Über Peter Singer

PETER SINGER ist einer der bedeutendsten Moralphilosophen der Gegenwart. Nach Stationen in Oxford, New York und Melbourne hat er seit 1999 eine Professur für Bioethik in Princeton inne. Er hat mehr als zwanzig Bücher verfasst, darunter Leben retten, wie sich Armut abschaffen lässt – und warum wir es nicht tun und Effektiver Altruismus. Im Jahr 2014 wurde er auf der Liste der Global Thought Leaders des Duttweiler Instituts auf Platz drei geführt. Das Time Magazine zählte ihn zu den 100 einflussreichsten Menschen der Welt. Der gebürtige Australier lebt in New York und Melbourne.

Fußnoten

A.J. Ayer, »The Analysis of Moral Judgement«, in: A.J. Ayer, Philosophical Essays, London: Macmillan 1954, dt. Zitat nach Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit; Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt/Main 1993, S. 11. Zu der Zeit, als ich an Hunger, Wohlstand und Moral schrieb, verfasste ich auch eine kurze Notiz, die diese Sicht auf das Thema kritisierte, veröffentlicht als »Moral Experts«, in: Analysis 32 (1972), S. 115117. Peter Lasletts Bemerkung entstammt der Einleitung zu seiner Monographie Philosophy, Politics and Society, Oxford 1956.

Aus dieser Dissertation entstand mein erstes Buch, Democracy and Disobedience, Oxford 1973.

Diese Überlegungen behandelte ich in meinem zweiten Buch, Animal Liberation, New York 1975, dt. Animal Liberation. Die Befreiung der Tiere, Reinbek 1996.

Diese Verschiebung in der Herangehensweise an den Artikel beschrieb Joshua Greene, als er mich im April 2015 vor einem Vortrag vorstellte, den ich an der Harvard University bei der Organisation Harvard Effective Altruism hielt. Greene, selbst ehemaliger Harvard-Student, stellte den Ansatz seines damaligen Professors dem der Studierenden gegenüber, die die Veranstaltung organisiert hatten und die den großen Hörsaal füllten, um sich den Vortrag anzuhören.

Siehe dazu Peter Singer, The Most Good You Can Do, New Haven 2015, dt. Effektiver Altruismus: eine Anleitung zum ethischen Leben, Berlin 2016, und William MacAskill, Doing Good Better, New York 2015, dt. Gutes besser tun: Wie wir mit effektivem Altruismus die Welt verändern können, Berlin 2016.

Eine Kritik des Teichbeispiels aus dieser Perspektive formuliert Jonah Sinick, »Some Reservations About Singer’s Child-in-the-Pond Argument« auf http://lesswrong.com/lw/hr5/some_reservations_about_singers_childinthepond/, letzter Zugriff: 10.11.2016.

http://www.givewell.org/International/top-charities/amf. GiveWell bescheinigt jedem Wert unter 5000 Dollar hohe Effizienz, warnt aber gleichzeitig davor, solche Schätzungen allzu wörtlich zu nehmen. Weitere Diskussionen zum Thema unter http://www. givewell.org/international/technical/criteria/cost-effectiveness, letzter Zugriff: 10.11.2016.

Peter Singer, Practical Ethics, Cambridge ³2011, dt. Praktische Ethik, Stuttgart: Reclam ²1994; Peter Singer, The Life You Can Save, New York 2009, dt. Leben retten: wie sich Armut abschaffen lässt – und warum wir es nicht tun, Zürich, Hamburg 2010. Zur weiteren Vertiefung anhand von Fachliteratur über Hunger, Wohlstand und Moral sei als Einstieg empfohlen Patricia Illingworth, Thomas Pogge und Leif Wenar (Hg.), Giving Well: The Ethics of Philanthropy, Oxford 2011, und darin insbesondere Elizabeth Ashford, »Obligations of Justice and Beneficence to Aid the Severely Poor«, S. 2645, sowie Leif Wenar, »Poverty Is No Pond: Challenges for the Affluent«, S. 104132. Als Gegenreaktion auf Wenars Aufsatz siehe Theron Pummer, »Risky Giving«, unter http://blog.practicalethics.ox.ac.uk/ 2015/01/risky-giving/, letzter Zugriff: 13.1.2015.

»Deep Pragmatism: A Conversation with Joshua D. Greene«, 30.8.2013, http://edge.org/conversation/deep-pragmatism, letzter Zugriff: 10.11.2016.

Jonas Nagel und Michael Waldmann von der Universität Göttingen testeten ebenfalls die Faktoren, die zu den unterschiedlichen Reaktionen auf das ertrinkende Kind und das hungernde Kind in einem Entwicklungsland führen, und kamen zu einer anderen Schlussfolgerung: Ihnen zufolge ist der entscheidende Faktor die Unmittelbarkeit der Information und nicht die räumliche Distanz. Siehe Jonas Nagel und Michael Waldmann, »Deconfounding Distance Effects in Judgments of Moral Obligation«, in: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory and Cognition 39 (2013), S. 237252. In einer Folgestudie testete Greene wiederum diesen Faktor aus und kam weiterhin zu dem Ergebnis, dass Distanz einen wesentlichen Unterschied ausmacht. Allerdings weist auch Greene selbst darauf hin (siehe Joshua Greene, Moral Tribes, New York 2013, S. 378, 261n), dass die Schlussfolgerung aus seiner Forschung, die ich im folgenden Absatz darlege, genauso zutreffend ist, wenn ein signifikanter Faktor für unsere Reaktionen in der Unmittelbarkeit der Information besteht.

Siehe Joshua Greene, Moral Tribes, a.a.O. Der Vergleich mit dem Fotoapparat wird erstmals auf S. 15 vorgestellt und in Kapitel 5 weiter ausgeführt.

Dieses Argument führen aus Katarzyna de Lazari-Radek und Peter Singer, The Point of View of the Universe, Oxford 2014, dort insbesondere Kapitel 7.

Heutiges Bangladesch. Ostbengalen gehörte bis 1971 zu Pakistan (Ostpakistan). Der Unabhängigkeitskampf von Ostbengalen gegen die westpakistanische Militärherrschaft führte 1971 zum Bangladesch-Krieg und zur Gründung der unabhängigen Republik Bangladesch. [Anmerkung zur deutschen Ausgabe.]

Es gab noch eine dritte Möglichkeit: Dass Indien in den Krieg ziehen würde, um den Flüchtlingen die Rückkehr in ihr Land zu ermöglichen. Nachdem ich diesen Aufsatz geschrieben hatte, hat sich Indien für diesen Ausweg entschieden. Die Situation ist heute nicht mehr wie oben beschrieben, doch beeinträchtigt dies meine Argumentation nicht, wie der nächste Absatz zeigen wird.

Angesichts der speziellen Bedeutung, die manche Philosophen dem Begriff unterlegen, möchte ich anmerken, dass ich »Verpflichtung« [obligation] schlicht als das dem Verb »sollen« [ought] entsprechende abstrakte Nomen begreife, sodass »Ich habe eine Verpflichtung, X zu tun« nicht mehr und nicht weniger bedeutet als »ich sollte X tun«. Dieser Gebrauch ist in Einklang mit der Definition von »sollen«, wie sie im Shorter Oxford English Dictionary gegeben wird: »das allgemeine Verb zum Ausdruck von Pflicht oder Verpflichtung«. Ich glaube nicht, dass irgendeine substanzielle Frage davon abhängt, wie dieser Begriff gebraucht wird. Sätze, in denen ich »Verpflichtung« verwende, könnten sämtlich in Sätze umgewandelt werden, in denen eine etwas umständlichere Formulierung mit »sollen« den Begriff »Verpflichtung« ersetzt.

J.O. Urmson, »Saints and Heroes«, in: Essays in Moral Philosophy, hg. von A.L. Melden, Seattle 1958, S. 214. Für eine verwandte, doch deutlich verschiedene Sicht vgl. H. Sidgwick, The Methods of Ethics, London 1907, S. 220f. und 492f.; dt. Die Methoden der Ethik, Leipzig 1909.

Summa Theologica, IIII, Quaestio 66, Artikel 7, zitiert nach: Die deutsche Thomas-Ausgabe, Bd. 18, S. 211f.

Vgl. z.B. J.K. Galbraith, The New Industrial State, Boston 1967; dt. Die moderne Industriegesellschaft, München 1970 und E.J. Mishan, The Costs of Economic Growth, New York 1967.

Sylvia Nasar, »Princeton’s New Philosopher Draws a Stir«, in: New York Times, 10.4.1999.

Anmerkung zur deutschen Ausgabe: Laut Abschlussbericht der Vereinten Nationen im Jahr 2015 wurden die Ziele der Armutsbekämpfung erreicht. Siehe: http://www.un.org/depts/german /millennium/MDG%20Report%202015%20German, letzter Zugriff 16.12.2016. Es gab jedoch auch kritische Stimmen, die u.a. monierten, die Ziele seien nicht hoch genug gesetzt gewesen. Vgl. Bericht der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationene.V.: http://www.dgvn.de/meldung/millenniums-entwicklungsziele-abschlussbericht-2015-vorgestellt/, letzter Zugriff 16.12.2016.

Siehe Anmerkung 1, S. 100f.

Vorwort

In den über vierzig Jahren seit der Veröffentlichung von Peter Singers Aufsatz Famine, Affluence, and Morality (Hunger, Wohlstand und Moral) ist in der Welt sehr vieles sehr viel besser geworden. Der Anteil der Weltbevölkerung, der in extremer Armut lebt, ist heute weniger als halb so groß wie damals, und der Anteil an Kindern, die vor ihrem fünften Geburtstag sterben, ist sogar noch stärker gesunken. 1960 starben fast 20 Prozent der unter Fünfjährigen. 1990 waren es etwa 10 Prozent, heute nähern wir uns schon den 5 Prozent.

Und doch sind 5 Prozent noch immer zu viel – wir sprechen hier von etwa 6,3 Millionen toten Kindern pro Jahr. Zurückzuführen ist dieses Kindersterben meist auf Erkrankungen wie Durchfall, Lungenentzündung oder Malaria, die wir verhindern oder heilen können. Dennoch ist der Rückgang der Kindersterblichkeit ermutigend. Er zeigt, dass Hilfe tatsächlich wirkt, und widerlegt den fatalen Mythos, Hilfe von außen würde ja doch nichts bringen.

Singers Arbeit unterstreicht mit Nachdruck, dass wir gemeinsam etwas tun können, um Schlimmes zu verhindern – etwa den Tod von Kindern. Diese Behauptung lässt sich heute viel schlüssiger untermauern als 1972. Zum Glück kommt das bei immer mehr Menschen an, und viele von ihnen werden selbst aktiv. Man könnte sagen, Singers Artikel war bei der ersten Veröffentlichung seiner Zeit voraus. Doch vielleicht hat die Zeit ihn inzwischen eingeholt.

Bill und Melinda Gates, Co-Vorsitzende der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung

Einleitung

Hunger, Wohlstand und Moral entstand auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, die eine Folge der Repression durch die Militärregierung im damaligen Ostpakistan war. Neun Millionen Menschen flohen über die Grenze nach Indien, wo sie in Flüchtlingslagern ums Überleben kämpften. Im Rückblick erkennen wir diese Krise als entscheidenden Moment in der Entstehung des unabhängigen Staates Bangladesch, doch damals schien dieses glückliche Ende unwahrscheinlich; offensichtlich war nur, wie viele Menschen in Gefahr waren. Ich nutzte die schreckliche Not als Aufhänger für mein Argument, die Menschen in Wohlstandsgesellschaften sollten viel mehr tun, um bedürftigen Menschen in viel ärmeren Teilen der Welt zu helfen; in seiner Anwendbarkeit ist dieses Argument freilich ziemlich allgemein, und die Herausforderung, die es darstellt, ist heute genauso groß wie 1971.

Ethik und politische Philosophie standen damals auf der Schwelle zu einer aufregenden neuen Entwicklung. In den vorausgehenden fünfundzwanzig Jahren hatte sich die Moralphilosophie auf die Bedeutungsanalyse moralischer Begriffe wie »das Gute« und »das Sollen« konzentriert; man ging dabei nicht davon aus, dass sich das auf substanzielle Fragen darüber, wie wir konkret leben sollen, auswirken würde. A.J. Ayer schrieb, es sei falsch, bei Moralphilosophen nach innerer Führung zu suchen, und Peter Laslett fasste offenbar eine weitverbreitete Meinung in seiner vielzitierten Diagnose zusammen: »Für den Augenblick … ist die politische Philosophie tot.«1 Dieser »Augenblick« dauerte an, bis die Studentenbewegung der sechziger Jahre Seminare einforderte, die für die wichtigsten aktuellen Probleme tatsächlich von Belang waren: Bürgerrechte, Rassendiskriminierung, Vietnamkrieg und ziviler Ungehorsam. Da erinnerten sich ein paar Philosophen, dass ihre Tradition in früheren Zeiten zu diesen Themen durchaus einiges zu sagen hatte. Die Gründung einer neuen Zeitschrift, Philosophy & Public Affairs, wurde angekündigt, und in deren »Zielsetzung« war davon die Rede, dass eine philosophische Untersuchung von Themen öffentlichen Belangs »zu ihrer Klärung und Lösung beitragen« könne. (Heute ist kaum zu glauben, dass eine so vorsichtig formulierte Aussage als radikal aufgefasst werden konnte.) Damit wurde der Forschungsbereich begründet oder eher wiederbelebt, der heute als »praktische« oder »angewandte« Ethik bezeichnet wird.

Als die neue Zeitschrift zur Einsendung von Beiträgen für ihre erste Aufgabe aufrief, war ich frischgebackener Oxford-Absolvent und hatte gerade meine erste Stelle als Universitätsdozent angetreten. Schon als Student in Australien hatte ich mich für die Reform des Abtreibungsgesetzes und gegen den Vietnamkrieg eingesetzt. Meine Dissertation in Oxford beschäftigte sich mit den Grundlagen für die Verpflichtung, in einer Demokratie das Gesetz zu befolgen.2 Meine Frau und ich spendeten 10 Prozent unseres Einkommens an Oxfam und waren unlängst zu Vegetariern geworden, nachdem wir erfahren hatten, wie Tiere behandelt werden, bevor man sie zu Fleisch verarbeitet.3 Ich wollte mit philosophischem Handwerkszeug die wichtigen ethischen Fragen in Angriff nehmen, mit denen ich mich in meinem eigenen Leben konfrontiert sah. Die neue Zeitschrift Philosophy & Public Affairs bot mir dafür die perfekte Plattform. Hunger, Wohlstand und Moral erschien im Frühjahr 1972, in der dritten Abteilung des ersten Bandes.

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