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Seit dem 6. März 2015 sendet Deutschlandradio jeden Freitag in seinem Programm Deutschlandfunk die Sendereihe »Koran erklärt«. Bis Dezember 2016 erläuterten darin 51 Islamwissenschaftler und islamische Theologinnen aus acht Ländern 84 kurze Texte aus dem Koran. Diese Texte sind hier versammelt.

Ergänzt werden diese Auslegungen durch drei Hintergrundessays: Thorsten Gerald Schneiders gibt einen Überblick über die Geschichte der Koranauslegung, Angelika Neuwirth problematisiert die »Koranexegese zwischen Theologie und Orientalistik«, und Sebastian Engelbrecht rekonstruiert »Die Beteiligung des Islams am Rundfunk in Deutschland«.

 

 

KORAN ERKLÄRT

Ein Beitrag zur Aufklärung

Herausgegeben von Willi Steul
unter Mitwirkung von
Sebastian Engelbrecht und
Thorsten Gerald Schneiders

Suhrkamp

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4802.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2017

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung und des öffentlichen Vortrags.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlaggestaltung: hißmann, heilmann, hamburg

eISBN 978-3-518-73826-9

www.suhrkamp.de

Inhalt

 

 

Willi Steul, Vorwort

 

Koran erklärt –
Texte der Sendung im Deutschlandfunk

 

Der Koran über sich

Auslegungsfragen

Strukturell besondere Verse und Suren

Gottes Eigenschaften

Über den Propheten Mohammed

Die Propheten

Die Schöpfung

Die Apokalypse und das Jenseits

Eigenschaften und Pflichten des Menschen

Die Frau

Juden und Christen

Gewalt und Krieg

Geschichte und Moderne

Humor und Dichtung im Koran

Naturwissenschaft, Biologie und Bildung

Ausgewählte schiitische und mystische Sichtweisen

 

Essays

 

Thorsten Gerald Schneiders, Die Geschichte der Koranauslegung im Überblick. Von den Anfängen bis zu »Koran erklärt«

 

Angelika Neuwirth, Koranexegese zwischen Theologie und Orientalistik

 

Sebastian Engelbrecht, Die Beteiligung des Islams am Rundfunk in Deutschland

 

 

Die Autorinnen und Autoren des Bandes

Verzeichnis der ausgelegten Suren

Inhaltsverzeichnis

Vorwort des Herausgebers

 

 

Am 6. März 2015 hat Deutschlandradio in seinem Programm Deutschlandfunk die Sendereihe »Koran erklärt« gestartet. Jeden Freitag, am heiligen Tag der Muslime, von 9.55 bis 10.00 Uhr. Deutschlandradio setzt sich in seinen Programmen regelmäßig mit dem Islam auseinander und befasst sich mit dem Leben der Muslime in Deutschland. Nicht nur, aber intensiv und oft zum Beispiel in der Sendung »Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft« werktags von 9.35 bis 10.00 Uhr im Deutschlandfunk. In vielfältiger Form geschieht dies hier oder an anderer Stelle aus aktuellen Anlässen und in Hintergrundsendungen ebenso im Deutschlandradio Kultur (künftig: Deutschlandfunk Kultur) und im jungen Digitalprogramm DRadio Wissen (künftig: Deutschlandfunk Nova) auch weiterhin. Doch wir wollen mehr tun. Information, Aufklärung, differenzierte Betrachtung – dies ist das, was gerade öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Zeiten leisten muss, in denen Ängste und Emotionen zu Vorurteilen und Ausgrenzung führen. Viele reden über den Koran – wenige haben je eine Zeile darin gelesen oder sich gar mit dem Kontext seiner theologischen Aussagen befasst.

Ich musste nicht über prophetische Gaben verfügen, um zum Auftakt der Reihe im Programmheft von Deutschlandradio im März 2015 zu schreiben:

Kaum ein Themenkomplex wird die Öffentlichkeit in der absehbaren Zukunft so stark beschäftigen wie die Entwicklungen, die alle mit dem Stichwort »Islam« verbunden sind. Im Mittleren Osten beziehen sich nicht nur die Mörderbanden des sogenannten »Islamischen Staates IS« auf den Islam. In Europa – dem Blutbad bei Charlie Hebdo in Paris waren ja schon etliche kaum weniger spektakuläre Terrorakte vorausgegangen, etwa in London, Madrid oder Toulouse – stehen wir fassungslos vor dem Phänomen, dass auch hier aufgewachsene junge Menschen der Faszination eines menschenverachtenden Missbrauchs des Islams erliegen. Keine Sicherheitsmaßnahmen werden übrigens Terrorakte Einzelner vollständig ausschließen können. Die große Mehrheit der gläubigen Muslime leidet unter dem blutigen Missbrauch ihrer Religion. Und sie fürchten, dass die »Islamophobie« um sich greift und das Zusammenleben vergiftet. Die Fernseh-Talkshows der letzten Wochen diskutieren die Fragen aus vielen Blickwinkeln. Nicht nur die Stammtische weisen auf die Binsenweisheit hin, dass sich im Koran vielfach Bezüge zur Anwendung von Gewalt finden lassen. Ja, richtig – aber zugleich auch zahlreiche Aussagen, die das humane Anliegen einer großen Religion zum Ausdruck bringen. Dies kann und muss in seinen historischen und religionswissenschaftlichen Zusammenhang gestellt und verstanden werden.

Die Anregung zu »Koran erklärt« kam von einem langjährigen engen Freund aus Studientagen, nach vielen Gesprächen über die Entwicklungen in Europa und in der islamischen Welt, über islamische Architektur und Kunst, über die Werte und die vielfältige Praxis des religiösen islamischen Lebens und über das Bild des Islams in Europa, zuletzt auch immer mehr über den Schrecken, den islamistische Zeloten mit gezieltem Terror verbreiten, um die Gesellschaften des Westens zu spalten. Der in Oxford studierte und in Cambridge promovierte Historiker und Islamwissenschaftler stammt aus dem jemenitischen Hadramaut und ist selbst ein tiefgläubiger Moslem. Vor Jahren schon hatte er mir im Rahmen unserer andauernden freundschaftlichen Diskussion mehr als 70 Hinweise auf Koranverse übermittelt, die das komplexe Bild dieses heiligen Buches der Muslime beispielhaft erhellen könnten. Auf dieser Grundlage haben wir das Projekt intern geprüft. Islam- und religionswissenschaftlich gebildete Redakteure von Deutschlandradio haben nach intensiven Kontakten mit Universitäten anerkannte Islamwissenschaftler und islamische Theologinnen für das Vorhaben gewonnen. Zusammen mit Deutschlandradio verständigen sie sich auf die Auswahl von Versen. Die redaktionelle Verantwortung liegt ausschließlich bei Deutschlandradio, wir beziehen auch keine islamischen Verbände in die Überlegungen ein.

Ein Sprecher zitiert jeweils Koranzeilen, unsere Autoren erläutern und erklären. Die weiterhin laufende Sendereihe richtet sich an alle interessierten Hörerinnen und Hörer, auch an die Muslime unter ihnen. Aber sie ist keine muslimische religiöse »Verkündigung«, was in vielen Briefen und E-Mails, die uns erreichen, kritisiert wird. Nein, Deutschlandradio erfüllt damit einen Kernauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Wir wollen in eigenständiger journalistischer Verantwortung einen Beitrag zur differenzierten Meinungsbildung und zur Aufklärung in unserer Gesellschaft leisten, zumal in der postmodernen westlichen Gesellschaft das Verständnis für die Wirkmächtigkeit von Religion verloren zu gehen scheint.

Der Islam gehört schon allein deshalb zu Deutschland, weil hier rund vier Millionen Menschen dieser Religion angehören, etwa fünf Prozent der Bevölkerung. Wer das Lebensgefühl und die Denkweise dieser Mitbürger verstehen will, auch ihre Veränderung inmitten der kulturell anders geprägten deutschen Gesellschaft, der muss sich auch mit offener Neugier mit dem Islam beschäftigen. Zumal religiöse Vorstellungen und Werte selbst dann prägend bleiben, wenn Menschen ihre Religion nicht gläubig praktizieren.

Im vorliegenden Band präsentieren wir 81 Texte von »Koran erklärt«, Beiträge vom März 2015 bis Dezember 2016. Die gesamte Reihe dokumentieren wir von Anfang an und auch weiterhin zum Nachlesen im Internet (http://www.deutschlandfunk.de/koran-erklaert.2393.de.html), dennoch bin ich dem Suhrkamp Verlag sehr dankbar, dass er die Veröffentlichung als Buch ermöglicht. Ich danke den renommierten Autorinnen und Autoren für ihre erhellenden Auslegungen und dafür, dass Sie uns mit den Texten an ihrem Sachverstand teilhaben lassen. Besonders danken möchte ich Frau Prof. Dr. Angelika Neuwirth für die fachliche Beratung bei der Entwicklung der Sendung. Ebenso danke ich Herrn Dr. Sebastian Engelbrecht, der die Sendung konzipiert hat, mit den ersten Autorinnen und Autoren Kontakt aufgenommen und mit ihnen an den Texten gearbeitet hat, und Herrn Thorsten Gerald Schneiders, dem Redakteur der Sendung, deren Niveau durch seine Expertise garantiert wird.

Alle drei haben zu diesem Buch Aufsätze beigesteuert, die zum Verständnis unerlässlich sind. Darin geht es grundsätzlich um »Die Geschichte der Koranauslegung im Überblick. Von den Anfängen bis zu ›Koran erklärt‹« (Thorsten Gerald Schneiders), um die »Koranexegese zwischen Theologie und Orientalistik« (Angelika Neuwirth) und um »Die Beteiligung des Islams am Rundfunk in Deutschland« (Sebastian Engelbrecht).

Dieses Buch kann nicht mehr sein als nur eine Einladung zu eigener Beschäftigung und Erkenntnis.

 

Dr. Willi Steul

Intendant Deutschlandradio

KORAN ERKLÄRT –

Texte der Sendung im Deutschlandfunk

 

DER KORAN ÜBER SICH

Das ewige Wort Gottes

Siehe, wir haben dir Offenbarung gegeben, wie wir Noah Offenbarung gaben und den Propheten nach ihm und Offenbarung gaben Abraham und Ismael und Isaak und Jakob und den Stämmen und Jesus und Hiob und Jonas und Aaron und Salomo; und wir gaben David den Psalter.

(Sure 4,163)

Von Prof. Dr. Ömer Özsoy

Der Koran ist, wie der Theologe Abdullah Takim betont, ein multireferenzielles Wort; er spricht auch selbstreferenziell: Er bezieht sich auf sich selbst, bewertet sich selbst und legt auch dar, welche Stellung er in der Offenbarungsgeschichte einnimmt. Der Koran versteht sich als das chronologisch letzte Glied der Kette von göttlichen Offenbarungen, die das ewige Wort Gottes zum Ausdruck brachten. Der hier zu erläuternde Vers 163 aus Sure 4 bekräftigt dies.

Als das letzte Glied in der Kette der göttlichen Erinnerungen in Offenbarungsform aktualisiert der Koran alle vorhergehenden Schriften. Er erfüllt hier zwei Funktionen: die einer Bestätigung und die einer Korrektur.

So wurden Juden und Christen in der ersten, der mekkanischen Offenbarungsperiode als Gemeinden desselben Glaubens angesehen. Von beiden wurde erwartet, dass sie die aktualisierte Botschaft positiv aufnehmen. Dass der Koran die Muslime zu einer eigenen Gemeinde erklärte, ist ein relativ spätes Phänomen aus der zweiten, der medinensischen Offenbarungsperiode. Es hängt mit der ablehnenden Reaktion der sogenannten »Leute der Schrift«, also von Juden und Christen, auf diese Erwartung zusammen. Der Koran erklärte weder die früheren Schriften, die Thora und das Evangelium, für ungültig, noch gab er seine Erwartungshaltung gegenüber den »Leuten der Schrift« völlig auf.

Analog hierzu bezog sich auch der Prophet Mohammed nach der muslimischen Geschichtsschreibung bis zu seinem Tod auf das, was den »Leuten der Schrift« in seiner Umgebung vorlag, sofern er keine neue Bestimmung offenbart bekam. So konnten sich das jüdische und das christliche Recht als die sogenannte »Scharia der Früheren« in der islamischen Jurisprudenz zu einer anerkannten Rechtsquelle etablieren.

Die im Koran selbst verankerte Verwandtschaft der koranischen Offenbarung mit den früheren Schriften darf jedoch auch nicht zu einer Blindheit gegenüber den inhaltlichen Unterschieden führen. Die in einem Zeitalter des interreligiösen Dialogs geläufige Tendenz, diese Differenzen zu ignorieren, relativiert den originären Beitrag der jeweils jüngeren Schrift. Dadurch wird die jeweilige Eigenständigkeit der jüngeren Schrift verkannt und gleichzeitig das Bild verzerrt, das diese Schriften gemeinsam malen. Die Frage, »was Mohammed Neues gebracht« habe, ist vollkommen legitim, lässt sich aber nur durch eine religionshistorische Einbettung der Konflikte zwischen den Schriften sinnvoll beantworten. Dafür plädiert auch die Koranforscherin Angelika Neuwirth. Im Blick auf die Konflikte zwischen den koranischen und den biblischen Texten wird immer noch überwiegend mit vorschnellen Erklärungsansätzen reagiert.

Aus korantheologischer Sicht ist die Offenbarung des verborgenen Wortes Gottes letztendlich Vergegenwärtigung des absoluten Willens Gottes in einer bestimmten Zeit. Die Offenbarung ist eine Vergegenwärtigung, durch die das Göttliche, das heißt das Kontextlose, ins Menschliche, also in bestimmte Kontexte, übertragen wird. So heißt es zum Beispiel in den Versen 2-4 der Sure 43:

Bei dem deutlichen Buch, siehe, wir machten es nun zu einem arabischen Koran, auf dass ihr vielleicht begreift. Und siehe, es ist in der Mutter der Schrift bei uns – wahrlich ein hohes, ein weises.

Der Koran führt sich wie alle früheren Offenbarungsschriften auf eine himmlische Urschrift zurück. Und zugleich stellt er sich als die arabische Entfaltung dieser Urschrift dar.

Die Unnachahmlichkeit des Korans

Sprich: Wenn die Menschen und die Dämonen sich zusammentäten, etwas, das diesem Koran gleicht, zustande zu bringen, würde ihnen das nicht gelingen – selbst wenn sie einander helfen würden.

(Sure 17,88)

Von Prof. i. ‌R. Dr. Hans Hinrich Biesterfeldt

Dieser Vers ist einer von insgesamt fünf, mit denen der Koran sich selber als ein Dokument beschreibt, das einzigartig und unnachahmlich ist. Die Verse geben sich als rhetorische Herausforderung: »Soll einer es doch versuchen – er wird scheitern.« Deshalb tragen diese Verse auch den Namen »Verse der Herausforderung«.

Tatsächlich gibt es aus der Frühzeit des Islams nur wenige Nachrichten über Versuche, den Koran nachzuahmen oder zu parodieren. Den vorhandenen Überlieferungen zufolge scheitern alle Versuche – sei es, dass Gott selber interveniert, sei es, dass der Nachahmer frustriert aufgibt, weil es ihm einfach nicht gelingt, die Reimprosa, die besondere Wortwahl oder die stilistischen Eigentümlichkeiten eigenständig wiederzugeben.

Die »Verse der Herausforderung« haben schon früh die Aufmerksamkeit islamischer Korangelehrter geweckt. Der Koran lehrt, dass Mohammed »das Siegel« der Propheten ist. Das heißt, er schließt Gottes Offenbarung ein für alle Mal ab, und zwar in arabischer Sprache.

Alle Vorgänger des Propheten Mohammed, zu denen auch aus der Bibel bekannte Figuren wie Abraham, Mose, Jakob oder Jesus gehören, haben Gottes Botschaft zu bestimmten Zeiten an bestimmte Völker übermittelt. Viele dieser Figuren legitimieren sich durch Wunder. Nach Auffassung der islamischen Theologen hat etwa Mose die Teilung des Meeres beim Auszug des Volkes Israel vorzuweisen, Jesus unter anderem die Heilung von Todkranken. Mohammeds Wunder ist nun die Übermittlung des Korans selber.

Worin die Evidenz dieses Wunders besteht, warum der Koran einzigartig ist, darüber haben die islamischen Theologen, aber auch die arabischen Sprachwissenschaftler schon früh nachgedacht.

Sprachliche Schönheit oder Vollkommenheit gelten etwa hinsichtlich der Texte des Alten und des Neuen Testaments an sich nicht als entscheidend; auch Übersetzungen aus dem Hebräischen und dem Griechischen in moderne Sprachen sind heutzutage selbstverständlich. Für den Koran als Wort Gottes ist dagegen sein arabischer Wortlaut essenziell. Und es gibt viele Muslime, die ihn für grundsätzlich unübersetzbar halten.

Worin besteht nun die sprachliche Unnachahmlichkeit? Darauf hat es vonseiten der klassisch-arabischen Korangelehrten und Literaturwissenschaftler verschiedene Antworten gegeben. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie die laut rezitierte Form des Textes zugrunde legen, nicht seine stumme Lektüre: Das Wort »Koran« bedeutet letztlich ja auch »Rezitationstext«.

Es werden also beispielsweise die Reime analysiert, die eine Sure gliedern. Es geht um die Lautmalerei einzelner Wörter, den »Rhythmus« der Sätze. Untersucht wird aber zum Beispiel auch das Verhältnis von Allerweltswörtern zu schwierigen beziehungsweise seltenen Begriffen oder solchen, deren Bedeutung im Dunkeln liegt. Nicht zuletzt erörtern die klassisch-arabischen Korangelehrten und die Literaturwissenschaftler die philosophische Frage, wie sich der Wortlaut des Textes zu seiner Bedeutung verhält, also wie unnachahmlich vollkommen das äußere »Kleid« zum inneren »Leib« des Korantextes passt.

Dabei haben sich sowohl bemerkenswerte Aufschlüsse für den Koran ergeben als auch grundsätzliche Einsichten in die Funktionen von dichterischer Sprache, vom Reden »im übertragenen Sinn«, von Gleichnis, Metapher usw.

Wie subjektiv die Überzeugungen von der sprachlichen Einzigartigkeit des Korans sind, wie sehr sie möglicherweise auch auf religiöser Konvention beruhen, sei dahingestellt. Für das Verständnis des Korantextes und für die Funktion von Sprache allgemein hat die Theorie der Unnachahmlichkeit des Korans Grundlegendes geleistet.

Von Schreibrohren und Tinten-Meeren

Wenn auf Erden aus (allen) Bäumen Schreibrohre würden und das Meer (Tinte) wäre, und (wenn es erschöpft ist), sieben weitere Meere ihm Nachschub brächten, so wären Gottes Worte (dennoch) unerschöpflich. Gott ist mächtig, weise.

(Sure 31,27)

Von Prof. Dr. Georges Tamer

Auf eindrucksvoll rhetorische Art bringt dieser Vers die theologische Lehre zum Ausdruck, dass Gottes Worte unendlich sind. Selbst wenn alle Bäume der Welt Stifte und die Meere Tinte wären, würden sie nicht ausreichen, um Gottes Worte schriftlich zu erfassen.

Die arabische Formulierung des Versanfangs lässt keinen Zweifel daran, dass die Gesamtheit der Bäume auf Erden gemeint ist; ebenfalls deutet die Zahl sieben symbolisch auf die unendliche Zahl der Meere hin. Damit macht der Koran klar, dass nichts auf der Welt die Worte Gottes uneingeschränkt erfassen kann. Die Unendlichkeit Gottes wird so mit der Begrenztheit der Welt kontrastiert und auf diese Weise prägnant hervorgehoben.

Ähnlich lautet Vers 109 aus Sure 18: »Wenn das Meer Tinte wäre für die Worte meines Herrn, würde es noch vor ihnen zu Ende gehen, selbst wenn wir es an Masse verdoppeln würden.«

Die exegetische Literatur berichtet, dass der Vers, den wir heute besprechen, infolge eines Gesprächs verkündet worden sei, das Mohammed mit jüdischen Gelehrten über den Umfang des in der Thora enthaltenen Wissens geführt habe. Mohammed soll dabei die Ansicht vertreten haben, dass das in der Thora enthaltene Wissen nur einen kleinen Teil des unendlichen Wissens Gottes ausmache. Der Vers des Korans ist demnach zur Bestätigung dieser Überzeugung verkündet worden.

Indem der Koran die von Menschen und Materie unfassbare Unendlichkeit der Worte Gottes lehrt, erschließt er dem heutigen Leser neue Horizonte hinsichtlich der Betrachtung der Offenbarungen Gottes. Diese kann keine heilige Schrift – auch nicht der Koran selbst – ausschöpfend erfassen. Dementsprechend enthalten die heiligen Schriften nicht die Fülle der Rede Gottes, sondern jeweils nur Teile davon.

Gottes Worte sind unendlich, unfassbar, wie er selbst. Zu Ende gedacht, wird mit diesem Vers eine neue Ebene des interreligiösen Dialogs erschlossen. Alle heiligen Schriften ähneln sich darin, dass sie nur Bruchteile der unendlichen Rede Gottes enthalten. Ein Monopol darauf, Gottes umfassendes Wort zu sein, wird vom Koran nicht nur in Bezug auf die Thora, sondern gleichermaßen auf sich selbst negiert. Dieser Gedanke findet sich zwar nicht in der islamisch-exegetischen Literatur. Aber er lässt sich vom Text ableiten und ist in der islamischen Mystik präsent.

Schließlich erinnert die hier erläuterte Koranstelle Sure 31,27 an den ähnlich strukturierten Vers 25 aus dem 21. Kapitel des Johannesevangeliums: »Es sind auch viele andere Dinge, die Jesus getan hat; so sie aber sollten eins nach dem andern geschrieben werden, achte ich, die Welt würde die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären.«

Für die Christen ist Jesus das leibgewordene Wort Gottes, von dem die Evangelien berichten. Allerdings wird für die Evangelien nicht der Anspruch erhoben, das Leben und Wirken Jesu restlos zu erfassen. Gott ist jenseits des menschlichen Auffassungsvermögens. Seine Offenbarungen können nach menschlichen Kriterien nur teilweise erfasst werden.

Das Meer als Tinte

Sag: »Wäre das Meer die Tinte für die Worte meines Herrn, ja, das Meer würde sein Ende finden, ehe die Worte meines Herrn zu Ende gingen, auch wenn wir noch einmal so viel hinzubrächten.«

(Sure 18,109)

Von Prof. Dr. Milad Karimi

Gott prägt Gleichnisse. Und selbst dies ist ein Gleichnis, ein Gleichnis über das, was weder Raum noch Zeit eingrenzen können, ohne sich selbst fremd zu werden.

Dieses Gleichnis ist in Worte gekleidet und handelt von den Worten. Worte über Worte und immerfort. Diese Worte sind die Worte Gottes, nicht die eines fremden und fremdartigen Gottes, sondern »die Worte meines Herrn«. So beginnt die sprachliche Komposition der Botschaft mit dem Imperativ »Sag«, der an den ersten Adressaten der Offenbarung, den Gesandten Mohammed, gerichtet ist und mithin stellvertretend an die Menschen allesamt.

Die Worte Gottes, um die sich hier alles dreht, enden nicht, weder nach der Form noch nach dem Inhalt. Wir verfügen nicht über die Worte Gottes, weil sie ihrer Natur nach über sich und über uns hinausgehen. Es ist der Koran selbst, der als das Wort Gottes gilt. Gerade weil der Koran als das Wort Gottes sprachlich verfasst ist, fordert er Demut im Akt des Verstehens. Jede Klarheit der Interpretation als Entschleierung der Worte Gottes birgt in sich Unklarheit, ja, die Worte Gottes lassen sich eben nur bedingt entschleiern. Und doch bilden diese Worte die Kaaba im Herzen der Muslime. Der Schleier der Kaaba, geschmückt mit goldenen Fäden, bedeckt aber nicht ganz den kubischen Stein; er lässt Raum für Licht.

Die imposanten Gänge, die wohlverzierten Kuppeln und die hochragenden Minarette, die Licht spenden, bleiben vergessen durch die Anziehung dieser schwarzen Mitte; es ist gleichsam die absolute Nacht, die alles andere um sich kreisen lässt. So wie sich der Protagonist der wohl berühmtesten Liebesgeschichte der islamischen Welt, Madschnun, um seine geliebte Laila dreht, so umkreisen die Muslime, in lichte Gewänder gehüllt, den Stein. Vom Feuer entfacht, gleich dem Öl, »ohne dass es berührt hätte das Feuer«, wie es in der 24. Sure heißt (Sure 24,35), drehen sich die Muslime um diese Worte. In der Trunkenheit von Gott umrunden sie die immer enger werdenden Kreise, bis sie in der Flamme vergehen. Jedoch bleibt dieses Entflammen aus, ist doch der Islam eine Religion der Lebendigen, denn die Worte Gottes sind nicht versteinert.

Die Worte Gottes sind endlos, ihre endlose schöpferische Kraft zeigt ihre Dynamik, ihre Lebendigkeit – eine Lebendigkeit, die gewürdigt werden will – im Akt des Verstehens. Wer die Worte Gottes versteht, der räumt ein, dass dieselben Worte prinzipiell auch anders verstanden werden können. Eines ist, die Worte zu vernehmen, ein anderes, sie zu verstehen. Damit ist aber mitnichten das Tor zu Beliebigkeit und Willkür der Interpretation geöffnet. Die Deutung muss an der Gesamtkomposition der Botschaft gemessen werden, an den Kriterien der Gesamtbotschaft des Korans, am Kontext der Offenbarung, an den Bedingungen der Zeit und der ersten Adressaten. Die Deutung muss auch entscheidend an der in sich vielfältigen islamischen Geistesgeschichte gemessen werden. Nicht alles, was vergangen ist, gilt es zu überwinden.

Mehr noch: Die Worte Gottes sind nicht auf den Koran beschränkt; die gesamte Schöpfung ist in seinem Wort beheimatet. Denn die Offenheit der Worte Gottes, dass sie nicht enden, selbst »wenn das Meer, nachdem es erschöpft, noch sieben weitere Meere dazubekäme« (Sure 31,27), schenkt Offenheit. Die Worte Gottes können also nicht verstanden werden ohne die Menschen, die diese Worte verstehen. So mündet das unendliche Meer der Worte »meines« Herrn ins Meer »meiner« Seele, die »mich« nach dem Wort Goethes erkennen lässt: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.«

Die wohlverwahrte Tafel

Nein, es ist der ruhmreiche Koran auf einer wohlverwahrten Tafel.

(Sure 85,21-22)

Von Dr. Devin Stewart

Wenn der Koran der heilige Text ist, den die Muslime gewohnheitsmäßig lesen, warum weisen diese Verse dann auf eine geheimnisvolle »wohlverwahrte Tafel« hin?

Ein Gläubiger kann heutzutage eine Abschrift des Korans – auf Arabisch heißt sie mushaf – in die Hand nehmen und seinen Text zwischen zwei Buchdeckeln untersuchen. Dabei vergisst man leicht, dass das damals, als der Prophet die Offenbarungen der ursprünglichen Zuhörerschaft in Mekka und Medina überbrachte, unmöglich war. Der Koran selbst stellt klar, dass er während der Prophetenschaft Mohammeds nicht in Buchform aufgezeichnet wurde. Mohammeds Gegner kritisieren ihn in Sure 25,32 dafür, dass er die Offenbarung nicht als komplettes Buch überbringt. Man muss sich folglich vergegenwärtigen, was dann damit gemeint ist, wenn der Koran von sich selbst als »Buch« oder »Schrift« spricht.

Das Buch, von dem hier die Rede ist, ist ein Text, den man sich in überirdischen Sphären vorstellte. Er konnte sich nur manifestieren, indem Zitate daraus durch den Prozess einer Offenbarung an die irdische Sphäre übermittelt wurden. Sure 56,78 bekräftigt diese Vorstellung. Sie besagt, der Koran sei in einem »verborgenen Buch« verzeichnet, den alltäglichen Blicken der Menschen entzogen.

Dieses Verständnis hilft, verschiedene rätselhafte Eigenschaften des Korantextes zu erklären. Die zweite Sure mit Namen »Die Kuh« beginnt mit der Aussage: »Alif, Lām, Mīm. Jenes ist das Buch, an dem nicht zu zweifeln ist.« Im Gegensatz dazu heißt es in fast jeder Übersetzung des Korans: »Dieses ist das Buch …« Der Originaltext benutzt aber eindeutig das Demonstrativpronomen der Ferne, also: »Jenes ist das Buch …« – auf Arabisch: dhālika. Er benutzt nicht das Demonstrativpronomen der Nähe: »dieses«. Denn das hieße auf Arabisch hādha.

Die Übersetzung ist also handwerklich falsch. Der entscheidende Punkt ist aber, dass ein wichtiges Konzept verschleiert wird. Die Formulierung »jene/jenes« zeigt nämlich an, dass die besagte Schrift nicht unmittelbar präsent, sondern eben ein himmlisches Buch ist, zu dem der Prophet durch göttliche Inspiration Zugang hat.

Berücksichtigt man diese Überlegungen, legen die arabischen Buchstaben »Alif, Lām, Mīm« zu Anfang der Sure die Vermutung nahe, dass sie die göttlichen Aufzeichnungen repräsentieren, die auf der himmlischen Tafel eingraviert sind. Diese »geheimnisvollen« Buchstaben stehen am Anfang von 29 der insgesamt 114 Suren.

Korankommentatoren und Theologen spekulierten auch über die speziellen Eigenschaften der wohlverwahrten Tafel. Sie beschrieben sie als Tafel, die aus weißen Perlen besteht und sich rechts neben Gottes himmlischem Thron befindet. Diese Assoziation wird durch die Erwähnung des Throns einige Verse zuvor in Sure 85,15 angedeutet.

Die wohlverwahrte Tafel kann auch mit zwei weiteren koranischen Ausdrücken in Verbindung gebracht werden. Diese sind: »das verborgene Buch« und »die Mutter des Buchs«. In Sure 56,77-78 heißt es: »Das ist wahrlich ein edler Koran in einem verborgenen Buch.« Diese Aussage kommt der aus dem hier besprochenen Vers sehr nahe. Die beiden Ausdrücke »verborgenes Buch« und »wohlverwahrte Tafel« sind synonym.

Der Ausdruck »Mutter des Buchs« taucht in drei Koranversen auf (3,7; 13,39; 43,4), die jeweils betonen, dass sich diese »Mutter des Buchs« in Gottes Besitz befindet. Nach Ansicht vieler Kommentatoren handelt es sich dabei nicht nur um die Quelle für den Koran, sondern auch für alle anderen heiligen Schriften.

Die Wendungen »wohlverwahrte Tafel«, »verborgenes Buch« und »Mutter des Buchs« sind in jedem Fall miteinander verwandt. Zudem dürften sie sich auf ein und dasselbe himmlische Buch beziehen, dass sich in übersinnlichen Gefilden befindet und die Botschaft des Korans enthält.