Hamilton, Peter F. Der nackte Gott

PIPER

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PIPER

 

Übersetzung aus dem Englischen von Axel Merz


ISBN 978-3-492-97692-3

September 2017

© Peter F. Hamilton 1996

Titel der englischen Originalausgabe:

»The Naked God, Part 2«, PanMacmillan, London 2012

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Erstmals erschienen bei Bastei Lübbe AG, Köln 2001

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Guter Punkt, Stephanie Gauger unter Verwendung von Motiven von Shutterstock und Thinkstock

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Danksagungen

Zu guter Letzt ein paar wohlverdiente Danksagungen

Ich brauchte sechseinhalb Jahre, um die »Night’s Dawn«-Trilogie niederzuschreiben. Während dieser Zeit wurden mir Unterstützung, Getränke, Liebe, dumme Witze, Mitgefühl, Freundschaft, Einladungen zu Partys und exotische E-Mails von den folgenden Personen zuteil:

 

John F. Hamilton

Kate Fell

Simon Spanton-Walker

Jane Spanton-Walker

Kate Farquhar-Thomson

Christine Manby

Antony Harwood

Carys Thomas

James Lovegrove

Lou Pitman

Peter Lavery

Betsy Mitchell

Jim Burns

Dave Garnett

Jane Adams

Graham Joyce

Ich danke euch, Freunde.

Peter F. Hamilton

Rutland, im April 1999

1. Kapitel

Es war eine unangenehme Arbeit, aber immer noch besser, als in den Sternenkratzern herumzuturnen. Tolton und Dariat fuhren langsam in einem Laster über die Grasebenen von Valisk. Sie waren auf der Suche nach Servitor-Leichen. Nahrung wurde in dem geschwächten Habitat zusehends zu einem kritischen Rohstoff. Während Kiera Salters Herrschaft hatten sich die Besessenen einfach aus den Vorräten bedient, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sie wieder ersetzt werden konnten. Nach dem Sturz in das dunkle Kontinuum hatten die Überlebenden angefangen, die wilden terrestrischen Tiere zu schlachten, die überall bewusstlos herumlagen. Sie hatten große Kochgruben draußen vor den Kavernen der nördlichen Abschlusskappe ausgehoben, und die Starbridge-Leute hatten die Tiere auf langen Spießen gegrillt.

Es hatte ausgesehen wie ein mittelalterliches Grillfest. Es war eine vorhersehbar eintönige Diät aus Ziegen, Schafen und Kaninchen, aber sie war nahrhaft genug. Keiner der anderen lethargischen Überlebenden beschwerte sich.

Und jetzt wurde die Operation noch beschleunigt. Die Tiere erwachten nicht mehr aus ihrem unnatürlichen Koma, sondern starben einfach. Die Körper mussten gesucht und das Fleisch gegart werden, bevor sie in Verwesung übergingen. Richtig präpariertes Fleisch konnte in den kältesten Kavernen aufgehängt mehrere Wochen gelagert werden, ohne ungenießbar zu werden. Und Nahrungsvorräte anzulegen war eine logische Vorbereitung, durchaus üblich in Kriegszeiten … Rubras Nachkommen wussten Bescheid über den unheimlichen Besucher und hatten ihre Bewaffnung seither genauso verstohlen wie unaufhörlich verstärkt. Die überlebenden Besessenen wussten nichts von dem Zwischenfall.

Tolton fragte sich, ob das der Grund war, aus dem die Persönlichkeit Dariat und ihn mit dieser Aufgabe betraut hatte. Damit er nicht in unnötigen Kontakt mit den Flüchtlingen in der Kaverne kam.

»Aber warum sollte die Persönlichkeit dir misstrauen?«, fragte Dariat, während der Straßenpoet den Laster an einem kleinen Bach entlang durch eines der flachen Täler steuerte, die das Grasland im Süden des Habitats durchzogen. »Du bist schließlich einer der richtigen Überlebenden der Possessionskrise. Und du hast dich als eine wertvolle Verstärkung erwiesen, soweit es unsere Lage betrifft.«

»Weil ich bin, was ich bin, darum. Du weißt, dass ich auf der Seite der Unterdrückten und Unterprivilegierten stehe. Das ist meine Natur. Ich könnte schließlich hingehen und sie warnen.«

»Glaubst du vielleicht, eine Warnung könnte ihnen helfen? Sie sind absolut nicht in der Lage, Widerstand zu leisten, sollte dieses Ding zurückkehren. Du weißt genauso gut wie ich, dass meine illustren Verwandten die Einzigen sind, die überhaupt eine Chance haben, es aufzuhalten. Geh nur, und erzähl den Kranken, dass wir von einer Art menschenmordendem Eisdrachen verfolgt werden. Sieh, ob du damit ihre Moral verbessern kannst. Ich will ganz bestimmt keine Predigt halten, aber Klassenunterschiede sind für eine ganze Weile nicht mehr relevant, bis auf zwei: diejenigen, die etwas tun können, und diejenigen, die von den anderen abhängig sind. Das ist alles.«

»Schon gut, verdammt. Aber wir können sie doch nicht ewig im Unklaren lassen!«

»Das wird auch nicht geschehen. Wenn dieses Ding jemals in das Habitat eindringen sollte, werden es alle ganz schnell erfahren.«

Tolton packte das Steuer mit beiden Händen und verlangsamte seine Fahrt, um Dariats Antwort von seinen Lippen abzulesen. »Du glaubst also, es wird zurückkehren?«

»Die allgemeine Meinung lautet übereinstimmend ja. Es wollte beim ersten Mal etwas von uns, und wir haben nichts weiter getan, als es wütend zu machen. Selbst in der Annahme, dass es die verdrehteste Psyche besitzt, die man sich nur denken kann – es wird zurückkehren. Die Frage ist: Wann? Und: Wird es allein sein?«

»Verdammter Mist!« Tolton drehte den Gashebel wieder auf, und der Laster fuhr spritzend durch eine Furt auf die andere Seite des Baches. »Was ist mit dem Signalprojekt? Sind wir bereits imstande, die Konföderation um Hilfe zu rufen?«

»Nein. Aber eines unserer Teams arbeitet daran, wenngleich die meisten meiner Verwandten damit beschäftigt sind, die Verteidigung des Habitats zu verstärken.«

»Wir haben eine Verteidigung?«

»Nichts Großartiges«, gestand Dariat.

Tolton bemerkte einen verdächtigen avocadogrünen Klumpen zwischen den dürren pinkfarbenen Xeno-Grashalmen und brachte den Wagen zum Stehen. Es war der Kadaver einer großen Servitor-Echse, der zusammengerollt auf dem Boden lag.

Ein Tegu, gentechnisch maßgeschneidert für die Landschaftspflege. Er maß eineinhalb Meter vom Kopf bis zum Schwanz und besaß lange Krallen an den Pfoten, die wie Rechen aussahen. Es gab Hunderte von ihnen in Valisk. Sie patrouillierten die Bäche und Flüsse, und ihre Aufgabe bestand darin, die felsigen Abschnitte von Verstopfungen aus totem Gras und Zweigen freizuhalten.

Dariat erhob sich und beobachtete, wie sein neu gewonnener Freund sich vornüberbeugte und die Kreatur vorsichtig an der Seite berührte.

»Ich kann nicht feststellen, ob es noch lebt oder nicht!«, beschwerte sich Tolton.

»Tot«, antwortete Dariat. »Der Körper besitzt keinerlei Lebensenergie mehr.«

»Das kannst du sehen?«

»Ja. Es ist wie ein kleines inneres Leuchten. Alle lebenden Dinge haben es.«

»Hölle. Und du kannst dieses Leuchten sehen?«

»Es ist ähnlich wie Sehen, ja. Ich schätze, mein Gehirn interpretiert es als Licht.«

»Du hast kein Gehirn. Du bist nichts weiter als ein Geist. Ein ganzer Haufen Gedanken, die irgendwie zusammenhängen.«

»Oho, ein bisschen mehr ist schon an mir, falls es dir nichts ausmacht. Ich bin eine nackte Seele.«

»Hey, nicht nötig, dass du gleich eingeschnappt bist«, grinste Tolton. »Eingeschnappt. Hihi. Ein eingeschnapptes Gespenst. Ich raff’ es nicht.«

»Ich hoffe für dich, dass deine Poesie besser ist als dein Humor. Schließlich bist du derjenige von uns beiden, der das Vieh aufheben muss.« Dariats durchsichtiger Fuß stieß gegen die Echse.

Toltons Grinsen erstarb. »Scheiße.« Er ging zur Rückseite des Lasters und öffnete die Ladeklappe. Auf der Pritsche lagen bereits drei tote Schimps. »Die Ziegen haben mich nicht gestört, aber das hier kommt mir vor wie Kannibalismus«, brummte er.

»Affen galten bei einigen vorindustriellen Gesellschaften auf der Erde als Delikatesse.«

»Kein Wunder, dass alle ausgestorben sind. Ihre Kinder rannten in die Städte und lebten glücklich bis an ihr Ende aus den Mülltonnen chinesischer Schnellrestaurants.« Er legte die Hände unter den Kadaver der Echse, gründlich verstimmt wegen der trocken-schlüpfrigen Art und Weise, wie sich die Schuppen anfühlten, und der Leichtigkeit, mit der sie über vorstehende Knochen glitten. Er schleppte den Kadaver zur Pritsche hinüber, während er etwas von einer fehlenden Winde murmelte. Die Echse war relativ schwer, und Tolton benötigte mehrere Pausen, bis er sie dort hatte, wo er sie haben wollte. Als sie schließlich zwischen den Schimps lag, war der Straßenpoet gründlich ins Schwitzen gekommen. Er sprang von der Pritsche, schloss die Ladeklappe und schob die Riegel vor.

»Gut gemacht«, sagte Dariat.

»Solange ich sie nicht ausnehmen und häuten muss, kann ich damit leben.«

»Wir sollten zurückfahren. Wir haben schon eine ganze Menge eingesammelt.«

Tolton brummte zustimmend. Sie hatten die Systeme der Laster bis auf das absolut Notwendigste stillgelegt. Es gab keine Steuerprozessoren, kein Radar, das vor Kollisionen gewarnt hätte, keine Sicherheitsgurte, die sich bei einem Aufprall automatisch um die Insassen legten. Eine Energiezelle war direkt mit den Nabenmotoren verbunden, und ein großdimensionierter Spannungsregler war die einzige Kontrolle. Auf diese Weise funktionierten die Fahrzeuge halbwegs zuverlässig, obwohl sie weit entfernt waren von hundert Prozent. Das Starten war jedes Mal aufs Neue ein Glücksspiel. Und wenn zu viel Ladung auf der Pritsche war, funktionierten sie überhaupt nicht mehr.

– Dariat!, rief die Persönlichkeit unvermittelt. – Der Besucher ist zurück, und diesmal nicht allein.

– O Thoale! Wie viele?

– Ein paar Dutzend, glaube ich. Vielleicht sind es auch mehr.

Einmal mehr spürte Dariat die mentale Anstrengung, die nötig war, um die Sinneszellen des Habitats auf die sich nähernden Schatten zu richten. Selbst dann wusste er noch nicht, ob die Habitat-Persönlichkeit alle sah. Wie schon zuvor verwoben sich bleiche Streifen aus Türkis und Burgunderrot mit den dunstigen Nebelschleiern draußen vor dem Habitat. Eine Anzahl schwacher grauer Punkte flitzte zwischen den Schleiern hin und her, schwang um sie herum und kam mit jeder Kurve näher. Die Bewegungen waren verwirrend, doch die Persönlichkeit hätte trotzdem keine Mühe haben dürfen, sie zu verfolgen.

Dariat blickte durch die schmutzstarrende Windschutzscheibe des Lasters nach vorn. Die nördliche Abschlusskappe lag dreißig Kilometer von ihrem gegenwärtigen Standort entfernt – plötzlich eine gewaltige Distanz durch das hügelige Grasland und die Steppe. Sie würden wenigstens vierzig Minuten benötigen, um dorthin zu gelangen, vorausgesetzt, das pinkfarbene Gras wurde nicht so dick, dass es den Wagen bremste, bevor sie einen der Feldwege erreichten. Vierzig Minuten waren eine verdammt lange Zeit, allein in diesem Kontinuum. Nicht, dass die Kavernen viel Schutz geboten hätten.

Was für eine Ironie, dachte Dariat. Dreißig Jahre habe ich die Isolation gewollt, und jetzt wünsche ich mir nichts mehr als die Gesellschaft von Menschen. Er würde niemals diese unglaubliche Kälte vergessen, die der Besucher beim letzten Mal ausgestrahlt hatte, eine Kälte, die ihn gelähmt und geschwächt hatte. Seine Seele war in diesem Universum vollkommen schutzlos. Und wenn er schon wirklich und endgültig sterben musste, dann doch lieber in Gesellschaft von seinesgleichen. Er drehte sich zu Tolton um und achtete darauf, dass dieser von seinen Lippen ablesen konnte. »Kann das Ding auch schneller fahren?«

Der Straßenpoet warf ihm einen erschrockenen Blick zu. »Warum?«

»Weil jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, das herauszufinden.«

»Kommt der Bastard etwa wieder zurück?«

»Aber nicht allein.«

Tolton drehte den Regler bis zum Anschlag, und der Laster beschleunigte auf mehr als vierzig Stundenkilometer. Die Nabenmotoren gaben erratisch summende Geräusche von sich – normalerweise liefen sie völlig lautlos. Dariat setzte seine Affinität ein, um die Annäherung der Besucher zu verfolgen. Die Habitat-Persönlichkeit hatte die sieben Laser und zwei Maser aktiviert, die um den Rand des nicht rotierenden Raumhafens herum montiert waren. Wie schon zuvor, so fingen die Antennen auch diesmal keinerlei Radarreflexion auf.

Die ersten Besucher setzten zum letzten Ansturm vom Rand des wabernden Nebels an, durch den freien Raum hinweg, der das Habitat umgab. Die Schwärze ringsum zog sich zusammen, und das Licht dahinter verwirbelte zu kaleidoskopartigen Gebilden. Optische Sensoren schalteten sich auf und richteten die Energiewaffen auf einen der verräterischen Wirbel. Neun starke Energiestrahlen vereinigten sich auf dem Besucher. Seine einzige Reaktion bestand darin, dass er sich schneller drehte und Haken schlug, während er mit ungebremster Geschwindigkeit auf den Rumpf des Habitats zuschoss. Die radialen Spiralausläufer verzerrter Lumineszenz flammten heller und heller. Dann war das fremdartige Gebilde hinter den Spitzen der Wolkenkratzer verschwunden und außerhalb des Schussfelds der Waffen. Die Laser richteten sich nach außen und auf ein weiteres Ziel, das sich vom Anprall aus roher Energie ebenfalls unbeeindruckt zeigte.

Die Habitat-Persönlichkeit stellte das Feuer ein. Furcht breitete sich unter Rubras Nachkommen wie ein mentaler Virus aus, während sie auf das warteten, was die Besucher als Nächstes unternehmen würden. Die vorbereiteten Handwaffen wurden ausgegeben und bereitgemacht. Nicht, dass sie viel genutzt hätten – wenn die Raumhafenlaser den fremden Wesen nicht schaden konnten, dann waren Gewehre (ganz gleich welchen Kalibers) erst recht nutzlos. Trotzdem weigerte sich keiner, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Ein Stück destruktiver Hardware zu halten war noch immer ein netter psychologischer Auftrieb.

Das Orgathé führte einen Schwarm seiner eifrigen Kith zu dem gigantischen lebenden Objekt und saugte die gewaltige Hitze auf, die es so leichtfertig verschleuderte. Sie waren gekommen, um die Absorption vorwegzunehmen, die das Schicksal aller lebenden Dinge in diesem dunklen Kontinuum war, und so viel wie nur irgend möglich von seiner Lebensenergie in sich hineinzufressen, bevor es die Melange erreichte. Sobald das erst geschah, würden unzählige der in der Melange gefangenen Entitäten genügend Kraft zur Wiederauferstehung und Individualität finden, bis die gesamte Melange sich lockerte und möglicherweise sogar für eine kurze Weile auseinanderbrach.

Doch es würde niemals genügend Energie geben, um sie alle an den Ort zurückzuheben, von dem sie in das dunkle Kontinuum herabgefallen waren. Dieses Privileg würden nur diejenigen erfahren, denen es gelang, sich selbst mit genügend Kraft zu versorgen, bevor die Auflösung einsetzte.

Das war der Grund, aus dem das Orgathé die anderen herbeigerufen hatte, die stärksten ihrer Art, die imstande waren, sich lange und weit von der Melange zu entfernen. Gemeinsam waren sie vielleicht imstande, das Objekt zu stürmen, wo einer allein versagt hatte. Und mit genügend Energie belohnt zu werden, um sich aus dem dunklen Kontinuum zu erheben, war jedes denkbare Risiko wert.

Das Orgathé glitt näher. Gewaltige Gedankenwellen plätscherten durch die Schicht aus Lebensenergie unter der Oberfläche des Objekts und richteten sich dem Orgathé entgegen. Säulen aus Energie rasten aus der toten Sektion am anderen Ende – eine Energie, die das Orgathé nicht verwenden konnte. Es schloss seinen Rand gegen den Ansturm und ließ ihn harmlos von sich abprallen. Die Energiesäulen verschwanden wieder, als es sich der Oberfläche weit genug genähert hatte. Seine Kith folgten ihm nach unten, vom Hunger nach dem Überfluss an Energie getrieben. Siegesgewisse Schreie hallten durch das Kontinuum.

Vor dem Orgathé lagen nun die hohlen Spindeln, die aus der Mittelsektion des gigantischen Objekts ragten. Das Orgathé vergrößerte seine Geschwindigkeit noch und härtete sich selbst, ohne Rücksicht auf seinen eigenen Energiezustand zu nehmen. Es erinnerte sich an die dünne Schicht transparenter Materie, auf der es schon beim letzten Mal gelandet war. Leicht zu identifizieren unter den Tausenden identischer Schichten, die sich über die gesamte Länge der Spindel zogen: eine tote Sektion, bar jeder Lebensenergie und Wärme. Diesmal jedoch verlangsamte das Orgathé nicht.

Das Fenster von Horner’s Bar zerplatzte in einer unglaublich heftigen Explosion. Kristallsplitter flogen umher und fetzten durch Mobiliar und Wände. Gefrorene, eisüberkrustete Tische und Stühle lösten sich in Wolken aus glänzenden Fragmenten auf. Dann kehrte der Mahlstrom seine Richtung um und heulte durch das zerstörte Fenster nach draußen. Die stark mitgenommene Eingangstür zum Vestibül hinaus wölbte sich nach innen und riss aus ihren Verankerungen. Hinter ihr raste Luft herein.

Überall im fünfundzwanzigsten Stockwerk schlossen sich die Notschotten. Es waren mechanische Systeme, mit einfacher, autarker Energieversorgung, die von einfachen Sicherungen ausgelöst wurden. Die Mehrzahl von ihnen funktionierte trotz der Schwächung, die das dunkle Kontinuum hervorgerufen hatte. Von den Muskelmembranen hingegen reagierten nur ganz wenige auf die Entstehung einer potenziell tödlichen Umgebung.

Die Habitat-Persönlichkeit konzentrierte sich angestrengt darauf, um die Membranen rings um die Lobby des Djerba-Sternenkratzers zu schließen, dann versuchte sie, in die Stockwerke unmittelbar darunter vorzustoßen. Ihre Gedankenroutinen trafen auf eine Welle aus Erschöpfung, die umso stärker wurde, je weiter sie in den Sternenkratzer vordrang. Vom fünfundzwanzigsten Stockwerk waren nur vollkommen verschwommene Bilder zu empfangen.

Das Orgathé packte mit mehreren seiner Extremitäten nach dem Fensterrand, während es darauf wartete, dass der Sturm entweichender Luft abklang. Flaschen zerplatzten mitten in der Luft auf ihrem Weg nach draußen, und ihr exotischer Inhalt erstarrte in eigenartigen Tropfenformen, sobald er mit der Umgebung in Berührung kam. Alles, was das Orgathé traf, prallte harmlos ab und trudelte in das hinter dem Fenster liegende Nichts davon. Die Mauer rings um die leere Türöffnung brach auseinander wie sprödes Papier, als es hindurchging.

Noch immer gab es kein deutliches Bild von ihm, während es sich durch das Vestibül bewegte. Alles, was die sensitiven Zellen auffingen, bevor sie starben, war ein Tumor aus noch dunkleren Schatten in der lichtlosen Halle. Und jetzt musste die Habitat-Persönlichkeit ihre Aufmerksamkeit auch noch auf den Rest des Orgathé-Schwarms lenken, der sich gleich dem ersten einen Weg durch andere Sternenkratzerfenster ins Innere bahnte. Überall in den verlassenen Gebäuden schlossen sich Notfallschotten und Muskelmembranen in dem verzweifelten Bemühen, die Lecks zu dichten und die Atmosphäre zu halten.

Das Orgathé setzte seinen Weg ins Innere des Sternenkratzers fort, während es nach weiteren Konzentrationen von Lebensenergie suchte, die es verzehren konnte. Die Lebensenergie war hier unten nur dünn verteilt, nicht annähernd so reichhaltig wie die Schicht unter der Außenhaut des riesigen Dings. Instinktiv bahnte sich das Orgathé einen Weg in Richtung dieser gewaltigen Quelle. Flache Paneele aus Materie zersplitterten wie Glas, als es sich Bahn brach. Weitere raue Böen aus Gas schossen ihm pfeifend entgegen. Dann hatte es gefunden, wonach es suchte: einen dichten Strom aus Flüssigkeit, wimmelnd vor Lebensenergie, der sich durch das Zentrum der hohlen Spindel ergoss. Es näherte sich der Quelle, so weit es nur konnte, und saugte die Wärme aus der dicken Wand von Materie, die den Strom umgab, bis die Umhüllung zu reißen begann. Dann bohrte es sich mit zwei Mandibeln hindurch und tauchte die Spitzen in den Strom. Wundervolle, erfrischende Lebensenergie floss in das Orgathé zurück und stärkte es nach all den erschöpfenden Anstrengungen. Es ließ sich nieder und begann den offensichtlich unerschöpflichen Strom zu konsumieren, und dabei wuchs es auf eine Weise, die vorher unmöglich gewesen wäre.

Drei Laster näherten sich dem Ring aus verfallenden Hütten, welche die Lobby des Djerba-Sternenkratzers umgaben. Jedes der Fahrzeuge hatte zwei Insassen, einen nervösen Fahrer und einen noch nervöseren Ausguck mit einer schwerkalibrigen Waffe. Die Fahrzeuge schlichen über die ausgefahrenen Wege zwischen den zerbrechlichen Wänden, und massive Reifen drückten Dosen und leere Lebensmittelverpackungen in den weichen Untergrund.

Nachdem sie die Hütten hinter sich gelassen hatten, hielten sie vor der Lobby an. Wie bei allen internen Gebäuden Valisks war auch die Lobby eine kunstvolle Konstruktion, eine Kuppel aus nach und nach stärker geneigten ringförmigen Stufen aus langen weißen Polypfenstern, mit einem Apex aus bernsteinfarbenem Kristall. Im Innern fand sich die Art von Sitzecken und weitläufigen marmorgepflasterten Böden, die man in jeder von Menschen erbauten Durchgangsstation wiederfand. Ein paar zerborstene Fenster in der untersten Wand und zerschmettertes Mobiliar überall waren die einzigen Spuren vergangener Schlachten zwischen Kiera Salter und Rubra.

Tolton warf einen bitteren Blick auf ihre Umgebung. »Mein Gott, ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich noch einmal hierher zurückkehre«, brummte er.

»Du bist nicht allein«, entgegnete Dariat.

Erentz kletterte aus dem Beifahrersitz, wobei sie ihre Waffe ununterbrochen auf den Eingang gerichtet hielt. Die Besucher waren inzwischen seit dreißig Stunden in den Sternenkratzern. In all der Zeit waren sie nicht weiter vorgedrungen oder hatten andere feindselige Züge unternommen. Wären nicht die zerbrochenen Scheiben und die geschlossenen Notschotten gewesen, hätte es nicht den geringsten Beweis für ihr Eindringen gegeben. Nach ihren verzweifelten Bemühungen, sich Zugang zu verschaffen, reagierten die Bewohner des Habitats genau wie die Persönlichkeit mit Sorge und Verwirrung. Die Habitat-Persönlichkeit war fest entschlossen herauszufinden, was für frevelhafte Dinge sich tief unten in den Sternenkratzern zusammenbrauten.

Die Aufzüge befanden sich im Zentrum der Lobby, eine breite Säule aus weißem Polyp, die hinauf bis zur halben Höhe der bernsteinfarbenen Kristallkuppel reichte. In die runde Wand waren in gleichmäßigen Abständen silbern glänzende mechanische Metalltüren eingelassen. Eine der Türen glitt auf, als sich die Gruppe näherte. Erentz stellte die große Ausrüstungskiste ab, die sie bei sich getragen hatte, und schob sich vor bis zum Rand, sodass sie einen vorsichtigen Blick nach unten werfen konnte.

Das Dach der Liftkabine war außer Sicht, und die vertikalen Wände des Schachts mit ihren Führungsschienen verschwanden nach ein paar Metern in der Dunkelheit. Sie leuchtete mit einem Handscheinwerfer in den Abgrund, doch außer mehr Dunkelheit und einem Notausstieg auf der Innenseite war nichts zu sehen. Sie beugte sich noch weiter vor und entdeckte die Tür eine Etage tiefer.

– Nach allem, was ich feststellen kann, befindet sich der Besucher auf der zweiundzwanzigsten Etage, berichtete die Habitat-Persönlichkeit. – Es ist mir gelungen, die Stockwerke darüber abzuriegeln, sodass das zweiundzwanzigste seine Atmosphäre behalten hat. Für den dreiundzwanzigsten Stock gilt das Gleiche. Die vierundzwanzigste Etage hatte einen Druckverlust, und ab der fünfundzwanzigsten herrscht Vakuum. Deine einzige Fluchtroute, Erentz, geht also nach oben. Dariat, du müsstest die tieferen Etagen eigentlich benutzen können. Ein Vakuum sollte dir nicht das Geringste ausmachen.

Dariat nickte nachdenklich. – Ich bin nicht besonders scharf darauf, deine Theorie zu überprüfen, okay? Außerdem, wo soll ich denn hin, wenn ich auf der untersten Etage angekommen bin?

Die Vorbereitungen nahmen zwanzig Minuten in Anspruch. Drei Mann aus der Gruppe begannen mit dem Aufbau der Winde, die sie mitgebracht hatten, und sicherten das Gerät mit schweren Bolzen im Boden der Lobby. Die Übrigen halfen Erentz in den silbergrauen Anzug, den sie während der Aufklärungsmission tragen würde. Sie hatten sich für einen Thermoanzug entschieden, der imstande war, seinen Träger vor extremen Temperaturunterschieden zu bewahren. Er besaß eine dicke Isolationsschicht mit einer Molekularstruktur ganz ähnlich der, die bei Nullthermschaum zum Einsatz kam. Der einzige Nachteil dabei war, dass die Wärme, die ein lebender Körper mit seinen Muskeln und Organen erzeugte, nicht nach draußen entweichen konnte. Wer einen solchen Anzug trug, würde sich selbst innerhalb von dreißig Minuten grillen. Also zog Erentz vorher einen eng sitzenden Overall aus einem Wärme absorbierenden Material an, der ihren Wärmeausstoß für einen Zeitraum von sieben Stunden aufsaugen und speichern konnte, bevor er entladen werden musste.

»Bist du sicher, dass das funktioniert?«, fragte Tolton, als er die Handschuhe mit den Ärmeln verband. Das bauschige Aussehen des Anzugs ließ sie wie einen Eskimo in der Arktis aussehen.

»Du warst schon einmal mit diesem Ding zusammen dort unten«, antwortete sie. »Es scheint die Fähigkeit zu besitzen, Wärme zu absorbieren. Und ich muss etwas tun, um mich davor zu schützen, falls ich zu nahe komme. Ein SII-Raumanzug wäre in diesem Kontinuum viel zu riskant; es gibt nicht einmal eine Garantie, dass er unterhalb dieser Etage noch funktioniert.«

»Also gut, wenn es dich glücklich macht …«

»Das macht es ganz und gar nicht.« Sie schob sich die Atemmaske des Anzugs über das Gesicht und fummelte an ihr herum, bis sie bequem saß. Der Anzug stand nicht unter Druck, doch die Maske hielt die Atemluft bei einer konstanten Temperatur.

Tolton reichte ihr den Elektrostab. Das spitze Ende gab einen starken Stromstoß bei einer Spannung von zehntausend Volt ab. »Damit solltest du in der Lage sein, den Besucher abzuwehren, falls er dir zu nahe kommt. Elektrizität scheint das Einzige zu sein, was dieser Tage verlässlich wirkt. Sie kann die Besessenen in das Jenseits zurückschicken, und sie hat dem Besucher ganz offensichtlich ebenfalls Angst eingejagt.«

Erentz hielt den Stab in die Höhe, dann schob sie ihn zu der Laserpistole und der Fissionsklinge in den Gürtel. »Ich fühle mich, als würde ich losziehen, um einen schlafenden Tiger mit dem Stock zu wecken«, murmelte sie durch ihre Maske hindurch.

– Es tut mir leid, sagte die Habitat-Persönlichkeit. – Aber wir müssen wirklich herausfinden, was diese Dinger dort unten anstellen.

– Ja, ja, schon gut. Sie zog das Helmvisier herunter, ein transparentes Stück Plastik, das dick genug war, um die Welt in einen türkisfarbenen Schein zu tauchen. – Bist du so weit?, wandte sie sich an Dariat.

Ja. Seine Affinitätsstimme mochte es gesagt haben, aber sein Verstand sicherlich nicht.

Das Seil der Winde war über eine Rolle oben in der Spitze des Aufzugsschachts geschlungen. Es endete in zwei einfachen Schlaufen, die Erentz mit einem Traggestell um ihren Rumpf verband. Über den Schlaufen befand sich ein einfacher Mechanismus an einem flexiblen Stab. Er besaß vier Knöpfe, mit denen die Winde gesteuert wurde. Erentz zerrte prüfend an dem dünnen Seil.

– Es ist eine Silikonfaser aus langen molekularen Ketten, erklärte einer der Techniker, der die Winde aufgebaut hatte. – Vollkommen zuverlässig. Es kann mehr als das Hundertfache deines Körpergewichts tragen. Er zeigte ihr einen kleinen Handgriff, der zwischen den beiden Schlaufen unter dem Steuerkasten angebracht war. – Das ist der Sicherheitsgriff. Die Kabeltrommel arbeitet wie eine Feder. Je weiter du nach unten kommst, desto größer die Spannung. Also wenn du flüchten musst, vergiss den Kontrollmechanismus, und zieh einfach hier an diesem Griff. Dann geht es wirklich schnell nach oben. Die gesamte Vorrichtung arbeitet mechanisch; kein Dämonenspuk der Welt kann sie außer Betrieb setzen.

– Danke. Erentz berührte ehrfürchtig den kleinen Handgriff, wie sie es bei Christen gesehen hatte, die ein Kruzifix streichelten. Dann trat sie zum Rand des Aufzugsschachts und schaltete die Helm- und Handgelenksscheinwerfer ein. – Los geht’s.

Dariat nickte und stellte sich hinter sie. Dann legte er die Arme um ihre Brust und verschränkte die Beine um die ihren. Seine Füße überkreuzten sich vor ihren Knöcheln. Es fühlte sich an wie ein sicherer Halt. – Ich glaube, so könnte es gehen.

Erentz stieß sich vom Rand des Schachts ab und schwang über den Abgrund. Sie baumelte über der schwarzen Leere und rotierte dabei langsam. Dariat wog überhaupt nichts. Sie merkte nur an dem schwachen Schimmern seiner Arme, die sich an sie klammerten, dass er überhaupt noch da war. – Also schön, sehen wir nach, was es im Schilde führt. Sie drückte auf einen Knopf, und die Winde setzte sich in Bewegung. Langsam glitten sie nach unten. Das Letzte, was sie von der Lobby sah, war ein hell erleuchteter Rahmen, in dem sich drei Männer Schulter an Schulter drängten und ihr hinterherblickten. Zweiundzwanzig Stockwerke in die Tiefe sind ein weiter Weg, wenn man in absoluter Dunkelheit am Ende eines unsichtbaren Seils hängt.

– Das horizontale Notschott des Schachts im dreißigsten Stockwerk ist geschlossen, berichtete die Habitat-Persönlichkeit. – Der Sturz würde also nicht so furchtbar lange dauern, wie du es dir ausmalst.

– Ich versuche krampfhaft, mir überhaupt nichts auszumalen, giftete sie bissig zurück.

Dariat sagte überhaupt nichts. Er war zu sehr damit beschäftigt, das erschöpfte Zittern seiner Beine zu kontrollieren. Die unbequeme Position, in der er sich befand, erzeugte Krämpfe in seinen Muskeln. Wie dumm für einen Geist, sagte er sich immer wieder.

Die Aufzugstüren glitten vorüber, blanke Silberpaneele, die mit einem Geflecht aus Führungsschienen und Aktuatoren am Polyp gehalten wurden. Dariat versuchte immer wieder, die sensitiven Zellen jedes einzelnen Stockwerks zu benutzen, während sie an den Vorhallen vorbeiglitten, doch das neurale Stratum war stark geschwächt von den Einflüssen des dunklen Kontinuums. Die Gedankenroutinen im Innern waren wirr und langsam und lieferten nur unzureichende Bilder von den dunklen Korridoren. Im einundzwanzigsten Stock gab es nicht einmal mehr Bilder. Ernste Sorgen stiegen in Dariat auf. Diese Beeinträchtigungen hier unten wurden eindeutig durch den Besucher verursacht. Er war beinahe wie eine Anti-Präsenz, die alles Leben und alle Wärme in sich aufsaugte wie ein verschwommener Ereignishorizont. Fremdartig in einem bis dahin unbekannten Extrem.

– Wir sind da, sagte Erentz und verlangsamte ihren Abstieg, bis sie auf gleicher Höhe waren mit den Türen zum Vestibül des zweiundzwanzigsten Stocks.

– Ich hätte auch nicht mehr viel länger durchgehalten, antwortete Dariat. – Meine Arme tun höllisch weh.

Erentz reagierte mit mildem Unglauben, doch sie verschonte ihn mit einem direkten Kommentar. Statt dessen fing sie an zu schaukeln, bis die pendelnden Bewegungen sie näher und näher an die Schachtwand führten. Schließlich bekam sie eine der Streben neben der Tür zu packen und hielt sich daran fest, bis ihre Füße auf dem Gehäuse des Türmotors Halt gefunden hatten. Die obere Schiene war mit einem Notschalter versehen, den sie um neunzig Grad drehte. Unter dem leisen Zischen komprimierter Luft glitt die Aufzugstür auf.

Mit einer Hand am Notgriff des Seils, schob sie sich über die untere Führungsschiene zur Tür und dann ins Innere des Vestibüls. – So weit, so gut, sagte sie zu der Habitat-Persönlichkeit und ihren Verwandten, die ausnahmslos über das Affinitätsband ihre Fortschritte verfolgten. Im Vestibül herrschte die gleiche Dunkelheit wie im Schacht. Selbst die Notlichter waren erloschen. Frost glitzerte überall dort, wo das Licht aus ihren Scheinwerfern hinfiel. Die Außensensoren ihres Thermoanzugs meldeten fünfzig Grad Celsius unter dem Gefrierpunkt. Bisher funktionierten die elektronischen Systeme mit nahezu operativer Effizienz.

Langsam hakte Erentz das Seil aus und sicherte es an einer Strebe unmittelbar hinter dem Türrahmen, wo es leicht erreichbar war, falls sie es eilig hatten. Gemeinsam mit Dariat betrachtete sie vermittels ihrer Affinität zur Habitat-Persönlichkeit den Grundriss der Etage; die ungefähre Position des Besuchers war als schwarzer Fleck eingezeichnet. Die Angabe war nicht sonderlich präzise, und beide wussten, dass der Besucher sich leicht zu einem anderen Ort bewegt haben konnte, ohne dass die Habitat-Persönlichkeit wegen der ausgefallenen BiTek-Sensoren und Elektronik etwas davon wusste.

Das war einer der Gründe, weshalb Rubra Dariat bei der Unternehmung dabeihaben wollte. Die Persönlichkeit wusste, dass Dariat von dem Besucher beeinträchtigt wurde, was bedeutete, dass er ihn vielleicht spüren konnte, wo Erentz in ihrem isolierten Thermoanzug nichts bemerkte. Wie das mit Theorien so ist: Inspirierend war sie bestimmt nicht. Die Persönlichkeit schätzte ihn nicht besonders und behandelte ihn fast wie ein Anhängsel von sich selbst, wie eine außerordentlich mobile Subroutine (oder ein Schoßtier, dachte Dariat mehr als einmal). Aber sie benötigten dringend quantifizierbare Daten über das dunkle Kontinuum, wenn sie eine Nachricht an die Konföderation abschicken wollten. Bis jetzt hatten die Sonden und Quantenanalyse-Sensoren so gut wie nichts erbracht. Der Besucher war die einzige Quelle von Fakten, die ihnen bis jetzt begegnet war. Und seine offensichtliche Fähigkeit, Energiezustände zu manipulieren, konnte sich als wertvoll erweisen.

»Das irdische Rezept für Omelette«, brummte Dariat leise. »Zuerst muss man ein paar Eier stehlen.«

– Los geht’s, sagte Erentz.

Sosehr Dariat sich auch bemühte, er fand keine richtige Furcht in Erentz’ Bewusstsein. Aufregung, ganz gewiss, aber sie war fest überzeugt, dass ihre Mission erfolgreich verlaufen würde.

Sie setzten sich durch das Vestibül hindurch in Bewegung, auf die Stelle zu, wo der Besucher stecken sollte. Fünfzehn Meter vom Aufzug entfernt hatte er ein gewaltiges Loch durch den Boden geschlagen. Es sah aus, als wäre eine Bombe detoniert und hätte die ordentlichen Schichten aus Polyp in einen Trümmerhaufen aus großen Brocken und pulverisiertem Gestein verwandelt. Nährflüssigkeit, Wasser und Schleim leckten aus zahlreichen durchtrennten Tubuli und über die Trümmer, bevor sie zu faltigen Zungen aus grauem Eis erstarrten. Dariat und Erentz blieben am Rand des Lochs stehen und starrten nach unten.

– Gegen dieses Ding haben wir nicht den Hauch einer Chance, sagte Dariat. – Heiliger Anstid, sieh dir nur an, wozu es imstande ist, wie unglaublich stark es ist! Die Polypwand ist über zwei Meter dick! Wir müssen von hier verschwinden.

– Beruhige dich, antwortete die Habitat-Persönlichkeit. – Wer hätte je gedacht, dass es ängstliche Geister gibt?

– Vielleicht bin ich ja der erste. Denk darüber, wie du willst, aber das hier ist Selbstmord.

– Physische Kraft allein war nicht der ausschlaggebende Faktor, stellte Erentz fest. – Der Besucher hatte Hilfe von der Kälte. Wenn man die Temperatur des Polypmaterials weit genug senkt, wird es brüchig wie Glas.

– Wirklich tröstend zu wissen, entgegnete Dariat beißend.

– Die Habitat-Persönlichkeit hat recht, wir sollten wegen dieses Loches hier nicht einfach fliehen. Es demonstriert lediglich, dass der Besucher Kälte auf die gleiche Weise einsetzt wie wir Wärme, sonst nichts. Würden wir durch eine Wand brechen wollen, würden wir sie mit Lasern oder einem Induktionsfeld erhitzen, bis ihre Struktur geschwächt ist. Das ist ein Beispiel für die Logik dieses Kontinuums: Es ist unglaublich schwer, genügend Wärme zu konzentrieren, um etwas zu erhitzen – also kommt das Gegenteil zum Einsatz.

– Aber wir wissen nicht, wie die Besucher es machen, entgegnete Dariat. – Also können wir uns auch nicht dagegen verteidigen.

– Dann müssen wir es eben herausfinden, sagte Erentz leichthin. – Und du wirst zugeben müssen, dass wir dieses Ding definitiv kommen hören, wenn es sich immer auf diese Weise fortbewegt.

Dariat fluchte unterdrückt, während Erentz sich einen Weg über den Trümmerhaufen suchte, der das Loch umgab. Jetzt wusste er, warum die Habitat-Persönlichkeit ausgerechnet Erentz für diese Aufgabe ausgewählt hatte. Sie besaß mehr leidenschaftlichen Optimismus als ein ganzes Geschwader von Testpiloten. Zögernd setzte er sich in Bewegung, um ihr zu folgen.

Der Boden wies tiefe Furchen auf, und der rote und grüne Teppich ringsum war in kleine Fetzen zerrissen. Der nackte Polyp darunter war mit kleinen Kratern übersät, die sich in einem triangularen Muster alle zwei Meter wiederholten. Dariat hatte keine Mühe, sich vorzustellen, dass es Klauenabdrücke waren. Der Besucher hatte sich mit Gewalt einen Weg durch das Vestibül gebahnt und Wände und Mobiliar ohne Unterschied unter sich zermalmt. Dann war er tiefer in das Innere des Sternenkratzers vorgedrungen. Nach der Habitat-Persönlichkeit zu urteilen, befand er sich unmittelbar vor dem zentralen Strang. Die Tür zu einem großen Appartement fehlte, zusammen mit einem beträchtlichen Stück der umgebenden Wand. Erentz blieb ein paar Meter vor dem Loch stehen und leuchtete mit ihren Scheinwerfern hinein.

– Das Vestibül auf der anderen Seite ist unbeschädigt, sagte sie schließlich. – Das Ding muss also irgendwo dort drin sein.

– Das denke ich auch.

– Bist du sicher?

– Ich bin ein Geist, kein Hellseher.

– Du weißt genau, was ich meine.

– Ja. Aber ich fühle mich im Augenblick ganz in Ordnung.

Erentz kniete nieder und begann, mitgebrachte Sensoren von ihrem Gürtel loszuhaken, um sie anschließend auf einen Teleskopstiel zu schrauben. – Ich möchte zuerst einen optischen und infraroten Scan durchführen, mit spektralen und Partikelinterpretationsprogrammen und ohne aktive Elemente.

– Versuch auch einen magnetischen Scan, schlug die Persönlichkeit vor.

Einverstanden. Erentz fügte einen weiteren Sensor zu dem kleinen Bündel am Ende der Stange hinzu, dann blickte sie sich zu Dariat um. – Alles in Ordnung?

Dariat nickte. Sie streckte den Stab vorsichtig aus. Dariat benutzte seine Affinität, um sich die Ergebnisse des BiTek-Prozessors, der die Sensoren steuerte, direkt übermitteln zu lassen. Er sah das bleiche Bild einer frostüberzogenen Wand vorbeigleiten. Es war überlagert von durchsichtigen farbigen Schichten, die in spektralen Mustern schimmerten – Resultate der Analyseprogramme, mit denen Dariat nicht das Geringste anfangen konnte. Er veränderte seinen Fokus und blendete alles bis auf die rohen visuellen und infraroten Daten aus dem Affinitätsband aus und beobachtete, wie der Rand des Lochs in der Wand vorüberglitt.

Dann nichts mehr. – Funktionieren die Sensoren noch?, fragte er.

– Ja. Aber dort drinnen gibt es absolut keine Strahlung. Kein Licht, kein Infrarot, überhaupt keine elektromagnetischen Emissionen. Das ist sehr eigenartig, die Wände sollten ein infrarotes Signal aussenden, ganz gleich, wie kalt sie sind. Es ist, als hätte der Besucher eine Art energetischer Barrikade über das Loch gelegt.

– Dann lass uns auf aktive Methoden umschalten, schlug Dariat vor. – Vielleicht Laserradar?

– Es wäre einfacher, wenn du einen Blick hineinwerfen könntest, meldete sich die Persönlichkeit zu Wort.

– Ganz bestimmt nicht! Du weißt schließlich nicht, ob es nur eine energetische Barrikade ist. Es könnte genauso gut der Besucher selbst sein, der sich hinter der Wand versteckt! – Wenn er so nah wäre, würdest du ihn ganz bestimmt spüren. – Auch das wissen wir nicht. – Hör endlich auf herumzuunken wie eine alte Frau, und steck deinen Kopf durch das Loch!

Erentz hatte den Teleskopstab bereits zurückgezogen. Von ihr konnte er keine Unterstützung erwarten.

Also gut, ich sehe nach. Das Gefühl war noch schlimmer als damals, als er in Anders Bospoorts Appartement die Selbstmordpille genommen hatte. Damals hatte er wenigstens eine halbwegs genaue Vorstellung von dem besessen, worauf er sich einließ. – Leuchte mit so viel Licht hierher, wie du nur kannst, sagte er zu Erentz.

Sie hakte die Sensoren wieder in ihren Gürtel, dann zog sie die Laserpistole und einen kleinen Leuchtraketenwerfer. – Ich bin so weit.

Beide gingen zur anderen Seite des Vestibüls, von wo aus Dariat einen besseren Winkel zur Annäherung hatte. Erentz richtete ihre Helmscheinwerfer auf das Loch, während er über den Boden darauf zu kroch. Es war nicht das Geringste zu erkennen.

Die Scheinwerfer hätten auch auf einen kalten Neutronenstern leuchten können, so wenig wurde von dem ausgesandten Licht reflektiert.

Dariat stand inzwischen genau gegenüber dem Loch in der Wand. – Scheiße. Vielleicht ist es ein Ereignishorizont. Ich kann nicht das Geringste sehen.

Es war, als wäre das Universum hinter dem Loch zu Ende. Ein unbehaglicher Gedanke angesichts der Lage, in der sie steckten.

– Dann gehen wir über zu Phase zwei, sagte Erentz. Sie brachte ihren Leuchtkugelwerfer in Anschlag und zielte damit auf das Loch. – Wollen doch mal sehen, ob wir damit mehr erkennen können.

– Vielleicht sollten wir nicht so voreilig handeln, sagte Dariat hastig.

– Meinetwegen, unterbrach die Habitat-Persönlichkeit beißend. – Und wenn du schon von draußen nichts erkennen kannst – warum gehst du nicht einfach hinein und siehst dich um?

– Ich meine ja nur, das ist alles. Es kann schließlich nicht schaden, vorsichtig zu sein.

– Wir haben jede Vorsichtsmaßnahme ergriffen, zu der wir in der Lage sind. Erentz, schieß die verdammte Leuchtkugel ab.

– Halt, warte! Dariat hatte eine Bewegung in dem Vorhang aus Schwärze entdeckt, kaum sichtbar, aber nichtsdestotrotz vorhanden. Schwache Schatten, die sich wellenförmig bewegten, eine oberflächliche Verzerrung von etwas, das sich tief im Innern rührte. Die Schwärze zog sich vor ihm mit der Trägheit einer einsetzenden Ebbe zurück, und die Ränder des Appartements wurden sichtbar.

Dariats Verstand spürte, wie Erentz den Finger um den Abzug krümmte. Und ihre unumstößliche Entschlossenheit, nicht ohne nützliche Informationen über den unheimlichen Besucher zurückzukehren.

– Nein, nicht …!

Die Leuchtkugel schoss durch das Vestibül, eine blendend helle Magnesiumsonne, die den Pseudovorhang über dem Loch durchdrang. Dariat blickte direkt in das zerstörte Appartement.

Es war paradox, doch die neue Stärke, die das Orgathé gefunden hatte, schwächte es in seiner Gesamtheit. Während es noch die Lebensenergie absorbierte, die in dem Strom von Flüssigkeit ruhte, stiegen seine einst stillen Rider aus ihrer Einheit. Es existierte nicht länger als Singleton. Das Kollektiv, aus dem sich das Orgathé ursprünglich gebildet hatte, stand im Begriff, sich zu trennen. Vorher hatten sie ihre schwachen Funken von Lebensenergie gebündelt, eine synergistische Kombination, die es ihnen ermöglicht hatte, aus der Melange zu fliegen. Gemeinsam waren sie stark gewesen. Jetzt gab es mehr als genug Lebensenergie, um die Individuen stark zu machen. Sie brauchten einander nicht mehr.

Physisch blieben sie am gleichen Ort. Es gab keinen Grund, sich zu bewegen, ganz im Gegenteil. Sie mussten bleiben und mehr und mehr von der Lebensenergie in sich aufnehmen, bis sie schließlich ihre Unabhängigkeit gewonnen hätten. Dieser ultimative Zustand war noch nicht erreicht, obwohl dazu nicht mehr viel fehlte. Bereits jetzt änderte sich die physikalische Komposition des Orgathé voller Erwartung jenes glorreichen Augenblicks. Im Innern hatte es längst begonnen, sich in einer Imitation biologischer Zellmultiplikation aufzuteilen, und jede einzelne Sektion nahm eine einzigartige Gestalt an. Das Orgathé war zum Schoß eines ganzen Dutzends verschiedener Spezies mutiert.

Dann spürte es, wie sich zwei Entitäten näherten. Ihre Lebensenergien brannten so schwach und waren zu unbedeutend, um eine aktive Intervention zu rechtfertigen. Der flüssige Vorrat an Lebensenergie war eine viel reichhaltigere Quelle als das Aussaugen individueller Wesenheiten. Das Orgathé zog einfach die Dunkelheit rings um sich zusammen und konsumierte weiter.