Huxley,Aldous Eine Gesellschaft auf dem Lande

PIPER

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Neuauflage einer früheren Ausgabe

Übersetzt aus dem Englischen von Herbert Schlüter

ISBN 978-3-492-97659-6

April 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Chatto & Windus, London 1949

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Crome Yellow«, Chatto & Windus, London 1921

© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1977, 1991

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo, Buchloe

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ERSTES KAPITEL

Auf dieser Strecke hatte noch nie ein Schnellzug verkehrt. Hier hielten die Züge – viele waren es nicht – auf jeder Station. Denis kannte die Namen auswendig: Bole, Tritton, Spavin Delawarr, Knipswich über Timpany, West Bowlby und endlich Camlet-on-the-Water. In Camlet pflegte er auszusteigen, während der Zug sich träge weiterschleppte, Gott mochte wissen, wohin, jedenfalls in das grüne Herz Englands.

Der Zug verließ mit schnaufender Lokomotive West Bowlby. Gott sei Dank war es nur noch eine Station. Denis nahm das Gepäck aus dem Netz und stapelte es ordentlich auf dem Eckplatz gegenüber auf. Ein müßiges Unterfangen. Aber man musste etwas zu tun haben. Als er fertig war, ließ er sich wieder auf seinen Platz fallen und schloss die Augen. Die Hitze war unerträglich.

Oh, diese Reise! Es waren zwei verlorene Stunden seines Lebens, zwei Stunden, in denen er so viel hätte tun können – zum Beispiel das vollkommene Gedicht schreiben oder das Buch lesen, das der Schlüssel zu allem war. Stattdessen wurde ihm übel vom Geruch der schmutzigen Polstersitze.

Zwei Stunden. Hundertundzwanzig Minuten. Alles Mögliche ließe sich in dieser Zeitspanne tun. Alles. Und nichts. Hatte er nicht Hunderte solcher Stunden gehabt? Was hatte er mit ihnen getan? Er hatte sie vergeudet, die kostbaren Minuten verströmen lassen, als ob sein Vorrat unerschöpflich sei. Denis stöhnte innerlich auf, voll äußerster Missachtung gegen sich und alle seine Werke. Welches Recht hatte er, in der Sonne zu sitzen, auf einem Eckplatz in einem Dritter-Klasse-Abteil, ja, überhaupt zu leben? Keines, gar keines.

Ein Gefühl der Qual, ein unsäglicher, wehmütiger Schmerz erfüllten ihn. Er war dreiundzwanzig und er war sich dieses Umstands qualvoll bewusst.

Mit einem kräftigen Ruck hielt der Zug. Endlich war man in Camlet. Denis sprang auf, stülpte sich den Hut bis über die Augen und brachte den Stapel seines Gepäcks wieder durcheinander, um sich dann aus dem Fenster zu lehnen und laut nach einem Gepäckträger zu rufen. Er nahm, in jede Hand eine Reisetasche, die er jedoch gleich wieder absetzen musste, um die Abteiltür zu öffnen. Als er mit seinem Gepäck glücklich auf dem Bahnsteig gelandet war, lief er den Zug entlang bis zum Gepäckwagen.

»Mein Fahrrad, mein Fahrrad!«, erklärte er atemlos dem Zugbegleiter. Er fühlte sich ganz als Mann der Tat. Doch der Beamte schenkte ihm keine Beachtung und fuhr fort, planmäßig eins nach dem andern die für Camlet bestimmten Frachtstücke auszuladen. »Mein Fahrrad!«, wiederholte Denis. »Ein grünes Herrenrad auf den Namen Stone. S-T-O-N-E.«

»Immer der Reihe nach, Sir«, sagte der Beamte beschwichtigend. Er war ein großer stattlicher Mann mit einem Seemannsbart. Man konnte sich gut vorstellen, wie er zu Hause, inmitten seiner zahlreichen Familie seinen Tee trank. In diesem Ton sprach er gewiss mit seinen Kindern, sobald die lästig wurden. »Immer eins nach dem andern, Sir.« Der Mann der Tat platzte wie ein durchlöcherter Gummireifen.

Er ließ sein Gepäck am Bahnhof, um es später abholen zu lassen, und fuhr auf seinem Fahrrad los. Wenn er aufs Land ging, nahm er immer sein Rad mit. Es gehörte zu seiner Theorie der körperlichen Ertüchtigung. Einmal wollte er um sechs Uhr früh aufstehen und nach Kenilworth oder nach Stratford-on-Avon oder sonstwohin radeln. Außerdem gab es im Umkreis von zwanzig Meilen immer irgendeine normannische Kirche oder ein Tudor-Schloss, die auf einem Nachmittagsausflug besichtigt werden konnten. Irgendwie kam man zwar nie dazu, aber es war doch eine angenehme Vorstellung, dassdass das Fahrrad da war und man eines schönen Morgens tatsächlich um sechs Uhr aufstehen könnte.

Der Weg vom Bahnhof aus stieg allmählich an. Als Denis die Höhe erreicht hatte, fühlte er sich schon heiterer. Die Welt war gut, fand er. Die blauen Hügel in der Ferne, die bleichenden Garben an den Hängen des Kammwegs und der baumlose Horizont, der sich änderte, während er weiterfuhr – ja, das alles war gut. Er war überwältigt von der Schönheit der engen Talmulden, die tief in die Hänge zu beiden Seiten unter ihm einschnitten. Kurven, Kurven: er wiederholte langsam das Wort, während er zugleich nach einem anderen suchte, das seinen Eindruck besser wiedergab. Kurven – nein, das traf es nicht ganz. Er machte eine Handbewegung, wie um den vollkommenen Ausdruck aus der Luft zu greifen, und fiel dabei beinahe vom Rad. Wo war das Wort, mit dem man die Kurven dieser kleinen Täler beschrieb? Sie waren schön wie die Formen eines menschlichen Körpers, sie waren subtil wie ein Kunstwerk …

Galbe. Das war ein gutes Wort, aber es war französisch. Le galbe évasé de ses hanches: Gab es einen französischen Roman, in dem sich diese Wendung nicht fand? Er würde einmal ein Wörterbuch zum Gebrauch von Romanschriftstellern zusammenstellen. Galbe, gonflé, goulu; parfum, peau, pervers, potelé, pudeur; vertu, volupté.

Im Ernst, er musste das Wort finden. Kurven, Kurven … Diese kleinen Täler hatten die Umrisse einer Schale, die sich um eine Frauenbrust schmiegte; sie waren wie der Abdruck eines gewaltigen göttlichen Körpers, der auf diesen Hügeln geruht hatte. Alles schwerfällige Wendungen, aber sie schienen ihm dem, was er suchte, näher zu bringen. Sich schmiegend, schmeichelnd, sich wiegend – seine Gedanken irrten durch die hallenden Korridore der Assonanzen und Alliterationen immer weiter weg vom Ziel. Er war verliebt in die Schönheit der Worte.

Als er sich der Außenwelt wieder bewusst wurde, befand er sich an einem Punkt, von wo aus der Weg steil und gerade in ein größeres Tal hinabführte. Drüben, am entgegengesetzten Hang, ein wenig oberhalb des Tals, lag sein Ziel: Crome. Er zog die Bremsen an; es war hübsch, bei diesem Blick auf Crome ein wenig zu verweilen. Die Fassade mit den drei vorspringenden Türmen stieg steil aus dem Dunkel der Bäume hervor. Das Haus lag im hellen Sonnenschein; die alten Backsteinmauern leuchteten rosenfarbig. Wie vollkommen, wie kostbar es war, von welch prachtvoller Abgeklärtheit! Und zugleich wie nüchtern-streng! Der Hügel fiel jetzt immer steiler ab; trotz seines Bremsens wurde seine Fahrt immer schneller. Er lockerte die Handbremse, und im Nu sauste er talabwärts. Fünf Minuten später fuhr er durch das Tor des großen Hofs. Die Haustür war gastlich weit geöffnet. Er lehnte das Rad an die Mauer und ging hinein. Er wollte sie überraschen.

ZWEITES KAPITEL

Er überraschte niemanden; es war niemand da, den er hätte überraschen können. Im Haus war alles still; Denis wanderte von einem leeren Zimmer ins andere und sah mit Vergnügen wieder die vertrauten Bilder und Möbel, auch all die kleinen Lebenszeichen, die hier und da herumlagen. Es war ihm eigentlich ganz lieb, dass sie alle draußen waren; er genoss es, durch das Haus zu wandern, als wolle er ein totes, verlassenes Pompeji erforschen. Auf was für Lebensformen würde der Ausgräber auf Grund dieser Überreste schließen? Mit was für Menschen diese leeren Räume bevölkern? Da war die lange Galerie mit ihren Reihen von Respekt erheischenden, aber (was man natürlich öffentlich nicht eingestehen konnte) ziemlich langweiligen italienischen Primitiven, mit den chinesischen Skulpturen und der unaufdringlichen, zeitlosen Möblierung. Da war der holzgetäfelte Salon mit den gewaltigen chintzbezogenen Sesseln, wahren Oasen der Behaglichkeit inmitten der strengen, das Fleisch kasteienden Antiken. Und da das Damenzimmer mit den Wänden in hellem Zitronengelb, den bunten venezianischen Stühlen und Rokokotischen, den Spiegeln und den modernen Bildern. Und dort die Bibliothek, kühl, geräumig, dunkel, mit den Bücherregalen vom Fußboden bis zur Decke, gespickt mit unheimlichen Folianten. Und da kam das Speisezimmer, gediegen englisch, voller Portwein-Atmosphäre sozusagen, mit dem großen Mahagonitisch, Stühlen und Büfett aus dem achtzehnten Jahrhundert, Bildern aus derselben Zeit – Familienporträts und Tierbildern, peinlich genau in der Wiedergabe. Was konnte man aus solchen Funden schließen? In der langen Galerie und in der Bibliothek war viel von Henry Wimbush, und vielleicht etwas von Anne im Damenzimmer. Das war alles. Inmitten dessen, was zehn Generationen hier angehäuft hatten, waren die Spuren der Lebenden nur gering.

Im Damenzimmer lag sein Versband auf dem Tisch. Wie taktvoll! Er nahm ihn in die Hand und schlug ihn auf. Es war das, was die Kritiker »einen schmalen Band« nennen. Sein Blick fiel auf die Zeilen:

… Aber die Stille und das unendliche Dunkel

Überwölben die Lichter des Lunaparks

Und in das Nachtdunkel höhlt

Blackpool sein strahlend turbulentes Grab.

Er legte das Buch wieder auf den Tisch, schüttelte den Kopf und seufzte. »Was für ein Genie ich doch damals war!«, dachte er, den altgewordenen Swift zitierend. Seit dem Erscheinen des Buches war knapp ein halbes Jahr vergangen, und er war überzeugt, dass er so etwas nie wieder schreiben würde. Wer mochte es hier gelesen haben? Vielleicht Anne; es war ihm ein sympathischer Gedanke. Vielleicht hatte sie sich sogar in der Nymphe der jungen Pappel wiedererkannt: als die schlanke Dryade, deren Bewegungen an das Sichwiegen eines jungen Baumes im Wind erinnerten. Die Frau, die ein Baum war, hatte er das Gedicht genannt. Er hatte ihr das Buch geschenkt, sobald es erschienen war, und gehofft, dass ihr das Gedicht sagen würde, was er selbst ihr nicht zu sagen wagte. Aber sie war nie darauf zu sprechen gekommen.

Er schloss die Augen und sah sie im Geiste, wie sie im roten Samtcape wiegenden Schritts das kleine Restaurant betrat, in dem sie in London zuweilen zu Abend aßen – sie mit einer Verspätung von einer dreiviertel Stunde, er an seinem Tisch wartend, gepeinigt von Sorge, Ärger und Hunger. Oh, sie war abscheulich!

Ihm fiel ein, dass seine Gastgeberin vielleicht in ihrem Boudoir war. Es war eine Möglichkeit; er wollte einmal nachsehen. Das Boudoir Mrs. Wimbushs befand sich im mittleren Turm auf der Gartenseite. Man erreichte es von der Halle aus über eine kleine Wendeltreppe. Denis stieg hinauf und klopfte an die Tür. »Herein!« Sie war also da; beinahe hatte er gehofft, sie nicht anzutreffen. Er öffnete die Tür.

Priscilla Wimbush lag auf dem Sofa. Sie hatte einen Schreibblock auf den Knien und saugte an dem Ende eines silbernen Bleistifts.

»Hallo!« Sie blickte auf. »Ich hatte ganz vergessen, dass Sie kommen.«

»Nun bin ich aber leider hier«, sagte Denis reumütig.

»Es tut mir furchtbar leid.«

Mrs. Wimbush lachte. Ihre Stimme und ihr Lachen waren tief und klangen männlich. Alles an ihr war männlich. Sie hatte ein großes kantiges Gesicht – das Gesicht einer Frau mittleren Alters – mit einer großen vorspringenden Nase und kleinen grünlichen Augen, und das alles war gekrönt von einer kunstvoll hochgetürmten Frisur in merkwürdiger, unwahrscheinlicher Orangetönung. Bei ihrem Anblick musste Denis immer an Wilkie Bard als Sängerin denken.

Darum zieht es mich zur Oper

Da sing ich in der Oper

Und singe in der Opa-Opa-Opera.

Sie trug heute ein Kleid aus purpurroter Seide mit hohem Kragen und dazu eine Perlenschnur. In diesem Kostüm, das so sehr an »Herzoginwitwe« und »Königliche Familie« erinnerte, schien sie mehr denn je einem Music-Hall-Programm entsprungen.

»Was haben Sie die ganze Zeit über getan?«, fragte sie.

»Also«, begann Denis und zögerte ein wenig, nahezu mit Wollust. Er hatte nämlich einen ungemein amüsanten Bericht über London und Londoner Ereignisse fix und fertig im Kopf. Es würde ihm ein Vergnügen sein, ihn jetzt loszuwerden. »Also zunächst einmal…«

Aber er kam schon zu spät. Die Frage Mrs. Wimbushs war das, was die Grammatiker eine rhetorische Frage nennen: sie verlangte keine Antwort. Sie war nur eine kleine höfliche Floskel, ein Eröffnungszug im königlichen Spiel.

»Sie sehen mich mit meinen Horoskopen beschäftigt«, sagte sie, ohne auch nur zu merken, dass sie ihn unterbrach.

Schmerzlich berührt, beschloss Denis, seine Geschichte für empfänglichere Ohren aufzubewahren. Er begnügte sich, zu seiner Revanche, mit einem recht eisigen »Oh?«.

»Habe ich Ihnen schon erzählt, wie ich in diesem Jahr vierhundert im Grand National gewonnen habe?«

»Ja«, antwortete er, kühl und einsilbig. Sie hatte es ihm schon mindestens sechsmal erzählt.

»Wunderbar, nicht wahr? Es steht alles in den Sternen. Früher, als ich noch nicht die Sterne zu meiner Hilfe nahm, pflegte ich Tausende zu verlieren. Jetzt aber« – sie hielt einen Augenblick inne – »nun, denken Sie an die vierhundert Pfund im Grand National. Das machen die Sterne.«

Denis hätte gern etwas mehr über »früher« gehört. Aber er war zu diskret und, mehr noch, zu schüchtern, um sie zu fragen. Damals musste es so etwas wie einen Bankrott gegeben haben; mehr wusste er nicht. Die gute alte Priscilla – damals natürlich noch nicht so alt und dafür temperamentvoller – hatte sehr viel Geld verloren, hatte es mit vollen Händen bei jedem Rennen verschwendet. Sie hatte auch gespielt. Wie viel Tausende es genau waren, darüber gingen die Berichte auseinander, aber alle sprachen von einer großen Summe. Henry Wimbush hatte einige seiner italienischen Primitiven nach Amerika verkaufen müssen – einen Taddeo da Poggibonsi, einen Amico di Taddeo und vier oder fünf Sienesen. Es kam zu einer Krise. Zum ersten Mal in seinem Leben setzte Henry sich durch und das, wie es schien, mit gutem Erfolg.

Das flotte und flatterhafte Leben Priscillas erfuhr einen jähen Wandel. Jetzt blieb sie fast immer in Crome und pflegte irgendeine nicht näher bestimmte Krankheit. Um sich zu trösten, tändelte sie ein wenig mit der Neuen Philosophie und dem Okkultismus. Ihre Passion für Pferderennen war ihr freilich geblieben, und Henry, der im Grunde ein gutherziger Mensch war, bewilligte ihr ein monatliches Wettgeld von vierzig Pfund. Meistens verbrachte sie ihre Zeit damit, Horoskope für Rennpferde zu stellen; ihr Geld investierte sie wissenschaftlich, wie es ihr die Sterne diktierten. Sie wettete auch bei Fußballspielen und trug die Horoskope sämtlicher Ligaspieler in ein großes Notizbuch ein. Das Horoskop der einen Elf gegen das einer anderen abzuwägen war ein heikles, schwieriges Unterfangen. Ein Spiel zwischen zwei Mannschaften brachte einen so weittragenden und komplizierten Konflikt im Himmel mit sich, dass es nicht zu verwundern war, wenn ihr zuweilen bei ihren Berechnungen ein Irrtum unterlief.

»Es ist so schade, dass Sie an diese Dinge nicht glauben, Denis«, sagte Mrs. Wimbush mit ihrer tiefen deutlichen Stimme. »Wirklich schade.«

»Ich kann es nicht so sehen.«

»Weil Sie nicht wissen, was Glauben heißt. Sie ahnen nicht, wie aufregend und lustig das Leben wird, wenn man glaubt. Alles, was geschieht, hat eine Bedeutung; nichts, was man tut, ist je ohne Bedeutung. Das macht das Leben so schön, verstehen Sie. Hier bin ich nun in Crome. Sterbenslangweilig, werden Sie denken. Aber nein, das finde ich nicht. Ich weine den alten Zeiten keine Träne nach. Ich habe die Sterne …« Sie nahm einen Bogen von der Schreibunterlage auf. »Das Horoskop Inmans«, erklärte sie. »Ich will es in diesem Herbst einmal mit der Billardmeisterschaft versuchen … Ich suche die Harmonie mit dem Unendlichen.« Sie begleitete ihre Worte mit einer winkenden Handbewegung. »Und dann gibt es das Jenseits und all die Geister, und die Aura, die jeder Mensch hat, und Mrs. Eddy mit der Christian Science, die sagt, dass es keine Krankheit gibt, und die christlichen Mysterien und Mrs. Besants Theosophie. Es ist alles so wunderbar, keinen Augenblick hat man Langeweile. Ich kann mir überhaupt nicht mehr vorstellen, wie ich früher lebte – vordem. Vergnügen? Ein ewiges Herumlaufen, das war es. Lunch, Tee, Dinner, Theater, das Souper – jeden Tag dasselbe. Natürlich machte es Spaß, solange man dabei war. Aber es blieb nicht viel davon zurück. Darüber hat übrigens Barbecue-Smith etwas recht Gutes in seinem neuen Buch geschrieben. Wo habe ich es?«

Sie richtete sich auf und griff nach einem Buch, das auf dem kleinen Tisch am Kopfende des Sofas lag.

»Kennen Sie ihn zufällig?«

»Wen?«

»Mr. Barbecue-Smith.«

Denis wusste ungefähr Bescheid über ihn. Barbecue-Smith war ein Name aus den Sonntagsblättern. Er schrieb über »Lebenshilfe«. Er hätte auch der Autor eines Buches »Was ein junges Mädchen wissen muss« sein können.

»Nein, nicht persönlich.«

»Ich habe ihn für das nächste Wochenende eingeladen.« Sie blätterte in dem Buch. »Da ist die Stelle, die ich meine. Ich habe sie angestrichen. Ich streiche mir immer die Stellen an, die mir gefallen.«

Das Buch fast auf Armeslänge von sich abhaltend – sie war ein wenig weitsichtig – begann sie, langsam und mit bühnengerechter Betonung vorzulesen, nicht ohne den Text mit ausdrucksvollen Bewegungen ihrer freien Hand zu begleiten.

»›Was sind Tausend-Pfund-Pelzmäntel, was sind Einkommen von einer Viertelmillion?‹« Mit einer theatralischen Bewegung ihres Hauptes blickte sie auf, und die orangenfarbene Frisur nickte bedrohlich. Er betrachtete sie fasziniert. War dies ihr eigenes Haar, mit Henna gefärbt, oder war es eine jener Perücken, die in den Anzeigen als »Zweitfrisur« bezeichnet wurden?

»›Was sind Thron und Szepter?‹«

Die orangenfarbene Perücke – ja, es musste eine sein – wippte.

»›Was sind die Feste der Reichen, die Pracht der Mächtigen, der Stolz der Großen, was sind die lauten Vergnügungen der großen Welt?‹«

Sie senkte plötzlich ihre Stimme, die sie mit jeder Frage mehr erhoben hatte, und gab die Antwort mit dunkel tönender Stimme.

»›Nichts sind sie. Eitelkeit, eine Handvoll Staub, Spreu im Winde, ein Fieberhauch. Alles, worauf es ankommt, ereignet sich in unserem Herzen. Süß ist die Welt des Sichtbaren, aber die des Unsichtbaren bedeutet tausendmal mehr. Was im Leben zählt, ist das Unsichtbare.‹«

Mrs. Wimbush ließ das Buch sinken. »Großartig, nicht wahr?«

Denis wollte lieber keine Meinung äußern, er beschränkte sich auf ein unverbindliches »Hm«.

»Ja, es ist ein schönes Buch, ein wunderbares Buch«, sagte Priscilla, während sie die Seiten unter dem Daumen zurückschnellen ließ. »Hier ist die Stelle über den Lotosteich. Er vergleicht die Seele mit einem Lotosteich, wissen Sie?« Sie hob das Buch wieder hoch und las: »›Einer meiner Freunde hat in seinem Garten einen Lotosteich. Er liegt in einem kleinen engen Tal, überwachsen von Wild- und Heckenrosen, in denen die Nachtigall den ganzen Sommer lang ihr Liebeslied flötet. Im Teich blühen die Lotosblumen, und die Vögel der Luft kommen, um in dem kristallklaren Wasser zu trinken und zu baden …‹ Ach, da fällt mir ein«, rief Priscilla plötzlich, während sie das Buch zuklappte und in lautes tiefes Lachen ausbrach – »da fällt mir ein, was sich in unserem Badeteich abspielte, seitdem Sie das letzte Mal hier waren. Wir hatten den Leuten vom Dorf erlaubt, am Abend zu kommen und hier zu baden. Sie können sich nicht vorstellen, was passierte.«

Sie beugte sich zu ihm, ihre Stimme ging in ein vertrauliches Flüstern über, und hin und wieder ließ sie ihr tiefes gurgelndes Lachen hören. »… Gemeinsames Baden beider Geschlechter … ich konnte sie von meinem Fenster aus sehen … ließ mir ein Fernglas bringen, um mich zu überzeugen … nein, es gab keinen Zweifel …« Wieder ertönte ihr Lachen. Auch Denis lachte. Barbecue-Smith stürzte zu Boden.

»Es wird Zeit, dass wir uns um unseren Tee kümmern«, sagte Priscilla. Sie gab sich einen Ruck und stand auf. Es raschelte, als sie, kräftig ausschreitend unter der schleppenden Seide, das Zimmer durchquerte. Denis folgte. Leise summte er vor sich hin:

Darum zieht es mich zur Oper

Da sing ich in der Oper

Und singe in der Opa-Opa-Opera.

Und am Ende den kleinen Schnörkel der Begleitung: »ra-ra.«

DRITTES KAPITEL

Die Terrasse vor dem Haus war ein langer schmaler Rasenstreifen, den vorn eine anmutig geschwungene steinerne Balustrade begrenzte. An beiden Enden stand ein kleines Gartenhaus aus Backstein. Unter dem Haus fiel der Boden steil ab, die Terrasse lag sehr hoch; von dem Geländer bis zu der schräg abfallenden Rasenfläche ging es zehn Meter steil abwärts. Von unten her gesehen, bot die hohe und glatte, wie das Haus aus Backstein gemauerte Terrassenwand den drohenden Anblick einer Befestigung – einer Burgbastei, von deren Brustwehr aus man über Abgründe hinweg in die Ferne sah. Unten, im Vordergrund, lag inmitten grüner Massen beschnittener Eiben der Badeteich mit steinernem Rand. Dahinter erstreckte sich der Park mit seinen mächtigen Ulmen, den weiten grünen Rasenflächen bis zu dem schimmernden schmalen Fluss im Grunde des Tals. Hinter dem Fluss stieg der Boden mit seinem Schachbrettmuster von Äckern und Feldern langsam wieder an. Weiter oben rechts sah man jenseits des Tals in der Ferne eine Reihe blauer Hügel.

Man hatte den Teetisch in den Schatten eines der beiden Gartenhäuser gestellt, und die Gäste waren bereits um ihn versammelt, als Denis und Priscilla erschienen. Henry Wimbush hatte damit begonnen, den Tee einzuschenken. Er gehörte zu jenen alterslosen, sich immer gleich bleibenden Männern über fünfzig, die ebensogut dreißig Jahre wie sonst wie alt sein mochten. Denis kannte ihn, fast solange er denken konnte. Und in all diesen Jahren war sein blasses hübsches Gesicht niemals älter geworden; es war wie die hellgraue Melone, die er Sommer wie Winter trug – ohne zu altern, ruhig, von ausdrucksloser Heiterkeit.

Neben ihm saß Jenny Mullion, – neben ihm, aber getrennt von ihm wie auch von der übrigen Welt durch die so gut wie unüberwindliche Barriere ihrer Schwerhörigkeit. Sie war etwa dreißig Jahre alt, stupsnäsig, von hellem Teint, weiß und rosa, und sie trug ihr braunes Haar als Schneckenfrisur. Wie abgesondert saß sie in dem geheimen Turm ihrer Taubheit und beobachtete mit wachen, durchdringenden Blicken die Welt unter ihr. Was dachte sie wohl von den Männern, Frauen und Dingen um sie herum? Dahinter war Denis noch nicht gekommen. In ihrer geheimnisvollen Unnahbarkeit war sie ein wenig beunruhigend. So schien sie sich zum Beispiel jetzt über einen geheimen Scherz zu amüsieren, denn sie lächelte vor sich hin, und ihre braunen Augen waren wie zwei glänzende runde Murmeln.

Auf der anderen Seite Henrys leuchtete das Gesicht Mary Bracegirdles kindlich und rosig in seiner ernsten mondhaften Unschuld. Sie war fast dreiundzwanzig Jahre alt, aber niemand hätte sie für so alt geschätzt. Ihr kurzes, nach Pagenart geschnittenes Haar hing wie eine Glocke aus elastischem Gold über ihren Wangen. Sie hatte große blaue Porzellanaugen, aus denen naiver Ernst und oft verlegenes Staunen sprachen.

Neben Mary saß, sehr steif und aufrecht, ein kleiner hagerer Mann. In seiner Erscheinung glich Mr. Scogan einem Exemplar der ausgestorbenen Gattung der Vogeleidechsen aus dem Tertiär. Seine Nase sprang spitz und schnabelförmig vor, und seine dunklen Augen hatten den blanken flinken Blick eines Rotkehlchens. Dennoch hatte er nichts Sanftes, Anmutiges oder Flaumiges an sich; die Haut seines runzeligen braunen Gesichts wirkte trocken und schuppig, und seine Hände waren Krokodilshände. Seine raschen Bewegungen hatten wie die der Eidechse das Verwirrend-Abrupte eines aufgezogenen Uhrwerks; seine Stimme war dünn, flötend, trocken. Mr. Scogan, ein Schulkamerad Henry Wimbushs und genauso alt wie er, sah dennoch viel älter und zugleich viel jugendlicher und lebendiger aus als dieser liebenswürdige Aristokrat mit dem Gesicht einer grauen Melone.

Mr. Scogan glich vielleicht einem ausgestorbenen Saurier, doch Gombauld war ganz und gar menschlich. In den alten Naturgeschichten aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts hätte er auf einem Stahlstich gut als typischer Vertreter des Homo sapiens figurieren können – eine Ehre, die zu jener Zeit im Allgemeinen Lord Byron vorbehalten blieb. Tatsächlich hätte Gombauld mit etwas mehr Haaren und etwas weniger Kragen völlig byronsch ausgesehen – mehr als das, denn Gombauld war provenzalischer Abstammung, ein schwarzhaariger junger Korsar von etwa dreißig Jahren, mit blendenden Zähnen und leuchtenden großen dunklen Augen. Voller Neid betrachtete ihn Denis. Er war eifersüchtig auf seine Begabung.

Wenn er so gute Verse schreiben könnte, wie Gombauld gute Bilder malte! Noch mehr aber beneidete er in diesem Augenblick Gombauld um sein Aussehen, seine Vitalität, die ungezwungene Sicherheit seines Auftretens. War es so verwunderlich, dass Anne ihn gern hatte? Gern haben? Es könnte auch Schlimmeres sein, dachte Denis mit Bitterkeit, als er jetzt neben Priscilla über die lange Rasenterrasse ging.

Zwischen den Plätzen Gombaulds und Mr. Scogans stand ein ziemlich flach gestellter Liegestuhl mit dem Rücken zu den Näherkommenden. Gombauld beugte sich gerade über ihn. Sein Mienenspiel war lebhaft, er lächelte, er lachte und begleitete alles mit flinken Bewegungen seiner Hände. Aus der Tiefe des Liegestuhls drang ein weiches, träges Lachen. Denis zuckte zusammen. Wie gut kannte er dieses Lachen! Was für Gefühle rief es in ihm wach! Er beschleunigte seinen Schritt.

In ihrem niedrigen Liegestuhl lag Anne mehr, als dass sie saß. Ihr langer, schlanker Körper ruhte in einer Pose von schlaffer, lässiger Anmut. Das von hellbraunem Haar gerahmte Gesicht war von einer angenehmen Regelmäßigkeit, die fast etwas Puppenhaftes hatte. In manchen Augenblicken schien sie wirklich nichts weiter als eine Puppe zu sein: wenn ihr ovales Gesicht mit den langwimprigen hellblauen Augen nichts ausdrückte und es nur eine träge wächserne Maske war. Sie war eine Nichte Henry Wimbushs. Die indolente Haltung gehörte zum Erbe der Wimbushs. Sie lag in der Familie, und bei ihren weiblichen Mitgliedern zeigte sie sich als ausdrucksloses Puppengesicht. Aber über der Puppenmaske spielte wie eine fröhliche Melodie über dem gleich bleibenden Fundamentalbaß das andere Erbe der Familie: das rasche Lachen, die leichte ironische Belustigung und der wechselnde Ausdruck für viele Stimmungen. Als sich jetzt Denis über sie beugte, lächelte sie ihm zu. Ihr Katzenlächeln nannte er es, ohne eigentlich einen rechten Grund dafür zu haben. Ihr Mund blieb zusammengepresst, und an den beiden Seiten gruben sich zwei kleine Fältchen in die Wangen. Es lag unendlich viel von leicht boshaftem Amüsiertsein in diesen Mundwinkeln, in den kleinen Fältchen um die Augen, ja in den Augen selbst, so strahlend und lachend zwischen zusammengezogenen Lidern.

Nach der ersten Begrüßung fand Denis einen freien Stuhl zwischen Gombauld und Jenny. Er setzte sich.

»Wie geht es Ihnen, Jenny?«, fragte er mit lauter Stimme. Jenny nickte und lächelte, rätselhaft verschwiegen, als ob der Zustand ihrer Gesundheit ein vor der Öffentlichkeit zu hütendes Geheimnis sei.

»Was hat sich in London seit meiner Abreise getan?«, fragte Anne aus der Tiefe ihres Liegestuhls.

Der Moment war gekommen. Sein unglaublich amüsanter Bericht wartete nur darauf, abgerufen zu werden. »Also«, begann Denis mit einem glücklichen Lächeln, »zunächst muss ich …«

»Hat Ihnen Priscilla von unserer fabelhaften archäologischen Entdeckung erzählt?« Henry Wimbush beugte sich vor. Denis’ verheißungsvoller Beginn war schon im Keim erstickt.

»Zunächst einmal«, wiederholte Denis seinen verzweifelten Versuch, »war da das Ballett …«

»In der vorigen Woche«, fuhr Mr. Wimbush sanft und unerbittlich fort, »haben wir fünfzig Meter eichene Abflussrohre ausgegraben. Einfach Baumstämme mit einem Loch, durch die Mitte gebohrt. Sehr aufschlussreich. Ob sie dort von den Mönchen im fünfzehnten Jahrhundert installiert worden sind, oder …«

Mit düsterer Miene hörte Denis zu. »Fantastisch!«, sagte er, als Mr. Wimbush fertig war, »einfach fantastisch!« Er nahm sich ein zweites Stück Kuchen. Jetzt hatte er nicht einmal mehr Lust, seinen Londoner Bericht zu geben. Er war entmutigt.

Schon seit einiger Zeit ruhten Marys ernste blaue Augen auf ihm. »Was haben Sie letzthin geschrieben?«, erkundigte sie sich. Sie freute sich auf ein kleines literarisches Gespräch.

»Oh, Verse und Prosa«, sagte Denis. »Einfach Verse und Prosa.«

»Prosa?« Mr. Scogan stürzte sich mit alarmierender Heftigkeit auf das Wort. »Sie haben Prosa geschrieben?«

»Ja.«

»Doch nicht einen Roman?«

»Doch.«

»Mein armer Denis! Und wovon handelt er?«

Denis empfand ein gewisses Unbehagen. »So von dem Üblichen, wissen Sie.«

»Natürlich«, stöhnte Mr. Scogan. »Ich werde Ihnen die Handlung erzählen. Der kleine Percy, der Held der Geschichte, hatte im Sport nie etwas geleistet, war aber ein intelligenter Junge. Er besuchte die übliche Public School, danach die übliche Universität. Er ging dann nach London und lebte dort im Künstlermilieu. Aber schwermütige Gedanken bedrücken ihn; er trägt auf seinen Schultern das Gewicht der ganzen Welt. Dann schreibt er einen ungemein brillanten Roman, spielt fein und klug mit der Liebe und verschwindet am Ende des Buches in eine strahlende Zukunft.«

Denis stieg glühende Röte ins Gesicht. Mr. Scogan hatte die Fabel seines Romans mit erschreckender Genauigkeit wiedergegeben. Er versuchte ein Lachen. »Da irren Sie sich aber gründlich«, sagte er. »Damit hat mein Roman nicht die geringste Ähnlichkeit.« Es war eine heroische Lüge. Glücklicherweise hatte er erst zwei Kapitel geschrieben. Er nahm sich vor, sie noch an diesem Abend zu zerreißen, wenn er seine Sachen auspackte.

Mr. Scogan schenkte seinem Dementi keine Beachtung. »Warum«, fuhr er fort, »müsst ihr jungen Leute immer über so gänzlich uninteressante Dinge schreiben wie die Mentalität von Heranwachsenden und von Künstlern? Vielleicht ist es für einen Anthropologen gelegentlich interessant, die Glaubensvorstellungen des Australnegers mit den philosophischen Problemen des jungen Studenten zu vergleichen. Aber Sie können von einem normalen erwachsenen Mann wie mir nicht erwarten, dass ihn die Geschichte der geistigen Skrupel dieses Studenten sehr bewegt. Und schließlich und endlich gibt es in England, sogar auch in Deutschland und Russland, mehr Erwachsene als Jugendliche. Und was die Künstler betrifft, so haben ihre Probleme ganz und gar nichts mit denen des normalen Erwachsenen zu tun – rein ästhetische Probleme, die sich Leuten wie mir überhaupt nicht stellen –, sodass die Beschreibung ihrer intellektuellen Bemühungen für den schlichten Leser so langweilig ist wie etwa ein Werk der reinen Mathematik. Ein seriöses Buch über Künstler als Schöpfer von Kunstwerken ist unlesbar; und ein Buch über Künstler als Liebhaber, Ehemänner, Alkoholiker, Helden oder Ähnliches lohnt sich nicht mehr zu schreiben. Jean-Christophe ist der stereotype Künstler in der Literatur, so wie Professor Radium der stereotype Mann der Wissenschaft in den Comics ist.«

»Da höre ich zu meinem Leidwesen, wie uninteressant ich bin«, sagte Gombauld.

»Aber keineswegs, mein lieber Gombauld«, beeilte sich Mr. Scogan zu erklären. »Ich bezweifle gar nicht, dass Sie als Liebhaber oder Alkoholiker ein faszinierendes Exemplar sind. Aber wenn Sie auf der Leinwand Formen nebeneinanderstellen, sind Sie – wie Sie zugeben müssen, wenn Sie ehrlich sind – einfach langweilig.«

»Da bin ich absolut anderer Meinung«, erklärte Mary nachdrücklich. Sie geriet immer etwas außer Atem, wenn sie sprach, und so musste sie sich ständig unterbrechen, um nach Luft zu schnappen. »Ich kenne sehr viele Künstler und habe ihre Mentalität immer sehr interessant gefunden. Besonders in Paris. Tschuplitski zum Beispiel – ich war in diesem Frühjahr in Paris sehr viel mit Tschuplitski zusammen …«

»Sie sind allerdings eine Ausnahme, Mary, Sie sind ein besonderer Fall«, versicherte Mr. Scogan. »Sie sind eine femme supérieure.«

Sie errötete vor Vergnügen, und ihr Gesicht glich einem strahlenden Sommervollmond.

VIERTES KAPITEL

Als Denis am nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne an einem wolkenlosen Himmel. Er beschloss, seine weißen Flanellhosen anzuziehen – weiße Flanellhosen zum schwarzen Jackett mit seidenem Hemd und der neuen pfirsichfarbenen Krawatte. Und die Schuhe? Natürlich sprach alles für Weiß, aber etwas Verlockendes hatte für ihn auch der Gedanke an seine schwarzen Lackschuhe. Er blieb noch ein paar Minuten im Bett liegen, um die Frage zu bedenken.

Bevor er hinunterging – er hatte sich für die schwarzen Lackschuhe entschieden – warf er einen kritischen Blick in den Spiegel. Sein Haar, fand er, hätte ein bisschen goldener sein können. Flachsblond, wie es war, hatte es einen Stich ins Grünliche. Aber seine Stirn war gut. Die hohe Stirn machte wett, was dem Kinn an Entschlossenheit fehlte. Seine Nase hätte er sich ein wenig länger gewünscht, doch sie mochte hingehen, und seine Augen hätten ihm blau besser gefallen als grün. Aber sein Jackett war gut geschnitten, und diskret wattiert ließ es ihn kräftiger erscheinen, als er war. Die weiß bekleideten Beine waren lang und elegant. Zufrieden stieg er die Treppe hinunter. Die meisten hatten schon gefrühstückt. Er war allein mit Jenny.

»Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen«, sagte er.

»Ja, ist es nicht prächtig?«, erwiderte Jenny und nickte rasch zweimal zur Bestätigung. »Aber in der vorigen Woche hatten wir furchtbare Gewitter.«

Parallelen treffen sich nur im Unendlichen, dachte Denis. Er könnte auf ewig vom Glück des Schlafs sprechen und sie bis ans Ende der Zeiten vom meteorologischen Geschehen. Gab es je einen Kontakt mit dem andern? Wir sind alle Parallelen. Nur Jenny war noch ein bisschen paralleler als die meisten.

»Eine Tortur für die Nerven, diese Gewitter«, bemerkte er, während er sich etwas Porridge auf den Teller tat.

»Finden Sie nicht? Oder sind Sie über Angst erhaben?«

»Nein. Bei Gewitter gehe ich immer ins Bett. Man ist im Liegen sehr viel sicherer.«

»Wieso das?«

»Weil«, und hier machte Jenny eine anschauliche Handbewegung, »weil der Blitz immer nur von oben nach unten geht, nie aber waagerecht einschlägt. Wenn man liegt, ist man außerhalb des Stromkreises.«

»Sehr raffiniert.«

»Es ist wahr.«

Es folgte ein Schweigen. Denis aß seinen Haferbrei und nahm danach eine Scheibe Speck. Weil ihm nichts Besseres einfiel und ihm aus irgendeinem Grund die absurde Bemerkung Mr. Scogans nicht aus dem Kopf ging, fragte er Jenny:

»Halten Sie sich für eine femme supérieure?« Er musste die Frage mehrmals wiederholen, bis sie sie verstand.

»Nein«, antwortete sie ziemlich ungehalten, als sie endlich begriffen hatte, was Denis sagte. »Natürlich nicht. Hat das jemand von mir behauptet?«

»Nein«, sagte Denis. »Mr. Scogan hat Mary erklärt, sie sei eine solche Frau.«

»So?« Jenny senkte die Stimme. »Soll ich Ihnen verraten, was ich von dem Mann halte? Ich halte ihn für einen etwas undurchsichtigen Charakter.«

Nachdem sie diese Erklärung abgegeben hatte, zog sie sich wieder in den Elfenbeinturm ihrer Schwerhörigkeit zurück und schloss die Tür hinter sich. Denis konnte sie nicht dazu bringen, noch irgend etwas zu sagen, nicht einmal, ihm zuzuhören. Sie lächelte ihm nur zu, lächelte und nickte zuweilen mit dem Kopf.

Denis ging auf die Terrasse, um seine erste Pfeife nach dem Frühstück zu rauchen und die Morgenzeitung zu lesen. Als eine Stunde später Anne herunterkam, fand sie ihn noch immer über seiner Zeitung. Er war mittlerweile bis zu den Hofnachrichten und Heiratsanzeigen vorgedrungen. Er erhob sich, um sie zu begrüßen, als sie, eine Dryade in weißem Musselin, über den Rasen näher kam.

»Denis, Sie sehen einfach entzückend aus in Ihren weißen Hosen!«

Damit hatte sie ihn aus der Fassung gebracht, hierauf gab es keine Erwiderung. »Sie sprechen mit mir, als wäre ich ein kleines Kind, das ein neues Kleid anhat«, sagte er, ohne aus seinem Ärger ein Hehl zu machen.

»Aber so empfinde ich Ihnen gegenüber, mein lieber Denis.«

»Das dürfen Sie nicht.«

»Ich kann’s nicht ändern. Ich bin so viel älter als Sie.«

»Das fehlte noch. Vier Jahre älter!«

»Und wenn Sie nun einfach entzückend aussehen in Ihren weißen Hosen, warum darf ich es dann nicht sagen? Und warum haben Sie sie angezogen, wenn Sie nicht glaubten, darin entzückend auszusehen?«

»Wollen wir nicht in den Garten gehen?« Denis war verstimmt. Das Gespräch hatte eine so lächerliche und unerwartete Wendung genommen. Er hatte eine ganz andere Eröffnung geplant, etwa mit einer Bemerkung wie: »Sie sehen heute Morgen bezaubernd aus«, worauf sie dann hätte antworten müssen: »Finden Sie?«, und darauf wäre dann ein bedeutungsvolles Schweigen gefolgt. Und jetzt hatte sie mit seinen Hosen angefangen. Es war unerträglich; sein Stolz war verletzt.

Dieser Teil des Gartens, der von der Terrasse aus schräg zum Schwimmbecken hin abfiel, war nicht so sehr durch seine Farben als seine Formen schön. Er war bei Mondschein so schön wie bei Sonnenschein. Die silberne Fläche des Wassers und die dunklen Formen der Eiben und Ilex blieben zu jeder Stunde und in jeder Jahreszeit die charakteristischen Züge des Bildes. Es war eine Landschaft in Schwarz-Weiß. Für Farben war der Blumengarten da; er lag neben dem Badeteich, von dem ihn eine gewaltige Wand von ineinandergewachsenen Eiben trennte. Man schritt durch einen Tunnel in der Hecke, öffnete eine Pforte in der Mauer und befand sich plötzlich überrascht in der Welt der Farben. Die Juli-Beete loderten und flackerten in der Sonne. Umgeben von hohen Backsteinmauern war der Garten wie ein großer Speicher von Wärme, Düften und Farben.

Denis hielt das kleine eiserne Gartentor für Anne auf. »Es ist, wie wenn man von einem Kloster in einen orientalischen Palast tritt«, sagte er und sog tief die warme düftegeschwängerte Luft ein. »›Sie schießen Düftesalven ab …‹ Wie geht es noch?«

Well shot, ye firemen! O how sweet

And round your equal fires do meet;

Whose shrill report no ear can tell;

But echoes to the eye and smell…

»Sie haben die schlechte Angewohnheit zu zitieren«, sagte Anne. »Da ich weder je den Zusammenhang noch den Autor kenne, empfinde ich es als Demütigung.«

»Daran ist unsere Erziehung schuld«, entschuldigte sich Denis. »Irgendwie erscheint uns etwas wirklicher und lebendiger, wenn wir darüber eine von einem andern vorgeprägte Wendung gebrauchen können. Außerdem gibt es so viele schöne Namen und Wörter – zum Beispiel Monophysit, Iamblichos, Pomponazzi; man braucht sie nur triumphierend auszusprechen, schon fühlt man, wie man allein durch ihren magischen Klang alle Argumente für sich hat. Das sind Früchte der höheren Bildung.«

»Sie mögen Ihre Erziehung bedauern«, sagte Anne. »Ich schäme mich, keine zu haben. Sehen Sie die Sonnenblumen! Sind sie nicht prachtvoll?«