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Heinz G. Konsalik

Der verkaufte Tod

Roman

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Edward Burtens Abschied von der Klinik Dr. Bandas war kurz und ziemlich wortkarg.

In seinem Ordinationszimmer empfing Dr. Banda kaum zehn Minuten den Abreisenden, nachdem ihm die Verwaltung mitgeteilt hatte, dass Burten per Scheck alle Kosten bezahlt und sogar tausend Dollar in die Personalkasse gestiftet habe.

»Ich gratuliere«, sagte Dr. Banda mit seinem verbindlichen, rätselhaften Lächeln. »Die letzten Laborwerte sind hervorragend. Ihre neue Niere arbeitet wie eine gut geölte Maschine. Ich kann Sie mit ruhigem Gewissen entlassen, Sir.«

Hast du überhaupt ein Gewissen?, dachte Burten. Gleich muss ich dir die Hand geben, und es wird mir schwerfallen, auch wenn diese Hände mein Leben gerettet haben. »Dass ich lebe, verdanke ich Ihren goldenen Händen«, sagte er mit etwas brüchiger Stimme. »Ich werde Ihnen das nie vergessen.«

»Wir hatten beide Glück, Sir.« Dr. Banda, elegant wie immer in einem beigefarbenen Anzug aus federleichter Wolle, kam um seinen Schreibtisch herum. »Sie, weil zur richtigen Zeit der richtige Spender gefunden wurde, ich, weil ich gerade in Ihrem Fall ohne Risiko operieren konnte. Trotzdem: Ich muss Sie in spätestens einem Jahr hier in Kalkutta wiedersehen. Und vergessen Sie nicht: Bei den geringsten Anzeichen einer Anormalität der Niere sofort anrufen und das nächste Flugzeug nach Indien buchen! Auch wenn alles glänzend verlaufen ist, möglich ist alles. Der Mensch ist das komplizierteste Wesen überhaupt. Ach ja«, Dr. Banda spielte den Untröstlichen vollkommen, »wir wollten ja noch zu Mutter Teresa. Da muss ich Ihnen absagen, Sir. Aus London kommt ein neuer Problempatient zu mir. Es ist mir unmöglich, den Termin zu verschieben. So gern ich mit Ihnen zu Mutter Teresa gegangen wäre, man ruft nach dem Arzt, und ich muss da sein. Sie verstehen?«

»Das ist doch selbstverständlich.« Burten nickte. Du Heuchler, dachte er. Auch in einem Jahr werden wir uns nicht sehen, es gibt genug gute Ärzte in den Staaten.

»Es tut mir aufrichtig leid.« Wer Dr. Banda jetzt ansah, konnte nicht anders, als ihm die Lüge glauben. »Aber ich habe einen guten Ersatz für mich, der Ihnen«, Banda zwinkerte, »bestimmt lieber ist als ich. Schwester Myriam wird Sie zu Mutter Teresa begleiten.«

»Das ist ein wunderbares Abschiedsgeschenk.« Burten freute sich wirklich. Sein im letzten Gespräch mit Schwester Myriam geäußerter Gedanke hatte sich zu einem Plan entwickelt: Ich hole sie nach New York, aus einer Klinik, wo Tiger mit Menschenfleisch gefüttert werden.

Dr. Banda streckte seine Hand vor.

Burten blieb keine Wahl, er ergriff sie und drückte sie ohne Kraft. Das wär’s, dachte er und zog seine Hand zurück. »Wann kann mich Schwester Myriam begleiten?«, fragte er und blickte in Dr. Bandas verdammtes Lächeln.

»Wann Sie wollen. Sie wird Sie auch zum Flugzeug begleiten. Ihr Tag ist Ihnen gewidmet.«

»Dann möchte ich keine Zeit versäumen.« Burten ging zur Tür. Dr. Bandas ewiges Lächeln folterte seine Nerven. »Ich hatte jetzt drei Wochen, in denen Zeit keine Rolle spielte; ab heute heißt es wieder: Zeit ist Geld.«

»Ich wiederhole: Werden Sie nicht übermütig, Mr. Burten. Sie fühlen sich wie verjüngt, aber das Geburtsdatum bleibt das gleiche. Es ist alles relativ. Was haben Sie als Nächstes vor?«

»Ich werde mich einen Monat lang auf den Fidschi-Inseln erholen oder auf Hawaii, mit Lora natürlich. Doch, es ist wie früher: Wir verbrennen vor Sehnsucht nacheinander.«

»Noch eine Wiederholung!« Dr. Banda wedelte scherzhaft mit dem Zeigefinger. »Keine extremen Turnübungen! Nicht, dass ich Ihnen auch noch ein Herz implantieren muss.«

»Keine Sorge.« Burten bemühte sich ebenfalls um ein Lächeln. »Auch auf kleiner Flamme kann man kochen. Leben Sie wohl, Dr. Banda.«

»Bis zum nächsten Jahr, Sir. Auch Ihnen alles Gute.«

Burten verließ das Ordinationszimmer. Draußen auf dem Flur atmete er auf und breitete die Arme aus, als wolle er die ganze Welt umarmen. In einem Jahr? Du siehst mich nie wieder, Ratja Banda … Ed, alter Junge, jetzt hast du wieder ein tolles Leben vor dir! Mit dreiundsechzig Jahren bist du noch im vollsten Saft. Dreiundsechzig ist doch kein Alter. Und außerdem hast du jetzt eine junge Niere.

New York, der alte Ed Burten kommt zurück!

Auf der Fahrt zur Missionsstation von Mutter Teresa versuchte Burten noch einmal, Schwester Myriam davon zu überzeugen, dass New York das richtige Pflaster für ihr weiteres Leben sei. »Myriam«, sagte er, »überleg dir’s genau. Es ist die große Chance für dich! Hier in Kalkutta hast du keine Zukunft, du wirst ewig eine Stationsschwester bleiben. Willst du das?«

»Es ist eine Ehre, bei Dr. Banda zu arbeiten, Sir. Er ist ein wunderbarer Arzt.« Schwester Myriam blickte aus dem Fenster des Taxis auf das quirlige Leben auf den Straßen, auf das Menschengewühl, das die Plätze und Märkte beherrschte, und das Chaos, das Autos, Busse, Karren, heilige Kühe und Fahrräder verursachten. »Kalkutta verlassen? Für immer? Mein Kalkutta? Ich kann mir das nicht denken.«

»Kalkutta ist eine Kloake gegen New York.«

»Aber es ist meine Heimat, Sir.«

»Ich bleibe bei meinem Angebot: Du wirst Leiterin des Erholungsheims der ›Edward-Burten-Stiftung‹. Ich werde das Heim mit angeschlossener Klinik für Innere Medizin nach den neuesten Erkenntnissen bauen. Es wird der modernste Bau der Staaten werden. Was Ed Burten anpackt, ist immer super!«

»Das bezweifelt keiner, Sir. Aber –«

»Ich lasse kein Aber gelten! Myriam, du bist zu schade für Kalkutta! Ich biete dir ein klotziges Gehalt, dir und deinem Verlobten.«

»Auch er wird Kalkutta nicht verlassen. Wir gehören hierher, Sir. Vielleicht verstehen Sie das nicht –«

»Nein! Das verstehe ich wirklich nicht. Dir steht die ganze Welt offen, und du verkriechst dich in einem Misthaufen! Sieh doch mal mit klarem Blick aus dem Fenster. Dieser Dreck, dieses millionenfache Elend.« Sie näherten sich jetzt der Missionsstation Mutter Teresas. Die Armut, durch die sie hindurchfuhren, war erschreckend. »Dem kannst du entfliehen.«

»Ich will ihm gar nicht entfliehen. Ich bin darin aufgewachsen, ich gehöre dazu. Fliehen ist keine Lebensaufgabe, Sir. Ich habe meinen Beruf, ich kann Menschen helfen.«

»Millionären, die sich alles kaufen können, ein Herz, eine Leber oder eine Niere, wie ich.«

»Wenn Sie zu uns kommen, sind es kranke, arme Patienten an der Schwelle des Todes. Wie elend waren Sie, als Sie eingeliefert wurden! Ohne eine neue Niere hätten Sie nicht mehr lange gelebt. Jetzt sind Sie wieder voller Lebenskraft, und ich habe dabei mitgeholfen.«

»Und wie, Myriam!«

»Das ist doch eine schöne Aufgabe, ob in New York oder Kalkutta.«

»Ich wiederhole: Überleg es dir, Myriam.«

Die Missionsstation der »Missionarinnen der Nächstenliebe«, ein Orden, den Mutter Teresa gegründet hatte, nachdem sie die Armut und das einsame Sterben der Ärmsten, das ein regelrechtes Verrecken war, voller Ohnmacht erlebt hatte, war belagert von Kranken, Hungernden und Sterbenden, die man in den Straßen Kalkuttas aufgelesen hatte. Es war nur ein Bruchteil des Elends, das sich bei Mutter Teresa versammelte, aber sie gab Hoffnung und Glauben an die Menschlichkeit. Hände sind nicht allein zum Beten da, sondern um zu helfen – das war die Botschaft, die Mutter Teresa verkündete, das wahre tätige Christentum, das nicht nur Worte zur Linderung des Leides einsetzte.

Das Taxi hielt am Eingang der Mission. Burten hatte es so gewünscht: Er wollte zu Fuß zum Haupthaus gehen, mitten durch die wartenden, zerlumpten Gestalten, an den verhungernden Alten vorbei, an ausgezehrten Müttern mit ihren Kindern im Arm, die jetzt schon Gesichter wie Greise hatten, an Kranken, die auf Decken oder selbstgezimmerten Tragen lagen, zwischen denen die Ordensschwestern herumliefen und den Menschen zu trinken brachten. Indische Pfleger und zwei Ärzte begutachteten die Kranken und bestimmten, wer in die Hospitalsäle aufgenommen wurde.

Schwester Myriam, die hinter Burten durch die Reihe der Wartenden ging, legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das sieht kein Tourist«, sagte sie. »Sie sehen nur das schöne, moderne Kalkutta mit seinen Prachtbauten aus der Kolonialzeit. Warum führt man sie nicht mal durch die Slums?«

»Wer will das schon sehen?« Burten blickte sich ergriffen um. »Es ist schöner zu erzählen: ›Ich habe in einem Maharadscha-Palast geschlafen‹, als zu sagen: ›Ich habe den Gestank aus Fäulnis und Kot in den Abflussgräben der Slums gerochen.‹«

Sie blieben stehen.

Ein Mann in verwaschenen Jeans mit einer weißen Jacke darüber kam ihnen entgegen. »Sie wünschen, Sir?«, sprach er Burten an. Er musterte ihn schnell und schien sich kein Bild von ihm machen zu können. »Sind Sie von der Presse?«

»Nein. Sehe ich so aus?«

»Wenn jeder danach aussehen würde, was er ist, gäbe es viele hässliche Menschen, Sir.«

»Sie sind ein Witzbold!« Burten war auf den richtigen Mann gestoßen. Er hatte den Ton an sich, den er liebte. »Ich möchte Mutter Teresa sprechen.«

»In welcher Angelegenheit? Sie sehen nicht aus, als wenn Sie hungern oder krank sind. Mutter Teresa ist sehr beschäftigt.«

»Wer sind Sie?«, fragte Burten. »Ein Wachhund?«

»Hier muss man alles sein. Ich bin Dr. Kilmoor. James Kilmoor.«

»Amerikaner oder Engländer?«

»Keins von beiden, Südafrikaner.«

»Von Soweto nach Kalkutta?«

»Mit einem Umweg durch die Slums von Peru.«

»Arzt?«

»Ja.« Dr. Kilmoor machte eine weite Handbewegung. »Die Kranken brauchen mich.«

»Lassen Sie sich nicht aufhalten, Doc. Und halten Sie mich nicht auf. Ich bringe Mutter Teresa eine frohe Botschaft – so drückt man sich doch in der Bibel aus?«

»Wenn Sie mir nicht sagen, Sir –«

»Um es ganz klar auszudrücken: Ich will ein klein wenig mithelfen, dass ein Dr. James Kilmoor auch weiterhin in Mutter Teresas Mission Kranke versorgen kann und nicht mit dem Hut in der Hand herumzieht und Geld für Medikamente sammelt.«

»Sie wollen Medikamente stiften? Wunderbar. Ich bringe Sie zu der Schwester, die die Apotheke verwaltet.«

»Mutter Teresa! Junger Mann, meine Geduld hat Grenzen. Als ich in Ihrem Alter war, habe ich mich auch so flapsig benommen. Verdammt, warum rede ich? Myriam, gehen wir, ehe mir Südafrika unsympathisch wird.«

Sie gingen weiter auf ein Haus zu, das Burten als das Haupthaus ansah.

Dr. Kilmoor hinderte sie nicht daran; er blickte ihnen nach und dachte: ein amerikanischer Tourist, der ein paar schöne grauenhafte Fotos schießen will, mit denen er später im Club seine Freunde unterhält. Vielleicht lässt er auch ein paar Dollar da, als habe er eine Peep-Show besucht.

Mutter Teresa saß in einem Kreis abgehärmter Mütter und sprach mit ihnen in einem Hindi-Dialekt, als Burten eintrat. Er hatte die Tür zufällig gewählt und schrak nun doch zusammen, als er der alten, kleinen, runzeligen Frau gegenüberstand. Ihre wachen Augen musterten ihn, das zerknitterte Gesicht war verschlossen. Sie zog sich das Kopftuch mit den blauen Stirnstreifen – einem breiten und zwei schmalen – tiefer in die Stirn und stand auf.

Wie klein sie ist, durchfuhr es Burten, wie zerbrechlich, und doch bewegt sie eine ganze Welt. »Ich bin Edward Burten«, sagte er und verneigte sich vor ihr. »Ich bin gekommen, um einen Dank abzustatten.«

»Bei mir?« Mutter Teresa sah ihn erstaunt an. »Ich kenne Sie nicht, Mr. Burten.«

»Ich wollte Gott danken.«

»Und da kommen Sie zu mir?«

»Mit Gott kann ich nicht sprechen, aber mit Ihnen. Gott gibt keine Antworten.«

»Dann haben Sie noch nie versucht, mit ihm zu sprechen. Gott gibt immer eine Antwort – man muss sie nur verstehen.«

»Vielleicht mangelt es daran. Ich weiß, dass es Gott gibt, aber ich bin kein betender Christ.«

»Gerade im Gebet spricht man mit Gott.« Mutter Teresa trat aus dem Kreis der Hindufrauen und kam auf Burten zu. Dabei warf sie einen kurzen Blick auf Myriam. »Dich kenne ich doch?«, fragte sie.

»Ich bin Myriam. Eine Krankenschwester.« Schwester Myriam griff plötzlich nach Mutter Teresas Hand und küsste sie. Aber ebenso schnell zog Mutter Teresa ihre Hand wieder zurück. »Ich war schon ein paarmal bei Ihnen.«

»Du bist auch getauft?«

»Nein. Ich bin eine Hindu.«

»Und warum küsst du mir die Hand?«

»Ich küsse nicht die Hand einer Christin, sondern die Hand, die Tausenden von armen Menschen geholfen hat.«

»Kommen Sie mit in mein Zimmer.«

Mutter Teresa ging voraus, und sie betraten einen karg eingerichteten Raum, an dessen Schmalseite, hinter einem mit Papieren übersäten Tisch, ein Kruzifix hing. Sie blieb vor dem Tisch stehen und blickte Burten wieder forschend an. Allein vor diesen tiefliegenden, gütigen, einen unendlichen Glauben ausströmenden Augen muss man den Kopf senken, dachte Burten. Er fühlte in sich eine neue, wunderbare Ergriffenheit, die er nur in seiner Jugend verspürt hatte, wenn in der Armenwohnung, in der er aufgewachsen war, zu Weihnachten die Kerzen flackerten.

»Wofür wollten Sie Gott danken, Mr. Burten?«, hörte er ihre Stimme, so weit weg, als befänden sie sich in einem unendlichen Raum. Er schloss die Augen, aber als er sie wieder öffnete, war die Wirklichkeit um ihn. »Man hat mir das Leben wiedergeschenkt«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich war krank, todkrank; eine Operation hat mich gerettet. Jetzt bin ich wieder ein gesunder Mensch. Ich weiß, es war eine begnadete Chirurgenhand, die mich gerettet hat, aber diese Gnade kommt auch von Gott. Meinen Dank an ihn möchte ich Ihnen bringen, Mutter Teresa. Darf ich Sie so nennen?«

»Sie nennen mich alle so.« Mutter Teresa drehte sich um und blickte auf das Kruzifix. »Warum beten Sie nicht zu Gott und danken ihm?«

»Ich habe das Beten verlernt.«

»Man kann im Leben alles vergessen, nur das Beten nicht.« Mutter Teresa wandte sich wieder Burten zu. »Wollen wir es versuchen?«

»Hier?«

»Dort hängt ein Abbild des Herrn. Mit Gott kann man überall sprechen, es gibt keinen Ort, wo er uns nicht hört.« Sie legte die Hände aneinander, und eine Art Verklärung überzog ihre Augen. »Versuchen wir es? Sie brauchen nicht mit dem Mund zu sprechen, sprechen Sie mit dem Herzen. Gott hört jede Sprache und jeden stummen Ton.«

Sie drückte die Hände gegen das Kinn, hob den Blick zum Himmel, und ihre faltigen Lippen formten unhörbare Worte. Burten war es, als würde er schwerelos. Auch er drückte die gefalteten Hände an sein Kinn, aber er blickte das Kruzifix an und sprach nach innen. Schwester Myriam lehnte an der Wand und starrte auf Burtens gebeugten Rücken. Spricht er jetzt wirklich mit seinem Gott, dachte sie, mit dem Menschen, der dort am Kreuz hängt, weil er anderer Meinung war als die Regierenden, und den man zum Gott erhoben hat? Sie sah das Kruzifix an und spürte nichts von der Kraft, die in diesem Augenblick Burten durchrann. Wir haben viele Götter, dachte sie. Wir sind reich an Göttern, an Göttermüttern, an Götterschwestern. Sie haben nur einen Gott, wie die Moslems nur einen Allah haben – warum sind sie so arm an Göttern?

Sie beteten fünf Minuten. Mutter Teresa war es, die das Gebet beendete. Sie ließ die Hände sinken, und auch Burtens Hände fielen am Körper hinunter.

Langsam drehte sich Mutter Teresa zu ihm um. »Haben Sie Gott gehört?«, fragte sie leise.

»Nein. Er kam nicht dazu, mich zu unterbrechen.«

»Aber er hat Sie gehört.«

»Ich hoffe es.« Burten war in die Nüchternheit seines Lebens zurückgekehrt. Er ging zu Mutter Teresas Tisch, schob einen Papierstapel beiseite, holte sein Scheckbuch aus der Brusttasche und füllte einen Scheck aus. Er streckte ihn Mutter Teresa hin und sagte: »Hier, mein weltlicher Dank.«

Sie nahm den Scheck, warf einen Blick darauf und legte ihn auf den Tisch zurück. »Zehntausend Dollar«, sagte sie dabei. »Wissen Sie, wie viele Menschen Sie damit retten? Wie viele weiterleben können? Jetzt wird Gott Ihnen danken, Mr. Burten.«

Irgendwie benommen verließ Burten die Mission. Mutter Teresa begleitete ihn zu dem wartenden Taxi. Als sie vor dem Haus erschien, ging ein Raunen durch die wartenden Armen, das sich zu Rufen, Gewimmer, Stöhnen und bettelnd ausgestreckten Armen verdichtete. Mitten unter der Menschenmenge stand Dr. Kilmoor und verband eine Kopfwunde.

»Wer ist dieser Clown?«, fragte Burten, als sie vor dem Taxi standen.

»Welcher Clown?«

»Dieser Dr. James Kilmoor.«

»Er ist mein bester Arzt. Wenn es nötig ist, arbeitet er vierundzwanzig Stunden. Sie kennen ihn?«

»Er hat uns vorhin begrüßt.«

»Warum nennen Sie ihn einen Clown?«

»Ach, wissen Sie, Mutter Teresa«, Burten überspielte seine Verlegenheit mit einem Lachen, »das sagt man so bei uns, wenn ein Mensch sehr witzig und fröhlich ist. Es war nicht böse gemeint.« Er gab Mutter Teresa noch einmal die Hand und unterdrückte den Drang, genau wie Schwester Myriam ihr die Hand zu küssen. Etwas Merkwürdiges war mit ihm geschehen: Beim Gebet hatte sich seine innere Verkrampfung gelöst, und er kam sich jetzt befreit vor, als wären Gewichte von ihm gefallen, die ihn bisher erdrückt hatten.

»Gott sei mit Ihnen«, sagte Mutter Teresa zum Abschied. »Und vergessen Sie nicht Gott, wenn es Ihnen wieder gut geht; er ist nicht nur für die schlechten Tage da, wenn man seine Hilfe braucht. Er sitzt am Tisch der Bettler genauso wie am Tisch der Reichen, aber nur die wenigsten erkennen ihn.«

»Ich werde an Ihre Worte denken, Mutter Teresa«, sagte Burten und spürte einen Kloß im Hals. »Mögen Sie noch lange leben. Ein Mensch wie Sie sollte unsterblich sein.«

»Gut, dass es solche Ausnahmen nicht gibt. Wenn Gott mich ruft, bin ich bereit.« Sie sah ihn mit ihren gütigen Augen ein paar Sekunden lang an und fügte dann hinzu: »Seien auch Sie bereit.«

Burten spürte einen Kälteschauer, trotz der Hitze, die ihm den Schweiß aus den Poren trieb. Er nickte, stieg schnell in das Taxi und sagte gepresst: »Zum Flughafen!« Als der Wagen anfuhr, drehte er sich zum Rückfenster um und sah hindurch. Mutter Teresa stand an der Einfahrt der Mission und winkte ihnen nach, eine kleine, runzlige Gestalt im weißen Ordensgewand, das Kopftuch mit den blauen Streifen tief in die Stirn gezogen.

»Welch eine Frau!«, sagte Burten leise und legte seine Hand auf Schwester Myriams Knie, als müsse er sich abstützen. »Mein Gott, welch eine Frau!«

Tawan hatte seinen »Teilhaber« Subhash am Flughafen von der Ankunfts- zur Abflughalle umdirigiert.

»Heute geht eine Maschine nach New York ab«, sagte er. »Lauter reiche Leute. Sorglose Amerikaner. Ich will sehen, ob es sich lohnt, sich näher mit ihnen zu beschäftigen.«

Also wartete Subhash jetzt vor dem Eingang zur Abflughalle, wünschte Tawan viel Glück, ließ wie immer die hintere rechte Tür offen und den Motor laufen, als Tawan in der Halle verschwand.

Vor den beiden Eincheckschaltern drängten sich die Reisenden. Tawan, in seinem weißen Seidenanzug, musterte die Reihen. Ihn interessierte nicht die Vorderseite, das Aussehen der Fluggäste, sondern nur deren Rückseite, und davon wieder die rechten Gesäßtaschen. Hier staken die Portemonnaies, das Einzige, worauf es ihm ankam.

Tawan schüttelte wie so oft bei seinem »Geldwechsel« den Kopf über den Leichtsinn der Touristen, die ihr Geld geradezu provokant zeigten und so dazu aufforderten, es ihnen wegzunehmen. Da war zum Beispiel dieser dicke, schwitzende Amerikaner in Bermudashorts, deren rechte Gesäßtasche von der dicken Geldbörse vorgewölbt wurde, oder die ältere Dame mit rosagefärbten Haaren, die am Arm ihre Handtasche trug, deren Verschluss offenstand. Man brauchte nur hineinzugreifen und die Dollars herauszuholen. Oder dort der auf seine Vordermänner einredende, sichtbar fröhliche Reisende, dessen Jacke beim Gestikulieren immer hochrutschte und ein pralles Portemonnaie freigab. Neben ihm stand ein hübsches indisches Mädchen und lachte mit silberheller Stimme, wenn der Mann einen Witz erzählte.

Auf ihn konzentrierte sich Tawan. Er schlenderte an der Reihe der Wartenden vorbei, stellte sich hinter den Amerikaner, und da er kein Gepäck schleppte, nahm jeder an, er sei nur schnell mal weggegangen und kehre jetzt in die Reihe zurück. So protestierte auch niemand, sondern man ärgerte sich nur über die langsame Abfertigung am Schalter.

Tawan war bis in den letzten Muskel gespannt wie eine Schlange kurz vor dem Biss. Dreimal wartete er, als die Jacke wieder hochrutschte; beim vierten Mal zuckten seine Finger zu, zogen die Geldbörse aus der Gesäßtasche und ließen sie in seinem Seidenanzug verschwinden. Der fröhliche Amerikaner bog sich gerade vor Lachen über einen von ihm erzählten Witz, die Umstehenden lachten mit, die Ablenkung war vollkommen.

Ruhig, in vornehmer Gelassenheit, verließ Tawan die Reihe, durchquerte die Abflughalle, trat auf die Straße und lief erst dann auf Subhashs Taxi zu. Es wartete mit offener Tür und laufendem Motor.

Subhash machte einen rasanten Start und gliederte sich dann in den dichten Straßenverkehr ein. Das Wichtigste war, vom Flughafen wegzukommen. Jetzt, im Gewühl der anderen Fahrzeuge, war man sicher.

»Wie war’s?«, fragte Subhash über die Schulter hinweg.

»Leicht wie immer.«

»Wieder zur Punjab National Bank?«

»Wie immer. Du fragst jedes Mal das Gleiche.«

»Wie viel ist es?«

»Das wird die Bank zählen. Auf jeden Fall hat es sich gelohnt.«

Am Schalter im Flughafen entstand plötzlich Bewegung. Der Amerikaner sagte gerade: »Und jetzt zeige ich euch meine Frau. Wenn keine Sonne scheint, lasse ich sie durchs Haus gehen, und alles glänzt!« Lachen, Händeklatschen. Der Witzeerzähler griff in seine Gesäßtasche, um das Portemonnaie, in dem auch ein Foto der schönen Frau stak, herauszuholen, und griff ins Leere. Er stutzte einen Augenblick, griff noch einmal zu und wurde plötzlich hochrot im Gesicht. »Man hat mich beklaut!«, schrie er. »Mein Portemonnaie ist weg! Vor einer Viertelstunde habe ich mir noch eine Cola gekauft, da war’s noch da! Man hat mich bestohlen! Polizei!«

»Lassen Sie das.« Ein Mitreisender legte die Hand begütigend auf den Arm des Bestohlenen. »Die Polizei nutzt Ihnen gar nichts. Die lächelt nur. Der Dieb ist längst verschwunden. Sie werden nur ein Name in einer langen Liste sein. Beruhigen Sie sich.«

Der Amerikaner aber beruhigte sich nicht. »O dieses Kalkutta!« brüllte er. »Dieses Scheiß-Kalkutta! Was bin ich froh, morgen wieder in New York zu sein!«

Der Kassierer der Punjab National Bank war schon unruhig geworden, weil sein guter Kunde Alipur noch nicht gekommen war. Er strahlte über das ganze Gesicht, als er ihn jetzt die Bank betreten sah. Alles in Ordnung. Er ist nicht krank geworden. »Guten Tag, Sir!« rief der Kassierer. »Ich habe Sie schon vermisst. Was kann ich für Sie tun?«

Tawan schob ihm das Bündel Dollarscheine zu, das er seinem Portemonnaie entnommen hatte.

Der Kassierer zählte schnell durch. »Fünftausendsiebenhundertfünfundvierzig Dollar«, sagte er dann. »Ein guter Tag, Sir.«

»Ja. Die Börse war heute sehr lebhaft«, antwortete Tawan in näselndem Ton.

»Wieder wechseln in Rupien?«

»Natürlich, wie immer.«

»Ich mache Sie noch einmal darauf aufmerksam, dass ein Devisenkonto –«

»Ich weiß, ich weiß. Ich möchte es aber in Rupien.«

Der Kassierer nickte. Er war etwas irritiert. Ein so erfolgreicher Börsenspekulant und dann so kurzsichtig! Wie passte das zusammen? Er stellte die Einzahlungsquittung aus und sah Tawan mit einem Kopfschütteln nach, als dieser die Bank verließ.

Der obligatorische Blick in seine alte Behausung an der Hauswand der Bank brachte Tawan nichts. Shakir, der zerlumpte Student, war nicht unter dem Holzdach. Ein Leichtsinn! Wie einfach war es, jetzt Kochtopf oder Kocher zu stehlen, die Öllampe oder die Decken. Tawan widerstand der Versuchung, den Kochtopf mitzunehmen, zwar nur als Warnung, denn er würde ihn morgen zurückbringen, aber dann sagte er sich, dass er als ein vornehmer Mann unmöglich in einem Seidenanzug mit einem zerbeulten, alten Kochtopf unter einem Holzdach hervorkommen konnte. Um aber zu zeigen, dass er hiergewesen war, legte er einen Zehn-Rupien-Schein in den Topf.

Subhash fuhr mit seinem Taxi zum Fluss und hielt dort an einer Hafenanlage. Um sie herum ragten die Kräne wie stählerne Totenfinger in den Himmel.

»Wie viel?«, fragte Subhash.

»Fünftausendsiebenhundertfünfundvierzig Dollar.«

»Gratuliere. Der bisher beste Fang.« Subhash rieb sich die Hände. »Wenn das so weitergeht, kaufe ich mir einen zweiten Wagen und werde Unternehmer.«

»Das ist der beste Weg, um aufzufallen! Du wirst nichts tun, bis ich ausgestiegen bin.«

»Tawan! Du willst die Geldquelle wieder zuschütten? Das ist doch nicht dein Ernst?«

»Ich habe mir ein Ziel gesetzt. Wenn ich das erreicht habe, werde ich ein anständiger Mensch. Ich bin kein geborener Dieb.«

»Du bist ein Genie von Dieb! Du darfst nicht aufgeben!«

»Ich will, dass meine Vinja zu mir aufblickt, aber mich nicht anspuckt. Bisher war ich immer ein Vorbild für sie, der starke, liebe Onkel Tawan, und so soll es bleiben.«

Sie stiegen aus dem Taxi, gingen am Kai spazieren, und Tawan hatte jetzt Zeit, das Portemonnaie genau zu untersuchen.

Es enthielt nichts Besonderes: drei Kreditkarten, das Foto einer schönen, blonden, langmähnigen Frau, einen Führerschein, ein paar Visitenkarten, einen Zahlungsbeleg über eine Jahresmitgliedschaft bei der Luftrettung, ein paar Adressen und Telefonnummern und in einer Art Geheimfach noch ein Foto, das eine nackte Frau zeigte, die aber nicht die Gleiche war wie auf dem ersten.

Da Tawan nicht lesen konnte, zerriss er alles und warf die Schnipsel zusammen mit dem ledernen Portemonnaie in den Fluss.

Er hat nie erfahren, wen er bestahl, und der Name hätte ihm auch nichts gesagt. Wer war schon Edward Burten? Ein lustiger Amerikaner, der am Flughafenschalter die Wartenden mit Witzen unterhielt.

So verdiente Tawan zweimal an Edward Burten, durch seine Niere und durch seine flinken Finger.

Die Rückkehr Burtens nach New York war vergleichbar mit der Rückkehr eines Helden aus der Schlacht.

Seine Direktoren hatten sich alle Mühe gegeben, ein Ereignis daraus zu machen. Das Jazzorchester der Supermarkt-Ladenkette hatte schon eine halbe Stunde vor der Ankunft der Maschine die Wartenden unterhalten, die durch die weite Ankunftshalle des Flughafens schlenderten; eine Riesengirlande wurde von sieben Mädchen getragen, und alle waren bester Stimmung bis auf Lora, die neben Dr. Salomon stand und immer wieder sagte: »Ed wird in die Luft gehen! Wer hat das bloß mit der neuen Niere weitererzählt?«

Endlich war Burten nach der Passkontrolle durch den Zoll gekommen und hörte schon von Weitem die Musik. »Was ist denn da los?«, fragte er einen Zöllner. »Neuer Kundendienst, oder ist eine Band angekommen?«

»Keine Ahnung, Sir.« Der Zöllner zuckte mit den Schultern. »Das Neueste, was ich gehört habe: Ein Verrückter hat sich die Band zum Empfang bestellt.«

»Es gibt schon merkwürdige Typen.« Burten nickte. Er griff nach seinem kleinen Handkoffer – das große Gepäck wurde ihm ins Haus gebracht – und trat in die Halle. Die Band spielte einen knallenden Tusch, die Girlande wurde hochgestemmt, und da erst begriff Burten, dass er der Verrückte war, der so empfangen wurde. Vor händeklatschenden Abordnungen seiner Betriebe stand feierlich die Riege seiner Direktoren. Lora und Dr. Salomon hielten sich im Hintergrund.

Burten ließ den Handkoffer fallen, streckte die Faust hoch empor und ließ sie herunterfallen, als wolle er jemanden damit zerschmettern. Abrupt brach die Musik ab.

»Aufhören!«, brüllte er. »Sofort aufhören! Geht nach Hause! Ich danke euch, aber geht! Nein, die Herren Direktoren nicht! O nein! Treten Sie näher. Ich will die Idioten aus der Nähe sehen, die solche Ideen haben. Wie ist überhaupt bekannt geworden, was ich in Kalkutta getan habe? Es war Top-Secret!«

»Davon haben Sie nichts gesagt, Mr. Burten.« Der Erste Direktor der Restaurantkette hatte den Mut, als Erster zu sprechen.

»Ich habe, als ich wegfuhr, zu Ihnen gesagt: Ich verreise für drei Wochen. Weiter nichts.«

»Genau so war’s, Mr. Burten. Aber dann riefen Sie aus Kalkutta an, und da wussten wir, dass Sie in Indien waren. Sie gaben uns Ihre Telefonnummer, und als wir anriefen, meldete sich eine Dr.-Banda-Klinik. Das weckte natürlich unsere Neugier, und wir zogen Erkundigungen ein. Als wir hörten, es sei eine chirurgische Klinik, zählten wir eins und eins zusammen. Das können wir noch. Von Ihrer Nierenkrankheit wusste doch jeder – und jetzt eine chirurgische Klinik! Wenn man logisch denkt –«

»Würden Sie doch sonst logisch denken!«, bellte Burten. »Morgen um zehn Uhr bei mir in der Zentrale! Das wird ein Nachspiel haben. Gehen Sie jetzt, ehe ich unsachlich werde!«

Die Direktoren eilten zum Ausgang. Es war mein Fehler, dachte Burten. Ich hätte nicht anrufen sollen. Chirurgische Klinik – ich wäre genauso von Neugier geplagt worden wie sie. Ich kann es ihnen nicht übelnehmen. Ich hätte drei Wochen schweigen sollen. Nur mit Lora telefonieren. Aber kann ein Ed Burten drei Wochen lang still bleiben? Man kann einfach nicht aus seiner Haut heraus …

Lora? Wo war Lora?! Holt sie mich nicht ab?

Er drehte sich nach allen Seiten um, und da sah er sie neben Dr. Salomon stehen, jung, schön, die langen blonden Haare über einen Kaschmirmantel fallend, das Gesicht, das er drei Wochen lang im Traum gesehen hatte, in diesen drei Wochen zwischen Tod und Leben, die verkörperte Zärtlichkeit, die er über Tausende von Kilometern hinweg immer gespürt hatte. Da stand sie und wartete, bis sein Wutanfall verrauscht war. Welch eine Rückkehr ins Leben!

Stumm hob Burten beide Arme und streckte sie nach Lora aus. Sie löste sich von Dr. Salomon, lief ihm entgegen, warf sich in seine Arme, und dann küssten sie sich, als wären sie allein in einem unendlichen, lautlosen Raum, und das Gefühl von Liebe und Geborgenheit war so stark, dass Burten die Tränen kamen, und sie tropften auf Loras Lippen, und sie saugte sie weg und sagte immer wieder: »Du bist wieder da … Du bist wieder da … Ich habe dich wieder … Ich habe immer für dich gebetet, jeden Tag.«

»Ich habe auch gebetet«, sagte Burten leise. Dann umklammerte er Lora, drückte sein Gesicht an ihren Hals und weinte wirklich. Er weinte auch noch, als sie im Cadillac saßen und nach Hause fuhren.

So still und einfach, wie sich Burten seine Rückkehr gedacht hatte, war sie nicht möglich. Für die gesamte Belegschaft aller im Konzern vereinigten Firmen gab es einen fröhlichen Nachmittag mit Bier, Büffet und Tanz – es waren immerhin rund vierzehntausend Menschen von der Ost- bis zur Westküste der USA. In New York lud Burten zu einem festlichen Dinner, engagierte das halbe Metropolitan-Orchester und ließ Verdi, Puccini und Wagner spielen.

»Wenn ich das alles zusammenrechne, einschließlich des geklauten Portemonnaies, kostet mich meine neue Niere rund hundertzwanzigtausend Dollar«, sagte er zu Lora in einer Pause zwischen Dessert und Mokka mit Pralinen. »Wenn man bedenkt, dass ich bereit gewesen wäre, mein gesamtes Vermögen herzugeben, alle Firmen, mein Lebenswerk, so habe ich mir das Leben billig gekauft. Fast wie ein Sonderangebot in meinen Supermärkten. Lora, ich will eine Stiftung gründen für chronisch Nierenkranke. Vor allem aber möchte ich eins: Ich möchte dich heiraten.«

»Ed.« Sie tastete nach seiner Hand. »Das sagst du so daher zwischen zwei Dinnergängen.«

»Wie lange hast du darauf gewartet?«

»Ich habe nie darauf gewartet. Ich bin glücklich mit dir, ob mit oder ohne Trauschein. Was ist er schon? Ein Stück Papier. Meine Liebe braucht keinen amtlichen Stempel.«

Burten beugte sich zu ihr und küsste sie. Er dachte an die erste Nacht nach seiner Rückkehr aus Kalkutta, in der Lora in unbeschreiblicher Nacktheit aus dem Bad gekommen und zu ihm ins Bett geschlüpft war. Er hatte nach ihren Brüsten getastet, nach ihrem Schoß, er hatte sein Gesicht in ihre duftenden blonden Haare vergraben und ihre glatte Haut unter seinen Lippen gespürt, aber sonst lag er unbeweglich da und genoss die Wärme ihres Körpers. Als ihre Hand an ihm hinuntertastete, hielt er sie fest. »Dr. Bandas Rat«, flüsterte er mit stockendem Atem, »mindestens noch vier Wochen Ruhe.«

Sie nickte und sagte: »Ich werde dir nicht wehtun, mein Schatz. Ich will nur bei dir liegen, ich will dich nur spüren. Es ist so schön, deine Liebe zu fühlen.«

So lagen sie die ganze Nacht, ineinander verschlungen, schlaflos und glücklich, den anderen in sich aufnehmend schon durch den gemeinsamen Atem.

Am nächsten Morgen nahm Burten seine Arbeit wieder auf. An vier Wochen Erholung auf den Fidschi-Inseln dachte er nicht mehr – ein Edward Burten konnte sich auch mit einer neuen Niere nicht ändern.

Tawan hatte seinen vorläufigen Lebensrhythmus gefunden: um 7 Uhr früh aufstehen, Morgentee, Vinja in die Schule bringen, zwischen 10 und 12 Uhr auf der »Arbeitsstelle« im Flughafen, Fahrt zur Bank zum Einzahlen, Vinja von der Schule abholen, Mittagessen, eine Stunde Ruhe, bummeln mit Vinja durch die Stadt und einkaufen, jeden Samstag Besuch bei Major Dakhin und Ablieferung des Zehn-Prozent-Anteils, Abendessen und um 20 Uhr eine Unterrichtsstunde bei Lehrer Dupar Dasnagar. Auf dem Rückweg ein Zwischenstopp in einem englischen Pub und ab und zu der Besuch in einem Bordell. Schließlich war Tawan ein gesunder Mann, aber eine eigene, feste Freundin wollte er sich nicht zulegen. Sie war nur eine Gefahr für seine Tätigkeit.

An einem Abend, als er von Dasnagar mit dem Lob zurückkam, ein begabter Schüler zu sein, genau wie seine Nichte Vinja, fiel ihm schon beim Betreten des Hotels Bambusgarten eine sonderbare Stille auf. An der Tür hing ein Schild: »Wegen Umbaus geschlossen.« Tawan beherrschte das Alphabet bereits so gut, dass er das Wort zusammenbuchstabieren konnte.

Umbau? Wieso? Als er vor zwei Stunden wegging, hatte davon noch keiner ein Wort gesagt. Er klinkte die Tür auf und sah sich in der kleinen Diele um. Die Theke, über der kühn ein Schild »Reception« hing und an der Wand ein eindrucksvolles Schlüsselbrett, war leer. Sangra saß sonst immer auf einem extra breiten Stuhl hinter der Theke, vor sich das aufgeschlagene Gästebuch, in das sich jeder Hotelgast mit falschem Namen eintrug, was jeder wusste, auch die kontrollierende Polizei. Jetzt war ihr Platz verwaist. Noch verblüffender war, dass alle Schlüssel am Brett hingen, also kein Zimmer vermietet war.

Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Tawan. Er rannte in das Büro hinter der »Reception« –es war leer. Erlief in die Küche – keine Sangra. Nur Stille, eine unheimliche Stille in einem Haus, das sonst von Leben erfüllt war.

Tawan raste die Treppe hinauf. Schon auf der ersten Stufe schrie er: »Vinja! Vinja! Sangra! Sangra! Wo seid ihr? Vinja!«

Er stürmte in sein neu eingerichtetes Zimmer und wusste vorher, dass er es leer vorfinden würde. Die Betten waren unberührt, die Tischdecke lag gerade, es sah wie unbewohnt aus. Nur der Fernseher war eingeschaltet, aber ohne Ton, was die bedrückende Lautlosigkeit noch verstärkte.

Tawan warf sich herum und lief weiter.

Die Wohnung von Sangra. Das Wohnzimmer war leer, aber der Tisch für das Abendessen gedeckt. Das Schlafzimmer leer. Die private Küche leer. Aber auf dem Herd, zur Seite geschoben, stand eine Kasserolle mit einem Braten, eine Schüssel Salat war bereits angemacht, in einem Steinguttopf dampfte der langkörnige Reis.

Tawan rannte wieder auf den Flur hinaus. »Vinja!«, brüllte er verzweifelt. Seine Stimme musste man im ganzen Haus hören. »Vinja!« Und dann begann er, von Zimmer zu Zimmer zu laufen, riss eine Tür nach der anderen auf, sah unbenutzte oder zerwühlte Betten, roch Parfüm und Schweiß, die ihm verrieten, dass das Hotel vor kurzer Zeit noch Gäste gehabt hatte.

Im zweiten Stockwerk sah er dann rote Flecken auf dem Fußboden. Blut. Er spürte, dass sich das Entsetzen wie ein Würgeeisen um seinen Hals legte und eine grenzenlose Angst ihn fast lähmte. Die Blutstropfen auf dem Boden waren wie eine Spur – er ging ihnen nach bis zum Zimmer 212, wo sie unter der Tür verschwanden. Er zog sein Messer aus dem Gürtel und stieß die Tür auf.

Vor ihm, neben dem Bett, lag ein Mann in verkrümmter Haltung, der Kleidung nach ein reicher Inder. Das Gesicht, Tawan zugewandt, war verzerrt, fahl und blutverschmiert. Die Augen standen mit einem glasigen, leblosen Blick weit offen. In der Brust des Mannes, genau in Herzhöhe, stak eines der breiten Messer aus Sangras Küche, ein zweites Messer war ihm in die Seite gerammt worden. In der Ecke des Zimmers, neben dem Fenster, kauerten Vinja und Sangra. Diese hatte schützend beide Arme um Vinja gelegt, und Vinja drückte ihr Gesicht in Sangras riesigen Busen, als Tawan ins Zimmer stürzte.

Er starrte auf den Toten und die beiden Messer, die in seinem Körper staken. »Was … was ist denn passiert?«, stotterte er. »Warum hat man ihn erstochen? Warum hockt ihr hier im Zimmer? Habt ihr die Polizei schon gerufen?« Er trat näher und sah erst jetzt, dass Vinja mit Blut bespritzt war. Mit einem Ruck riss er sie aus Sangras Armen und drückte sie an sich. »Was ist passiert?«, fragte er wieder. »Mein Gott, dein Gesicht ist ja auch voller Blut!«

»Es ist ihr eigenes Blut.« Sangra schob sich an der Wand empor. »Er … hat sie blutig geschlagen.«

»Wer? Der Tote dort?«

»Ja. Er wollte sich Vinja gefügig machen. Er wollte ihren Widerstand brechen.«

»Widerstand?« Tawan atmete röchelnd aus und ein. »Er wollte –«

»Ja. Er wollte Vinja vergewaltigen.« Sangra sah an sich hinunter. Auch ihr Kleid war voller Blutspritzer. »Er kam mit einer vornehmen Dame und mietete das Zimmer für zwei Stunden, na ja, so wie immer bei meinen Gästen. Danach blieb er auf seinem Zimmer, die Dame ging allein weg. Nach einiger Zeit verlangte er Orangensaft. Ich schickte Vinja mit einer Karaffe hinauf, und plötzlich hörte ich sie schreien, sie stürzte die Treppe herunter, schrie um Hilfe, und der Mann folgte ihr, holte sie ein, schlug ihr ins Gesicht und wollte sie wieder die Treppe hinaufzerren. ›Du Sau!‹, habe ich ihn angebrüllt. ›Lass sie sofort los!‹ Aber er ließ Vinja nicht los, er trat mir in den Bauch und begann, Vinja zu würgen. Da bin ich in die Küche, habe ein Messer geholt, habe mich auf ihn gestürzt und ihm das Messer irgendwo in den Körper gestoßen. Aber das reichte ihm nicht. Einen Augenblick ließ er Vinja los und wollte dann wieder nach ihr greifen, aber Vinja war schneller, lief in die Küche, holte das breite Fleischmesser –«

»Ich habe in sein Herz gestochen.« Vinja umklammerte Tawan. Ihr Körper war ein einziges Zittern. »Ich habe es getan. Ins Herz – war das richtig so, Onkel Tawan?«

»Du hast es gut gemacht, Vinja.« Er drückte sie an sich.

Sangra wischte sich über das fette Gesicht und blickte wieder auf den Toten. »Er ist dann«, sagte sie stockend, »auf sein Zimmer gelaufen und dort zusammengebrochen. Wir sind ihm nachgelaufen, wir wollten ihn ja nicht töten, er sollte nur Vinja loslassen.«

»Nein!« Vinja machte sich aus Tawans Armen frei. Ihre schwarzen Augen glänzten von einer Wildheit, die Tawan zum ersten Mal an ihr sah. »Nein! Ich wollte ihn töten! Onkel Tawan, du hast immer gesagt: ›Wenn dich ein Mann angreift, wehre dich bis aufs Blut.‹ Ich habe geblutet, er hat mich blutig geschlagen, da musste ich ihn töten.«

»Ich hätte es auch getan. Aber warum seid ihr noch in diesem Zimmer?«

»Wir haben auf dich gewartet.«

»Hier? Bei dem Toten?«

»Er war ein Mensch, Tawan.« Sangra stieg über den verkrümmten Körper hinweg und raffte dabei ihr Kleid. »Ein böser Mensch, aber ein Mensch. Wir haben die Totenwache gehalten.«

»Und nun?« Tawan setzte sich auf das Bett.

»Das fragen wir dich. Wohin mit dem Toten? Willst du immer noch die Polizei rufen? Vinja hat ihn erstochen.«

»Sie werden mir Vinja wegnehmen«, sagte Tawan dumpf.

»Das werden sie.« Sangra zeigte auf die Leiche. »Er muss weg, verschwinden. Natürlich wird ihn seine Familie vermissen, sie werden ihn suchen, aber er wird nicht gesagt haben, wohin er gegangen ist.«

»Und die vornehme Dame?«

»Sie wird bestimmt schweigen.«

»Aber sie wird zu dir kommen und fragen, wo er geblieben ist.«

»›Er hat kurz nach Ihnen das Hotel verlassen‹, werde ich antworten. ›Er hat noch einen Orangensaft getrunken und ist dann gegangen.‹ Wer will mir das Gegenteil beweisen?«

»Wir müssen ihn fortschaffen.«

»Wohin?«

»Ich werde ihn im Bambusgarten begraben!«

»In meinem Garten?«, schrie Sangra auf. »Ich soll mit einem Toten zusammenleben? Ich soll auf meiner Bank in der Sonne sitzen, und unter mir liegt ein Ermordeter?«

»Es ist unmöglich, ihn aus dem Haus zu bringen. Hunderte würden uns sehen. Diese Straße schläft nie. Es bleibt nur der Garten übrig, Sangra.«

»Allein der Gedanke, dass –«

»Wir werden Blumen über ihn pflanzen«, unterbrach Tawan sie. »Es werden die schönsten, üppigsten Blumen werden. Du wirst dich daran gewöhnen – man kann sich schnell an etwas gewöhnen. Wie schnell habe ich mich daran gewöhnt, ein reicher Mann zu sein.«

»Bist du schon ein reicher Mann, Onkel Tawan?«, fragte Vinja. Sie stieg unbefangen und ohne Scheu über die Leiche hinweg und kam zu ihm ans Bett. Tawan bewunderte ihren Gleichmut und war in gleichem Maße entsetzt über die Gefühllosigkeit dieses nun bald neunjährigen Mädchens, das einen Menschen erstochen hatte. »Wann bauen wir unser Haus?«

»Darüber werden wir noch sprechen.«

Sangra wuchtete ihren dicken Körper zur Tür. »Wann willst du ihn begraben?«

»Sofort. Lass mich jetzt mit ihm allein.«

»Komm, meine Kleine.« Sangra stieß die Tür auf. »Gehen wir. Ich koche eine Kanne Tee. Ein so schönes Abendessen habe ich gemacht, und jetzt wird es keiner essen.«

»Ich doch.« Vinja beugte sich über den Toten. »Ich habe Hunger.«

Mit einem Schauder sah Tawan, wie Vinja beide Messer aus dem Körper zog, als hebe sie ein Spielzeug auf. Dann folgte sie Sangra hinunter zur Küche; sie hüpfte die Treppenstufen hinunter, als sei es ein lustiges Spiel.

Die halbe Nacht hindurch brachten sie das Haus wieder in Ordnung. Sangra und Vinja verbrannten ihre blutigen Kleider und badeten und schrubbten sich ab, bis der letzte Flecken des verkrusteten Blutes von ihrer Haut gewaschen war. Mit einem heißen Lappen putzte Sangra die Treppen, den Flur und das Zimmer, besprühte alles mit einem Desinfektionsmittel und bezog die gebrauchten Betten mit frischer Wäsche.

Tawan hatte sich bis auf eine knappe Unterhose ausgezogen, um seinen Anzug nicht mit Blut zu beflecken, hatte die Leiche über seine Schulter gestemmt und sie in den kleinen Garten getragen. Es war ein eigenartiges Gefühl, einen toten Menschen zu tragen. Er hatte schon viel auf seinem Rücken weggeschleppt, damals im Hafen, wenn die kleineren Versorgungsschiffe ausgeladen wurden. Gefrorene Schweinehälften, Rinderviertel, Kisten mit geschlachteten Hühnern, ganze Hammel aus Neuseeland und geeistes Elefantenfleisch aus Ceylon – er hatte nie etwas dabei empfunden. Es war eben nur Fleisch. Aber nun trug er einen Menschen die Treppen hinunter in den Bambusgarten, die Arme schlugen gegen sein Gesäß und die Oberschenkel, und vor allem war es ein Mensch, den Vinja, seine kleine Vinja, mit einem gezielten Stich ins Herz getötet hatte.

Der Tote war ein großer, schlanker, aber dennoch schwerer Mann mit gepflegten Händen und einem Brillantring am linken Ringfinger; seine Kleidung war von bester Qualität und maßgefertigt. Er musste aus jenen Kreisen kommen, die am Rand Kalkuttas in den von den Engländern angelegten Villenvierteln wohnten, inmitten blühender, künstlich bewässerter Parks, bewacht von eigenen Wächtern, auf Inseln des Überflusses im Meer der Armut.

Das wird eine große Suche geben, dachte Tawan, als er den Toten im Garten auf die Erde rutschen ließ. In allen Zeitungen werden Fotos von ihm stehen, die Polizei wird eine Sonderkommission bilden, aber wo wollen sie in dieser Riesenstadt suchen? Nur ein Zufall konnte helfen, der Zufall, dass jemand ihn in das Hotel Bambusgarten hatte gehen sehen und ihn nun in der Zeitung wiedererkannte.

Tawan lief ins Haus zurück und traf Sangra und Vinja in der Küche an. Er setzte sich schwer auf einen Stuhl und klemmte die Hände zwischen die Knie.

Sangra blickte ihn fast lauernd an. »Was hast du?«, fragte sie.

»›Was haben wir?‹, muss es heißen!« Tawan atmete tief durch. »Glaubt ihr, mit dem Begraben des Toten wären alle Probleme gelöst?«

»Ja. Keiner wird ihn finden.«

»Und wenn ihn jemand hat ins Haus gehen sehen und ihn auf einem Foto wiedererkennt? Die Zeitungen werden übermorgen sein Foto bringen.«

»Er kam, als es schon sehr dunkel war.«

»Wie ist er gekommen? Zu Fuß? Nein, irgendwo muss sein Wagen stehen, hier in der Nähe, oder noch schlimmer: Er ist mit einem Taxi gekommen; dann kann sich der Taxifahrer sofort erinnern.«

»Das ist wahr, Onkel Tawan.« Vinja saß auf dem Küchentisch und ließ ihre Beine baumeln. »Alle Spuren führen in unsere Gegend.«

»Nichts führt hierher!«, sagte Sangra grob. »Macht euch doch nicht selbst verrückt! Ihr habt ja keine Erfahrung, wie die feinen, geilen Herren das machen: Entweder parken sie ihre eigenen Autos ein paar Häuserblöcke weiter oder lassen die Taxis in anderen Straßen halten. Auf jeden Fall gehen sie die letzte Strecke zum Hotel zu Fuß!« Sie ging zu dem nun kalten Braten, schnitt ein dickes Stück ab und stopfte es sich in den Mund. Als sie es hinuntergewürgt hatte, leckte sie sich über die Lippen, die fettig von Bratensoße waren. »Auf uns fällt kein Verdacht! Ich bin der Polizei bekannt als seriöses Unternehmen. Tawan, grab weiter!«

Nach zwei Stunden war alle Arbeit getan. Das Hotel war sauber gewischt, die Zimmer hergerichtet, der Tote im Garten begraben, direkt an der Grundstücksmauer.

»Hier legen wir ein Blumenbeet an«, hatte Tawan gesagt. »Oder wir pflanzen Gemüse und Tomaten.«

»Ich soll davon ein Stück essen?«, kreischte Sangra entsetzt. »Ich würde ersticken, vor Ekel sterben! Tawan, was bist du für ein Mensch!«

»Wir haben in den Slums das angefaulte Fleisch aus den Müllbergen geholt und es zusammen mit den Würmern gebraten. Keiner ist daran gestorben.«

»Ich bin nicht die Slums, ich bin ein angesehenes Hotel!«, sagte Sangra voller Stolz. »Aber darüber reden wir noch.« Sie ging hinunter, schloss die Eingangstür auf, nahm das Schild »Wegen Umbaus geschlossen« ab und knipste die Außenlampen an. Das Leuchtschild »Hotel Bambusgarten« flammte in roter Schrift auf.

Eine Stunde später waren zehn Zimmer belegt. Vinja schlief bereits, sie war sehr müde gewesen, die Ereignisse der letzten Stunden hatten sie doch sehr angegriffen. Hinter der Theke saß ein alter, bärtiger Inder mit einem Turban, der Nachtwächter Immiam Chandi, zur Einrichtung des Hotels gehörend von der ersten Stunde an. Zu jedem Dienstantritt brachte er einen Totschläger mit, einen mit Bleikugeln gefüllten Lederstab. Er hatte ihn selbst hergestellt, aber noch nie gebraucht. Doch wusste man, was morgen oder übermorgen geschehen konnte?

Sangra saß mit Tawan in dem kleinen Büro hinter der »Reception«, sie tranken Bier und rauchten jeder eine lange, dünne Zigarre. Die Eingangstür klappte, durch die Bürotür hörte man Stimmengewirr.

»Das elfte Zimmer.« Sangra streckte zufrieden die dicken Beine von sich. »Eine gute Nacht. Wir haben nur gute Tage und Nächte, hast du das bemerkt, Tawan?«

»Das Hotel bringt Geld«, nickte Tawan.

»Weil es einen guten Namen hat.« Sangra hob die Zigarre vor ihre Augen und betrachtete die weiße Asche. »Du bist ein wohlhabender Mann, nicht wahr, Tawan?«

»Ich glaube, ja.«

»Was willst du mit dem Geld anfangen? Willst du weiter an der Börse spekulieren?«

Tawan dachte an seine Partner Dakhin und Subhash. Er hob die Schultern und antwortete wahrheitsgetreu: »Ich weiß es noch nicht.«

»Willst du heiraten?«

»Nein.«

»Warum nicht? Willst du keine Kinder haben?«

»Mein Kind ist Vinja. Alles soll sie mal allein erben.« Er zog wieder an seiner Zigarre und sah dem zur Decke schwebenden Rauch nach. »Ich dachte immer daran, ein Geschäft aufzumachen, irgendein Geschäft, aber ich habe eingesehen: Die Arbeit an der Börse ist bequemer, müheloser. Man kann an einem guten Tag mehr verdienen als ein Hafenarbeiter im ganzen Jahr. Man muss nur Glück haben.«

»Hat der Mensch immer Glück?«, fragte Sangra philosophisch. »Nein! Kann er auf das Glück vertrauen? Nie! Glück ist wie eine Hure: Mal liegt sie mit dir im Bett, mal spuckt sie dich an! Du solltest dein Geld sicher arbeiten lassen. Sieh mich an, mein Hotel ist fast immer ausverkauft. Rund um die Uhr. Man kann mit heimlicher Liebe eine Menge Geld verdienen.«

»Das tust du. Das ist wahr.« Tawan sah sie forschend an. »Soll ich einen Puff aufmachen? Ist das dein Rat?«

»Nein. Ich weiß etwas Besseres.« Sangra legte die Zigarre in den Aschenbecher und erhöhte die Spannung, indem sie eine Weile schwieg. Dann sagte sie so plötzlich, dass Tawan zusammenzuckte: »Steig als mein Partner bei mir ein.«

»Ich soll –« Tawan holte tief Atem. »Ich soll den ›Bambusgarten‹ – du bietest mir dein Hotel an?«