Goldsmith, Barbara Marie Curie

PIPER

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Die erste Frau der Wissenschaft

 

Aus dem Amerikanischen von Sonja Hauser

Mit 17 Fotografien und Abbildungen

 

ISBN 978-3-492-97702-9

Mai 2017

Titel der Originalausgabe:

»Obsessive Genius« in der Reihe »Great Discoveries«, Atlas Books/W. W. Norton & Company, New York, London 2005

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2010

Covergestaltung: semper smile, München, nach einem

Entwurf von Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: Underwood & Underwood/Corbis

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Widmung

Für die Kinder

 

Evelyn

Gillian

Jack

Jenny

Lillian

Max

und ihre Abenteuerlust

Einleitung

Paris, 20. April 1995: Der weiße Teppich, über den die Nationalgardisten zum Klang der Marseillaise schreiten, erstreckt sich über mehrere Häuserblocks entlang der Rue Soufflot und endet vor dem von oben bis unten mit Trikoloren geschmückten Panthéon. Die Menschenmassen, die die Straßen säumen, sind ungewöhnlich still. Als sich der Trauerzug nähert, legen manche Blumen auf die Straße. Pariser Gymnasiasten, die sich hinter den Lehrern des Curie-Instituts eingereiht haben, tragen über einen Meter hohe blaue, weiße und rote Buchstaben – die griechischen Symbole für Alpha-, Beta- und Gammastrahlen.

Der Zug hält am Panthéon vor einem Podium mit bekannten Persönlichkeiten, darunter François Mitterrand. Der französische Präsident, damals schon an Krebs erkrankt, hatte am Ende seiner vierzehnjährigen Amtszeit beschlossen, seine letzte Ansprache den »Frauen Frankreichs« zu widmen und die Asche von Madame Curie und ihrem Mann Pierre ins Panthéon überführen zu lassen. Marie Curie, geboren als Maria Salomee Sklodowska, ist die erste Frau, die ihrer Verdienste wegen dort beigesetzt wurde.[1] Das Ehepaar Curie, ursprünglich in Sceaux beigesetzt, war exhumiert worden und würde nun neben den Unsterblichen Frankreichs seine letzte Ruhestätte finden – neben Honoré-Gabriel Riqueti (Graf von Mirabeau), Jean-Jacques Rousseau, Émile Zola, Victor Hugo, Voltaire (François-Marie Arouet), Jean-Baptiste Perrin und Paul Langevin.

Neben Mitterrand saß Lech Walesa, der Staatspräsident von Polen, Madame Curies Heimatland. Außerdem wohnten dem Ereignis die Familien der beiden Wissenschaftler bei: ihre Tochter Ève sowie die Kinder ihrer verstorbenen Tochter Irène – Hélène Langevin-Joliot und Pierre Joliot, beide angesehene Wissenschaftler.

Pierre-Gilles de Gennes, der Leiter der Schule für Industrielle Physik und Chemie der Stadt Paris (EPCI), an der Marie und Pierre Radioaktivität, Radium und Polonium entdeckt hatten, sprach als Erster. Er sagte, die Curies repräsentierten »das kollektive Gedächtnis des französischen Volkes« und hätten einen eindrucksvollen Beleg dafür geliefert, was mit dem unbedingten Willen zur »Selbstaufopferung« zu erreichen sei. Lech Walesa erwähnte Marie Curies polnische Wurzeln und würdigte sie als polnische und französische Patriotin. Dann erhob sich François Mitterrand und erklärte:

»Die Überführung von Pierre und Marie Curies Asche in dieses Nationalheiligtum ist nicht nur ein Akt des Gedenkens, sondern steht auch für Frankreichs Glauben an Wissenschaft und Forschung. Wir sprechen unsere Achtung aus vor jenen, die hier beigesetzt sind, vor ihrer Kraft und ihrer Lebensleistung. Mit der heutigen Feier verbeugt sich das Panthéon vor der wichtigsten Frau unserer Geschichte – ein symbolischer Akt, der die Aufmerksamkeit unserer Nation auf den exemplarischen Kampf einer Frau lenken soll, die beschlossen hatte, ihre Fähigkeiten in den Dienst einer Gesellschaft zu stellen, in der die Nutzung ebensolcher Fähigkeiten, die wissenschaftliche Forschung und politische Verantwortung Männern vorbehalten waren.«[2] Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass das Panthéon der Schriftzug GROSSEN MÄNNERN VON EINEM DANKBAREN LAND[3] ziert.

Nach den Ansprachen brandete donnernder Applaus auf. Dem bescheidenen Pierre Curie, der in Sceaux beigesetzt werden wollte, weil er »Lärm und Zeremonien«[4] hasste, hätte dieses Spektakel sicher nicht gefallen. Und Marie? Sie, die ihr Leben lang um Anerkennung als Wissenschaftlerin gekämpft hatte, erhielt erst nach ihrem Tod die höchsten Weihen und war nun gemeinsam mit ihrem Mann in den Stand von Göttern erhoben worden. Eine die Zeiten überdauernde Ikone und ein Vorbild für Frauen, die in ihr die eigenen Träume und Ziele verwirklicht sahen. Zu diesen Frauen gehörte auch ich.

Während meiner Teenagerzeit hing neben einer Van-Gogh-Reproduktion und meiner Bowlingkarte ein Foto von Marie Curie an der Pinnwand in meinem Zimmer. Das Bild zeigt sie unter einer Ulme sitzend, die Hände um die Taille ihrer beiden Töchter, der zweijährigen Ève und der neunjährigen Irène, gelegt. Ich weiß nicht, was mich an diesem Bild anzog, mit Sicherheit war es nicht der wissenschaftliche Aspekt. Vielleicht empfand ich Maries vermeintlich schützende Umarmung als tröstlich, weil meine eigene Mutter damals nach einem schweren Autounfall weit weg im Krankenhaus lag. Vielleicht war es auch die seltsame Stimmung, die von den dreien ausging. Auf dem Foto sind keine lächelnden Gesichter zu sehen; sie wirken alle unsagbar traurig. Seinerzeit wusste ich noch nicht, warum. Unter das Bild hatte ich zwei Zitate von Madame Curie geheftet: »Im Leben muss man vor nichts Angst haben. Man muss es nur begreifen.« Und: »Es ist wichtig, aus dem Leben einen Traum und aus einem Traum Realität zu machen.« Erst bei den Recherchen zu dem vorliegenden Buch stellte ich fest, dass das zweite Zitat von Pierre Curie, nicht von Marie, stammt.

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Marie mit Ève (links) und Irène (rechts) im Garten von Sceaux, 1908.

 

Marie Curie war in vielerlei Hinsicht ein Vorbild. Sie stammte aus einer verarmten polnischen Familie, arbeitete acht Jahre lang, um Geld für das Studium an der Sorbonne zu verdienen, und litt unglaubliche Entbehrungen. 1893 machte sie als erste Frau an der Sorbonne einen Abschluss in Physik, im nächsten Jahr folgte ein zweiter in Mathematik. Ebenfalls als erste Frau wurde sie an der Sorbonne Professorin und erhielt nicht nur einen, sondern zwei Nobelpreise: den ersten in Physik mit ihrem Mann Pierre und Henri Becquerel (für die Entdeckung der Radioaktivität); den zweiten, acht Jahre später, in Chemie (für das Isolieren der Elemente Polonium und Radium). Außerdem war sie die erste Frau, die in die ehrwürdige, 224 Jahre alte französische Akademie der Medizin aufgenommen wurde. Neben ihrer außergewöhnlichen Karriere zog Marie zwei Töchter auf und sorgte nach dem Tod ihres Mannes allein dafür, dass die beiden zu gebildeten, unabhängigen Frauen heranwuchsen.

Das sind die Fakten, die schon zu ihren Lebzeiten von romantischen Mythen überlagert wurden – genährt von Journalisten, Wissenschaftlern, Ärzten, Feministinnen, Geschäftsleuten, Industriellen und sogar Madame Curie selbst. Man erinnert sich ihrer als »heilige Johanna der Wissenschaften«. Pariser Straßen sind nach den Curies benannt; den französischen 500-Franc-Schein (jetzt ein Sammlerstück) zierten ihr Gesicht und Abbildungen ihres Labors sowie einige Szenen aus ihrem Leben. Briefmarken und Münzen tragen ihr Konterfei. Automobile, die im Ersten Weltkrieg mit Röntgengeräten ausgestattet wurden, waren unter der Bezeichnung »Les Petites Curies« bekannt. Filme trugen ebenfalls zur Legendenbildung bei. Als Kind war ich fasziniert von Greer Garson und Walter Pidgeon, die Marie und Pierre 1943 in dem Film Madame Curie verkörperten. Ich erinnere mich gut an die Szene, in der die Darstellerin der Marie mit schweißglänzendem Gesicht in einem Bottich mit brodelndem Erz rührt. Und ich werde ebenfalls nicht vergessen, wie Marie und Pierre nachts ihr Labor betreten und in einer Schale einen winzigen leuchtenden Punkt entdecken. »Ach, Pierre! Kann das sein? Kann das wirklich sein?«, ruft Marie aus, Tränen in den Augen. Ja, es konnte sein – Radium!

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Greer Garson und Walter Pidgeon in dem Film Madame Curie aus dem Jahr 1943.

 

Viele Jahre sind vergangen, seit ein törichtes Mädchen sich von einer Hollywood-Heldin beeindrucken ließ. Jetzt beschäftige ich mich in meinen Schriften hauptsächlich mit Frauen und der Zeit, in der sie lebten. Warum bleiben manche Frauen in ihrem Milieu gefangen, während andere Hindernisse überwinden, sie umschiffen oder schlicht ignorieren? Wie beeinflussen Gesellschaft und Familie ihre Ziele? Warum streben manche Frauen nach Unabhängigkeit, während andere lieber auf ausgetretenen Pfaden bleiben? Und welche Saite schlug Madame Curie gerade in der weiblichen Psyche an? Dies sind die Fragen, die mich interessieren.

Ich versuche, das Auseinanderklaffen von Bild und Realität zu ergründen. Madame Curie ist die vielleicht berühmteste Wissenschaftlerin der Welt. Radium, das große Bedeutung in der Krebsstrahlentherapie besaß, gilt als ihre Hauptentdeckung. Aber war dies wirklich ihre größte wissenschaftliche Erkenntnis? Und wer war die Frau, die hinter diesem überwältigenden Mythos steckt? Ihr möchte ich in diesem Buch nachspüren.

I

Frühe Einflüsse

»Eine große Entdeckung entspringt nicht fix und fertig dem Gehirn eines Wissenschaftlers wie Minerva in voller Rüstung dem Kopf Jupiters; sie ist das Ergebnis langer Arbeit«, schreibt Marie Curie. Und von Louis Pasteur stammt der Ausspruch: »Das Schicksal bevorzugt den Geist, der vorbereitet ist.« Doch große Leistungen erfordern mehr als wissenschaftliche Vorbereitung, nämlich einen Menschen, der sich mehr als alle anderen für die Lösung der Aufgabe eignet. Und Marie Curie, deren Persönlichkeit durch Diskriminierung und Entbehrungen, elterlichen Druck und Ehrgeiz, Patriotismus und Pazifismus geformt wurde, war ein solcher Mensch.

Als Vierjährige stand sie fasziniert vor einer Vitrine »mit mehreren Fächern, in denen es zahlreiche wunderliche, zierliche Dinge zu sehen gibt, gläserne Röhren, leicht gefügte Waagen, verschiedene Mineralien und sogar ein Elektroskop mit einem Goldblatt«[5]. Professor Wladislaw Sklodowski erklärte seiner staunenden Tochter, das sei seine »Physikausrüstung«. Maria Salomee Sklodowska, genannt Mania[6], aus der später die weltberühmte Madame Curie werden sollte, hatte keine Ahnung, was er damit meinte, aber die Worte ihres Vaters blieben ihr im Gedächtnis. Diese Anekdote, die Ève Curie schildert, deutet auf ein frühes Interesse für die Naturwissenschaften hin und sagt etwas über das Verhältnis der Kleinen zu ihrem Vater aus. Die Vitrine blieb verschlossen, seit die Kurse von Professor Sklodowski nach dem blutig niedergeschlagenen Januaraufstand des Jahres 1863 nicht mehr stattfinden durften. Marie Curie schreibt, ihr Vater sei durch russische Unterdrückung um eine möglicherweise herausragende Wissenschaftlerkarriere gebracht worden. »Mein Vater hatte kein Labor und konnte folglich keine Experimente durchführen.«[7] Mania sollte wie so viele andere Kinder die unerfüllten Träume des Vaters verwirklichen.

Professor Sklodowski führte in jenen Jahren ein unsicheres Dasein als Unterinspektor und Lehrer in einem kaiserlichen Jungengymnasium in Warschau. Solche russischen Gymnasien waren die einzigen Bildungseinrichtungen, die Zeugnisse ausstellen durften. Viele der polnischen Lehrer in diesen Schulen galten bei ihren Landsleuten als durch die Russen »vergiftet«. Wladislaw glaubte jedoch, die polnische Kultur durch seinen Unterricht am Leben erhalten zu können. Früher war Polen ein stolzes Land gewesen, aber nach der endgültigen Niederlage Napoleons in der Schlacht von Waterloo 1815 wurde der russische Zar Alexander II. beim Wiener Kongress zum »König von Polen« ernannt und das Land der gemeinsamen Kontrolle von Russland, Preußen und Österreich unterstellt. Sogar die Bezeichnung »Polen« tilgte man von vielen Landkarten und nannte das Gebiet »Wisla« [Weichsel], nach dem Fluss gleichen Namens. Die Russen gingen besonders grob zu Werke. Die polnische Sprache wurde in den Schulen genauso verboten wie der Unterricht in polnischer Geschichte und Literatur. Die offizielle Sprache war Russisch, und alle Straßen- und Ladenschilder mussten in Kyrillisch beschriftet werden.

Zwei Aufstände gegen die russische Besatzung waren fehlgeschlagen; beide hatten unmittelbare Auswirkungen auf die Familie Sklodowski. Während des ersten im November 1830 kämpfte Wladislaws Vater Josef, ein angesehener Physik- und Chemielehrer, in der Artillerie. Als die Russen ihn gefangen nahmen, musste er barfuß über 200 Kilometer zu einem Lager marschieren. Dabei verlor er fast 20 Kilo Gewicht. Seine Füße, nach dem Gewaltmarsch blutig und angeschwollen, sollten ihn den Rest seines Lebens quälen. Wie durch ein Wunder entkam er.

Der Aufstand vom Januar 1863 wurde ein katastrophaler Fehlschlag. Eineinhalb Jahre lang kämpften Polen, manche lediglich mit Spaten, Knüppeln und Hacken ausgerüstet, gegen die Armee des Zaren. Am Ende waren Tausende polnische Aufständische tot oder wurden nach Sibirien verbannt. Ein Onkel von Mania wurde bei den Auseinandersetzungen verwundet, ein anderer verbrachte vier Jahre in Sibirien. Etwa 100000 polnische Widerstandskämpfer flohen mit all den Habseligkeiten, die sie tragen konnten, in andere Länder, hauptsächlich nach Frankreich. Im August 1864 nahm man die Anführer des Aufstands gefangen und hängte sie. Ihre Leichen baumelten den ganzen Sommer von den Wällen der Alexan-derzitadelle nur wenige Häuserblocks von der Wohnung der Sklodowskis entfernt und verwesten langsam in der Hitze.

Die Sklodowskis entstammten dem polnischen Landadel, der sogenannten Szlachta. Obwohl sich einige aristokratische Statussymbole erhalten hatten, zum Beispiel Wappen und Dörfer, die den Namen bestimmter Familien trugen, hatten die meisten im Lauf der Jahre sowohl ihren Grund- als auch den sonstigen Besitz verloren. Vielleicht bewahrten die Angehörigen dieser Schicht gerade deshalb einen gewissen Standesdünkel, wenn es um Werte ging, die nicht in weltlicher Währung gemessen wurden. Bildung und Nationalstolz hatten in Manias Familie eine lange Tradition. Schon ihr Großvater Josef hatte an der Warschauer Universität studiert und später in den weniger repressiven Provinzen unterrichtet. Nachdem die Warschauer Universität nach dem Aufstand von 1830 vorübergehend geschlossen worden war, sah sich ihr Vater Wladislaw gezwungen, Privatunterricht in Biologie zu nehmen; später studierte er an der Naturwissenschaftlichen Hochschule von St. Petersburg, wo er seinen Abschluss in Mathematik und Physik machte. Anschließend kehrte er nach Warschau zurück und arbeitete dort als Assistenzlehrer. Sein Gehalt war so niedrig, dass er damit kaum über die Runden kam, geschweige denn daran denken konnte, eine Familie zu gründen. Doch dann lernte er Bronislawa Boguska kennen, eine schöne, kultivierte Frau, die wie er aus der Szlachta stammte.

Bronislawas Eltern hatten, entgegen der allgemeinen Überzeugung der Zeit, dass Frauen weder die körperlichen noch die geistigen Voraussetzungen für das Erlernen eines anspruchsvollen Berufs besäßen, dafür gesorgt, dass ihre Tochter die einzige Privatschule für Mädchen in Warschau besuchen konnte. Während sämtliche privaten Bildungseinrichtungen von russischen Beamten überwacht wurden, unterlagen Mädchenschulen weniger strikten Kontrollen, weil die Russen glaubten, Frauen würden ohnehin nie am öffentlichen Leben oder der Politik teilhaben oder eine wichtige Position in der Welt der Männer bekleiden.

Als Bronislawa und Wladislaw 1860 heirateten, hatte sie sich dank ihrer Intelligenz und Kompetenz von einer einfachen Lehrerin zur Leiterin der Schule in der Fretastraße hochgearbeitet. Sie nannte ein solides Einkommen und eine geräumige Erdgeschosswohnung neben der Schule ihr eigen. Mit der Heirat begann für sie ein Leben, in dem sie eine Doppelbelastung zu schultern hatte. Sie musste Geld verdienen und gleichzeitig die Kinder großziehen. In den sechs Jahren nach ihrer Heirat gebar sie fünf Kinder: Sofia (Spitzname Zosia) 1862, Josef 1863, Bronislawa (Bronia) 1865, Helena (Hela) 1866 und am 7. November 1867, im selben Jahr, in dem der erste Band von Karl Marx’ Das Kapital erschien und Alfred Nobel das Dynamit patentieren ließ, ihr letztes Kind Maria Salomee (Mania). Danach vertraute Bronislawa einer Freundin an: »Ich muss gestehen, dass ich nichts dagegen hätte, wieder Fräulein Boguska zu sein, jetzt, wo ich sehe, wie schwierig das Leben einer Ehefrau ist.«

1867 wurde Bronislawas Mann Konrektor eines russischen Gymnasiums in der Nowolipkistraße. Seine neue Stelle brachte auch eine Wohnung mit sich. Es war keine Frage, dass Wladislaws Karriere wichtiger war als die seiner Frau, weshalb die Familie – vier Töchter und ein Sohn – aus dem Warschauer Zentrum an den westlichen Rand der Stadt zog. Für Broni-slawa hieß das, jeden Tag den langen Weg zur Schule in der Fretastraße auf sich zu nehmen, eine Belastung, die sich mit der Zeit auf ihre Gesundheit niederschlug. Sie gab ihre Stelle auf, wurde Hausfrau und unterrichtete Zosia und Josef daheim. Um ein paar Rubel dazuzuverdienen, brachte sie sich selbst das Schustern bei und stellte fortan die Fußbekleidung ihrer Kinder zum reinen Materialpreis her. Das Klopfen ihres Hammers begleitete stets den Unterricht.

1871, Mania war vier, begann ihre Mutter, Gewicht zu verlieren und ununterbrochen zu husten, eindeutige Symptome von Tuberkulose. Mania erzählte später, dass sie sich an keinen einzigen Kuss und keine Umarmung ihrer Mutter erinnern könne. Zweifelsohne handelte es sich um eine Vorsichtsmaßnahme Bronislawas, die auch ihr eigenes Geschirr und Besteck verwendete; aber das kleine Mädchen, das sich nach Liebe sehnte, empfand ihre Zurückhaltung als schmerzhaft. Hinzu kam, dass die Sitten der Zeit die Distanz zwischen Eltern und Kindern ohnehin förderten. Die Eltern besaßen absolute Autorität und wurden in der Höflichkeitsform angesprochen.

Obwohl Wladislaw stets knapp bei Kasse war, beschloss er auf Rat zweier Ärzte, seine Frau zur Kur zu schicken. Broni-slawa fügte sich widerstrebend. Die damalige Lehrmeinung besagte, dass Tuberkulose sich durch lange Aufenthalte in mildem Klima oder in den Bergen, durch viel Ruhe und den Genuss von Heilwasser kurieren lasse. Es sollte noch neun Jahre dauern, bis das Tuberkelbakterium isoliert wurde und man erkannte, dass es sich um eine ansteckende Krankheit handelte.

Da Bronislawa sich keine persönliche Betreuerin leisten konnte, nahm sie ihre zehnjährige Tochter Zosia mit. Die Kleine bemühte sich redlich, sich um ihre Mutter zu kümmern, aber je länger sich die Trennung von der Familie hinzog, desto niedergeschlagener wurde Bronislawa. Auch quälten sie die Gedanken an das viele Geld, das ihre Behandlung verschlang. Denn auf die erste Kur in den österreichischen Alpen nahe Innsbruck folgte eine weitere in Nizza. Im zweiten Jahr ihrer Abwesenheit von der Familie wurde das Heimweh unerträglich. Am Heiligabend deckte Zosia in Nizza den Tisch wie zu Hause, und gemeinsam brachen sie weinend die Hostie, die man ihnen aus Warschau geschickt hatte. »Gebe Gott, dass dies das letzte Weihnachten weit weg von meiner Familie ist«, betete Bronislawa.

In Abwesenheit seiner Frau übernahm Professor Sklodowski die Erziehung der anderen Kinder; die Umstände sollten dafür sorgen, dass das auch später so blieb. Die Tage und Abende der Kinder waren sorgfältig in Lern- und Übungszeiten unterteilt. Mania erinnerte sich später, dass selbst die unwichtigste Unterhaltung eine moralische oder wissenschaftliche Lektion enthielt, dass ein Spaziergang dazu diente, ein wissenschaftliches Phänomen oder die Geheimnisse der Natur zu erklären, und dass ein Sonnenuntergang einen kurzen Exkurs über Astronomie provozierte. Bronislawa hatte als strenggläubige Katholikin ihren Glauben an die Kinder weitergegeben, die jeden Sonntag mit einer Tante in die Kirche gingen, wo sie für die Rückkehr ihrer Mutter beteten. Auch zu Hause waren sie gehalten, Gebete für die »Wiederherstellung der Gesundheit unserer Mutter« zu sprechen.

Wladislaw nährte in seinen Kindern die Hoffnung auf die polnische Unabhängigkeit und den tiefen Hass auf das zaristische Russland. Auf dem Weg zur Schule blieben Mania und eine Freundin gern vor einem Obelisken stehen, den Zar Ale-xander II. in der Nähe des Sächsischen Platzes hatte errichten lassen und der die Inschrift DEN IHREM HERRSCHER TREU ERGEBENEN POLEN trug. Mania nahm Maß und spuckte auf die verhassten Worte. Als der Zar in St. Petersburg einem Bombenanschlag zum Opfer fiel, tanzten Mania und ihre polnischen Klassenkameradinnen vor Freude im Klassenzimmer.

Im streng reglementierten Leben der Kinder brachte der Samstagabend angenehme Abwechslung. Von sieben bis neun las ihr Vater – der neben Polnisch auch fließend Russisch, Französisch, Deutsch und Englisch sprach – laut aus Büchern wie David Copperfield vor und übersetzte simultan den Text ins Polnische. Besonders rührte Mania Charles Dickens’ Zwei Städte, weil Teile der Handlung sie an ihre Mutter erinnerten.

Sämtliche Sklodowski-Kinder waren intelligent und gute Schüler; Mania jedoch übertraf sie alle. Als sie mit vier Jahren beobachtete, wie ihre ältere Schwester Bronia sich mit einem Buch abmühte, nahm sie es ihr aus der Hand und las den ersten Satz fehlerfrei vor. Die erstaunten Gesichter der anderen brachten sie zum Weinen, weil sie glaubte, etwas falsch gemacht zu haben. »Das wollte ich nicht«, schluchzte sie, »aber es war so einfach.« Einige Jahre später trug ein Bekannter ihr ein Gedicht vor, und sie bat um eine Abschrift. Er antwortete, er werde es ihr noch einmal aufsagen, dann könne sie es mit ihrem ausgezeichneten Gedächtnis sicher auswendig wiederholen. Gesagt, getan. Mania zog sich ins Nebenzimmer zurück und kehrte eine halbe Stunde später mit einer fehlerlosen schriftlichen Fassung zurück.

Mania und ihre Schwestern besuchten anfangs noch die Schule in der Fretastraße, aber als sie sechseinhalb war, wechselten sie und Helena an eine Schule, die sich näher bei ihrer Wohnung befand. Mania kam in die dritte Klasse, in der viele Kinder ein oder zwei Jahre älter waren als sie. Die neue Schule wurde aufmerksam von russischen Beamten überwacht, doch die Leiterin, eine polnische Patriotin namens Madame Jadwiga Sikorska, führte sie geschickt hinters Licht. Ihre Schüler wussten, dass »Botanik« für polnische Geschichte und »Deutsch« für polnische Literatur stand. Zudem galt ein ausgeklügeltes System: Wenn ein russischer Beamter erschien, erklang eine Glocke, die polnischen Bücher verschwanden von den Tischen und wurden durch russische ersetzt. Einmal musste die Vorzeigeschülerin Mania einem Inspektor Fragen in perfektem Russisch beantworten. Die letzte lautete: »Und wer ist unser geliebter Zar?« Nach kurzem Zögern antwortete Mania mit fester Stimme: »Zar Alexander II.« Sobald der Inspektor den Raum verlassen hatte, brach sie in Tränen aus; sie war verzweifelt über ihre »Falschheit«, obwohl sie inzwischen wusste, dass es schlimme Folgen haben konnte, seine wahren Gefühle zu zeigen.

Auch ihr Vater, den sie verehrte, führte ein Doppelleben und hielt im Geheimen Vorträge über polnische Wissenschaftler, um in seinen Schülern Stolz auf ihr nationales Erbe zu wecken. Als ein russischer Oberinspektor Professor Sklodowskis subversive Aktivitäten entdeckte, verlor Wladislaw umgehend seine Stelle und somit nicht nur sein Gehalt, sondern auch die Wohnung – just zu dem Zeitpunkt, als Bronislawa trotz ihrer Krankheit beschlossen hatte, nach Hause zurückzukehren. Als Mania ihre Mutter und ihre älteste Schwester wiedersah, rannte sie freudig auf die beiden zu, aber ihre Mutter hielt abwehrend die Hand hoch. Die Sechsjährige, die diese zerbrechliche, immer hustende Frau kaum noch erkannte, blieb erschrocken stehen. Am folgenden Sonntag kniete Mania in der Kirche nieder und betete. Sie bot Gott ihr eigenes Leben an, wenn er ihre Mutter heilte.

Die Familie musste sich eine neue Bleibe suchen und mietete ein Haus, in dem Professor Sklodowski ein Jungenpensionat eröffnete, hauptsächlich für Schüler aus der Provinz. Anfangs waren es fünf, dann zehn, dann zwanzig. Auf so engem Raum gab es kaum noch Privatsphäre. Mania schlief auf einem Sofa im Esszimmer und stand jeden Morgen um sechs auf, um den Frühstückstisch zu decken. Im Januar 1874 steckte einer der zahlreichen Pensionsgäste Bronia und Zosia mit Typhus an. Die Krankheit, die durch Läuse und Flöhe in schmutziger Kleidung, Bettzeug oder Pelzen übertragen wurde, breitete sich auf dem engen Raum schnell aus. Zwei Epidemien hatten in Warschau bereits Tausende von Menschen dahingerafft. Manias Schwester lag mit Schüttelfrost in einem Zimmer, während das Husten ihrer Mutter Tag und Nacht durchs Haus hallte. Nach zwölf Tagen erholte Bronia sich wieder, doch zwei Wochen später starb die zwölfjährige Zosia, die treue Begleiterin ihrer Mutter. Bronislawa, die zu schwach war, der Beisetzung beizuwohnen, sah dem Trauerzug vom Fenster aus nach. Mania folgte dem Sarg im langen schwarzen Mantel ihrer toten Schwester wie in Trance. Im Mai 1878 erlag Bronislawa schließlich ihrer Tuberkuloseerkrankung. Mania schrieb später, für ihre 42-jährige Mutter sei der Verlust der Tochter »in ihrem geschwächten Zustand ein schwerer Schlag« gewesen, von dem sie sich nicht mehr erholte. Am Sonntag nach der Beisetzung besuchte Mania wie üblich die Kirche, aber als sie zum Gebet niederkniete, wurde ihr klar, dass sie niemals mehr an die Güte Gottes würde glauben können.

Der Schmerz über diese beiden Verluste äußerte sich in einer, in ihren Worten, Phase der »schweren Depression«, ein Muster, das ihr Leben lang wiederkehren sollte. Später, als sie bereits »Madame Curie« war und im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand, bezeichnete sie solche Phasen weniger offen als »Müdigkeit«, »Erschöpfung« oder »meine Nervenprobleme«. Es dauerte Monate, bis sie aufhörte, sich zum Weinen zu verkriechen. Vor Familie und Mitschülern verbarg sie ihren Schmerz; sie ließ sich nichts anmerken und blieb weiterhin Klassenbeste. Unmittelbar nach dem Tod ihrer Mutter vergrub sie sich stunden-, manchmal tagelang in ihre Bücher und sprach wenig. Offenbar schaffte sie es nur, mit der Situation umzugehen, indem sie die Welt ausblendete und sich zwanghaft auf ein Thema konzentrierte. Jahre später erinnerte sich Ève, wie sie einmal um drei Uhr morgens heimgekommen war und noch Licht im Zimmer ihrer Mutter gesehen hatte. Als sie hineinschaute, sei ihre Mutter so vertieft in wissenschaftliche Artikel gewesen, dass sie die Anwesenheit ihrer Tochter nicht bemerkte.

Am Ende des Schuljahres 1879 besuchte Madame Sikorska Manias Vater, um ihm mitzuteilen, dass Mania trotz ihrer hervorragenden Leistungen ungewöhnlich sensibel und geistig labil sei. Deshalb schlug sie vor, mit dem Vorrücken in die nächste Klassenstufe ein Jahr zu warten. Doch ihr Vater tat genau das Gegenteil. Da man höhere Bildung nur an den von Russen geleiteten Schulen erwerben konnte, nahm er seine Tochter aus ihrer bisherigen Schule und schrieb sie am Russischen Gymnasium Nummer Drei ein. Der Standard dieser Schule galt als ausgezeichnet, aber die russischen Bemühungen, die polnische Kultur auszurotten, brachten eine hohe emotionale Belastung mit sich. In den Jahren dort hatte Mania das deutliche Gefühl, dass die Lehrer die polnischen Schüler wie Feinde behandelten. Als kleines Mädchen hatte sie geschrieben, sie hätte manchmal, wenn sie wütend war, sich einsam oder zum Lügen gezwungen fühlte, am liebsten ihre Krallen ausgefahren wie ein Katze[8]; nun begehrte sie subtiler auf. Als eine Lehrerin sie ihrer Arroganz wegen rügte und sagte: »Ich verbiete dir, mich so anzusehen … so von oben herab anzusehen!«, antwortete Mania, die größer war als die Lehrerin: »Wenn ich aber nicht anders kann!«[9]

Eines nach dem anderen erfüllten die Sklodowski-Kinder die Erwartungen ihres Vaters und machten den Schulabschluss mit allen verbundenen Ehren als Klassenbeste – bis auf Helena, die nur auf dem zweiten Platz landete und bedrückt darüber war, ihren Vater enttäuscht zu haben. Mania Salomee schloss das kaiserliche Gymnasium nicht nur als Klassenbeste ab; sie erhielt mit fünfzehn die Goldmedaille als Jahrgangsbeste 1883.

Nach Jahren des Drucks, perfekte Leistungen bringen zu müssen, nach Jahren der Verstellung, der Unterdrückung ihrer Gefühle und der Verzweiflung erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. Sie lag tagelang in einem verdunkelten Zimmer, sprach nicht und aß nur wenig. Ihr Vater, endlich aufgerüttelt, schickte sie zu Verwandten aufs Land, wo sie Gesundheit und seelisches Gleichgewicht wiederfinden sollte. Und damit begann das glücklichste Jahr ihres Lebens.

Die Boguskis und Sklodowskis hatten zahlreiche Verwandte. Einigen war es gelungen, trotz der politischen Wirren ihre Landsitze und einen Teil ihres Reichtums zu erhalten. Mania verbrachte den ersten Teil des Sommers bei einem Onkel der Boguski-Linie. Anfangs war sie noch so schwach und niedergeschlagen, dass sie nur ruhen konnte, doch nach einer Weile begann sie, ihre gute Laune wiederzufinden. Hier legte sie endlich die Lehrbücher weg und las Romane, angelte, sammelte mit ihren Cousins und Cousinen wilde Erdbeeren, machte lange Spaziergänge, spielte Federball oder Fangen und erfreute sich an »vielen ähnlich kindischen Dingen«[10]. Sie schreibt: »Manchmal lache ich ganz für mich, und ich betrachte meinen Zustand vollkommener Dummheit mit großer Befriedigung.«[11] Endlich genoss sie die Kindheit, die sie zuvor nie gehabt hatte.

Im November besuchte sie einen anderen Onkel, der weiter südlich am Rand der Karpaten lebte. Sowohl er als auch eine Cousine waren begnadete Geiger. Hier fand Mania ebenfalls einen fröhlichen Haushalt voll mit Musik, Büchern und Kunst vor. Als sich der Spaß langsam seinem Ende zuneigte, kam eine unverhoffte Wende. Eine frühere Schülerin ihrer verstorbenen Mutter hatte Mania und ihre Schwester Helena auf ihr Landgut nordöstlich von Warschau eingeladen. Die Feste dort waren noch prunkvoller als die bei Manias Onkeln, und Helena erinnerte sich später, die Zeit sei zwar schnell wie im Traum vergangen, der Eindruck aber geblieben.

Jahre später erzählte Marie ihrer Tochter Ève von jener magischen Zeit, in der ihre Onkel und Tanten sie mit Geschenken überhäuften, in der Schlitten mit lachenden jungen Menschen nachts von einem Herrensitz zum anderen fuhren, wo sie feierten, flirteten und in der Morgendämmerung die letzte Mazurka tanzten – einmal so ausgiebig, dass sie ihre durchgetanzten Schuhe wegwerfen musste. Ève, die zur Welt kam, als ihre Mutter 37 war, konnte sich kaum vorstellen, dass diese mürrische, schweigsame, distanzierte, scheinbar so gleichmütige Mutter, zu der Madame Curie geworden war, einmal als glückliches, lachendes, offenes Mädchen die Nacht durchgetanzt hatte.

II

»Dass ich trotz allem aus ihnen anständig und mit erhobenem Kopf hervorgegangen bin«

Mit sechzehn kehrte Mania nach Warschau zurück. Ihre Haltung, ihr Porzellanteint und der eindringliche Blick aus ihren grauen Augen ließen bereits erahnen, wie schön sie später werden würde. Professor Sklodowski hatte mittlerweile die Pension aufgegeben und war in eine kleinere Wohnung gezogen, die trister und unbehaglicher war, aber mehr Privatsphäre bot. Zwar behauptete Manias Vater, Bildung müsse vom Geschlecht unabhängig sein, doch das wenige Geld, das er erübrigen konnte, floss in Josefs Medizinstudium. Obwohl die Warschauer Universität keine Frauen aufnahm, hatten Mania und ihre ältere Schwester Bronia Träume, große Träume. Mit achtzehn übernahm Bronia die Rolle der Mutter, sehnte sich jedoch danach, den Arztberuf zu ergreifen wie ihr Bruder. Mania wollte Wissenschaftlerin werden, wenigstens aber »etwas«, womit sie eine gewisse Bedeutung für die Welt erlangen konnte. Sie bildete sich autodidaktisch weiter, las naturwissenschaftliche und politische Schriften sowie Literatur. Durch den Tod ihrer Mutter hatte sie das Vertrauen in die Religion praktisch verloren. In ein Schulheft notierte sie einen Absatz aus Max Nordaus Angriff auf die institutionelle Verlogenheit innerhalb der Kirche. Als das Kind einer Cousine tot zur Welt kam, schrieb sie:

Wenn man nur mit christlicher Resignation sagen könnte: »Gott wollte es, und Gottes Wille geschehe!«, würde die Hälfte dieser schrecklichen Bitterkeit verschwinden … Ich sehe, dass Menschen glücklich sind, wenn sie solche Erklärungen glauben. Doch merkwürdigerweise begreife ich, je deutlicher ich erkenne, wie glücklich sie sind, ihren Glauben umso weniger, und umso weniger fühle ich mich auch imstande, ihr Glück zu teilen. Was mich angeht: Ich würde niemals bewusst dazu beitragen, dass jemand den Glauben verliert. Soll jeder seinen Glauben behalten, solange er aufrichtig ist. Nur Heuchelei ärgert mich – und die ist genauso weit verbreitet wie echter Glaube selten … Ich hasse Heuchelei.

 

Mania hatte Polen mit der Leidenschaft eines Kindes geliebt; inzwischen war sie kühler und intellektueller geworden. Auguste Comte, ein französischer Philosoph, der das Chaos nach der Französischen Revolution und Napoleon erlebt hatte, führte den Begriff »Positivismus« als Antwort auf das damals beliebte abstrakte Studium der klassischen Philosophie ein. Wissenschaft und Technologie begannen gerade, die Gesellschaft umzuformen, und Comte verwarf die theoretische zugunsten einer neuen positiven Philosophie, die vorschlug, die Gesellschaft durch Methoden zu verbessern, welche sich durch empirische Beobachtung belegen ließen. Sein Ansatz forderte herrschende Gruppen, die die Menschen in eine bessere Zukunft führen sollten. Er glaubte fest daran, dass die Förderung der Bildung und des moralischen Bewusstseins beim Einzelnen die Gesellschaft als ganze verbessern würde.

Nach dem Krebstod Comtes im Jahr 1857 bogen sich andere Philosophen seine Ideen zurecht. In Polen diente der Positivismus dem Widerstand gegen kirchliche Beschränkungen. Obwohl Comte weder die Rechte der Frau noch die sexuelle Gleichheit oder die weibliche Emanzipation unterstützt hatte, nahmen polnische Positivisten sich dieser Fragen an und fanden in Comtes Philosophie eine Möglichkeit, ihren Nationalismus ohne unnötiges Blutvergießen zu behaupten. Sie forderten die Bildung von Arbeitern und Bauern in polnischer Tradition, Sprache und Geschichte und nährten so die Flamme des Nationalismus, bis die russischen Unterdrücker vertrieben werden könnten. Da sie wussten, dass dieser gewaltlose Ansatz vermutlich Jahre erfordern würde, rieten sie zu Geduld. Das sprach Mania an, die 1923 schrieb: »Ich bin immer noch der Auffassung, dass die Ideen, die uns damals begeisterten, den einzigen Weg des wirklichen gesellschaftlichen Fortschritts aufzeigen. Es ist unmöglich, eine bessere Welt aufzubauen, ohne das Leben der einzelnen Menschen zu verbessern.«[12] Auch in ihrer späteren wissenschaftlichen Karriere teilte sie die Ansicht der Positivisten, alle Aussagen und Schlüsse sollten durch »nachprüfbare Beweise« belegt werden. Diese Überzeugung ersetzte in ihrem Leben den Glauben und wurde zu einer Grundlage ihres Erfolgs.

In dem Jahr, in dem Mania den Gymnasialabschluss gemacht hatte, gründete ein polnischer Positivist eine Geheim-akademie für Frauen; bereits ein Jahr später waren mehr als zweihundert Studentinnen dort eingeschrieben. Nach wenigen Monaten wurden sie zwar von den Russen entdeckt, und die meisten Lehrer mussten ins Exil. Doch die Positivisten nahmen die Herausforderung an: In den folgenden drei Jahren wurde die Akademie zu einer »Fliegenden Universität« mit über tausend Studentinnen, darunter auch Mania und Bronia. In den Seminaren lernten sie gleichgesinnte Frauen kennen; viele von ihnen hatten während des Aufstands von 1863 ihre Ehemänner verloren und verwalteten nun eigenverantwortlich den Familienbesitz. Andere wollten im Ausland an Universitäten studieren, die Frauen offenstanden. Einer der Kurse wurde in der Wohnung von Manias früherer Schulleiterin Jadwiga Sikorska abgehalten, andere fanden in bekannten Institutionen rund um Warschau statt. Die russischen Behörden müssen davon gewusst haben, aber die Akademie war mittlerweile zu groß, als dass man sie ohne Aufsehen hätte auflösen können. Und überhaupt: Was sollten Frauen schon ausrichten?

Bronia und Mania wussten, dass sie sich finanziell allein über Wasser halten mussten. Sie arbeiteten als Privatlehrerinnen, während sie weiter an der Fliegenden Universität studierten. Anfangs unterrichteten sie noch zu Hause oder spazierten lange Strecken zu Fuß durch Warschau, um Schülern für einen halben Rubel pro Stunde etwas beizubringen. Im ersten Jahr verdienten sie so wenig, dass Mania sich eine Stelle als Gouvernante in Warschau suchte. Sie wurde von einer neureichen Familie engagiert, die ihren Wohlstand zur Schau stellte, aber die Bediensteten schlecht behandelte. Als Angehörige der Szlachta hatte Mania sich ein gesundes Selbstbewusstsein und ein Gefühl der intellektuellen Überlegenheit bewahrt, weshalb ihre Arbeitgeber sie arrogant fanden. Voller Ironie schrieb sie über die Hausherrin: »Da sie mich ungefähr ebenso gern hatte wie ich sie, haben wir uns ausgezeichnet verstanden.«[13] Und man dürfe »mit Leuten, die der Reichtum moralisch heruntergebracht hat, nichts zu tun haben«[14]. Drei Monate später kündigte sie, weil sie es nicht mehr länger aushielt.
Zu diesem Zeitpunkt hätte sich der Traum der Schwestern, eines Tages Ärztin und Wissenschaftlerin zu werden, gut und gern in Luft auflösen können, wenn Mania nicht so einfallsreich, großzügig und entschlossen gewesen wäre. Obwohl die Schwestern eisern gespart hatten, um Bronias Ziel, an der Pariser Sorbonne Medizin zu studieren, zu verwirklichen, würde das Geld kaum für ein Jahr reichen. Mania erklärte ihrer Schwester ganz sachlich, sie werde sich eine Stelle als Gouvernante in der Provinz suchen, wo Unterkunft und Verpflegung frei seien, und ihr halbes Gehalt Bronia schicken. Wenn Bronia dann Ärztin wäre, könne sie Mania helfen, selbst die Sorbonne zu besuchen. Bronia brach in Tränen aus. »Warum ich als Erste?«, fragte sie. »Weil ich 17 [fast 18] bin und du schon fast zwanzig«, antwortete Mania. Bereits in der folgenden Woche begann sie, für 500 Rubel im Jahr für die Familie Zorawski zu arbeiten, die etwa 80 Kilometer nördlich von Warschau in Szczuki lebte. Mania, die einen Landsitz erwartet hatte, musste feststellen, dass das Haus der Zorawskis sich neben einer Zuckerrübenfabrik mit einem schwarzen Rauch speienden hohen Schlot befand. Die Zorawskis verwalteten das Anwesen einer reichen Familie und überwachten die Bauern, die die Rüben anbauten und weiterverarbeiteten. Anders als bei ihrer ersten Stelle stand Manias Tätigkeit hier unter positiven Vorzeichen. Die älteste Tochter Bronka war fast 19, also nur ein Jahr älter als Mania. Dann gab es noch die zehnjährige Andsia, die sechsjährige Marischna und den dreijährigen Stas. Der älteste Sohn Casimir studierte Mathematik an der Warschauer Universität.

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