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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa Lamatsch


ISBN 978-3-492-97341-0
Mai 2017
© Jennifer L. Armentrout 2016
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Fire in You«, published by Jennifer L. Armentrout 2016
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2017
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
Konvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen

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Kapitel 1

Ich würde Avery Hamilton umbringen.

Mit schweißnassen Händen umklammerte ich das Lenkrad und ermahnte mich selbst, aus dem Auto auszusteigen. Es war an der Zeit. Aber ich wusste auch, dass ich lieber barfuß über glühende Glasscherben gelaufen wäre, als in dieses Restaurant zu gehen.

Was selbst in meinen Ohren übertrieben klang.

Ich wünschte mir nichts mehr, als nach Hause zu fahren, ein Paar Leggins anzuziehen, die wahrscheinlich nicht für die Öffentlichkeit geeignet waren, mich mit einer Schale Chips auf der Couch zusammenzurollen und zu lesen. Ich machte gerade eine seltsame Phase durch, in der ich historische Schundromane aus den Achtzigerjahren verschlang. Vor Kurzem hatte ich mit einem Wikingerroman von Johanna Lindsey angefangen. Eine Menge aufgerissener Kleider und Alphamännchen auf Steroiden spielten darin eine Rolle, und ich liebte es.

Aber Avery würde mich umbringen, wenn ich heute Abend kniff. Na ja, okay. Sie würde mich schon nicht umbringen – denn wer würde dann in Zukunft Ava und den kleinen Alex babysitten, wenn sie und Cam ausgehen wollten? Der heutige Abend war eine Ausnahme. Cams Eltern waren in der Stadt, also passten sie auf die Kinder auf. Und ich war hier, saß in meinem Auto und starrte einen dieser japanischen Ahornbäume neben dem Parkplatz an, der aussah, als könnte er jeden Moment umfallen.

»Uff«, stöhnte ich und ließ meinen Kopf nach hinten gegen die Stütze fallen.

Wäre heute ein anderer Tag, wäre es vielleicht nicht ganz so schlimm. Aber heute war mein letzter Tag bei Richards und Decker gewesen. So viele Leute hatten mein winziges Büro besucht. Es hatte Ballons gegeben. Und eine Eistorte, von der ich zwei … na gut, drei Stücke gegessen hatte. Ich hatte genug von Menschen.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, den Job zu kündigen, in dem ich fünf Jahre lang gearbeitet hatte. Ich hatte mir so lange eingeredet, dass ich die Arbeit dort liebte. Ich ging jeden Morgen ins Büro, schloss die Tür hinter mir und war überwiegend allein , um Versicherungsansprüche zu prüfen. Es war ein ruhiger, klar strukturierter Job, in den man sich eingraben konnte und bei dem absolut keine Gefahr bestand, dass man ihn am Ende des Tages mit nach Hause nahm. Er sorgte dafür, dass ich mir eine Dreizimmerwohnung und den Kredit für den Honda leisten konnte. Es war ein ruhiger, langweiliger Job, der zu meinem ruhigen, langweiligen Leben ganz hervorragend gepasst hatte.

Dann aber hatte mir mein Vater im wahrsten Sinne des Wortes ein Angebot gemacht, das ich nicht hatte ablehnen können. Und dieses Angebot hatte etwas in mir zum Leben erweckt, von dem ich seit langer Zeit geglaubt hatte, es wäre tot. Das Verlangen, wieder richtig zu leben.

Sicher, allein der Gedanke klang kitschig, aber es war die Wahrheit. In den letzten sechs Jahren hatte ich nur von einem Tag zum nächsten gelebt. Hatte keine Vorfreude auf irgendwas verspürt, hatte nichts von den Dingen getan, von denen ich einmal geträumt hatte.

Das Angebot meines Vaters anzunehmen war der erste und wichtigste Schritt, mein Leben endlich wieder in die Hand zu nehmen, doch ich konnte trotzdem noch nicht ganz glauben, dass ich es wirklich tat.

Meine Eltern hassten … ja, sie hassten, wie sich die Dinge für mich entwickelt hatten. Sie hatten so viele Träume und Hoffnungen für mich gehabt. Und ich hatte einmal dieselben …

Das Klopfen am Fenster erschreckte mich so sehr, dass ich zusammenzuckte. Meine Knie knallten gegen das Lenkrad, als ich mich nach links umdrehte.

Avery stand neben dem Auto. Ihre Haare leuchteten in der verblassenden Abendsonne strahlend rot. Sie winkte mir zu.

Peinlich berührt hob ich die Hand und drückte einen Knopf. Das Fenster glitt nach unten. »Hey.«

Avery beugte sich vor, legte ihre Unterarme auf den Fensterrahmen und streckte ihren Kopf in den Innenraum. So sprach sie direkt in mein linkes Ohr. Avery war ein paar Jahre älter als ich und hatte zwei Kinder, eines davon kaum ein Jahr alt. Aber mit ihren Sommersprossen und den warmen braunen Augen wirkte sie trotzdem erst wie knapp über zwanzig.

»Und, was treibst du so?«

Ich sah von ihr zur Windschutzscheibe und dann wieder zurück. »Ähm, ich habe … nachgedacht.«

»Oho.« Avery lächelte milde. »Glaubst du, dass du damit bald fertig bist?«

»Ich weiß es nicht«, murmelte ich, wobei ich gleichzeitig fühlte, wie meine Wangen heiß wurden.

»Die Kellnerin hat gerade unsere Getränkebestellung aufgenommen. Ich habe dir eine Cola bestellt«, erklärte sie. »Normal, nicht light. Ich hoffe, dass du dich uns noch vor den Vorspeisen anschließen wirst, weil Cam über Fußball redet. Du weißt, wie es um meine Aufmerksamkeit bestellt ist, wenn er sich darüber auslässt.«

Mein linker Mundwinkel hob sich ein wenig. Cam war mehrere Jahre lang Profispieler gewesen. Inzwischen arbeitete er am Shepherd als Trainer, was bedeutete, dass er um einiges öfter zu Hause war als früher.

»Tut mir leid, dass ich euch hängen gelassen habe. Ich hatte nicht vor zu kneifen.«

»Das habe ich auch nicht geglaubt. Aber ich dachte, ein wenig gutes Zureden könnte nicht schaden.«

Erneut guckte ich zu ihr hoch. Das halbe Lächeln in meinem Gesicht verblasste. Mich von Avery hierzu überreden zu lassen gehörte auch zu dem ganzen Rausgehen-und-wieder-anfangen-zu-leben-Thema, aber es war trotzdem nicht einfach.

»Weiß … weiß er von …?« Ich wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum.

Averys Miene wurde sanft, dann tätschelte sie mir durch das Fenster den Arm. Inzwischen umklammerte ich das Lenkrad wieder wie ein totaler Freak. Sie nickte. »Cam ist natürlich nicht ins Detail gegangen, weil es deine Geschichte ist, aber Grady weiß genug.«

Was bedeutete, dass er keinen Verdammt-noch-mal-Gesichtsausdruck zur Schau tragen würde, wenn er mich sah.

Zugegeben, irgendwann würde er wahrscheinlich trotzdem starren. Aus der Ferne betrachtet, war nichts an mir falsch. Erst aus der Nähe konnte man erkennen, dass mein Gesicht seltsam schief wirkte.

Und genau davor fürchtete ich mich heute Abend – so wie ich mich immer fürchtete, wenn ich jemandem zum ersten Mal begegnete. Manche Leute platzten einfach mit ihren Fragen heraus, ohne sich darum zu kümmern, ob sie mich damit in Verlegenheit brachten oder mich an diese eine Nacht denken ließen, die ich aus einer Menge von Gründen am liebsten vergessen würde. Doch selbst wenn sie nicht fragten, was mit meinem Gesicht geschehen war, dachten sie darüber nach. Das wusste ich, weil es mir genauso ging. Es war nur menschlich.

Man glotzte mich an, um herauszufinden, wieso meine rechte Kieferhälfte irgendwie anders aussah als die linke. Die Menschen versuchten, ihre Blicke zu verbergen, doch sahen immer wieder auf meine linke Wange und fragten sich, was eine so tiefe Kerbe unter meinem Jochbein hinterlassen haben konnte. Und dann fragten sie sich, ob meine Taubheit auf dem rechten Ohr irgendetwas mit dem Vorfall zu tun haben könnte. Niemand musste die Fragen aussprechen, aber ich wusste, dass sie ihnen durch den Kopf geisterten.

»Grady ist ein echt toller Kerl«, fuhr Avery fort und drückte mir sanft den Arm. »Er ist supernett und wirklich süß. Ich habe dir schon erzählt, wie süß er ist, oder?«

Ich zog den Kopf ein und lächelte – lächelte, so gut ich es eben konnte. Es sah immer ein wenig aufgesetzt aus oder schief. Ich konnte meinen rechten Mundwinkel einfach nicht richtig kontrollieren.

»Ja, das hast du schon ein paarmal erwähnt.« Ich seufzte und löste mühsam die Finger vom Lenkrad. »Es tut mir leid. Ich bin startklar.«

Avery trat zurück, damit ich das Fenster schließen konnte. Dann zog ich den Schlüssel aus dem Schloss und schnappte mir die orangebraune Handtasche. Ich hatte eine Schwäche für Handtaschen. Sie waren so ungefähr das Einzige, was ich mir ständig kaufte. Ich konnte absurd viel Geld für eine Tasche ausgeben. Aber diese herbstbraune Henkeltasche von Coach war definitiv die teuerste, die ich mir bisher geleistet hatte.

Ich trat in die kühle Septemberluft und wünschte mir, ich hätte etwas Wärmeres angezogen als den schwarzen dünnen Rollkragenpulli. Doch der Pulli passte wunderbar zu meinen kniehohen schwarzen Stiefeln. Ich hatte mir heute Abend tatsächlich Mühe gegeben. Ihr wisst schon … Mühe mit meinem Aussehen – was bedeutete, dass ich mir vielleicht auch beim Date ein wenig Mühe geben würde.

»Du musst aufhören, dich ständig zu entschuldigen.« Avery hängte sich an meinem linken Arm ein. »Vertrau mir. Lass dir das von jemandem sagen, dessen Entschuldigungsorgien früher mitunter epische Ausmaße hatten. Du musst dich nicht entschuldigen, denn du hast nichts falsch gemacht.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. Ich wusste, dass Avery eine ziemlich bewegte Vergangenheit hatte. Lange Zeit über hatte ich keine Ahnung gehabt, was ihr zugestoßen war, doch vor ungefähr fünf Jahren hatte sie sich mir anvertraut. Zu hören, was sie durchgemacht hatte – obwohl es sich vollkommen von dem unterschied, was mir geschehen war –, hatte mir geholfen. Zu sehen, wie sie ein solch traumatisches Erlebnis hinter sich gelassen hatte, um glücklich und zufrieden zu leben und sogar die Liebe zu finden.

Avery war der lebende Beweis dafür, dass Narben, seien sie nun körperlich oder emotional, nicht nur eine Geschichte des Überlebens erzählten, sondern immer auch Hoffnung signalisierten.

»Ja, klar. Aber ihr habt auf mich gewartet«, sagte ich. Dann hob ich die Hand und bündelte meine Haare zu einem losen Zopf, den ich über meine linke Schulter nach vorn schob, sodass ein dichter Vorhang mein Gesicht zur Hälfte verbarg. »Ich bin fast siebenundzwanzig Jahre alt. Du solltest nicht kommen müssen, um mich aus dem Auto zu holen.«

Avery lachte. »Manchmal muss mich Cam aus einem Schrank ziehen, in dem ich zitternd eine Weinflasche umklammere. Also ist das hier gar nichts.«

Ich lachte über das Bild, das vor meinem inneren Auge erschienen war.

»Es freut mich auf jeden Fall, dass du heute Abend dabei bist.« Avery löste sich von mir und öffnete die Tür des Restaurants. »Ich bin mir sicher, du wirst Grady mögen.«

Ich hoffte es.

Doch ich hatte keine allzu hohen Erwartungen, hauptsächlich, weil ich, na ja, bisher kein besonderes Glück in Bezug auf das andere Geschlecht gehabt hatte. An meinen ersten Freund – an ihn – wollte ich nicht denken, weil dort ein Abgrund der Verzweiflung wartete, in den ich auf keinen Fall wieder stürzen wollte. Und dann war da noch der Kerl, mit dem ich vor drei Jahren ausgegangen war. Ben Campbell hatte mich behandelt, als könnte er Verabredungen mit mir als wohltätige Spende von der Steuer absetzen.

Davon abgesehen hatte ich keine Dates. Ich war mir ziemlich sicher, dass meine Mom befürchtete, ich könnte unverheiratet, kinderlos und vereinsamt enden und mir meine Wohnung irgendwann mit einem Dutzend exotischer Vögel teilen.

»Bist du bereit?«, fragte Avery und riss mich damit aus den Gedanken.

Ich nickte, obwohl ich das hier eigentlich gar nicht tun wollte. Ich log, weil zu lügen manchmal dem Überleben ähnelte: Man tat es, ohne sich dessen bewusst zu sein.

»Ich bin bereit.«

Kapitel 2

Nervös folgte ich Avery in den hinteren Teil des Restaurants, meinen Blick auf ihren hübschen grünen Pulli gerichtet, um mich nicht ablenken zu lassen. Menschenmengen vermittelten mir inzwischen ein seltsames Gefühl, weil mich die allgegenwärtigen Gespräche aus dem Gleichgewicht brachten. Dank der Taubheit meines einen Ohrs bekam ich nur die Hälfte von dem mit, was um mich herum vorging. In großen Gruppen oder in einer Umgebung mit viel Hintergrundlärm Gesprächen zu folgen, war oft ungefähr so aussichtsreich, wie einen Nagel mit der Stirn in die Wand schlagen zu wollen.

Avery verlangsamte ihre Schritte, als wir uns ihrem Tisch näherten, und Cam blickte uns aus diesen unglaublich hellen blauen Augen entgegen. Als ich Cam zum ersten Mal getroffen hatte, hatte ich keinen Ton herausgebracht, so atemberaubend war er. Und gleichzeitig war er so sehr in seine Frau verliebt, dass ich manchmal einen Stich von Eifersucht empfand. Niemals in meinem Leben war ich die glückliche Empfängerin solcher Liebe und Akzeptanz gewesen. Ehrlich, ich ging nicht davon aus, dass jeder auf der Welt diese Liebe fand. Sie war so selten und wunderschön wie ein Albino-Tiger.

»Du hast sie gefunden.« Cam lehnte sich in seinem Stuhl zurück und grinste Avery an. »Gut gemacht, Frau.«

Sie grinste, als sie auf den Stuhl neben ihm glitt.

»Tut mir leid«, sagte ich und ließ mir die Tasche von der Schulter gleiten, wobei ich den Blick ignorierte, mit dem mich Avery aufgrund meiner Entschuldigung bedachte. »Ich bin zu spät.«

Der Mann, der mir den Rücken zuwandte – und von dem ich wusste, dass es Grady sein musste –, stand auf und drehte sich um. Erleichtert stellte ich fest, dass er links von mir sitzen würde. Als ich aufschaute, bemerkte ich, dass er ein paar Zentimeter größer war als ich und genauso süß, wie Avery angekündigt hatte. Sein sandbraunes Haar und die hellblauen Augen ließen mich an einen Beachboy denken. Er lächelte, und es war ein warmes, freundliches Lächeln.

»Kein Problem«, sagte Grady. »Schön, dich kennenzulernen.«

»Ebenfalls«, antwortete ich und errötete, als er den Stuhl für mich herauszog und darauf wartete, dass ich mich setzte. Ich tat genau das, wobei ich den Riemen meiner Tasche ordentlich über die Stuhllehne hängte. Auf keinen Fall würde meine Coach-Tasche einfach auf dem Boden stehen.

Ich sah mich am Tisch um. »Also, ähm, habt ihr schon etwas zu essen bestellt?«

»Ich habe einen Spinat-Artischocken-Dip geordert.« Cam legte seinen Arm auf die Lehne von Averys Stuhl. »Und Käsefritten … mit extra viel Speck und Käse.«

»Das klingt, als wärst du jemand, der seinen Lebensunterhalt damit verdient, auf einem Spielfeld auf und ab zu rennen«, meinte Grady und sah grinsend in meine Richtung. »Anders als der Rest von uns.«

Cam lachte leise. »Nur kein Neid.«

Ich griff nach meiner Cola und nahm einen Schluck, um meine trockene Kehle zu befeuchten und mich zu beruhigen. »Also, Avery hat gesagt, du arbeitest am Shepherd?«

Grady nickte. Während er sprach, wandte er sich mir zu, weil er sich meiner partiellen Taubheit offensichtlich bewusst war. »Ja, aber mein Job ist bei Weitem nicht so unterhaltsam wie Cams. Ich unterrichte Chemie.«

»Er ist nur bescheiden«, sagte Cam und wartete, bis ich mich in seine Richtung gedreht hatte, bevor er weitersprach: »Er ist der jüngste Professor in Naturwissenschaften am College.«

»Wow. Das ist beeindruckend«, sagte ich, während ich mich gleichzeitig fragte, ob Grady wohl wusste, dass ich das College geschmissen hatte – und was er darüber dachte. Man musste ziemlich klug sein, um Chemie zu unterrichten. »Wie lang arbeitest du schon dort?«

Als er meine Frage beantwortete, bemerkte ich, wie sein Blick von meinen Augen nach unten wanderte und über meine Wange glitt, doch seine Miene veränderte sich nicht. Ich war mir nicht sicher, was das bedeutete.

»Cam meinte, du seiest auch auf dem Shepherd gewesen«, sagte er in diesem Moment.

Nach einem kurzen Blick zu Avery nickte ich. »Ja.« Ich klappte den Mund zu, weil ich mir nicht sicher war, was ich noch sagen sollte. Schweigen breitete sich aus, und ich griff erneut nach meinem Glas.

Cam rettete mich, indem er die Fußballbesessenheit seiner siebenjährigen Tochter Ava zum Thema machte. »Sie wird definitiv mal Spielerin werden. In der Major League

»Sie wird Tänzerin«, stellte Avery richtig.

»Sie könnte wahrscheinlich beides machen«, warf Grady ein. »Oder?«

Es dauerte eine Sekunde, bis ich begriff, dass er mit mir sprach. »Bei der Energie, die sie hat? Sie könnte tanzen, Fußball spielen und die olympische Medaille im Bodenturnen holen.«

Avery lachte. »Ava ist … nun, sie ist ein ziemlicher Wirbelwind.«

»Es ist seltsam, dass Alex so ruhig ist«, grübelte Cam. »Ich hätte damit gerechnet, dass er überall herumrennt.«

»Gib ihm Zeit«, antwortete Avery trocken. »Er ist erst elf Monate alt.«

»Er wird jedenfalls auch Fußballspieler.« Cam lehnte sich vor und drückte seiner Frau einen Kuss auf die Wange, bevor sie antworten konnte. »Und du wirst beide in einem Minivan zum Training kutschieren.«

»Gott bewahre.« Avery lachte.

In diesem Moment erschien die Kellnerin an unserem Tisch. Sie hielt abrupt an, als ihr Blick erst über Grady glitt und dann auf mir landete. Eilig starrte ich auf die Karte und entschied mich für das Brathähnchen mit Kartoffeln. Ich sah sie nicht an, als ich bestellte, weil ich nicht wissen wollte, ob sie mich anstarrte oder nicht.

Sobald sie verschwunden war, kam das Gespräch wieder in Gang. Ich liebte es, Cam und Avery dabei zuzuhören, wie sie sich gegenseitig aufzogen. Sie zauberten immer ein Lächeln auf mein Gesicht, selbst wenn ich mich gerade nicht wohlfühlte oder über mein Aussehen nachdachte.

Als die Vorspeisen kamen, blieb ich still und murmelte nur ein Dankeschön, als Grady anbot, mir einen Teller zu füllen.

»Cam hat erzählt, dass du am Montag mit einem neuen Job anfängst?«, fragte er, wobei in seinen Augen echtes Interesse stand.

»Ich habe ihm verraten, wer dein Vater ist.« Cams Grinsen wirkte verlegen. Ich dagegen war nicht überrascht. Cam war ein totaler Lima-Fan. »Tut mir leid.«

»Ist schon okay.« Und das war es wirklich. Obwohl ich mich vom Beruf meines Vaters eine Zeit lang distanziert hatte, war ich doch sehr stolz darauf, was er und seine Brüder erreicht hatten. »Mein Nachname verrät mich sowieso.«

»Ich hätte es vermutlich nicht kapiert«, gab Grady zu. Seine Wangen wurden leicht rosa, als ich ihn überrascht ansah. »Ich meine, ich habe keine Ahnung von diesem Mixed-Martial-Arts-Ding.«

Dieses Mixed-Martial-Arts-Ding war lange Zeit über Teil meines Lebens gewesen. Dad war jahrelang hinter mir her gewesen. Besonders nachdem er sein neues, hypermodernes Mixed-Martial-Arts-und-Sonstiges-Trainingszentrum in Martinsburg eröffnet hatte, weniger als eine Viertelstunde von der Shepherd University entfernt, auf die ich gegangen war. Gott, ich war so sauer gewesen, als ich herausgefunden hatte, dass mir meine Familie quasi aufs College gefolgt war. Dad war in der Niederlassung in Philadelphia geblieben, aber einer meiner fünftausend Onkel war immer in Reichweite gewesen.

Dad hatte immer gewollt, dass ich nach Hause kam und in der Zentrale in Philly arbeitete, aber vor ungefähr zwei Jahren hatte er endlich kapiert, dass das nie passieren würde. Zu Hause warteten zu viele Erinnerungen auf mich. Zu viel in Philadelphia ließ mich an … ihn denken und daran, wie ich einmal gewesen war.

Dann aber, vor sechs Monaten, hatte Dad einen neuen Versuch gestartet. Genau wie meine Mutter. Und Onkel Julio und Dan und André und … o mein Gott, mit den Limas war es wie mit Maiskörnern, die man in einen Topf mit heißem Fett warf – es ploppten immer mehr auf, je länger man wartete, und irgendwann war der Topf bis oben hin voll.

Immerhin, diesmal war Dad anders an die Sache herangegangen. André, der momentan als Geschäftsführer in der Lima Academy in Martinsburg arbeitete, wollte Anfang Oktober zurück nach Philly ziehen. Ich ging davon aus, dass ihm West Virginia einfach nicht cool genug war. Dad hatte mir nicht die Position als Geschäftsführerin angeboten, sondern die der Assistentin der Geschäftsleitung – eine Stelle, die in der Academy in Martinsburg in dieser Form bisher nicht existiert hatte. Es sollte meine Aufgabe sein, die täglichen Abläufe der Academy zu überwachen und gleichzeitig mitzuhelfen, unser Angebot zu erweitern. Dad wünschte sich jemanden, dem er vertrauen konnte und der das Geschäft kannte, bis er einen neuen Geschäftsführer gefunden hatte. Sein Angebot war, nun ja, ziemlich verlockend gewesen. Aber ich hatte es trotzdem abgelehnt.

Dann war Dad in meiner Wohnung aufgetaucht und hatte mir ein Stück Papier in die Hand gedrückt, auf dem mein zukünftiges Gehalt gestanden hatte, zusammen mit einer Liste Vergünstigungen. Ich hätte mich als die dämlichste und sturste Person der Welt geoutet, wenn ich abgelehnt hätte.

Doch auch wenn das Angebot unglaublich gut war, war es nicht der einzige Grund gewesen, warum ich es schließlich akzeptiert hatte. Dad war einfach im richtigen Moment gekommen, als ich mein fensterloses Büro genauso leid gewesen war wie die Tatsache, dass mir mein Job vollkommen egal war. Das Angebot hatte direkt an die Jillian appelliert, die ich einmal gewesen war. Ich wusste, dass Dad genau das hatte erreichen wollen, indem er mit einem verrückten Stellenangebot nach dem anderen bei mir aufgelaufen war.

»Ich habe Ahnung von diesem Mixed-Martial-Arts-Ding«, verkündete Cam und riss mich aus den Gedanken.

»Das wissen wir.« Avery seufzte. »Das wissen wir.«

»Also hast du … wirklich keinen Schimmer, was mein Nachname bedeutet?«, fragte ich. Ich fand es irgendwie befreiend, dass es einen heißen Mann gab, der sich nicht heimlich wünschte, ins Oktagon (so nannte man den Ring im Martial Arts) zu klettern und heil wieder herauszukommen.

»Eigentlich nicht. Ist das schlimm?«

»Nein.« Ich schob das Kinn vor, als ich lächelte, dann sah ich wieder zu ihm auf. »Es ist sogar … gut.«

Er erwiderte meinen Blick. »Schön, das zu hören.«

Wieder wurde mein Gesicht heiß, also konzentrierte ich mich aufs Essen. Ich schob die Käsefritten auf meinem Teller herum, während mein Magen grummelte. Wäre ich zu Hause gewesen, hätte ich bereits die halbe Portion gefuttert, doch in der Öffentlichkeit zwang ich mich dazu, nicht zu schlingen, als hätte ich seit einer Woche nichts zwischen die Zähne bekommen.

Das Abendessen lief … erstaunlich gut.

Cam und Avery hielten das Gespräch am Laufen und warfen sich in die Bresche, wann immer ein unangenehmes Schweigen entstand. Doch das geschah nicht oft. Es war leicht, sich mit Grady zu unterhalten. Nur ein paarmal sagten Cam oder Avery etwas zu mir, ohne dass ich sie hörte, sodass Grady mich auf ihre Ansprache aufmerksam machen musste. Es schien ihnen nichts auszumachen, was es für mich einfacher machte, mich nicht wie ein Trottel zu fühlen.

Der Hauptgang wurde gebracht, als Grady mir gerade von einer neuen Kunstausstellung in Shepherdstown erzählte. Als ich sah, wie seine Augen leuchteten, während er über die Ausstellung sprach, wurde mir klar, dass das sein Ding war. Und es war irgendwie süß.

»Klingt sehr spannend«, sagte ich, als ich nach meiner Gabel griff. »Ich war in letzter Zeit nicht oft in Kunstausstellungen.« Oder jemals. Ehrlich, ich schaute mir nie Kunst an. Nicht, dass daran etwas falsch gewesen wäre. Es war einfach nichts, was ich in meiner Freizeit tat. Allerdings tat ich insgesamt nicht viel.

»Wir könnten gemeinsam hingehen«, bot Grady grinsend an. »Das wäre toll.«

Das unerwartete Angebot sorgte dafür, dass sich meine Lippen erstaunt öffneten. Wir kamen gut klar, also verstand ich nicht ganz, wieso mich dieser Vorschlag so unvorbereitet traf. Aber so war es. Ich wollte antworten, doch dann begriff ich, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte, weil ich einfach keine Ahnung hatte, ob ich aufgeregt oder mir die ganze Sache vollkommen gleichgültig war.

Ein viel zu vertrautes Gefühl stieg in mir auf – eines, das mich gewöhnlich mitten in der Nacht heimsuchte und stundenlang wach hielt. So hatte ich mich gefühlt, als ich mit Ben ausgegangen war. Dieses Gefühl hatte dafür gesorgt, dass ich bei ihm geblieben war, auch weil ich nichts Besseres in meiner Zukunft gesehen hatte. Nicht, weil ich nichts Besseres verdient hätte, sondern … Ich hatte mein Herz einst so vollkommen, so absolut jemand anderem geschenkt, dass ich, nachdem es gebrochen worden war, einfach nicht mehr glaubte, dass die Scherben noch mir gehörten.

Mein Herz war seit damals unvollständig.

Für manche mochte das albern und dramatisch klingen, aber das war mir egal. Es war die Wahrheit. Ich war mir bis heute einfach nicht sicher, ob ich jemals für einen anderen Menschen wieder so empfinden könnte, wie ich es für ihn getan hatte. Also hatte ich mich mit Ben zufriedengegeben. Würde ich dasselbe wieder mit Grady tun, wenn es so weit kam? Mich zufriedengeben?

O Gott. Moment mal.

Saß ich hier wirklich herum und dachte darüber nach, mich mit ihm zufriedenzugeben, obwohl ich den Kerl erst vor einer Stunde kennengelernt hatte? Ich musste mich zusammenreißen.

»Jillian?«, fragte Grady. Wahrscheinlich nahm er einfach an, dass ich ihn nicht gehört hatte.

»Das wäre nett«, presste ich hervor.

Er musterte mich einen Augenblick zu lange, bis ich mich fragte, ob er meine Nervosität spüren konnte.

»Ich bin gleich wieder da.« Ich legte meine Serviette auf den Tisch, stand auf und trat um meinen Stuhl herum. Ich konnte Averys besorgten Blick auf mir spüren. Ich wollte keine große Sache daraus machen, trotzdem sagte ich ihr, dass es mir gut gehe.

Ich brauchte nur eine Minute für mich.

Oder drei.

Ich schlängelte mich auf dem Weg zur Toilette durch die schmalen Gänge zwischen den Tischen. Erst als ich die Tür aufgeschoben und vor dem mit Wassertropfen übersäten Spiegel angehalten hatte, wurde mir klar, dass ich meine Tasche am Tisch vergessen hatte. Also würde es keinen frischen Lippenstift geben.

Ich drückte mir Seife in die Hände und wedelte unter dem Wasserhahn herum. Das Wasser floss heraus und wusch den Schaum ab. Ich betrachtete mich im Spiegel. Wenn ich mich normalerweise ansah, konzentrierte ich mich nicht länger auf mein Gesicht, als es eben nötig war, um Make-up aufzulegen, ohne danach auszusehen wie ein vermurkstes Übungsvideo.

Doch als ich jetzt hier stand, sah ich mich wirklich an. Früher hatte ich mein Haar ständig zum Zopf gebunden, doch das tat ich heute nicht mehr oft. Außerdem hatte ich früher einen Pony getragen – glücklicherweise gehörten diese Tage der Vergangenheit an. Und ich hatte endlich gelernt, wie man Eyeliner auftrug. Ein weiteres Wunder. Die leichte Röte auf meinen Wangen betonte meine von Natur aus etwas dunklere Haut. Meine Lippen waren voll, meine Nase gerade.

Mein Haar war so gescheitelt, dass es links über mein Gesicht fiel und meine Wange verdeckte … obwohl meine Wange gar nicht so schlimm aussah, besonders wenn man bedachte, wie sie am Anfang ausgesehen hatte, nach … nach den Tagen im Krankenhaus.

Verflucht, mein gesamtes Gesicht war eine einzige Katastrophe gewesen.

Ich musterte die tiefe Kuhle auf meiner linken Wange, die aussah, als hätte mir jemand einen Eispickel in die Haut gerammt. Als ich die rechte Seite meines Kiefers betrachtete, staunte ich wieder, was Rekonstruktive Chirurgie alles hinbekam. Große Teile meines Gesichts waren im wahrsten Sinne des Wortes neu aufgebaut worden, aus einem Stück Beckenknochen, einer Stahlplatte und massenweise zahnmedizinischer Extras, um mir wieder ein funktionierendes Gebiss zu verschaffen.

Schönheitschirurgen konnten vielleicht keine Wunder vollbringen, aber sie waren Zauberer. Wenn man mich nicht genau ansah, war kaum zu merken, dass mein linker Kieferknochen weniger gebogen war als mein rechter.

Man sah mir nicht an, was in dieser Nacht geschehen war.

Jetzt starrte ich mich selbst an, wie ich es am Abend vor sechs Jahren getan hatte, in einer Toilette, nur Minuten bevor mein gesamtes Leben zusammengebrochen war.

Es war nicht so, als würde ich hassen, wie ich heute aussah. Die Tatsache, dass ich noch am Leben war, bedeutete, dass ich eine dieser seltenen Gewinnerinnen der Statistik war. Doch selbst das Wissen darum, wie viel Glück ich gehabt hatte, änderte nichts daran, dass ich mich … deformiert fühlte. Es war ein hartes Wort. Ich benutzte es nicht oft. Es jetzt zu tun – bei etwas, was bisher ein ziemlich gutes Date war – schien keine allzu gute Idee zu sein.

Ich atmete tief durch und schüttelte den Kopf. Es war unsinnig, meine Gedanken heute Abend in diese Richtung schweifen zu lassen. Grady war nett und süß. Ich konnte mir sogar vorstellen, noch einmal mit ihm auszugehen – zu dieser Ausstellung und vielleicht hinterher noch auf einen Kaffee. Und genau das machte mich verrückt.

Aber ich würde nicht zulassen, dass mich das Leben verrückt machte. Auf keinen Fall.

Ich wandte mich vom Waschbecken ab und trocknete mir die Hände ab. Dann drapierte ich meine Haare so, dass sie über die linke Schulter nach vorn und über meine Wange fielen. Ich verließ die Toilette und trat in den schmalen Gang davor, den Blick auf den Boden gerichtet. Ich hatte schon zwei Schritte gemacht, bevor mir auffiel, dass jemand direkt vor der Tür an der Wand lehnte. Gerade rechtzeitig, um diese Person nicht anzurempeln.

Keuchend trat ich einen Schritt zurück. Ich sah eine schicke schwarze Stoffhose, kombiniert mit … mit alten schwarz-weißen Chucks? Eine seltsame Kombination. Diese Schuhe erinnerten mich an …

Ich schüttelte leicht den Kopf und trat zur Seite. »Tut mir leid. Entschuldigen Sie …«

»Jillian.«

Ich hielt an.

Die Zeit blieb stehen.

Alles blieb stehen – bis auf mein Herz, das plötzlich viel zu schnell und viel zu heftig schlug. Diese tiefe, raue Stimme. Ich erkannte sie sofort. Langsam hob ich den Kopf. Ich wusste bereits, was ich sehen würde, doch ich weigerte mich einfach, es zu glauben.

Vor mir stand Brock Mitchell.

Kapitel 3

Der Schreck fuhr mir wortwörtlich in die Glieder, als ich zu Brock hinaufstarrte. Ich war sprachlos, weil ich einfach nicht glauben konnte, was ich sah. Er konnte unmöglich hier sein. Soweit ich wusste, kam er nie nach Martinsburg. Niemals. Ihm stand die ganze Welt offen. Mir nur West Virginia.

So lauteten die Regeln.

Vielleicht war ich gefallen und hatte mir den Kopf angeschlagen. Klang unwahrscheinlich.

Denn das hier war Brock, und er war mir so nahe, dass ich den vertrauten Duft seines Aftershaves riechen konnte, diese frische Mischung aus brennenden Blättern und Winterwind.

Wie in aller Welt hatte er sich in diesem Restaurant aufhalten können, ohne dass ich ihn bislang gesehen hatte? Allerdings war ich noch nie eine gute Beobachterin gewesen und inzwischen schon dreimal nicht. Aber das erklärte nicht, wieso Cam, der von Brock vollkommen besessen war, seine Gegenwart nicht sofort bemerkt hatte. Er würde sich in den Arsch beißen.

»Verdammt«, stieß Brock hervor.

Ich öffnete den Mund, doch mir fehlten die Worte. Brock sah genauso aus wie vor ein paar Jahren, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Aber gleichzeitig wirkte er auch … kultivierter, mehr … na ja, erwachsen. Er war immer noch gute dreißig Zentimeter größer als ich, aber viel breiter in den Schultern. Das geknöpfte graue Hemd spannte über seiner Brust. Er hatte die Ärmel hochgerollt, sodass seine kräftigen, tätowierten Unterarme freilagen. Ich erkannte dort neue Bilder. Neue Farben. Seine Hüfte war schmal, und die maßgeschneiderte Hose betonte seine starken, muskulösen Schenkel perfekt.

Ich zwang mich, ihm wieder ins Gesicht zu blicken. Verschwunden waren die stacheligen Haare des Mannes Mitte zwanzig. Jetzt trug er eine Frisur in einem weniger auffälligen Schnitt, noch dazu in seiner Naturhaarfarbe dunkelbraun. Auf seinen Wangen erkannte ich einen leichten Zweitagebart. Brock war älter geworden.

Ach. Er musste jetzt zweiunddreißig sein.

Kleine Fältchen gruben sich in die sandfarbene Haut um seine Augen. Sein Gesicht bestand immer noch nur aus scharfen Ecken und Kanten. Hohe Wangenknochen und ein voller, sinnlicher Mund. Die Narbe an seiner Unterlippe war nach all den Jahren kaum noch zu erkennen. Diejenige unter seinem linken Auge, die sein Vater ihm in der Nacht verpasst hatte, als er weggelaufen und damit auf Kollisionskurs mit meinem Leben gegangen war, fiel immer noch auf.

Seine Augen, die mich immer an warme Schokolade denken ließen, sahen genauso aus wie in meiner Erinnerung, mit langen Wimpern und wachsamem Blick. Im Moment taten sie genau das, was ich auch tat: Brock checkte mich ab.

Er hatte mit seiner Musterung bei meinen Stiefeln begonnen, um seinen Blick dann über meine dunkle Jeans und den dünnen Rollkragenpulli nach oben gleiten zu lassen. Über die Jahre hatte mein Körper ein paar Kurven verloren. Niemand würde mich jemals als dünn bezeichnen. Mein Körper war ziemlich durchschnittlich, und ich besaß weder den Wunsch noch die Willenskraft, zwei Stunden am Tag damit zu verbringen, ihn zu etwas zu formen, was Frauen in Hochglanzmagazinen ähnelte. Ich mochte fettiges Essen und genoss es, in meiner Freizeit faul herumzuliegen und zu lesen.

Doch ich erinnerte mich schmerzhaft genau an die Art von Frauen, zu denen Brock sich hingezogen gefühlt hatte, als wir noch jünger gewesen waren. Frauen mit flachen Bäuchen und durchtrainierten Beinen. Die Art von Mädchen, deren Taille man mit zwei Händen umfassen konnte. Frauen, die Stunden neben ihm im Fitnessstudio trainierten und selbst verschwitzt und mit rot angelaufenem Kopf noch fantastisch aussahen. Auf solche Frauen hatte er gestanden. Er stand wahrscheinlich immer noch auf sie, wenn man bedachte, mit wem er zusammen war.

In diesem Moment hörte ich auf, darüber nachzudenken, wie ich im Vergleich zu irgendwelchen x-beliebigen Tussen aussah, mit denen er früher etwas angefangen hatte – und dachte stattdessen an seine Verlobte. Denn ja, so viel wusste ich über ihn. Aber nichts davon spielte im Moment eine Rolle, weil er mir ins Gesicht starrte. Mir wurde klar, dass er mich seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hatte. Meine Familie hatte ihm sicherlich einiges erzählt, doch da ich kein großer Fan von Fotos war, sah er mich jetzt zum ersten Mal wieder. Ich hatte noch nie gern vor einer Kamera posiert, doch seit sechs Jahren tat ich es erst recht nicht. Wenn mich Brock überhaupt im Verlauf der letzten Jahre gesehen hatte, dann nur zufällig und aus der Ferne.

Seine Augen weiteten sich, als sein Blick von der linken Seite meines Gesichts zur rechten glitt. Der Ausdruck in seinen Augen – eine Mischung aus Überraschung und einem Gefühl, das ich nicht sehen wollte und welches das Blut in meinen Adern gefrieren ließ – riss mich aus meiner Erstarrung.

»Was tust du hier?«, fragte ich.

Brock sah mich überrascht an. »Was, genau jetzt? Na ja, eigentlich habe ich hier auf dich gewartet.«

»Vor der Damentoilette?«

»Ja.«

»Das ist … seltsam«, murmelte ich mit einem Blick zum Ende des Flurs. Avery und die anderen mussten sich langsam fragen, wo ich blieb. »Aber eigentlich meinte ich, was du in Martinsburg tust.«

»Ich esse zu Abend«, antwortete er, ohne mich aus den Augen zu lassen. Er sah mich mit einer Intensität an, die ich mehr als nur ein wenig nervenaufreibend fand. »Du siehst … toll aus, Jillian.«

Mein Atem stockte wegen der Aufrichtigkeit, die ich in seiner Stimme zu hören glaubte. Doch dann wurde mir klar, dass ich im Vergleich zu dem, was er das letzte Mal gesehen hatte, wirklich fantastisch aussah. Ich war nicht mehr als ein geschwollenes und mit Verbänden eingewickeltes Gesicht gewesen.

»Also isst du rein zufällig in Martinsburg im selben Restaurant zu Abend, in dem ich gerade mit Freunden bin?«

Brock blinzelte, offensichtlich überrascht von meinem bissigen Tonfall. Das konnte ich ihm kaum verdenken. Früher hatte ich meistens zu allem, was er sagte, genickt und gelächelt, auf eine Art, nach der mein zweiter Vorname damals hätte lauten können: »Brocks persönlicher Fußabtreter«.

Als mir dieser Gedanke kam, wurde ich plötzlich zurückkatapultiert zu diesem Abend in der Bar, als ich in einem Kleid vor ihm gestanden hatte, in dem ich mich so erwachsen gefühlt hatte; so hoffnungsvoll, so verliebt in ihn … und so unglaublich dumm.

Einer seiner Mundwinkel hob sich. Es war dieses schiefe Grinsen, das dafür sorgte, dass Brock so ziemlich alles bekam, was er wollte.

»Unterstellst du mir, dass ich irgendwie von deinem Essen erfahren habe und absichtlich hier erschienen bin, um dich zu sehen?« Er hielt inne. Seine Augen glänzten im Licht des Flurs. »Als wäre ich eine Art Stalker?«

Na ja, das klang vielleicht lächerlich, war aber nicht ganz ausgeschlossen. Mom wusste von dem Date heute Abend. Ich hatte ihr erzählt, wo wir hingehen wollten. Allerdings bezweifelte ich, dass sie es an Brock weitergetratscht hätte.

»Oder vielleicht denkst du nicht, dass ich ein Stalker bin, sondern jemand, der verzweifelt darauf aus ist, eine Person wiederzusehen, die ihm seit Jahren aus dem Weg geht?«, schlug er vor. »Diesen Dezember werden es sechs Jahre.«

Ich blinzelte einmal, dann noch einmal. »Was?«

Sein halbes Grinsen wurde breiter, als er mich beäugte. »Oder du ziehst in Betracht, dass ich jemand bin, der zufällig mit einem Freund zu Abend isst, der ebenfalls in der Gegend lebt.«

Meine Wangen wurden heiß.

»Wenn ich dich stalken würde, dann würde ich mich wirklich schlecht machen. Weil ich darauf gewartet habe, dass du aus der Toilette kommst«, fuhr er fort, offensichtlich amüsiert von meiner Unterstellung. »Soweit ich Stalker kenne – und vertrau mir, ein paar haben mich bereits zum Ziel auserkoren –, neigen sie dazu, ein wenig unauffälliger vorzugehen.«

Wut kochte in mir hoch. Das amüsierte ihn, ja? Ich amüsierte ihn? Natürlich tat ich das. Ich hatte Brock schon immer amüsiert.

»Ich bin mir ziemlich sicher, die meisten Stalker, die dich in der Vergangenheit verfolgt haben, wären direkt ins Klo gestiefelt, statt davor auf dich zu warten, und du hättest damit überhaupt keine Probleme gehabt.«

»Ach, Jillian.« Brock warf den Kopf in den Nacken und lachte.

Mir blieb die Luft weg. Gott, ich hatte ganz vergessen, wie sein Lachen klang. Tief und ansteckend. Er lachte vollkommen hemmungslos. Er schenkte dieses Lachen allen und jedem, während ich immer gedacht hatte, es wäre nur für mich.

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Das ist nicht die Jillybean, an die ich mich erinnere.«

Dass Brock seinen Kosenamen für mich verwendete, stellte seltsame Dinge mit mir an. Katapultierte mich zurück in die Vergangenheit, in eine Zeit, die ewig her war, als wir zusammen auf der alten Hollywoodschaukel auf der Veranda meiner Eltern gesessen hatten. Der Name erinnerte mich daran, wie Brock mir dabei zugehört hatte, als ich mich ewig darüber ausließ, welche Orte der Welt ich einmal bereisen wollte. Es erinnerte mich daran, wie es einmal gewesen war und niemals wieder sein würde.

»Nein«, sagte ich und schob das Kinn vor. »Ich bin nicht mehr Jillybean.«

Er senkte den Kopf und beugte sich vor, sodass er mir plötzlich viel zu nahe war und sein Mund über meinem schwebte. »Das weiß ich.«

Ich stieß ein überraschtes Keuchen aus.

»Ich glaube, ich mag diese neue Jillian«, sagte er, als verriete er mir damit ein gut gehütetes Geheimnis.

Ich starrte ihn nur an, unfähig zu verstehen, was er damit sagen wollte.

Brock legte den Kopf schräg. »Wer ist der Kerl, mit dem du am Tisch sitzt?«

Ich zuckte so heftig zurück, dass ich fast nach hinten umfiel. »Ich … ich kann nicht glauben, dass du diese Frage stellst.«

Seine Brauen zogen sich zusammen. »Warum? Das ist eine berechtigte Frage.«

Ich riss die Augen auf. »Das ist keine berechtigte Frage.«

Er lehnte sich an die Wand, als hätten wir alle Zeit der Welt und ständen nicht vor den Toiletten. »Ist er dein Freund?«

Erneut konnte ich Brock nur sprachlos anstarren, während sich eine Hälfte von mir danach verzehrte, ihm mitzuteilen, dass es ihn verdammt noch mal nichts anging, und die andere ihn zur Rede stellen wollte, wieso er das überhaupt wissen wollte. Ich tat nichts davon.

»Entschuldige mich«, sagte ich und trat um ihn herum. »Ich muss zurück an meinen Tisch.«

»Ernsthaft?« Er stieß sich von der Wand ab und schloss eine große Hand um meinen Arm, um mich aufzuhalten. »Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen, und jetzt willst du einfach gehen? Keine Umarmung? Kein ›Wie ist es dir ergangen‹? Gar nichts?«

»Jepp.« Ich versuchte, ihm meinen Arm zu entziehen, und nach einem Augenblick gab er ihn frei.

Brock musterte mich einen Moment lang, wobei sein Lächeln verblasste und seine Lippen zu zwei dünnen Strichen wurden. »Wahrscheinlich kann ich dir das nicht verübeln.«

Jeder Muskel in meinem Körper spannte sich an. Das ist so falsch. Ich konnte den Gedanken einfach nicht unterdrücken, denn Brock und ich waren trotz des nicht unerheblichen Altersunterschieds einmal unzertrennlich gewesen. Es hatte immer ein Wir gegeben – ich war ihm nachgejagt, neben ihm hergelaufen und hatte um seine Aufmerksamkeit gebettelt. Und er hatte zugelassen, dass ich ihn jagte, hatte mich in all seine Aktivitäten einbezogen und mir das Gefühl gegeben, als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt.

Bis zu diesem Abend. Bis mir klar geworden war, dass ich ihn immer gewollt hatte, er dagegen jede außer mir.

»Nein«, flüsterte ich, wobei ich mich selbst ein wenig für das hasste, was ich gleich sagen würde. »Das kannst du mir nicht übel nehmen.«

Ein Muskel an seinem Kiefer zuckte, als er nickte.

Mit klopfendem Herzen drehte ich mich um und eilte zum Tisch zurück, ohne mich noch einmal umzusehen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich verschwunden gewesen war, doch so, wie mich die anderen anstarrten, war es länger als ein normaler Toilettengang gewesen.

Avery lächelte mich zaghaft an.

»Ist alles okay?«, fragte Grady und berührte leicht meinen Arm.

Ich wollte antworten, doch noch bevor ich etwas sagen konnte, hörte ich, dass Cam etwas murmelte. Ich verstand nur: »Heilige Scheiße.«

Ein Schatten fiel über den Tisch. Ein Schatten, der seinen Ursprung direkt hinter mir hatte. Averys Augen weiteten sich, und ihr Mund formte ein perfektes O. Die winzigen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf.

Nein, das hatte Brock nicht getan. Er war mir nicht zum Tisch gefolgt.

Cam sprang von seinem Stuhl auf, ein Ausdruck reinster Verehrung auf seinem attraktiven Gesicht. »Heilige Scheiße, Mann! Ist eine Weile her, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe.«

Jepp. Brock war mir an den Tisch gefolgt.

Ich sah nach rechts und sah zu, wie er Cams Hand ergriff und die beiden dann eine dieser einarmigen Männerumarmungen vollführten. Ich konnte nur dasitzen und beobachten, wie sich Brock und Cam unterhielten. Ich bekam nicht mit, was sie sagten, und das hatte wahrscheinlich nichts mit meiner Schwerhörigkeit zu tun. Ich musste mich einfach zu sehr darauf konzentrieren, nicht aufzustehen, meinen Stuhl zu ergreifen und ihn nach Brock zu werfen.

Dann tauchte er rechts von mir auf und musterte Grady. Er betrachtete ihn mit einer Intensität, die er früher auch beim offiziellen Wiegen vor den Kämpfen gezeigt hatte. Sein Lächeln war schmallippig.

Mit einem Räuspern zog Grady seine Hand von meinem Arm zurück. Meine Hände rutschten vom Tisch und landeten auf meinem Schoß.

Brocks Augen wirkten kalt und ausdruckslos, als er die Hand über meinen Teller hinwegstreckte. Er sagte etwas, doch ich hörte die Worte nur gedämpft, da er auf meiner tauben Seite stand.

»Grady Thornton«, hörte ich von links, und mir wurde klar, dass Brock sich vorgestellt hatte. Gradys Hand verschwand förmlich in Brocks viel größerer. »Sie kennen Cam?«

»Wir sind uns ein paarmal begegnet.« Brock legte seine Hand auf die Lehne meines Stuhls, eine Geste, die seltsam intim und besitzergreifend wirkte. »Ich habe ihn und seine wunderbare Frau durch Jillian kennengelernt.«

Ich starrte einfach geradeaus und zählte leise die Sekunden.

»Wirklich?« Grady klang neugierig. »Und woher kennen Sie sich?«

»Er hat – na ja, für meinen Vater gearbeitet«, antwortete ich, bevor er etwas sagen konnte.

»Ach, komm schon, das ist doch nicht die ganze Geschichte.« Brock lachte leise, und ich riss die Augen auf. »Tatsächlich sind wir zusammen aufgewachsen. Es gibt kaum etwas, was ich nicht über Jilly weiß.«

Was verdammt noch mal sollte das?

»Und woher kennen Sie Cam?«, fragte Brock. Als er sich dabei näher an mich heranschob, konnte ich ihn verstehen, auch wenn er klang, als stände er am Ende eines Tunnels.

Gradys Blick huschte zwischen Brock und mir hin und her. »Ich bin ein Kollege. Wir arbeiten zusammen.«

»Interessant«, murmelte Brock, immer noch lächelnd. »Du bist jetzt Fußballtrainer, richtig?« Als Cam nickte, wandte sich Brock wieder Grady zu. »Sind Sie auch Trainer?«

»Nein.« Grady richtete sich ein wenig höher auf. »Ich unterrichte Chemie am College.«

Das Lächeln auf Brocks Gesicht wurde ein wenig strahlender. Am liebsten wäre ich unter den Tisch gekrochen.

»Ein Professor? Wow. Und Jillian kennen Sie …?«

O mein Gott, es war ein Verhör.

Grady griff nach seiner Bierflasche und lächelte mich an. »Wir haben uns gerade erst kennengelernt, aber ich glaube, wir … werden ziemlich gute Freunde.«

»Gute Freunde?« Brock gluckste.

Das Geräusch sorgte dafür, dass ich die Hände zu Fäusten ballte.

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