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Depression durch die Kraft der Imagination bewältigen

Der Autor

Helmut Kuntz ist Familientherapeut und Körpertherapeut. In seiner psychotherapeutischen Praxis nutzt er seit vielen Jahren imaginative Techniken, um Menschen zu helfen, sich von Depressionen, Sucht oder Ängsten zu befreien. Er ist Autor verschiedener psychologischer Fachbücher und Ratgeber. Im Beltz Verlag veröffentlichte er zuletzt Verstehen, was uns süchtig macht.

Kontaktadresse für Feedback, Fragen und Anregungen:

helmutm.kuntz@t-online.de

Fort- und Weiterbildungen, Seminare oder Workshops auf Anfrage, gerne auch in Ihrer Einrichtung, Stadt oder Region

Inhalt

Depression ist veränderbar

Im inneren Wartezustand

Ermutigung zur heilsamen Veränderung

Das Dunkel der Seele

Depression zwischen Krankheit und Gesundheit

Depression als Ver-Rücktheit des Zeitgeistes

Die Selbstzuschreibung: »Ich habe eine Depression«

Die Wiedererweckung zum Leben

Die wichtigen anderen

Der Extremfall: »Ich kann so nicht mehr leben«

Die Depression willkommen heißen

Die Kraft der Gedanken

Eine Alternative zu Antidepressiva

Der Depression eine Gestalt geben

Imaginationen sind so alt wie die Menschheit

Die Erweckung des Schöpfergeistes

Imagination ist keine Magie

Welche Voraussetzungen brauchen Sie?

Hinweis zum Download der Übungen

Das Setting zu Hause

Zum Lesen der Übungen

Mitgehen beim Hören der Übungen

Imaginationen in der psychotherapeutisch verbundenen Beziehung

Worauf sollten Sie achten, wenn Sie sich in Psychotherapie begeben?

Zurück in die Körpergefühle

Imagination: Zurück in den Körper über das Begreifen des Körpers

Positive Wirkungen

Imagination: Anfreunden mit Leib und Seele

Positive Wirkungen

Innere Aufrichtung: »Ich darf sein«

Positive Wirkungen

Sich für Transformationen öffnen

Stabilität und Sicherheit verinnerlichen

Positive Wirkungen des »sicheren Wohlfühlorts«

Positive Wirkungen beim Aufrufen und Einladen »hilfreicher Wesen«

Imagination: Mein Baum fürs Leben

Positive Wirkungen

Vom Sehnen und Bangen innerer Kinder

Erste Begegnungen mit dem »inneren Kind«

Trost für die eigenen depressiven inneren Kinder

Wer bin ich und wie viele und wie oft? – Die Ego-State-Theorie

Die Ego-States der depressiven Persönlichkeit

Die Seele ist ein Ort des Geschehens

… und kann ich nicht auch ein ganz anderer sein?

Das unverletzte »innere Kind«

Wenn das »innere Kind« zur Farce wird

Das »innere Kind« in der Imagination

Einladung zum eigenen Geburtstag

Positive Wirkungen

Hilfreiche Wesen im Einsatz

Imagination: Bündnis fürs Leben

Für kopfgesteuerte Zweifler und Skeptiker

Keine Scheu vor Schutzengeln, Elfen oder Drachentötern!

Vergebung und Versöhnung

Imagination: Die goldene Schale der Vergebung

Positive Wirkungen

Heilung und Wandlung

Gegenmotive zu Bildern der Depression

Zu Selbstmitgefühl und Selbstfürsorge finden

Imagination: Eine erhebende, heilsame Begegnung

Die Liebe ist eine Wahl

»Königsübung« zur Befreiung von Stress und schwarzen Gedanken

»Der König stirbt« – oder: Die Liebe ist eine Wahl

Übung: Sanft geborgen ins Abrahams Schoß – oder: Der Genuss bedingungsloser Liebe

Im Schoß der Gruppe

Übung: Das Herz-Resonanz-Karussell

Lösungs- und Zaubersätze

Wo Licht ist, kann noch Schatten sein, aber kein absolutes Dunkel mehr

Grundlos vergnügt

Literaturverzeichnis

Depression ist veränderbar

In unserem Gesundheitswesen wird die Depression wie selbstverständlich durch die psychiatrisch-klinische Brille betrachtet. Sie zählt in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD) zu den affektiven Störungen, also den Störungen, die die Gefühle betreffen, die inneren Stimmungen und Befindlichkeiten. Sprechen wir bildlicher auch davon, dass sie die Farben der Seele betreffen. Diagnostiker und Kliniker in der Psychiatrie gebrauchen den Begriff »Störung« gewohnheitsmäßig. Sie fragen eher selten exakt: »Wer oder was ist gestört? Ist der Mensch gestört? Ist das System gestört?« Und vor allem beschäftigen sie sich kaum noch ernsthaft mit den Fragen: »Was macht es mit einem Menschen, ihn als gestört zu bezeichnen? Und was macht es mit mir selbst?« Ich plädiere folglich gleich zu Anfang dafür, den unwürdigen Begriff »Störung« wegzudenken. Der Mensch, der an einer Depression leidet, leidet an Lebensschwierigkeiten, aber er ist nicht »gestört«, höchstens durch das Leben »verstört«.

Depressionen entwickeln sich auf dem Boden zahlreicher Ursachen und sie haben vielfältige Gesichter. Je nach Schweregrad der Symptomatik wird typischerweise unterschieden in leichte (F32.0), mittelgradige (F32.1) und schwere (F32.2) depressive Episoden. Neben den leichten, mittelgradigen und schweren depressiven Episoden werden noch sonstige (F.32.8) und nicht näher bezeichnete (F.32.9) depressive Episoden benannt. Dass depressive Menschen sich in der klinischen Diagnostik auf Ziffern reduziert sehen, beurteilen die einen pragmatisch, die anderen als Ausdruck einer entwürdigenden Gesundheitsökonomie.

Die Leitsymptome einer Depression gemäß Internationaler Klassifikation psychischer Störungen (ICD) sind immer gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit und eine Verminderung des inneren Antriebs zur Lebensteilhabe. Weitere häufige Symptome sind:

Außerhalb der ICD würde ich Angst- und vor allem Einsamkeits- und Schamgefühle hinzufügen sowie das umfassende Gefühl von Gequältsein. Es ist unerträglich wühlend und bohrend, kann dauerhaft dumpf oder mit heftigsten Spitzen erlitten werden.

Im inneren Wartezustand

Es erscheint auf den ersten Blick merkwürdig, die Depression »episodisch« zu nennen. Zwar werden viele Menschen in der Tat nur einmal in ihrer Lebensspanne von einem depressiven Leiden getroffen, das abklingt und ausheilt. Andere dagegen erleben tatsächlich ein Kommen und Gehen ihrer Symptome. Sofern eine Depression phasenweise kommt und wieder geht, sollte man annehmen dürfen, es gebe im Leben des betroffenen Menschen gute, verstehbare Gründe für eine derartige Episodenhaftigkeit. Doch längst nicht immer lässt sich das depressive Geschehen auf eine nachvollziehbare Erklärung zurückführen, schon gar nicht bei oberflächlichem Hinschauen, das nicht in die Tiefen der menschlichen Seele schaut. Eine Depression als »episodisch« zu diagnostizieren muss auch bei all den Menschen auf Unverständnis stoßen, die sich dauerhaft und chronisch in ihrer Depression befangen fühlen. Selbsthilfegruppen chronisch depressiver Menschen wissen ein Lied zu singen von ihrem Sich-nicht-gesehen-und-verstanden-Fühlen. Bildlich gesprochen können wir die Depression als einen inneren Wartezustand verstehen. Jede Depression wartet darauf, sich zu verpuppen.

Depressionen sind ein derart komplexes Geschehen, dass sie, sofern überhaupt, bestenfalls teilweise klinisch verstanden werden. Wenn man aber etwas nicht in Gänze verstehen kann, sollte man auch nicht vorgeben, es zu verstehen, und Annahmen und Spekulationen nicht zu Tatsachen erklären. Besonders die genetischen Ursachen der Depression sind fraglich. Selbst wenn sich Symptome wie Depression oder auch Sucht durch mehrere Generationen einer Familie ziehen, bedeutet das lange nicht, dass sie genetisch vererbt sind. Fühlt sich eine Familie jedoch dadurch getroffen, ist sie gut beraten, über die Mehrgenerationenfamilientherapie die Familie »lesen« zu lassen, um das Symptom als familiäres soziales Erbe günstigenfalls auflösen zu können.

Auch die Neurobiologie gibt bezüglich Depressionen ein vermeintlich gesichertes Wissen vor. Als gesichert gilt, dass bei depressiven Menschen immer eine gestörte Signalübertragung der Neurotransmitter, d. h. der Gehirnbotenstoffe Serotonin, Dopamin und Noradrenalin, eine Rolle spielt. Indes sind auch weitere Signalsysteme beteiligt, und ihre gegenseitigen Wechselwirkungen sind hochkomplex. Für Patienten problematisch wird dies spätestens dann, wenn sie diejenigen Medikamente verabreicht bekommen, die die Pharmaindustrie auf den Grundlagen neurobiologischer Forschung, aber ebenso eigener Geschäftsinteressen auf den Markt bringt. Wenn heute vorschnell Antidepressiva verordnet werden, ohne überhaupt die wirklichen Ursachen der Depression zu kennen, ist das mehr als problematisch.

Generell tun sich depressive Menschen einen ersten Gefallen, die Zuschreibung einer »Störung« weit von sich zu weisen und sich stattdessen auf einer symptomatischen, beschreibenden und bildlichen Ebene ihrer Depression zu nähern und sich verstehensorientiert mit ihr auseinanderzusetzen.

Ich ziehe es vor, keine Erwartungen mehr an Menschen oder an das Leben zu haben. Dann kann ich auch nicht mehr enttäuscht werden.

Hinter dieser Äußerung einer Klientin steckte eine geballte Depression. Viele Schatten auf ihrer Seele, zu viel Dunkel in ihrem Inneren vergällten ihr das Leben und zogen ihr die Lebenskraft wie Lebenslust ab. Selbst wenn ihr derart bitteres Fazit das in ihrer bisherigen Lebensspanne erlittene Ausmaß an realer Enttäuschung und Lebensverbitterung enthält, ist die gewachsene innere Einstellung immer noch veränderbar. Depression ist weder in ihrer klinisch-psychiatrischen Dimension noch in ihrer Dimension als verbreitete »Volkskrankheit« vor dem Hintergrund unseres Zeitgeistes ein unabwendbares Lebensschicksal. Nach vorn hin ist das Leben immer offen. Depression ist veränderbar. Das ist kein leeres Versprechen, sondern eine Tatsache, die Mut spenden kann. Vorherrschendes Dunkel oder gar Schwarz im inneren Erleben lässt sich aufhellen und mit Farben versehen. Manche »Aufhellung« einer tiefen Niedergeschlagenheit im Leben dürfen wir sicherlich vergleichen mit einer »Wiederauferstehung«.

Ermutigung zur heilsamen Veränderung

Viele Zeitgenossen durchleben und überstehen depressive Phasen in ihrem Leben. Aber nicht jede Niedergeschlagenheit oder Lebensverstimmung ist eine Depression. Doch gleichwie: Alle Menschen ohne Ausnahme haben gemäß ihrem menschlichen Geburtsrecht auf Lebensteilhabe die berechtigte Aussicht, auch freudvolle Erfahrungen im Leben machen zu dürfen. Alle verspüren die eine oder andere Erwartung an das Leben, im Größeren wie im Kleineren. Sie, der oder die Sie als interessierter Leser oder abwägende Leserin gerade dieses Buch in Händen halten, dürfen daher auch Erwartungen an seinen Inhalt haben. Was wird Sie im Innenleben von Depression durch die Kraft der Imagination bewältigen erwarten? Nun, eine bekömmliche Mischung aus viel Neuem und manchem Ihnen vielleicht Vertrautem in verändertem Gewand. In jedem Fall kein theoretisches Fachbuch über Depression in gedrechselter Wissenschaftsdiktion, selbst wenn ich Ihnen manch notwendigen Hintergrund nahebringen werde, sondern ein höchst praktisches Methodenbuch in verständlicher Sprache.

Sie können das Buch auf unterschiedliche Art und Weise lesen. Entweder von außen, aus einer quasi distanzierten Beobachterposition, wie sie beim Lesen möglich ist. Sie können aber auch direkt zu Anfang mit einer kleinen spielerischen Imagination einsteigen. Sollte sie bei Ihnen auf wenig Resonanz stoßen, weil ihr Abstraktionsgrad zu hoch ist, seien Sie versichert: Sobald es um heilsame Imaginationen geht, wird es handfest und konkret.

Stellen Sie sich ohne weitere Hintergedanken versuchsweise vor, wie sich auf der gerade aktuellen Seite eine kleine Tür auftut, durch die Sie als Leser oder Leserin in die Buchstabenwelt des Buches hineintreten. In Ihrer Vorstellung können Sie sich beim Eintreten mühelos auf die Größe eines winzigen Däumlings schrumpfen, sodass Sie sich zwischen den Lettern, den Seiten, den Imaginationen und Inhalten des Buches tummeln können, wie es Ihnen gerade beliebt. Während Sie lesen, können Sie so gleichzeitig mitten im Wortgeschehen drin sein. Sie können in Ihrer Vorstellung wie im realen Vollzug des Lesens zwischen den Ebenen hin und her wechseln. Im einen Moment können Sie distanziert lesend beobachten, im nächsten Augenblick wechseln Sie in die Buchstabenwelt hinein, befinden sich wieder mittendrin. Während Sie lesend dem Text einer Imagination folgen, imaginieren Sie den Tagtraum gleichzeitig parallel mit und bewegen sich in einer völlig eigenen, von Ihnen selbst gestalteten Vorstellungswelt. Treten Sie wieder hinaus, sehen Sie sich an einer nächsten Stelle wieder unmittelbar in die Seiten des Buches hineingezogen und zur Eigenaktivität animiert. Über zusätzliche Audiodateien (siehe S. 80) können Sie sogar die Sinnesmodalität wechseln, um Ihre Vorstellungswelten aufzusuchen, um anschließend wieder in die Realwelt zu wechseln.

Dieses kleine Gedankenspiel ist zum einen ein kleiner Vorgriff auf die Wirkungsprinzipien und die Ebenenwechsel, auf denen das Arbeiten mit imaginativen Techniken in Selbsthilfe wie Psychotherapie beruht. Zum anderen weise ich damit gleich zu Anfang darauf hin, dass ich Sie als Leser und Leserin direkt ansprechen und Sie als Mitakteure in das inhaltliche Geschehen des Buches mit einbeziehen werde. Insofern werde ich das Buch auch aus zwei parallel laufenden Perspektiven schreiben: Aus einer Innenperspektive mit Blickrichtung auf Sie selbst als Realperson und aus einer Außenperspektive mit Blickrichtung auf meine Klienten oder Patientinnen, denen ich eine Stimme gebe, damit sie Ihnen etwas Hilfreiches sagen können. Für alle gilt ohne Ausnahme: Hüten wir uns tunlichst davor, uns selbst als Menschen aus Fleisch und Blut zu vergessen, damit uns nicht widerfährt, was gelegentlich Ratsuchende traurig äußern: »Ich komme in meinem eigenen Leben nicht mehr vor.« Wer in seinem Leben nicht mehr vorkommt, kann eigentlich nur depressiv reagieren – und damit instinktiv gesund.

Um dem vorzubeugen sowie um depressiven Anteilen wieder Leben einzuhauchen, bekommen Sie die beschriebenen Methoden zur Eigenanwendung an die Hand. Dies gilt auch für die Ihnen ans Herz gelegten Übungen, bei denen Sie sich vielleicht fragen, ob ich mit deren Vorstellung nicht aus der inneren Logik des imaginativen Arbeitens heraustrete. Ich gedenke nämlich ein paar Mischmethoden anzubieten, die das rein imaginative Arbeiten weiten und um berührende und inszenierende Elemente ergänzen. In der Logik des Vorgehens fokussiere ich damit verstärkt auf den Leib und Seele berührenden Handlungsteil der imaginativen Heilverfahren. Zwar braucht es für diese sehr wirkmächtigen Methoden ein verbundenes Gegenüber, aber bei bestimmten Qualitäten innerer Erlebniszustände empfehle ich Ihnen ausdrücklich die Vervollständigung der eigenverantwortlichen Anwendung imaginativer Verfahren durch Psychotherapie im besten Sinne.

Nichtsdestotrotz versteht sich das Buch als eine einzige Ermunterung wie Ermutigung zum eigenen Arbeiten mit dem wertvollen Schatz eines imaginativen Methodenrepertoires, das depressiven Menschen wieder Lebensmut einflößen mag. Nach der den Boden bereitenden Theorie widme ich den größten Teil des Buches dem praktischen Umgang mit imaginativen Methoden. Ausgehend vom Primat des Leiblichen und der häufigen »Verkörperung« des depressiven Erlebens in physischen Symptomen stelle ich zuerst die positiven Wirkungen zweier körperbezogener Basisimaginationen vor (S. 91–108). Anschließend mache ich Ihnen Vorschläge für ein hilfreiches Grundrepertoire ausgesucht wirksamer Imaginationen (S. 109–136), die ich als persönlichen Fundus privat wie beruflich nie wieder missen möchte. Wer selbst bereits Eigenerfahrungen mit Imaginationen gesammelt hat, wird in diesen Kapiteln womöglich Vertrautes wiederfinden. Gleichzeitig winkt Neues, weil ich das Bewährte in neuen Gewändern präsentiere.

Anschließend werde ich »innere Kinder« die Bühne betreten und ihnen Gerechtigkeit angedeihen lassen (S. 137–160), vorrangig natürlich den traurigen oder depressiven. In diesem Zusammenhang erfahren Sie auch mehr über das »Elternkonzept« der »inneren Kinder« – die »Ego-States« (S. 148–155), als lebendige Bausteine des Selbst. Das Wissen über das Wirken von Ego-States oder auch Schemata ist Ihnen unmittelbar nützlich. Wer seine depressiven Anteile und ihre Ego-States identifizieren kann, hat größere Chancen, sie zu verändern. Zudem sieht er sich augenblicklich zweier fatalistischer Selbstdefinitionen enthoben: »Ich bin depressiv« oder »Ich habe eine Depression«. Jeder unter Depressionen leidende Mensch ist als Mensch wesentlich mehr als seine depressiven Anteile.

Das spielerische Kombinieren verschiedener Imaginationen eröffnet die Kreativabteilung, in der Sie sich »hilfreiche Wesen« an die Seite holen und auf ihren Einsatz einstimmen (S. 179–191). Zur Kreativabteilung zählen weiterhin etliche imaginative »Kompositionen«. Es handelt sich um längere geführte Tagtraumreisen. Bei der ebenso bewusst wie absichtsvoll komponierten Imagination: »Die Quelle der Wandlung und Heilung«, die wie eine Heilmeditation zu wirken vermag, gehe ich ausführlich auf die verwendeten Motive ein und komplettiere sie mit zusätzlichen Übungsvorschlägen (S. 206–236).

In ebenso nachdenklichen wie methodisch konkreten Variationen zum Thema »Zu Mitgefühl und Selbstfürsorge finden« lasse ich dann die Poesie im privaten Leben Einzug halten und gebe ein paar »Rezepte« zur antidepressiven Selbstkultur (S. 237–254). Vorschläge für kleinere »Lösungs- und Zaubersätze« vervollkommnen das erfolgreich erprobte Methodenrepertoire. Die letzte und potenziell heilsamste Imagination in diesem Buch ist eine hoch dosierte Übung in »Licht und Liebe«, die eine Herausforderung für jedes verengte Welt- und Menschenbild ist (S. 293–298).

Im laufenden Text des Buches werden Sie immer wieder Vor-, Quer- und Rückverweise finden. Außerdem folgt das Buch in Analogie zu manch geführter Imagination einem kompositorischen Prinzip, wenn ich über manche Ausflüge und Variationen bestimmte Themen vertiefe, damit sie auch vom denkenden Kopf ins erlebende Gefühl einwandern können.

Eine meiner aktuellen Patientinnen, eine äußerst kluge, aber an Depressionen leidende Studentin, hat für sich herausgefunden, dass »mich mein ganzes verkopftes Denken in meinen Depressionen gefangen hält. Es geht mir augenblicklich besser, und ich kann auch meinen Stress lindern, indem ich Primärerfahrungen aufsuche, das heißt Tasten, Sehen, Riechen, Hören, Fühlen. Ich habe manchmal das Gefühl, mit meinen Augen Farben trinken zu können«.

Folgen Sie ihr: Trinken Sie Farben mit Ihren Augen. Die mit dem Buch intendierte Ermunterung und Ermutigung zur heilsamen Veränderung mittels imaginativer und verwandter Verfahren ist eine (Teil-)Antwort auf die ebenso menschliche wie methodische Frage, wie wir uns selbst als die Menschen, die wir sind, mit »heilsamen Bildern« hilfreich zur Seite stehen können. Entweder damit wir gar nicht erst Schaden erleiden oder damit es uns vergönnt sei, dass eine an Körper, Geist und Seele erlittene Wunde wieder zu gesunden vermag. Es ist mir dabei ein besonderes Anliegen, den Raum des Üblichen, Gewohnten oder Vertrauten zu weiten. Zum einen meine ich den eigen- wie psychotherapeutisch verbundenen Raum, dessen Grenzen ich ganz konkret mit der Einführung und der Zur-Verfügung-Stellung weniger verbreiteter imaginativer Methoden verschiebe. Zum anderen meine ich unsere gewohnte Alltagssprache, wenn wir vom Menschen, insbesondere von uns selbst, von unserem lebendigen Sein, unserer Persönlichkeit, unseren Krankheiten, unseren Verletzungen, unseren Störungen, unseren Gefühlen, unseren Sehnsüchten, unserer Seele sprechen. Es wäre schön, wir würden die uns selbst und unsere Mitmenschen behindernden Beschränktheiten eines weitverbreiteten rationalen Menschen- und Weltbildes überschreiten.

In meiner therapeutischen Arbeit mit meinen Klienten und Patientinnen gelingt es mir, mit ihnen zusammen für viele Schwierigkeiten eine ihre Lebensführung positiv beeinflussende Lösung zu finden. Einem leidigen Problem der deutschen Sprache stehe ich als Autor dagegen kopfschüttelnd und ohne zufriedenstellende Lösung gegenüber. Um die Leser und Leserinnen meines Buches gleichermaßen gerecht anzusprechen, bietet die Schriftsprache nur notdürftige Halbheiten an. Das deutsche Dilemma der Gleichberechtigung lässt sich aber nicht über Halbheiten lösen. In diesem Buch behelfe ich mir also durch Kompromisse, und soweit möglich spreche ich allgemein von »Menschen«. Halten Sie sich immer wieder vor Augen, dass es bei aller Kompromissbildung ausschließlich um das Wichtigste geht: um Sie als den Menschen, der Sie in dieser Welt sind.

Um den Lesefluss nicht zu stören, arbeite ich im Text ohne Anmerkungen. Bei der Zitierung anderer Werke verweise ich in Klammern auf die Autoren und Autorinnen sowie das Erscheinungsjahr des entsprechenden Werkes. Auf die Angabe der Seitenzahl erlaube ich mir zu verzichten. Der Redlichkeit im Umgang mit Quellen tut das in meinen Augen keinen Abbruch. Ein großer Zitierkanon eines »Who is who« ist ohnehin nicht im Sinne dieses Buches.

Von innen kommenden Dank und Respekt bringe ich meinen Klienten und Patientinnen entgegen, die ein hohes Maß an Vertrauen und Hoffnung in die gemeinsame Arbeit setzen. Es ist immer eine leise Freude, »heilsame Bilder« aufzuspüren und deren Veränderungspotenzial bezeugen zu dürfen. Außerdem stellen mir meine Klienten, Patientinnen, Kurs-, Seminar- und Gruppenteilnehmer über die Jahre hinweg so viele interessante »hilfreiche Wesen« vor, dass ihre Vorstellungskraft immer wieder zu neuen, überraschenden Bekanntschaften führt. Löst sich in anstrengenden Momenten der therapeutischen Beziehungsarbeit ein Knoten, weil »heilsame Bilder« oder »Licht« und »Liebe« ihre mächtige Wirkung entfalten, ist das jedes Mal eine schöne Bestätigung für den Erfindungsreichtum der menschlichen Seele und für die Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit. Diese zwischenmenschlich geteilten Erfahrungen mit den Menschen, den Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Männern und Frauen, mit denen sich mein Weg als Realperson und Therapeut kreuzt, gehören zu den bereicherndsten immateriellen Gratifikationen meiner Profession. Sie helfen auf schöne Art und Weise den Glauben an das »Prinzip Menschlichkeit« zu bewahren oder ihn in besonders dunklen Stunden neu auferstehen zu lassen.

Das Dunkel der Seele

Zwei Stimmen, ein Tenor: Hoffnung

Ich sitze tief im Loch. In mir ist alles dunkel. Und es ist kalt. Aber irgendwo muss es doch noch einen Funken Licht geben.

Wenn Herzen sich verschließen, dann ist das nicht von Dauer. Es ist eine Frage der Zeit. Diese Zeit ist abhängig vom Groll oder von der Verletzung, die diesem Herzen innewohnen.

Die Depression ist eine der Sprachen der Seele oder eine Form, in der sich die menschliche Seele ausdrücken kann. Bildlich findet sich ein depressiver Mensch daher leicht in Edvard Munchs weltberühmtem Bild »Der Schrei« wieder. Die depressive Seele ruft aus innerster Not, doch kann der Schrei lautlos und für andere unhörbar sein. Der Schrei kann auch in der Kehle eines Menschen festsitzen und sich dort als immerwährendes Kloßgefühl bemerkbar machen.

Eine Depression legt tiefes Dunkel auf die Seele. Insofern ist die Farbe der Depression meistens Schwarz und ihr Geschmack bitter. Fleht, ruft und schreit die Seele eines depressiven Menschen, ist es die Aufforderung, hinzuschauen, hinzufühlen, die Ursachen der depressiven Verstimmung zu verstehen und sie anzuerkennen. Lebenswahrheiten gelten lassen verhilft der Seele und dem Menschen zu ihrem Recht, um letztlich die Depression als Reaktion entbehrlich zu machen, sie zu heilen. Dabei glimmt in jedem sich depressiv quälenden Menschen ein überlebensfähiger Funke nie versiegender Hoffnung, es möge ein Weg aus dem Dunkel zurück ins Licht des Lebens führen.

Der depressive Mensch erleidet ein Verblassen seiner Gefühle, sie können sogar gänzlich eingefroren werden. Nicht, dass der Depressive keine Gefühle hätte. Er kann ursprünglich sogar zu viele, zu intensive, zu tiefe Gefühle verspüren. Er könnte regelrecht in seinen eigenen Gefühlstiefen ertrinken. Da seine Gefühle aber zu selten auf stimmige Resonanz treffen, sind sie letztlich nicht aushaltbar. Der Depressive lernt, seine Gefühle einzugrenzen, in die hintersten Kammern seiner Seele zu verbannen. Letztlich fühlt er sich veranlasst, nicht mehr wirklich zu spüren. Seine ehemals lebendige innere Welt wird farblos und eintönig. Statt »begeistert« ist der Depressive »entgeistert«. Er denkt und spürt nur noch in eine Richtung: in die Negativität hinein. Die Negativität und Entwertung umfassen sein gesamtes Wesen. Vielfach geäußerte Selbstüberzeugungen lauten:

Ich stimme nicht.

Mit mir stimmt was nicht.

An mir ist nichts Gutes.

Ich bin nie, wie ich sein soll.

Niemand mag mich, mich kann man gar nicht mögen.

Ich bin voller Scham und Schuld.

Ich weiß nie, wo ich hin gehöre. Ich fühle mich nirgends zugehörig.

Die anderen finden mich ohnehin alle so komisch.

Am besten gäbe es mich gar nicht. Und wenn ich gehe, sind die anderen wenigstens von mir befreit.

Der depressive Mensch entwertet aber nicht bloß sich selbst, sondern er katastrophisiert das Leben als solches:

Für mich hat alles keinen Sinn mehr.

Das Leben ist aussichtslos für mich, ich hatte eh nie eine wirkliche Chance.

Ich werde nie wieder froh sein können.

Das Schöne im Leben, alle Freude, alle Leichtigkeit, alles Bunte und jede Verbundenheit werden eingegrenzt, eingemauert, erdrückt. Das Negative, Bedrückende, Bedrohliche, Verlustängste und Einsamkeit dagegen gewinnen immer stärker an Boden und verselbstständigen sich in fortdauernden Denkschleifen. Mit wachsender Depression können sogar diese letzten freudlosen, negativen Gefühle noch ersterben und der Depressive fühlt ausschließlich noch einen vermeintlich gefühllosen Zustand. Da er in diesem Zustand für seine Nächsten und seine Umwelt bei aller Liebe kaum noch zu ertragen ist, verselbstständigt sich auch seine soziale Isolation. Zudem stellen sich unter Umständen immer mehr körperliche Begleiterscheinungen der Depression ein, die das Leiden weiter verschlimmern: Schwindelgefühle, motorische Unruhe, Schlaflosigkeit, Magen- und Darmbeschwerden, Ohrgeräusche, Potenzschwierigkeiten und vieles mehr. Und alles zusammengenommen ist immer noch bloß die halbe Welt des depressiven Menschen. Da erscheint es wie ein unerfüllbarer Anspruch, dass ein depressiver Mensch sich die Zuversicht bewahren soll, er könne aus seiner Düsternis der Seele wieder herausfinden. Eine stellvertretende Zuversicht von außen vermag unterstützend zu wirken, wenn der eigene Glaube auf arg wackligen Füßen steht. War es noch so düstere Nacht in ihr, bewahrte sich die Dichterin Mascha Kaléko unentwegt den Glauben: »Die Nacht, in der das Fürchten wohnt, hat auch die Sterne und den Mond.«

Depression zwischen Krankheit und Gesundheit

Die Depression wird wegen ihrer sprunghaften Verbreitung in Presse und Medien immer öfter als die »Volkskrankheit Nummer eins« tituliert. Niemand sei gefeit davor, in seinem Leben einmal von einer Depression heimgesucht zu werden. Hilft es dem Depressiven, wenn ihm eine definierte Krankheit zugeschrieben wird, wenn er sich ob dieser Zuschreibung letztlich selbst als »krank« versteht? Oder ermutigt es ihn eher, seine Depression als gesunde Reaktion auf krank machende Umstände und Lebenserfahrungen zu verstehen?

Ich arbeite mit meinen depressiven Klienten und Patientinnen am liebsten, ohne den Krankheitsbegriff zu bemühen. Ich ermuntere sie vielmehr, nach den gesunden Anteilen ihrer depressiven Reaktion zu suchen, und unterstütze sie in diesem Prozess des Verstehenwollens. Auch Selbsthilfegruppen depressiver Menschen wehren sich gegen die Zu- und vor allem Festschreibung ihres Leidens als Krankheit. Eine erste wichtige Verständigung lautet folglich: Depression ist keine Krankheit. Nennen wir sie lieber neutral eine Seinsweise der Seele. Dieser Sichtweise zuzustimmen bedeutet nicht Verharmlosung. Depressive Zustände machen Menschen leiden. Und leiden ist Leiden. Die Depression mit ihren Folgen ist ein seelisches und bisweilen auch körperliches Leiden mit Krankheitswert. Diese nicht klinisch geprägte Sicht vertritt auch der Schweizer Psychotherapeut Josef Giger-Bütler (2012).

Für Giger-Bütler ist die Depression ein »Geschehen«. Es »geschehen« das Erlernen und Erwerben einer depressiven reaktiven Entwicklung auf Lebensumstände, die keinen anderen erkennbaren Ausweg offen lassen. Der Schlüssel zum Verständnis der depressiven Entwicklung liegt im Verstehen des »Geschehenen« und »Geschehenden«. Die frühen Ursachen einer jeden Depression sieht Giger-Bütler in der frühen Kindheit von Menschen, in der sie ihre depressiven Reaktionsmuster ausbilden. Ich sehe allerdings auch depressive Menschen, bei denen ich weniger eine früh angelegte Reaktionsbereitschaft ausmachen kann als ein aktuelles Geschehen in einem erwachsenen Hier und Jetzt, das aber ihre bis dahin ausgeprägten Lebensbewältigungsmechanismen überfordert.

Das Krankheitsbild der Depression ist vor allem ein innerer Erschöpfungszustand aufgrund fortdauernder Überforderung. Die Überforderung ist das Grundverhalten des Depressiven. Leitsymptome wie Freud- und Perspektivlosigkeit, Mutlosigkeit, Antriebsarmut, Rückzug, Zweifel an sich selbst, den Menschen und dem Leben sind nicht primäre Kennzeichen einer Depression, sondern logische Folge der inneren Erschöpfung und Überforderung durch vergangene oder aktuelle Lebensumstände. Auf den Punkt gebracht ist Depression ein Minus an Lebenskraft.

Depressiv gestimmte Menschen zeigen Verhaltensmuster und Schemata, die sie so und nicht anders auf ihrer inneren Landkarte angelegt haben. Einmal eine depressive Entwicklung angebahnt, haben sie an allen Weggabelungen ihres Lebens die depressive Richtung genommen und darüber die depressiven Muster verhärtet. Ohne erlernte, antrainierte oder als »Intropression« in sie hineinversenkte depressive Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster reagieren Menschen nicht depressiv niedergedrückt. In Anlehnung an Giger-Bütler halten wir fest:

Die depressive Entwicklung ist eine Persönlichkeitsentwicklung und eine Persönlichkeitsentwicklung ist kein pathologischer, krankhafter Zustand und schon gar keine festgeschriebene psychische »Störung«.

Die depressive Entwicklung prägt die depressive Persönlichkeit, und nicht: Ein bestimmter Persönlichkeitstypus entwickelt aus sich heraus eine »affektive Störung« im Sinne depressiven Verhaltens.

Es gibt keine Depression ohne Ursache und ohne ursprünglich gesundes Antwortverhalten. Die Depression ist immer verstehbar mit der Lebensgeschichte und den Lebensumständen des Betroffenen verbunden.

Vorherrschende Leit- wie Leidsymptome sind erst vor dem Hintergrund einer depressiven Entwicklung Symptome eines depressiven Geschehens.

Gelingt es depressiven Menschen, Verständnis für ihre depressive Entwicklung aufzubringen, können sie sich als die Menschen, die sie sind, mehr wohlwollendes Verständnis entgegenbringen. Mündet Verständnis für sich selbst in wahres Mitgefühl für sich selbst, ist das ein wesentlicher Schritt heraus aus dem depressiven Kreislauf. Sobald Menschen sich in ihrem Denken, Fühlen und Handeln besser verstehen lernen, brauchen sie sich selbst nicht mehr anzuklagen oder gar anzugreifen: »Ich verstehe gar nicht, weshalb es mir schon jahrelang so schlecht geht. Ich hab doch keinen Grund dafür«, oder: »Wie schlecht darf es mir eigentlich gehen? Stimmt etwas nicht mit mir?« Selbstzweifel und Selbstangriffe sind ein Dünger, der jede Depression weiterwuchern lässt. Die guten Gründe anzuschauen, weshalb Menschen in ihrem Leben depressiv reagiert haben, entlässt sie aus der Schuld- und Schamfalle.

Wer seine Depression als aus der Not geborenen Rückzug aus dem Leben begreift, als chronische Überforderung, die Herausforderungen des Lebens anders und stimmiger zu bewältigen, als inneren Erschöpfungszustand infolge chronischen seelischen Stresses, kann innehalten. Er oder sie mag zwar zu Anfang weiterhin das Gefühl haben: »Ich komme in meinem eigenen Leben gar nicht mehr vor«, aber Innehalten kann der Anfang eines tief greifenden Umlernens sein. Die Erkenntnis kann reifen und greifen: »Um in meinem Leben wieder vorzukommen, muss ich mich neu kennenlernen und damit fange ich jetzt an.« Was lange depressiv gewachsen ist, lässt sich nicht von heute auf morgen umpolen und heilen. Depressive Menschen profitieren von der Ermunterung und Erlaubnis, sich für ihren Neuorientierungsprozess die Zeit zu gönnen, die sie persönlich brauchen. In ihrem Rhythmus gehen sie ihr Tempo. Sie müssen von Grund auf lernen, sich ihren eigenen berechtigten menschlichen Wert beizumessen, Sorge für sich und ihr Wohlergehen zu tragen, weil sie sich das wert sind, weil sie ihr einzigartiges Leben zu schätzen wissen. Sie müssen Selbstakzeptanz und Selbstliebe in sich wachsen lassen, um neu einschätzen zu dürfen, was für sie gut und richtig ist, was gut verträgliche, förderliche Seelennahrung sein kann und dass sie ein Geburtsrecht auf ihre Gefühle haben. Wer sich kennenlernt, findet Heimat und Frieden in sich. Beides ist das Gegenteil der depressiven Verlorenheit.

Ist das schrittweise Voranschreiten auf einem Weg in eine Depression ein Sich-selbst-Aufgeben, ein Sich-aus-den-Augen-Verlieren, ein Sichentfremden von den eigenen Gefühlen, ein Unsichtbarwerden, so ist der Rückweg aus der Depression ein Zurück ins gelebte Leben mit allen Chancen wie einschätzbaren Risiken. Ein solcher Weg ist mit Tränen wie Freude verbunden. Mit den fließenden Tränen, die – ganz wichtig – keine einsam geweinten Tränen mehr sein sollten, beginnt die Seele aufzuatmen und zu gesunden.

Depression als Ver-Rücktheit des Zeitgeistes

Wer an Depressionen leidet, leidet. Da kann es zumindest in Grenzen entlasten, sich zu vergegenwärtigen: »Ich teile mein Leiden mit ganz vielen anderen Menschen, denen es ähnlich geht wie mir.« Weiterhin hilft es, zu verstehen: »Ich bin nicht persönlich schuld, dass ich depressiv geworden bin. Die Depression ist mir eher angetan worden, und ich wusste mir nicht anders zu helfen.« Außerdem nützt noch das Verständnis für die merkwürdige Tatsache, dass die Depression in ihrem epidemisch um sich greifenden Auftreten vorwiegend eine »Erkrankung« in den industrialisierten Ländern westlicher Prägung samt deren Postmoralität ist. Nicht die Menschen sind krank, sondern die Lebensumstände machen sie krank. Die Depression ist die seelische Verstimmung, die am deutlichsten der Ver-Rücktheit unseres Zeitgeistes geschuldet ist. Systemisch gesehen ist die Depression ein Spiegelbild der Globalisierung. Die von ihr geschaffenen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen wie psychosozialen Lebensbedingungen ziehen viele Menschen in den depressiven Abgrund. Wir erleben kollektiv eine Abwärtsbewegung. So verstanden ist die Depression die Todsünde der Moderne. Und wie verräterisch passend ist es doch, dass auch eine wirtschaftliche Abwärtsbewegung eine »Depression« genannt wird.

Wie sollen Menschen gesund bleiben können, wenn ihre primären Bedürfnisse nach Zuwendung, Sicherheit, Unversehrtheit, Lebensteilhabe immer weniger erfüllt werden, weil nur noch Geld und Wachstum zählen? Angesichts weltweiter Konflikte, Kriege, Gefährdungslagen, Finanzdauerkrisen, Armut, Flüchtlingsströme, Arbeitsplatzsorgen, Umweltrisiken braucht es für eine seelische Balance ein derart hohes Ausmaß an innerer Widerstandskraft und Lebenskompetenzen, dass zunehmend mehr Menschen dies nicht mehr zu entwickeln in der Lage sind. Das angesagte Fachwort für diese gesteigerte Widerstandskraft ist »Resilienz«. Da grenzt es an puren Zynismus, depressiv reagierende Menschen als seelisch »gestört« zu diagnostizieren. Weniger die einzelnen Menschen bräuchten eine Therapie, um wieder zu funktionieren, sondern das sie krank machende System benötigte eine ganzheitliche Radikalkur zu seiner menschenfreundlichen Gesundung. Die einzig logische Frage zur Vorbeugung und Verhinderung der Depression müsste folglich in Anlehnung an den Philosophen Theodor W. Adorno lauten: »Wie können wir ein richtiges Leben im Falschen führen?« Die Frage ist sogar therapierelevant. Denn da wir die Gesellschaft und das Gemeinwesen nicht therapieren können, sondern immer bloß Menschen als Einzelwesen, bedeutet Behandlung, ihnen realistische Wege zu eröffnen, innerhalb des Systems die positiven Seiten ihres Lebens zu entdecken. Es braucht bessere Gründe für Lebensteilhabe als »gute Gründe« für den reaktiven Rückzug aus dem Leben in die Depression.

Die Selbstzuschreibung: »Ich habe eine Depression«

In der Eigenwahrnehmung von Menschen macht es einen Unterschied, wie sie von ihrer Depression sprechen. »Ich bin depressiv« lässt von vornherein den Raum offen für ein Verständnis des prozessorientierten Geschehens. »Ich habe eine Depression« verweist dagegen auf eine innere Fixierung. Allerdings ist eine Versteifung auf »Ich habe eine Depression« bereits reaktiver Ausdruck des depressiven Geschehens. Kaum jemand hat das während meiner langen Praxisjahre derart pointiert beschrieben wie eine depressive Studentin, aus deren Therapietagebuch ich ihre Selbstzuschreibungen zitieren darf. Ihr benanntes Hauptproblem war ihre »emotionale Betäubung«, das innere Eingefrorensein. Über den kalten Schmerz des Nichtfühlens schreibt sie: »Ich bin am Nordpol aufgewachsen. Und ich habe erst mit 22 realisiert, dass es Gefühle ›gibt‹, dass man über sie redet, dass sie real sind.« Nur bei »Kontakt zu einer Emotionsquelle breche ich auf und merke, was mir fehlt«. »Selbstwert« und »Selbstliebe« waren der jungen Frau während einer langen Lebensspanne Worthülsen ohne Bezug zu ihr. So quält sie sich Tag für Tag mit Selbstzweifeln:

In mir ist offenbar eine Art Loch, das erklärt, warum ich in Aktivitäten teils versinke … Ich bin dann »ausgefüllt«. Das ist nicht unbedingt schlecht. Sondern es ist schlecht, dass ich mein Seelenheil ständig im Außen suche. In Aktivitäten, in Menschen, im Wetter, im Essen usw. – Hauptsache, es ist draußen und »füllt mich«? Aber ein richtig schönes Leben ist das doch nicht. Irgendwas muss in meine Seele ›rein‹. Bin ich zu einsam? Oder innerlich einfach leer? Was genau fehlt mir? Ich fühle mich ständig schuldig, als hätte ich was falsch gemacht. Ich bin nie, wie ich sein soll.

Hinter der emotionalen Betäubung spürt sie eine noch größere Gefahr lauern, die vielen depressiven Menschen besser vertraut ist, als ihnen lieb sein kann:

Ich hatte mittags eine kleine Erleuchtung: Ich werde nervös, wenn ich mich nicht spüre. Weil ich innerlich betäubt bin, deswegen suche ich auch in der äußeren Welt Reize, die eine Lebendigkeit vermitteln. Dazu scheint nun ein weiterer Teil dazugekommen zu sein: nicht nur Betäubung, sondern so eine Art unterschwellige Existenzangst. Das Sich-nicht-Spüren ist etwas äußerst Existenzielles und wirkt (mal wieder) so, als stamme es aus meiner frühen Kindheit.

Jede Depression kann die Betroffenen an ihrer fraglosen Existenzberechtigung zweifeln und verzweifeln lassen, an ihrem Geburtsrecht folglich. Wer soll das aushalten können?

In der Einschätzung ihres depressiven Innenlebens kam der Klientin lebensrettend ihre ausgeprägte Selbstreflexivität zugute. Sie verstand, anscheinend paradox, »die Depression als Mittel zum Zweck, überhaupt Gefühle zu empfinden«. Gemäß ihres verinnerlichten »Soldaten-Schemas« ging sie die letzten Jahre unbarmherzig mit sich um: »Ich darf nicht ausruhen, sonst passiert was Schlimmes, ich bin auf einem Schlachtfeld. Entspannen darf ich nicht, das steht mir nicht zu.« Sie litt nicht nur seelisch, sondern auch körperlich: Extreme Müdigkeit, Schwindel sowie wechselnde organismische Beschwerden waren ihre täglichen Begleiter. Ein ganzes Bündel schmerzender Symptome fasst sie in das eisig brennende Bild »Frostschmerz«:

Meine Bronchien scheinen zu brennen, wie Sonnenbrand unter der Haut, mein Herz fühlt sich entzündet und wund an. Es ist ein brennender Druck, den ich gerne weghusten würde, aber das geht natürlich nicht … Immer wenn ich daran denke, wird das Brennen deutlicher. Und dann geht es anschließend in den Magen.

Was wünscht sich die Klientin als vorstellbare Heilmittel?

Lebensfreude, Strahlen, wie schön, dass du da bist; Wärme, keine Wand zwischen uns, Nonverbales, unbewusste Signale, dass da eine Bindung ist, bedingungslose Empathie etc.