegenseitig oder krochen auf Händen und Füßen weiter, wenn der schlüpfrige, feuchte Boden zu weich oder zu steil war, um festen Stand zu ermöglichen.

Jenny beobachtete ihr Vorankommen mit dem gleichen fassungslosen Staunen, das sich ihrer auch beim Anblick des antiken Mississippidampfers bemächtigt hatte, der den Fluß hinabgefahren war.

Die Männer kamen sechzig Meter von den drei ESA-Agenten entfernt auf festen Boden und erhoben sich. Zwei von ihnen waren eindeutig Kolonistentypen: Hosen aus grobem Kattun, dicke baumwollene Arbeitshemden, dichte volle Bärte. Der dritte steckte in einer Art antiker Khaki-Uniform: eine weite Hose, an den Unterschenkeln mit gelblichen Stoffbändern zusammengebunden, ein breiter brauner Ledergürtel um die Hüften mit einem polierten Pistolenhalfter und ein halbkugelförmiger Metallhut mit einem fünf Zentimeter breiten umlaufenden Rand.

Sie können unmöglich überlebt haben, dachte Jenny staunend. Nicht dort, wo sie sich aufgehalten haben. Eine wilde Sekunde lang fragte sie sich, ob vielleicht das elektronische Störfeld am Ende doch gewonnen hatte und seine wirren Halluzinationen direkt in ihre neurale Nanonik einspeiste.

Die beiden Gruppen starrten sich über eine halbe Minute lang unverwandt an.

Jennys Detektoren meldeten zunehmendes statisches Rauschen im Kurzreichweiten-Datavis. Das brach den Bann. »In Ordnung, holen wir sie uns!«

Langsam umrundeten sie den Rand der verwüsteten Zone. Die drei Männer beobachteten reglos ihr Tun.

»Wollen Sie alle drei?« fragte Will.