Denunziation

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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »고발« bei Chogapje.com, Seoul.

 

Aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee

 

ISBN 978-3-492-96591-0
Mai 2017
Copyright © 2014 by Bandi
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covergestaltung: Kornelia Rumberg
Covermotiv: Eric Lafforgue / Getty Images

 

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VORWORT

THOMAS REICHART
Leiter des ZDF-Studios Ostasien
in Peking

 

Nordkorea ist ein rätselhaftes Land, das sich vom Rest der Welt abschottet wie kaum ein anderes. Nachrichten und Bilder aus Nordkorea sind rar. Und das, was wir zu sehen bekommen, gibt nur noch mehr Rätsel auf: Ein junger Diktator, der durch rosafarbene Waisenheime stakst, gefolgt von einer Entourage von Hintersassen, die jedes seiner Worte notiert. Ein Diktator, der von einem Balkon am Kim-Il-Sung-Platz in Pjöngjang paradierenden Raketen zuwinkt und in seinen Reden die Welt mit Atomwaffen bedroht. Und im Fernsehen immer wieder dieselbe Nachrichtensprecherin in koreanischer Tracht, die Regimepropaganda verkündet im Duktus von Gewehrsalven.

Über den Alltag der Menschen in Nordkorea aber wissen wir nur wenig. Mich als Fernsehkorrespondenten lässt Pjöngjangs Führung nur ausnahmsweise ins Land. An meiner Seite habe ich dann stets zwei nordkoreanische Begleiter, die jeden meiner Schritte überwachen und mir nur das zeigen, was sie mir zeigen sollen. Rosafarbene Waisenheime zum Beispiel. Es ist eine Inszenierung für ein westliches Publikum, die selbst natürlich schon viel über Nordkorea erzählt. Denn gleichzeitig berichten die Vereinten Nationen, dass jedes dritte Kind unter fünf Jahren in Nordkorea chronisch mangelernährt und in seiner Entwicklung zurückgeblieben sei.

Bandis Kurzgeschichtensammlung »Denunziation« hat seit der ersten Veröffentlichung in Südkorea vielleicht genau deshalb so viel Interesse hervorgerufen, weil sie einen so raren und ungewohnten Einblick gibt in die Alltagswelt der Nordkoreaner. Das Buch wird im Westen von einem guten Dutzend renommierter Verlage herausgegeben und hat ein großes Presseecho ausgelöst. Dabei sind Text und Autor selbst zunächst einmal ein Rätsel. Bandi ist ein Pseudonym, das so viel heißt wie »Glühwürmchen«. Es beschreibt vielleicht ganz gut das Selbstverständnis Bandis, dessen Geschichten von einem düsteren Land erzählen, in dem jede menschliche Regung abseits der Parteilinie in einer Tragödie enden kann. Bandi beschreibt das Elend, das Aufbegehren und das Scheitern seiner Protagonisten wie jemand, der tief ins Dunkel blickt, um den Hoffnungsschimmer zu entdecken.

Wir wissen nicht, wer Bandi ist. Den Weg zur Veröffentlichung hat das Manuskript von einer Hilfsorganisation für nordkoreanische Flüchtlinge über eine international tätige Literaturagentin in den Westen gefunden. Nach Angaben dieser Hilfsorganisation sei Bandi ein Autor, der immer noch in Nordkorea lebe. Das Manuskript habe er über Jahre bei sich versteckt, es sei erst kürzlich über eine Verwandte und Do Hee-Yoon, den Vorsitzenden der Hilfsorganisation, aus Nordkorea herausgeschmuggelt worden. Ob diese Version stimmt, können wir nicht nachprüfen. Denn Doo Hee-Yoon hat erklärt, um die Identität des Autors geheim zu halten und zu schützen, habe er den größten Teil der biografischen Angaben verändert. Außerdem habe er im Text die Namen von Städten oder Regionen geändert, die Nordkoreas Behörden Hinweise geben könnten. Das alles sei zum Schutz des Autors und seiner Familie geschehen.

Angesichts der Ruchlosigkeit, mit der die Kim-Diktatur mit Kritikern umgeht, ist das verständlich. Letztlich sind Autor und Text aber damit auch für uns nicht identifizierbar. Es ist für mich trotz eigener Recherchen in Südkorea deshalb ungeklärt, wer Bandi tatsächlich ist, ob er wirklich in Nordkorea lebt oder lebte, woher das Manuskript stammt und wie es letztlich nach Südkorea kam. Vieles ist vorstellbar, sogar dass Bandi ein Konstrukt ist. Dieser Vorwurf jedenfalls wurde von Kritikern der Veröffentlichung in Südkorea erhoben. Bandis Geschichten sind dort unmittelbar politisch aufgeladen, werden einsortiert in die alles überragende Frage, wie sich der Süden gegenüber dem Norden verhalten solle, wie eine Vereinigung zu erreichen sei. Es gibt in Südkorea bei diesem Thema zwei große Lager: Die sogenannte »Sonnenschein-Politik« versuchte Ende der 90er-Jahre eine Annäherung durch wirtschaftliche Hilfe und Aussöhnung. Dem gegenüber steht ein Lager, das davon ausgeht, Nordkorea müsse weiter isoliert werden, weil nur so der Kollaps des Regimes und damit die Vereinigung möglich sei. In der öffentlichen Debatte in Südkorea werden kritische Berichte aus Nordkorea immer wieder als Rechtfertigung einer solchen Hardliner-Politik gelesen. Bandi und seine Texte wurden so Teil einer Debatte, von der sie möglicherweise gar keine Vorstellung hatten.

Wichtiger als die Fragen um Autor und Herkunft des Manuskripts aber sind die Texte selbst. Sie zeichnet eine große literarische Authentizität aus, ein durchdringender, auch moralischer Blick auf das Leben in Nordkorea. In manchen der Erzählungen erkenne ich Dinge wieder, die ich selbst bei Besuchen erlebt habe.

In »Stadt der Gespenster« gehen ausgerechnet am Morgen des Nationalfeiertages Wolkenbrüche über der Stadt nieder. Drei Monate lang hatten die Einwohner Pjöngjangs die Feierlichkeiten geprobt, alles war genau geplant, nur das Wetter nicht, nicht die schwarzen Wolken am Himmel. Als ich mit meinem Team zu den Feierlichkeiten für den 70. Jahrestag von Nordkoreas Arbeiterpartei im Oktober 2015 nach Pjöngjang durfte, war das ähnlich: Wolkenbrüche am Morgen, an dem Diktator Kim Jong-Un doch eigentlich sich mit wochenlang einstudierten Militärparaden und Massendemonstrationen huldigen lassen wollte. Stunde um Stunde wurde die Abfahrt aus dem Hotel zum Kim-Il-Sung-Platz verschoben. Erst gegen Mittag hörte der Regen auf, und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Abfahrt, Ankunft, Aufmarsch – alles innerhalb einer Stunde. Massen befehligen und mobilisieren – das kann dieses Regime zweifellos.

Auch in der Geschichte »Stadt der Gespenster« ist der Himmel plötzlich strahlend blau, und eine Million Menschen stehen von jetzt auf gleich auf dem Platz. »Was war das für eine Macht«, fragt sich die Protagonistin, »die in der Lage war, eine so unglaubliche Leistung zu vollbringen?« Sie wird es kurz darauf erfahren, als nachts die Staatsgewalt kommt, um sie mit Mann und Kind zu deportieren. Was der Familie zum Verhängnis wurde, war ein großes Porträt von Karl Marx, das der kleine Sohn von seinem Bett aus sah und das ihn so verängstigte, dass die Mutter das Fenster verhängte. In den Augen des Regimes ein staatsfeindlicher Akt.

Was ist das für eine Macht, das fragten sich bei der Militärparade auch wir Journalisten. Es schien, als würde ein ganzes Land im Stechschritt und mit martialischem Brüllen an uns vorbeimarschieren. Nordkorea erschien in diesem Augenblick wie eine durchmilitarisierte Gesellschaft, in der der Einzelne keinen Millimeter abweichen darf von der Linie.

Bandis Charaktere aber tun genau das. Sie weichen ab. Viele von ihnen haben an die Versprechungen des Kim-Kommunismus geglaubt. Bandi beschreibt sie als hart arbeitende, aufrichtige Bürger, die einmal auf den Fortschritt und die Zukunft ihres Landes gehofft haben. Umso bitterer ist nun die Erkenntnis, die sie alle auf die eine oder andere Weise haben. In diesem System geht es nicht um sie, nicht um ihr Wohl oder das ihrer Kinder und Enkel, sondern allein um den Fortbestand der Kim-Dynastie. Für den alten Pferdefuhrwerker in »Irya Madya, Schatzpferd!« führt diese Einsicht sogar dazu, dass er seinen Lebensbaum, eine alte Ulme, mit der Axt kurz und klein haut und stirbt.

Die Geschichten entstanden offenbar Ende der 80er- bis Mitte der 90er-Jahre, in den letzten Jahren also der Herrschaft von Kim Il-Sung. Der Kollaps der Sowjetunion hatte schwere wirtschaftliche Folgen für Nordkorea und sorgte dafür, dass sich das Regime nach innen und außen noch mehr abschottete. Man spürt diesen Geist in den Geschichten: den ins vollends Groteske übersteigerten Führerkult, die allgegenwärtige Angst, dass jeder von heute auf morgen zum Verräter werden kann. Diese Abschottung Nordkoreas aus Furcht vor dem Machtverlust hatte katastrophale Folgen. So ließ Pjöngjang zunächst keine Hilfe ins Land, als es in den 90er-Jahren zu einer dramatischen Hungersnot kam, bei der bis zu einer Million Menschen starben. Do Hee-Yoon schreibt, auch Bandi habe in dieser Zeit Familienmitglieder verloren. Der Glaube an die Kim-Diktatur aber ist ihm, den Texten nach zu schließen, schon lange vorher abhandengekommen.

Theoretisch strebt auch Nordkoreas Kommunismus, die sogenannte Juche-Staatsideologie, eine klassenlose Gesellschaft an. Tatsächlich aber ist Nordkoreas Gesellschaft eingeteilt in eine Art Kastensystem, das das Leben und die Zukunftschancen der Menschen entscheidend bestimmt. Das Songbun ordnet die Nordkoreaner entsprechend ihrer Systemtreue und ihres Familienhintergrundes in drei große Gruppen ein: einen verlässlichen Kern, eine schwankende und eine feindliche Klasse. In »Die Flucht« erfährt die Protagonistin, wie die Einordnung in die »feindliche Klasse« eine ganze Familie in Sippenhaft nimmt und das Regime sogar noch den kleinen Neffen für den angeblich unzuverlässigen Großvater abstraft. Sie zieht daraus ihren eigenen Schluss: Hinten im Kleiderschrank versteckt sie vor ihrem Mann ein Medikamentenpäckchen, Verhütungsmittel, um ihren Kindern dieses Schicksal zu ersparen.

Bandi beschreibt in den Kurzgeschichten Wesensmerkmale eines totalitären Systems, das sich nicht damit zufriedengibt, das öffentliche Leben zu kontrollieren, sondern das mit seinem Überwachungsapparat hineinkriecht in die privatesten Bereiche. Allgegenwärtig ist eine Atmosphäre des Misstrauens, der Bespitzelung, immer wieder grübeln die Protagonisten Gesprächen hinterher, die sie gerade geführt haben. Was hat das Gegenüber mit dieser Bemerkung oder jenem Hinweis eigentlich gemeint, welche Folgen könnte das haben? Bei Bandi sind es die Blockwartin, der Parteifunktionär, der Werkspolizist, die alles notieren und weiterreichen. Und den Charakteren bleibt nichts, als hilflos abzuwarten, ob das System beschließt zu strafen oder zu vergeben.

Bei meinen Besuchen in Nordkorea sind es immer gleich zwei Aufpasser, die mein Team und mich begleiten und überwachen. Zwei deshalb, damit sie sich auch gegenseitig kontrollieren und keiner vielleicht doch zu sehr fraternisiert. Das Misstrauen ist eine Konstante in diesem Staat, das jeden Bereich durchdringt und wo der Überwachungsapparat auch noch sich selbst überwacht.

Noch etwas fällt auf an diesen Kurzgeschichten, das mir als sehr charakteristisch für Nordkorea erscheint: Es sind abgeschottete Welten, in denen sich die Dramen abspielen. Die Provinzstadt, das Dorf, selbst Pjöngjang wirken in den Texten wie Inseln ohne Verbindung zu einer Welt draußen. So wie die Protagonisten einsam dem Machtapparat gegenüberstehen, so wirken die Orte vereinzelt und wie verloren. Bei jedem Machtwechsel in Nordkorea gab es immer wieder die Hoffnung auf eine Öffnung des Landes. Immer wieder haben Experten argumentiert, dass dem Land letztlich gar nichts anderes übrig bleibe. Nichts davon ist aber bis jetzt passiert. Nordkorea bleibt ein Land, das sich abschottet, das kein Außen durchlässt zu seinen Bürgern, weil es fürchten muss, dass schon allein dies das Herrschaftssystem gefährden könnte.

Bei einem meiner Besuche stand ich kurz vor der Abreise an der Hotelrezeption, um das Zimmer zu bezahlen, und einer unserer Aufpasser sah meine Kreditkarte. Er wollte sie unbedingt einmal in der Hand halten, und wie er das tat, wie er sie bewundernd hin und her drehte, sah man ihm an, wie viel an Bedeutung, an Wünschen für ihn in dieser Plastikkarte steckte. Es muss für ihn wie eine Eintrittskarte gewesen sein in eine ferne, aufregende Welt. Eine Welt, die ihm, gebildet und mehrsprachig, wie er war, weit offen stünde, wäre er nicht in Nordkorea geboren.

Das ist am Ende eine weitere Erkenntnis, die aus Bandis Texten hervortritt und die sich mir bei Besuchen in diesem abgeschotteten Land aufdrängt. Sosehr das Regime der Welt seine eigenen Bürger als uniforme, bedrohliche Masse präsentiert, sowenig sind diese Bürger in Wahrheit nur austauschbare Knoten in den Menschenbilder-Teppichen der großen Aufmärsche. Denn wenn die Masseninszenierungen vorbei sind, gehen über den Kim-Il-Sung-Platz ganz normale Menschen, die lachen, die neugierig sind. Sie haben sich untergehakt, sie machen Späße, und sie haben Träume. Auch darüber schreibt Bandi. Und so ist sein Buch bei allen Rätseln um seine Person und die Herkunft des Manuskripts vor allem dies: ein besonderer Einblick in das Ringen um Menschlichkeit in einer totalitären Diktatur.

Peking, im Februar 2017

DIE STADT DER GESPENSTER

Am Abend vor dem Nationalfeiertag herrschte in Pjöngjang hektische Betriebsamkeit. Das war nicht weiter verwunderlich, da nur noch wenige Stunden für den Abschluss der Vorbereitungen blieben, die schon vor drei Monaten begonnen hatten.

Als die U-Bahn an der Station Pungnyeon anhielt, war es Han Kyeong-Hui schließlich gelungen, sich einen Sitzplatz zu erkämpfen, indem sie sich unter Zuhilfenahme der Ellbogen zwischen zwei Mitreisende quetschte. Die U-Bahn war genauso bevölkert wie die Straßen. An jeder Station stieg eine Flut von Leuten ein und aus: Soldaten, Studenten, Teams aus jungen Arbeitern, die die Arme voll mit Dingen für die Parade hatten, Anwohner mit Blumensträußen, Schüler in Uniform, mit Schlagstöcken bewaffnete junge Pioniere. So wie sie alle angezogen und ausstaffiert waren, bestand kein Zweifel daran, dass sie vorhatten, an der Parade teilzunehmen, die aus mehr als einer Million Mitwirkender bestehen sollte.

Während Kyeong-Hui versuchte, durch leichtes Hin- und Herrutschen ihres Körpers gegen den Druck von beiden Seiten den sekündlich weniger werdenden Platz zu behaupten, ließ sie ihren Sohn nicht aus den Augen. Sie hielt den schmalen zweijährigen Jungen zusammen mit ihrer Aktentasche fest umklammert. Er schmiegte sich an ihre Brust, als wäre er festgewachsen. Eine Wange gegen die gut gepolsterte Brust seiner Mutter gepresst, blickte er unruhig, fast panikartig um sich. Als sich der Zug wieder in Bewegung setzte, mischte sich etwas frische Luft in die stickige Hitze im Abteil, und Kyeong-Hui konnte endlich etwas freier atmen. In ihrem Kopf hörte sie noch einmal die durchdringende Stimme der Kindergärtnerin. Die Leute waren der Meinung, sie beide könnten Schwestern sein: Sie sähen sich auffallend ähnlich und hätten die gleiche hitzköpfige Art. Als Kyeong-Hui vorhin ihren Sohn abgeholt hatte, da hatte die Betreuerin vor den anderen Eltern lautstark verkündet: »Genossin Geschäftsführerin, du hast nicht zufällig deinem Sohn die Geschichte von Eobi erzählt? Du weißt schon, diese schreckliche Bestie, die ungehorsame Kinder in eine Ledertasche steckt und dann in einen Brunnen wirft? Ich frage dich deswegen, weil dein Sohn heute wieder schweißgebadet aus dem Mittagsschlaf hochgeschreckt ist und ›Eobi, Eobi‹ geschrien hat. Dabei hat er am ganzen Körper gezuckt. Es ist schon erstaunlich, dass du mit deinem robusten Körper einen so zartbesaiteten Jungen hervorgebracht hast!«

»Wenn er nach mir gekommen wäre, wäre er aus einem anderen Holz geschnitzt. Das muss er also von jemand anderem geerbt haben, nur um dich zu ärgern. Hahaha!«, hatte Kyeong-Hui etwas gezwungen zu scherzen versucht.

Sie war fünfunddreißig Jahre alt und bekannt für ihren guten Geschäftssinn, den sie als Betreiberin eines Fischladens bewies. Aber vor allem auch für ihre Unerschrockenheit. Und trotzdem hatte sie die Erwähnung Eobis durch die Kindergärtnerin völlig aus der Fassung gebracht. Vielleicht war es nur eine harmlose Bemerkung gewesen, mit Sicherheit in guter Absicht geäußert, aus Sorge um das Wohlergehen des kleinen Jungen. Er litt häufig unter Angstzuständen. Doch Kyeong-Hui vermutete, dass mehr dahintersteckte. Sie fragte sich, ob die Kindergärtnerin nicht das wahre Problem ihres Sohnes erraten hatte. Wieso hätte sie sonst das Wort Eobi erwähnen sollen? Dann wiederum sagte sich Kyeong-Hui: Selbst wenn die Kindergärtnerin recht hatte, gäbe es keinen Grund, sich zu beunruhigen. Nur schwache Menschen machten sich wegen Kleinigkeiten Sorgen.

Sie stieg an der Station Seungri aus und ging, immer noch mit diesem Vorfall beschäftigt, heimwärts. Erst als sie in der Nähe des Kim-Il-Sung-Platzes auf Milizsoldaten traf, die noch einmal ihren Einsatz probten und mehrfach »Hurra« riefen, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Vor ihr stand eine ganze Traube der Soldaten; über ihre Köpfe hinweg konnte sie schon die Fenster ihrer Wohnung sehen. Es war die Nummer 3 im fünften Stock von Block 5. Normalerweise hätte sie nur noch über den Platz zu gehen brauchen, dann wäre sie zu Hause gewesen, aber an diesem Tag war es besser, einen Umweg zu machen. Nicht wegen der Hurrarufe. Würde sie sich einen Weg durch die Menge bahnen, dann sähe ihr Sohn, der ganz gegen seine Gewohnheit um diese Uhrzeit noch nicht schlief, zwangsläufig »Eobi«. Und zwar in Form eines großen Bildes von Marx, das direkt an einer der Hochhausfassaden dort am Platz befestigt war.

»Mein armer Liebling. Warum hast du nur so viel von deinem Vater, diesem Waschlappen …«, tadelte sie entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit ihren Sohn. Sie bog an der nächsten Ecke in die Gasse ein, in der sich ein Geschäft für Kinderbekleidung befand, um sich nun also auf Umwegen ihrer Wohnung zu nähern. Ihr Sohn war wirklich das genaue Abbild seines Erzeugers. Sowohl was seinen zarten Körperbau betraf als auch in Bezug auf seine labile Psyche. Diese war ihrer Meinung nach dafür verantwortlich, dass er bereits beim Anblick eines Bildes Zuckungen bekam. Wenn sich ihr Mann nicht vehement dagegen gewehrt hätte, hätte sie den Kleinen längst im Krankenhaus untersuchen lassen oder andere Maßnahmen ergriffen, um das Problem in den Griff zu bekommen. Aber ihr waren die Hände gebunden, da ihr Mann ihr ausdrücklich verboten hatte, mit jemandem darüber zu reden, sei er auch noch so qualifiziert. Auch wenn ihr Sohn noch keine zwei Jahre alt war, könne es für die ganze Familie dramatische Folgen haben, sollte bekannt werden, dass ausgerechnet das Kind eines Beamten aus dem Propagandaministerium sich beim Anblick von Marx wie ein Wahnsinniger aufführte. Dazu kam, dass in dieser letzten Phase der Vorbereitungen für den Nationalfeiertag alles und jeder in Alarmbereitschaft war. Selbst mitten in der Nacht standen alle stramm. Kyeong-Huis Mann hatte außerdem gehört, dass man nach den Feierlichkeiten den Einsatz eines jeden genau überprüfen werde. Also müsse man es tunlichst vermeiden, auf irgendeine Art Aufmerksamkeit zu erregen, damit man die Festivität unbeschadet überstehe. Das war das Einzige, was ihr Mann in Bezug auf das krankhafte Verhalten ihres Sohnes zu sagen hatte.

Kyeong-Hui hatte das Gefühl, der Kleine wöge plötzlich doppelt so schwer in ihren Armen. Seit einigen Tagen schon türmten sich Wolken auf und fielen dann wieder in sich zusammen. Jetzt erhob sich zudem ein kräftiger Wind aus Süd. In der Gasse mit dem Geschäft für Kinderbekleidung trieben die Böen Pappelblätter und Fetzen von Plastiktüten vor sich her. Sie beeilte sich, in die breite Prachtstraße einzubiegen. So kurz vor der Parade wirkte diese auf Kyeong-Hui wie ein Raubtier, das mit gesträubtem Fell brüllend auf sich aufmerksam machte. Unmengen von Fahnen, die die Straßenränder säumten, knatterten im Wind. Die riesigen, mit Neonbuchstaben bemalten Banner trugen Aufschriften wie »Herzlichen Glückwunsch« oder »Freudenfest«, die dermaßen grell waren, dass dem Betrachter die Augen schmerzten. Überall standen Volkspolizisten, die ohrenbetäubend mit ihren Pfeifen trillerten. Ein blaues Auto mit quäkenden Lautsprechern fuhr schnell vorbei, unverständliche Parolen tönten über die Straße. Über den Hochhäusern, die in der Einflugschneise des Flughafens lagen, dröhnten die Motoren der unablässig startenden und landenden Flugzeuge, sodass der Boden bebte. Die von allen Seiten vom Lärm gepeinigten Fußgänger beeilten sich, ihr Ziel zu erreichen.

Auch Kyeong-Hui ging schnell. Unbewusst hatte sie sich der Geschwindigkeit der anderen angepasst. Sobald sie zu Hause angekommen war, breitete sie einige Spielsachen vor ihrem Sohn aus.

»Schau mal, Myeong-Sik, das ist doch nett, findest du nicht? Komm, lass uns ein bisschen spielen. Tsching, tsching, puff, puff …«

Während ihr Sohn zu spielen begann, zog Kyeong-Hui vor beiden Fenstern die dunkelblauen Übergardinen zu. Ihre Wohnung, im ersten Gebäude einer langen Reihe von Mietshäusern gelegen, befand sich in der Südwestecke. Man sah also aus einem der Fenster das riesige Bild von Marx, das an der Fassade des Verteidigungsministeriums angebracht war, und aus dem anderen das von Kim Il-Sung, das hinter der Tribüne prangte, die man auf dem Platz aufgestellt hatte. Myeong-Sik durfte auf keinen Fall eines der Porträts zu sehen bekommen. Die weißen Nylonvorhänge waren nicht blickdicht. Schlimmer noch, durch den Stoff mussten die schemenhaft erkennbaren Köpfe noch furchterregender wirken. Vor allem auf ein so sensibles und schreckhaftes Kind. Mit seiner blühenden Fantasie würde er bestimmt Albträume davon bekommen.

Alles hatte am Samstag vor einer Woche angefangen. Auf dem Kim-Il-Sung-Platz hatte eine Versammlung stattgefunden, mit der die Leute weiter dazu motiviert werden sollten, sich an den Vorbereitungen für das nationale Großereignis zu beteiligen. Die Versammlung war zu einer Uhrzeit anberaumt worden, zu der die Menschen von der Arbeit nach Hause gingen. Da nur noch wenige Tage verblieben, konnte auf diese Weise der Großteil der Einwohner erreicht werden. Kyeong-Hui hatte sich unter die Menge gemischt, ihren erkälteten Sohn auf dem Arm. Angesichts der Temperatur, die von seinem kleinen Körper ausging, musste er ziemlich hohes Fieber haben. Von Geburt an hatte der Kleine eine schwache Konstitution gehabt und war häufig krank gewesen. Die Nachbarn aus dem Viertel hatten sich in der vorderen linken Ecke des Platzes versammelt, direkt unter dem großen Bild von Marx. Die Straßenlaternen brannten noch nicht, und die untergehende Sonne tauchte das von einem grauen Bart überwucherte Gesicht in ein seltsam dunkelrotes Licht. Selbst einem normalen Menschen konnte dieser Anblick einen Schauer über den Rücken jagen. In diesem Augenblick fiel Kyeong-Hui der erste Satz des kommunistischen Manifests ein, das sie während ihrer Jahre an der Universität gelesen hatte: »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.«

Hatte Marx die Aufnahme seines Porträts zu dieser Zeit machen lassen? Merkwürdigerweise passte das Wort Gespenst perfekt zu dem Konterfei, das die eine Seite des Kim-Il-Sung-Platzes zierte. Es hatte kaum etwas Menschliches an sich. Es glich tatsächlich einem Gespenst, und zwar einem Gespenst, das für seine Grausamkeit berüchtigt war. Kyeong-Huis düstere Gedanken entsprangen mit Sicherheit ihrer momentanen Gemütsverfassung. Sie machte sich furchtbare Sorgen, dass ihr Sohn während der Kundgebung Angst bekommen könnte. Unglücklicherweise waren ihre Befürchtungen begründet. Sobald der Parteiverantwortliche über Lautsprecher das Wort ergriffen hatte, fing ihr Sohn an zu weinen und laut zu schreien. Offensichtlich hatte ihn der plötzliche Lärm erschreckt. Kyeong-Hui war sofort alarmiert. Auch wenn niemand Notiz von ihnen nahm, glaubte sie doch, von allen Seiten Vorwürfe zu hören, dass sie ihren Sohn überhaupt zu einer so wichtigen Versammlung mitgebracht hatte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihn noch fester in den Arm zu nehmen und ihm streng zuzuflüstern: »Eobi! Eobi!« Diese Drohung sollte ihn dazu bringen, mit dem Weinen aufzuhören. Aber der kleine Kerl brüllte nur noch lauter. Es gelang ihr nicht, ihn zu beruhigen. Sie hob ihn hoch, damit er das Bild von Marx sehen konnte, und wiederholte mehrmals: »Eobi! Eobi!« Abrupt hörte er auf. Kyeong-Hui seufzte erleichtert, doch eine Sekunde später spürte sie, wie der Körper ihres Kindes, der mittlerweile glühte wie ein Feuerball, anfing zu zittern. Der Kleine vergrub den Kopf zwischen ihren Brüsten.

»Myeong-Sik, Myeong-Sik! Was ist denn nur mit dir?«

Kyeong-Hui bekam es mit der Angst. Der kleine Junge hatte Schaum vor dem Mund und verdrehte die Augen. Zum Glück war der Mann neben ihr Arzt, sonst hätte es böse ausgehen können. Seither hatte Myeong-Sik noch zwei Anfälle gehabt, ausgelöst durch Spiegelungen von »Eobi« in den Fenstern ihrer Wohnung. Wenn Kyeong-Hui besser aufgepasst und nicht nur den Vorhang auf der Westseite zugezogen hätte, wäre der letzte Anfall vermeidbar gewesen. Aber sie war einfach nicht darauf gekommen, dass in Myeong-Siks Augen das Bild von Kim Il-Sung, das man durch das Nordfenster sah, ebenso ein Eobi sein und ihn vor Schreck erstarren lassen könnte.

Myeong-Sik war glücklich und ganz in seiner Spielzeugwelt versunken. Kyeong-Hui hatte zwar alle Übergardinen zugezogen, war aber immer noch beunruhigt. Es gab noch etwas anderes, das ihr Sorgen bereitete. Sie fürchtete, jeden Moment die schneidende Stimme der Blockwartin zu hören, die von draußen kreischte: »Wohnung Nummer 3 im 5. Stock!« Es wäre dann bereits das dritte Mal, dass dies vorkam, und die Blockverantwortliche würde mit größter Sicherheit keine Nachsicht walten lassen, was die geschlossenen Übergardinen betraf.

»Wohnung Nummer 3 im 5. Stock!«

Kyeong-Hui glaubte, eine akustische Halluzination zu haben.

»Wohnung Nummer 3 im 5. Stock!«

»Ja, ja«, antwortete sie schnell, um einen leichten Ton bemüht.

»Komm bitte sofort herunter!«

Jetzt war das eingetreten, was sie befürchtet hatte. Sie nahm ihren Sohn auf den Arm und stieg die Treppe hinab.

»Genossin Geschäftsführerin, wie lange hast du eigentlich noch vor, dich meinen Anordnungen bezüglich der Vorhänge zu widersetzen?« Trotz ihres Alters von über vierzig trug die Blockwartin einen knallroten Lippenstift und eine Brille mit Fensterglas. Ihre Stimme klang eisig.

»Genossin Verantwortliche, ich bitte dich um Entschuldigung, aber …«

»Ich will nichts hören! Drei Mal habe ich dich schon zurechtgewiesen, und ich werde mir weitere Erklärungen sparen!«, sagte sie und fuhr trotzdem fort, sich über das Thema auszulassen. »Genossin Geschäftsführerin, gibt es etwas, das dir an den weißen Vorhängen nicht gefällt? Anlässlich des Nationalfeiertags werden viele ausländische Gäste erwartet, und unsere Straße liegt im Stadtzentrum. Deswegen hat die Partei uns doch die weißen Vorhänge zukommen lassen, auch wenn wir dafür bezahlen mussten.«

»Nein, es ist nicht so, wie du denkst. Der Grund ist …«

»Hör zu! In allen anderen Wohnungen hier sind die gleichen Vorhänge zu sehen, nur deine tanzt aus der Reihe!« Die Blockwartin deutete auf die Fenster von Kyeong-Huis Wohnung und starrte wütend hinauf.

»Nein, das ist gar nicht, was ich bezwecken will. Wie ich dir bereits sagte …«

»Jedes Mal erklärst du mir dasselbe. Ich verstehe dich nicht! Genossin, warum setzt du deinen eigenen Kopf durch? Ich weiß, dass du einen eisernen Willen hast und auf der Arbeit knallhart durchgreifst, aber es ist keine Art, sich in der Gemeinschaft derart abzugrenzen!«

»Jetzt gehst du aber zu weit!«, protestierte Kyeong-Hui vorsichtig.

»Du findest, ich gehe zu weit?«, ereiferte sich die Blockwartin lauthals. »Soll ich dir mal was zeigen?« Mit diesen Worten schlug sie das rot eingebundene »Meldebuch« auf, das sie bislang unter den Arm geklemmt hatte, und blätterte vehement darin herum. »Ich habe immer gedacht, deine Familie stehe treu zur Partei. Da muss ich also deutlich mit dir werden. Hier, eine Anzeige vom 6. September: Die Fenster der Wohnung Nummer 3 im 5. Stock von Block 5 sind jeden Tag, von sechs Uhr abends bis zum nächsten Morgen, wenn alle zur Arbeit gehen, mit dunkelblauen Übergardinen verhängt. Vielleicht handelt es sich um ein geheimes Zeichen, um mit Spionen Kontakt aufzunehmen.« Die Parteifunktionärin klappte das Meldebuch zu, warf einen kurzen Blick auf Kyeong-Hui und fuhr fort: »Ja, glaubst du denn, diese Meldung ist nur an mich gegangen?«

Kyeong-Hui war einen Augenblick lang starr vor Schreck, dann regte sich etwas in ihr. Vergleichbar mit einer großen Kugel, die ins Rollen geriet. Wie alle disziplinierten Menschen, in denen tiefe Gefühle schlummern, wusste sie sich zu beherrschen und abzuwarten. War jedoch eine gewisse Grenze überschritten, dann war ihr Widerspruchsgeist doppelt so groß.

»Ein geheimes Zeichen, um mit Spionen Kontakt aufzunehmen? Hahahaha!«, brach es aus Kyeong-Hui heraus. Ihr gelang es nicht, das Lachen zu unterdrücken. »Hahaha! … Hahaha!«

»Mama …«, ertönte es furchtsam von dem kleinen Jungen, der in ihren Armen kuschelte und den dieses ungewohnte Gelächter seiner Mutter ängstigte.

Auch die Blockwartin riss etwas eingeschüchtert die Augen auf.

»Gut, ich werde dir alles erzählen«, gab Kyeong-Hui nach und drückte ihren Sohn abermals fest an ihre Brust. Ihre Stimme war nun ganz ruhig und voll Selbstvertrauen. Während ihres Lachanfalls waren die Unruhe und ihre Befürchtungen aus ihr herausgefiltert worden. Als hätte man ihre Gefühle durch ein großes Sieb gepresst. Übrig geblieben war nur der ihr eigene Mut, ein Fels in der Brandung. Sie hatte keine Angst mehr, vor nichts und niemandem.

Schon als sie noch ein kleines Mädchen mit kurzen Haaren gewesen war, hatte Kyeong-Hui immer die rote Armbinde mit den zwei Streifen getragen, die den Schülersprechern vorbehalten war. Vom ersten Schultag bis zur Abschlussfeier auf der Universität. Wenn sie, was selten genug vorkam, auf der Arbeit einen Fehler machte, wusste sie sich von der Tatsache beschützt, dass ein Mitglied ihrer Familie während des Koreakriegs im Kampf gegen die Armee des Südens gefallen war. Was nun ihren Mann betraf, so hatte dieser trotz seiner offensichtlichen Mittelmäßigkeit einen Abschluss von einer der angesehensten kommunistischen Universitäten. Er war von Haus aus ein ängstlicher Typ und machte sich Sorgen wegen nichts und wieder nichts. Aber trotzdem: Warum eigentlich fühlte er sich schuldig und zog den Kopf ein, wo es doch nur um die Hirngespinste eines Kindes ging? Auch wenn ihr kleiner Sohn das Bild von Marx furchterregend fand, bedeutete das doch nicht, dass sie und ihr Mann der Staatsideologie ablehnend gegenüberstanden.

»Wenn ich dir am Ende doch alles erzähle … hahaha … was kann mir Schlimmeres passieren, als der Spionage verdächtigt zu werden!« Die aberwitzige Situation reizte Kyeong-Hui immer noch zum Lachen, aber sie versuchte sich zusammenzunehmen und der Blockverantwortlichen das Problem zu erklären. Was sich auf dem Kim-Il-Sung-Platz ereignet hatte, Myeongs-Siks Angstzustände und warum sie die Übergardinen abends nun schloss.

»Warum machst du dann auch die Vorhänge auf der anderen Seite zu, wenn das gar nicht nötig ist?«

»Weil man auf dieser Seite das Bildnis des Großen Führers sieht, das hinter der Tribüne angebracht ist.«

»Ja und?«

»Kennst du nicht die Binsenweisheit: Ein Kind, das sich vor Schildkröten fürchtet, hat auch Angst vor dem Deckel eines Teekessels?«

»Wie bitte? Er fürchtet sich vor dem Bild unseres Großen Führers?«

Die Augen der Blockwartin funkelten streng hinter ihren Brillengläsern, aber Kyeong-Hui, die ganz mit sich selbst beschäftigt war, bemerkte es nicht.

»Jetzt kennst du den Hintergrund. Das ist die ganze Wahrheit. Nun verstehst du besser, was es mit den Übergardinen auf sich hat. Ich kann mein Kind nicht die ganze Zeit beaufsichtigen, und in einen Schrank sperren kann ich es auch nicht. Was soll ich also machen? Morgen während der Feierlichkeiten werde ich die Gardinen offen lassen.«

»Nein, das ist nicht genug!«, schnitt ihr die Parteifunktionärin das Wort ab und setzte äußerst bestimmt hinzu: »Das ist nicht nur ein kleines Vorhangproblem. Die Sache betrifft die einzigartige Ideologie unserer Partei. Nach den Nationalfeierlichkeiten wird man jeden beurteilen, und man wird sich vor allem auf die Treue zur Partei konzentrieren. Das ist dir doch bekannt, Genossin Geschäftsführerin? Gut, dann habe ich nichts mehr hinzuzufügen.«

Kyeong-Hui wollte noch etwas erwidern, aber die Blockwartin strebte schnell wie ein schwarzer Milan, der sich seiner Beute sicher ist, auf das Kino im Nebengebäude zu. Kaum zwei Stunden später waren die Übergardinen von Kyeong-Huis Fenstern verschwunden. Aber nicht sie hatte sie zurückgezogen, sondern ihr Mann, Pak Seong-Il.

Nachdem die Blockwartin sie so demütigend behandelt hatte, war Kyeong-Huis Laune schlecht. Sie bereitete gerade das Abendessen zu, als ihr Mann früher als gewöhnlich nach Hause kam. Noch unter dem Türrahmen stehend, als hätte er keine Sekunde zu verlieren, fuhr er sie an: »Schatz, warum zum Kuckuck sind die Übergardinen wieder zu?« Seine schwarzen Augenbrauen, die sich gegen seine bleiche Haut extrem abhoben, zog er missbilligend nach oben.

»Warum hacken heute eigentlich alle auf mir herum? Jetzt regst du dich auch noch auf«, erwiderte Kyeong-Hui und zog ihrerseits die Augenbrauen zusammen. Sie hatte die Türen zum Wohnzimmer weit geöffnet, um beim Gemüseschneiden beruhigend auf ihren Sohn einreden zu können.

»Du verstehst wirklich gar nichts!« Mit diesen Worten stürmte ihr Mann ins Wohnzimmer und riss die Vorhänge auf. Dann kam er mit dem Kind auf dem Arm in die Küche. »Wie oft habe ich dir das mit den Vorhängen schon erklärt? Aber du bist offensichtlich taub auf den Ohren! Du lebst doch schon eine ganze Weile nicht mehr auf dem Land, sondern hier mit mir. Trotzdem setzt du dich über die Gepflogenheiten in dieser Stadt einfach hinweg!« Ermattet ließ er sich auf die Türschwelle sinken. Dabei starrte er Kyeong-Hui unverwandt an. »Vorgestern erst habe ich dir die Geschichte von den drei Feldhasen erzählt, die aus Sicherheitsgründen drei verschiedene Schlupflöcher haben. Wir müssen genauso vorsichtig sein wie die Hasen. Bevor man über eine Brücke geht, muss man immer zuerst mit einem Fuß testen, ob sie auch hält. Das sind die Regeln hier in Pjöngjang.«

»Was habt ihr heute bloß alle?«

Ihr Mann antwortete nicht, warf ihr nur einen vielsagenden Blick zu, fischte eine Zigarette aus seiner Brusttasche und zündete sie an. Er zog drei, vier Mal daran, bevor er mit einem geräuschvollen Seufzer den Rauch wieder ausstieß.

»Weißt du, welche These von Marx die bemerkenswerteste ist?«, fragte er und deutete mit dem Arm in Richtung des Konterfeis hinter dem Fenster.

»Ach, du guter Gott! Heute scheint wirklich ein ganz besonderer Tag zu sein. Muss ich jetzt tatsächlich als Studentin an die Uni zurück? Das ist doch nicht dein Ernst!«, lachte sie ihn aus.

»Statt dich über mich lustig zu machen, hör mir lieber zu. Natürlich ist das Ansichtssache, aber ich finde, die interessanteste Theorie von Marx ist weder seine Kritik am Kapitalismus noch die Erschaffung des wissenschaftlichen Sozialismus. Nein, es ist die Theorie über die Diktatur des Proletariats. Wenn die Seele des Kapitalismus das Kapital ist, dann ist die des Sozialismus, zumindest wie wir ihn hier in unserem Land haben, das Proletariat, die Diktatur des Proletariats. Verstehst du? Die Bürger dieser Stadt wissen genau, was das heißt. Deswegen leben auch alle hier wie die Feldhasen, die drei Schlupflöcher haben. Aber du verhältst dich so leichtsinnig, wie es nur irgend geht. Du verlässt dich zu sehr auf das Gewicht, das der Name deiner Familie hat. Als ob er eine Art Zauberstab wäre, der alle Probleme lösen könnte. Aber wenn uns das Proletariat eines Tages etwas vorzuwerfen hat, dann kann dir dein guter Name nicht helfen. Du kennst Eobi aus der Legende, aber du willst nicht wahrhaben, wozu der Eobi im wahren Leben fähig ist.«

In den Augen ihres Mannes lag ein Feuer, wie es Kyeong-Hui bei ihm noch nie gesehen hatte. Woher kam diese Begeisterung? Sie wartete darauf, dass er zum Ende kam, denn tatsächlich war sie anderer Meinung als er. Schließlich wandte sie energisch ein: »Jetzt ist es wirklich genug! Ich weiß nicht, was heute in dich gefahren ist, aber ich bin nicht in der Stimmung für eine philosophische Grundsatzdiskussion!«

»Da hast du es! Das ist genau die Art von Naivität, die ich meine!«, gab er zurück und stampfte gereizt mit dem Fuß auf, immer noch auf der Schwelle sitzend. »Ich komme gerade aus dem Büro des für uns zuständigen Beamten der Staatssicherheit. Hast du gehört? Aus dem Büro der Staatssicherheit!«