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Table of Contents

Ins Herz

Die Story

Der Autor

Das Schloss (Lageplan)

Jäger und Gejagte

Prolog

Der Duft von Blumenwiesen

Ein heikles Versprechen

Bei Tag und bei Nacht die Treue stets wacht

Wo Mauern aus den Bäumen wachsen

Kein Ort für Hofdamen

Das Geheimnis des Kastellans

Anfortas' Vasallen

Ein Schrei in der Nacht

Herzliebster, bist du tot?

Herzschläge

Schwindelnde Höhen

Kulturkämpfer

Nur der Mond war Zeuge

Unter einem schlechten Stern

Meicost Ettal

Von Träumen und Albträumen

Trau, schau, wem!

Ein kräftiger Schnitt

Ins Netz gegangen

Verräter

Zum Kalvarienberg

Die Schatulle

Hauch des Todes

Schatten

Letzte Worte

In Stein gemeißelt

Sterne, Mond und Regenbogen

Postskriptum

Historische Informationen

edition tingeltangel

Impressum

 

 

Markus Richter

 

Ins Herz

 

Neuschwanstein-Thriller

 

 

Die Story

 

1875: Auf der Baustelle der Hohenschwangauer „Neuen Burg“ (Neuschwanstein) stirbt der Bauführer durch einen Schuss ins Herz. Was die echte Chronik des Dorflehrers nur knapp notiert, macht Markus Richter zum Ausgangspunkt eines atemlosen Verschwörungsabenteuers. Die jungen Hofbediensteten Lenz und Klara wollen sich in dieser Nacht näherkommen. Doch sie stolpern hinein in eine mörderische Intrige. Als sie mit dem Mut der Verzweiflung eingreifen, werden sie selber zur Zielscheibe.

 

 

Der Autor

 

Markus Richter kennt alle Winkel im berühmtesten Schloss König Ludwigs II. Als Kastellan war er zuständig für alle Belange des täglichen Betriebes. Schon in den beiden Führern Schloss Neuschwanstein und Heldensagen von Neuschwanstein sowie der vielfach übersetzten Gespenstergeschichte Ludwig und Poldi (alle Top Spot Guide Verlag) hat er Erwachsenen und Kindern das Schloss nahegebracht.

Jäger und Gejagte

 

  • Lorenz „Lenz“ Baumgartner

Gehilfe des Kastellans (Verwalters) von Schloss Hohenschwangau

  • Klara Grünspan

Kammerzofe im Dienst von Königin Marie, der Mutter König Ludwigs II. von Bayern

  • Johannes Balthasar Heiland

Soldat des 4. Chevaulegers-Regiments „König“; persönliche Leibwache von Ludwigs Bruder, Prinz Otto von Bayern

  • Richard Reisinger

Vorsitzender des Krankenunterstützungsvereins der Handwerker am königlichen Burgbau zu Hohenschwangau (Neuschwanstein); preußischer Spion

  • Herr Schilling

Agent der bayerischen Geheimpolizei; zuständig für die diskrete Abwicklung von Sonderaufträgen

  • Pankraz Ward

ehemaliger Waisenjunge; Handlanger von Herrn Schilling

  • Benedikt Pfeifer

Kastellan (Verwalter) von Schloss Hohenschwangau

  • Richard Hornig

Stallmeister und persönlicher Sekretär von König Ludwig II. von Bayern

  • Heinrich Herold

Bauführer am königlichen Burgbau zu Hohenschwangau

 

 

 

 

„Am 23. April heute früh 6 Uhr hat sich der Bauführer am kgl. Burgbau zu Hohenschw. Herr Herold, durch einen Schuß in das Herz das Leben genommen. Derselbe litt an Geisteszerrüttung und liegt in Waltenhofen begraben.“

 

Aus der Chronik des Schwangauer Dorflehrers Alois Left, 1875

 

 

 

Es schien, als habe sich die Nacht wie ein pechschwarzer Umhang um seinen Körper gelegt. Hier oben auf dem Gerüst war es so finster, dass er wie ein Blinder nach dem Handlauf tasten musste, um nicht den Halt zu verlieren. Herold fühlte sich der Dunkelheit beinahe hilflos ausgeliefert.

Plötzlich stieß er mit dem Schienbein gegen etwas Hartes. „Verfl...!“, stieß er hervor und presste augenblicklich die Lippen fest aufeinander, um den restlichen Fluch zu unterdrücken. Seine Verfolger durften ihn auf keinen Fall hören. Das musste eine achtlos abgestellte Werkzeugkiste oder etwas Ähnliches gewesenen sein, wogegen er da gestoßen war und was ihn ins Straucheln gebracht hatte. Auf dieser Seite der Baustelle würde er mindestens hundert Fuß tief in die Schlucht stürzen. Die Angst, ins schwarze Nichts zu fallen, traf ihn unvermittelt wie ein Magenschwinger. Ihm stockte der Atem. Er taumelte nach vorne. Sein Herzschlag setzte aus, als er ins Leere griff. Dann prallte seine Hüfte brutal gegen einen der Holzriegel des Gerüstes. Herold verlor das Gleichgewicht, kippte, riss die Arme nach vorne. Sein Herz raste. Hart knallte seine rechte Hand gegen rohes Holz. Der Handlauf! Herold griff zu, klammerte sich mit beiden Händen daran fest. Der Schmerz, der in seinen Fingern tobte, war ihm egal. Keuchend stand er da, glücklich über jeden Atemzug, den er noch machen durfte.

Wie jeden Abend um die gleiche Zeit beförderte der Wind kalte Luft aus der Pöllatschlucht zur Baustelle hinauf. Die frische Brise kühlte sein schweißnasses Gesicht und er konnte sich dadurch etwas beruhigen. Auch das gleichmäßige Tosen der herabstürzenden Fluten des Wasserfalls in die Schlucht dämpfte seine Panik. Heinrich Herold war auf sich allein gestellt. Hier oben konnte ihm niemand helfen. Sie würden ihn wohl töten, sollte er nicht vorher in die Schlucht stürzen.

Unter ihm knarzte das Holzgerüst. Sie kamen also näher.

So schnell es in der Dunkelheit eben ging, tastete er sich am Geländer entlang. Zum Glück riss die dichte Wolkendecke ab und zu auf und der Mond erhellte die Baustelle. Sein Ziel war die Leiter, die zur nächsthöheren Gerüstlage führte. Er konnte die Leiter zwar nicht sehen, aber sie musste ganz in der Nähe sein. Die vielen Holzsplitter von den ungehobelten Balken des Geländers in seinen Handflächen ignorierte er. Früher waren seine Hände rau und grob gewesen. Seit er als Bauführer nicht mehr regelmäßig selber mit Hand anlegen musste, waren sie zu „zarten Klavierhändchen“ verkommen. Damit ärgerte ihn zumindest sein Vorarbeiter Josef gern.

Jetzt konnte er seine Verfolger erneut miteinander reden hören. Er hielt kurz inne, um zu lauschen.

„Schneller, er geht nach oben!“

Die Stimme kam ihm bekannt vor, doch er hatte kein Gesicht dazu vor Augen.

„Nur mit der Ruhe. Wo soll er schon hin?“, antwortete ein anderer. Er sprach ohne jede Hektik. So, als ob er seiner Sache absolut sicher sei. Diese Stimme hatte Herold noch nie gehört. Aber wer immer es war, der Mann hatte vollkommen recht. Es befanden sich zwar noch einige Gerüstlagen über dem flüchtenden Herold, aber was sollte er tun, wenn er ganz oben angekommen war? 180 Fuß Höhe hatten die Baumeister für das Hauptgebäude der Neuen Burg des bayerischen Königs Ludwig II. geplant. Der Rohbau war schon weit fortgeschritten und beinahe die Hälfte errichtet.

Herold hangelte sich am Geländer weiter vorwärts und stieß erneut auf eine Leiter, die er hastig hinaufstieg. Dann stolperte er nach vorne und bekam die nächste zu fassen. Sie waren stets an der gleichen Stelle des Gerüstes angebracht. Als er sich das klarmachte, kam er wesentlich schneller voran.

Er stoppte einen Moment, um nach Luft zu schnappen. Das Klettern strengte ihn mehr an, als ihm lieb war. Sein schwerer Atem kam ihm viel zu laut vor. Das würde ihn noch verraten. Er musste versuchen, sich zu beruhigen und leiser zu werden. Er holte tief Luft, hielt sie eine Weile an und ließ sie schließlich durch die Nase entweichen. Ganz langsam.

Erstaunlich: Von den Stimmen seiner Verfolger war nichts mehr zu hören. In ihm keimte Hoffnung auf. Vorsichtig suchte er nach dem Handlauf. Zwar hatten sich seine Augen inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, aber er konnte keinen Querriegel erkennen. Er griff ins Leere. Anscheinend war er jetzt ganz oben auf dem Gerüst, denn dort fehlte noch die Absturzsicherung. Herolds Knie begannen zu zittern.

Im Grunde war er Höhe gewöhnt. Schließlich arbeitete er schon seit seinem vierzehnten Lebensjahr als Bauarbeiter. Auch sein Vater hatte sein Geld auf dem Bau verdient. Über die Möglichkeit, einen anderen Beruf zu erlernen, hatte dieser nie mit ihm gesprochen. Es hatte seinem alten Herrn gar nicht schnell genug gehen können, dass sein Sohn die Schule verließ, um endlich sein eigenes Geld zu verdienen.

Herold hatte also schon früh gelernt, die Angst vor wackeligen Gerüsten oder dem Balancieren auf schmalen Simsen abzulegen. Das hier war freilich etwas ganz anderes.

Schon das Absprengen der alten Burgruinen Vorder- und Hinterhohenschwangau vor sieben Jahren war abenteuerlich gewesen. Jedes Mal, wenn nach dem Zünden der Sprengladungen mächtige Steinquader ins Tal rumpelten, hielt er den Atem an, denn obwohl das Gelände weiträumig abgesperrt wurde, konnte man nie wissen, ob nicht trotzdem ein neugieriger Dorfbewohner irgendwo im Gefahrenbereich herumlungerte.

Die Überreste der vormaligen Burgen der Ritter von Schwangau mussten weichen, als König Ludwig sich für eine neue Burg entschied. Zuvor hatte er noch mit dem Gedanken gespielt, anstelle einer der beiden Ruinen eine Art Raubritterburg errichten zu lassen. Nach seiner Reise zur Wartburg in der Nähe von Eisenach war das Projekt um ein Vielfaches gewachsen und der ganze Berg musste dafür bearbeitet werden. Aus zwei Hügeln, auf der sich je eine Ruine befand, schuf man mithilfe von Unmengen an Dynamit den geeigneten Baugrund.

 

„Da oben steht er!“

Herold zuckte zusammen. Sie waren also ganz nah. Höchstens zwei Ebenen unter sich konnte er den matten Schein einer Lampe sehen. Das Gefühl der Hoffnung erlosch und machte panischer Angst Platz. Fieberhaft überlegte er, wie er jetzt noch entkommen konnte.

Eigentlich blieb ihm nur noch ein Ausweg. Er musste irgendwie auf die andere Seite des Palas gelangen. Nur dort war es möglich, vom Gerüst herabzusteigen und in den Wald zu flüchten.

„Bleib stehen, Herold! Wir wollen uns bloß mit dir unterhalten.“

Das war wieder der Unbekannte, der beinahe beruhigend klang. Herold hielt inne und überlegte, ob er hier stehen bleiben sollte. Er würde ihnen einfach das Päckchen geben, dann ließen sie ihn vielleicht zufrieden. Danach könnte er nach Hause gehen und sich morgen ganz normal um die Belange auf der Baustelle kümmern. Endlich würde er wieder einmal ruhig schlafen und nicht ständig nach dem Päckchen unter seinem Kopfkissen greifen, aus Angst davor, dass es weg war. Seit man es ihm anvertraut hatte, lebte er in ständiger Furcht, es zu verlieren.

„Hüte es wie deinen Augapfel, mein Bruder. Wenn die Zeit kommt, werden wir es brauchen. Lass es nicht in die falschen Hände geraten. Gott helfe dir dabei.“ Das waren die Worte vom ersten Aufseher des Bundes gewesen, als dieser ihm das Päckchen übergeben hatte. Es war etwa so groß wie ein Zigarrenkistchen und passte nicht ganz in seine Handfläche. Zögerlich hatte er es vom Aufseher entgegengenommen. Herold konnte dabei ein Zittern nicht unterdrücken, so sehr er sich auch bemühte, seine Hände ruhig zu halten.

Es fühlte sich an wie eine kleine Schatulle aus Metall, die man in edles, dunkelbraunes Leder eingewickelt hatte. Zusammengehalten wurde es von einer dünnen Schnur, die wie ein Schnürsenkel in der Mitte des Päckchens zusammengeknotet war. Manchmal überlegte Herold, ob die Schatulle wohl aus Blei war, denn sie lag schwer in seiner Hand. Allerdings hatte das eher etwas mit der ihm auferlegten Verantwortung zu tun denn mit dem Material der Schatulle. Sicherlich bestand sie aus feinem Gold oder Silber und nicht aus Blei. Jedoch hatte er bis zum heutigen Tag noch keinen Blick riskiert, denn das hatte ihm der Aufseher ausdrücklich verboten. Dieser war einer der wichtigsten und einflussreichsten Männer im Bund und wenn man sich mit ihm gutstellte, hatte man es in so mancher Angelegenheit leichter. Ihm verdankte es Herold auch, dass er als Bauführer des königlichen Burgbaues uneingeschränktes Vertrauen genoss, und deshalb war es an der Zeit gewesen, sich zu revanchieren.

 

Sie wussten genau, wo er war. Es hatte keinen Sinn mehr, davonzulaufen. Herold bemühte sich, selbstsicher zu klingen, obwohl die Angst ihm fast die Kehle zuschnürte: „Was habt ihr hier zu suchen? Keiner darf die Baustelle nachts betreten. Ich werde die Wachen rufen!“

„Wer soll dich denn schon hören? Gib auf.“

Sie hatten recht. Die Wachstube war weit entfernt, unten im Torgebäude, und Herolds Hilferufe würden im Tosen des Wasserfalles untergehen. Außerdem fiel Herold ein, dass König Ludwig vorgestern nach Hohenschwangau gekommen war. Sein jüngerer Bruder Otto wollte am kommenden Dienstag unten im alten Schloss Hohenschwangau seinen Geburtstag feiern. Also hatte man die Wachen der Baustelle wohl nach Hohenschwangau abgezogen. Er hatte sich schon gewundert, dass das Tor unverschlossen und kein Wachsoldat zu sehen gewesen war. Da er seinen Schlüssel nicht dabei hatte, wäre er seinen Verfolgern schon am versperrten Eingang in die Hände gefallen. Aber durch diese glückliche Fügung des Schicksals und die Nachlässigkeit der Wachmannschaft gab es für ihn eine Chance zu entkommen oder zumindest das Päckchen auf der Baustelle zu verstecken.

Plötzlich umklammerte eine Hand sein rechtes Fußgelenk und zerrte heftig an ihm. „Hab ich dich, Herold!“, zischte der Mann, dessen Stimme er kannte, triumphierend.

Das Licht der Lampe schimmerte viel weiter unten auf dem Gerüst. Also war der kurze Wortwechsel nur ein Ablenkungsmanöver gewesen, um ihn aufzuhalten.

Instinktiv trat Herold mit dem freien Fuß dorthin, wo er die zweite Hand des Angreifers vermutete. Der Mann heulte auf und löste prompt die Umklammerung. Blitzschnell zog Herold seinen Fuß weg und drehte sich um. Zu seiner Linken klaffte der Abgrund. Rechts erkannte er schemenhaft die hellen Mörtelränder der Ziegelmauer. Von hier aus mussten es mindestens fünfzig Schritte bis zum Ende der Längsseite des Palas sein, von wo aus er zur rettenden Seite queren konnte. Er spürte, wie die Finger des anderen wieder nach seinem Fuß tasteten.

„Du Schweinehund! Gib mir das Päckchen. Du kannst eh nicht entkommen.“ Der Mann sprach hörbar gequält. Offenbar hatte Herolds Tritt gesessen.

„Ich weiß nicht, wovon du redest. Verschwindet! Lasst mich in Ruhe!“ Er riss seinen Fuß los und tastete sich vorsichtig mit einer Handfläche an der rauen Ziegelmauer entlang. Mit der anderen Hand griff er zitternd in seine Jackentasche. Es war noch da. Herold atmete auf.

Plötzlich trat er ins Nichts. Er verlor das Gleichgewicht und knallte mit dem Kopf hart an die Ziegelwand. Grelle Sterne explodierten in seinem Schädel, dann wurde ihm schwarz vor Augen. Sein rechtes Bein rutschte zwischen die Bodenplanke und die Mauer und blieb dann stecken. Er kippte vornüber und schlug unkontrolliert mit dem Gesicht auf den Bretterboden des Gerüstes. In seinem Mund sammelte sich Flüssigkeit, die den metallischen Geschmack von Blut hatte. Aus den Augenwinkeln sah er das Licht der Lampe auf sich zu tanzen.

„Gleich haben wir dich, Herold. Mach es dir doch nicht so schwer.“

Jetzt fiel ihm ein, wo er diese Stimme schon einmal gehört hatte. Das war einer der Steinmetze hier am Burgbau, dessen war er sich beinahe sicher.

In seinem Brustkorb spürte er ein Stechen. Beim Sturz musste er auf das Päckchen gefallen sein. Mühsam zog er sein in der Luft baumelndes Bein zu sich hoch, um sich unter Schmerzen aufzurappeln. Das Einatmen tat ihm fürchterlich weh. Hastig fasste er in seine Jackentasche, zog die Schatulle, oder was auch immer in dem Päckchen eingewickelt war, heraus. Soweit er es in der Dunkelheit beurteilen konnte, schien es unversehrt und nach wie vor fest eingewickelt zu sein.

Dass der Bund das Päckchen ausgerechnet ihm anvertraut hatte, war eine große Ehre. Er gehörte dem Bund schon eine ganze Weile an und schätzte das Zugehörigkeitsgefühl sehr, ein wenig war der Bund Ersatz für die Familie, die er nie gehabt hatte. Seine Mutter war früh gestorben, der Vater konnte nichts mit ihm anfangen, denn der hatte nur seine Arbeit im Sinn – und das Wirtshaus. So stand Herold schon früh auf eigenen Beinen. Er hatte sich durch seinen Fleiß, seine Zuverlässigkeit und seinen Lerneifer rasch nach oben gearbeitet und selber nie eine Familie gegründet. Schon kurz nach Baubeginn an der Neuen Burg von Hohenschwangau war einer der Aufseher des geheimen Bundes auf ihn zugekommen und er hatte sich ohne Zögern darauf eingelassen, der Gemeinschaft beizutreten.

 

„Jetzt bist du fällig!“

Herold spürte den Luftzug im letzten Moment. Sein Gegner stand unmittelbar hinter ihm. Herold duckte sich blitzschnell, der Schlag verfehlte das Ziel, der Angreifer verlor das Gleichgewicht und taumelte nach vorne. Herold nutzte die Gelegenheit und hastete an der Mauer entlang. Bei jedem Schritt schwankte das Gerüst bedenklich hin und her. Zur Orientierung streifte er mit den Fingern an der Wand entlang. Seine Fingerkuppen wurden von den rauen Ziegelsteinen regelrecht abgeschliffen. Mit der anderen Hand umklammerte er das Päckchen.

Plötzlich verloren die Finger den Kontakt. Hier war die Mauer also zu Ende. Er bremste abrupt und fasste nach hinten, um sich an der Wand festzuhalten. Fußspitzen und Oberkörper ragten schon über die Kante der Gerüstbretter hinaus. Mit der Hand, in der er das Päckchen hielt, ruderte er durch die Luft, um nur irgendwie das Gleichgewicht zu halten. Aber er schaffte es nicht. Sein Oberkörper zog ihn mächtig nach vorne. Das Schwingen seines Armes wurde langsamer und langsamer. Ihm wurde klar, dass er sich nicht mehr halten konnte. Im letzten Augenblick ließ er das Paket in seine Jackentasche gleiten. Dann kippte er vornüber und stürzte in die Finsternis.

 

Wie lang lag er schon so da? Jeder Knochen tat ihm weh. Er konnte kaum glauben, dass er diesen Sturz überlebt hatte.

Es dauerte eine Weile, bis er sich orientiert hatte. Er war auf der Schuttrutsche gelandet. Auf ihr wurde der Bauschutt aus dem hinteren Teil des Palas nach unten zum Weg befördert, um mit Fuhrwerken ins Tal abtransportiert zu werden.

Mit zerschundenen Fingern nestelte Herold an seiner Jackentasche herum. Das Päckchen steckte noch darin. Es war also noch nicht vorbei. Vorsichtig drehte er sich auf den Rücken und blickte nach oben. Über sich konnte er schemenhaft die Umrisse dreier Gestalten auf dem Gerüst erkennen.

„... hat er nicht überlebt ... holen uns ... rasch ...“ Gesprächsfetzen drangen zu ihm herab. Seine Kehle war wie ausgetrocknet. Er verspürte ein unmenschliches Verlangen zu husten und versuchte, es mit aller Kraft zu unterdrücken. Tatsächlich drang nur ein leises Röcheln aus seinem Mund. Sofort war das kratzige Gefühl des Hustenreizes gelindert.

Als er wieder nach oben schaute, waren die Gestalten verschwunden. Herold umklammerte mit beiden Händen die Ränder der Rutsche und zog sich nach oben. Ein stechender Schmerz fuhr durch sein rechtes Bein und er konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken. Spätestens jetzt wussten sie wohl, dass er noch lebte.

Noch einmal packte er zu und zog sich hoch. Der Schmerz raubte ihm beinahe das Bewusstsein, aber er musste weiter. Sein Ziel war eine Klappe, die vielleicht zwei Körperlängen über ihm in die Mauer eingelassen war. Dort, wo er aufgekommen war, neigte sich die Rutsche noch nicht sonderlich, schon ein kleines Stück unterhalb allerdings fiel sie fast senkrecht in die Tiefe. Ganz unten hätte er sich in den Wald flüchten können, aber er wagte es nicht, hinunterzurutschen. Er wollte sein Glück nicht ein weiteres Mal herausfordern. Er musste es unbedingt bis zur Wachstube im Torbau schaffen. Vielleicht war ja doch eine Wache abgestellt worden, die ihn beschützen konnte.

Herold zog sich nochmals hoch, dabei hatte er das Gefühl, als würde sein Knie explodieren. Mit dem unversehrten Bein drückte er sich ab und zog sich weiter nach oben, bis er endlich die Klappe zu fassen bekam. Mit letzter Kraft presste er sie nach innen und schob sich in die Öffnung. Noch einmal stieß er sich mit dem gesunden Fuß ab und landete unsanft auf dem harten Steinboden, während die Klappe krachend hinter ihm zufiel.

 

 

Sie mussten noch eine ganze Weile nach Herold suchen. Es war kaum zu glauben, dass er den Sturz überlebt hatte. Noch unglaublicher war es, dass er sich wieder in die Burg schleppen konnte. Schließlich entdeckten sie ihn auf dem oberen Burghof neben der großen Seilwinde, mit der die schweren Baumaterialien vom unteren zum oberen Hof gezogen wurden.

Herold lag auf dem Rücken und starrte mit weit geöffneten Augen in die Dunkelheit. Im Schein der Lampe konnte man erkennen, dass sein Gesicht blutüberströmt war. Sein rechter Unterschenkel stand in einem unnatürlichen Winkel vom Oberschenkel ab.

Sie durchsuchten ihn gründlich, konnten aber nichts finden. Entweder hatte er das Päckchen wirklich nicht gehabt oder er hatte es irgendwo auf der Baustelle versteckt. Und diese Baustelle war groß. Es schien fast so, als ob ein Lächeln über Herolds Gesicht huschte, während sie ihn schüttelten und fragten, wo das Päckchen sei.

Er sagte kein Wort. Er rührte sich nicht einmal, als sie ihm die Pistole auf die Brust setzten.

Der Knall hallte an den Wänden der Schlucht mehrfach zurück. Es klang, als ob ein Jäger auf der Pirsch wäre.

Und sie waren Jäger.

 

 

 

 

Ein Tag zuvor - Donnerstag, 22. April 1875

 

Lenz lehnte an der Mauer der Eingangstreppe, hatte den Kopf voller Gedanken und blickte in den Schlosshof hinunter. Er war sehr aufgeregt, denn der heutige Tag würde der wichtigste in seinem Leben werden. Zumindest ein sehr wichtiger Tag und auf jeden Fall genauso wichtig und aufregend wie sein erster Arbeitstag für die Königsfamilie.

Als er daran zurückdachte, musste er lächeln. Denn seine Mutter war damals wahrscheinlich noch viel nervöser gewesen als er selbst.

„Denk an deine Manieren!“, hatte sie ihn oft ermahnt. „Wenn dir eine der hohen Herrschaften über den Weg läuft, verbeug dich und schau auf den Boden, Junge.“ Und sie hatte ständig an seinem Hemdkragen herumgezupft, bis er das Haus verließ, um zum ersten Mal seinen Dienst im Schloss Hohenschwangau anzutreten.

Jetzt arbeitete er schon über zwei Jahre im Schloss und ihm war noch nie ein Fehler unterlaufen, außer der mit dem Schlüssel für die Silberkammer vielleicht. Er hatte ihn aus Versehen mit nach Hause genommen, was ihm leider erst am nächsten Morgen auffiel, als er die Hose vom Vortag anzog. Seinen allmorgendlichen Fußmarsch von Füssen nach Hohenschwangau hatte er noch nie so schnell hinter sich gebracht wie an diesem Tag. Als er völlig außer Atem den Schlosshof betrat, kam Herr Pfeifer, der Kastellan, mit hochrotem Kopf auf ihn zugestürmt.

„Weißt du, wo der Schlüssel für die Silberkammer ist? Die Königin will zum Morgengebet und der vermaledeite Schlüssel ist weg!“

Ihr Sohn, König Ludwig II., hatte ihr zwar den nicht ganz offiziellen Titel „Königinmutter“ verliehen, doch solange Ludwig noch nicht verheiratet war, blieb Marie sogar die Königin von Bayern, selbst nach der Thronbesteigung ihres ältesten Sohnes.

Lenz tat damals Pfeifer gegenüber so, als würde er überlegen, wo der Schlüssel sein könnte, und zuckte dann mit den Schultern. „Ich helfe Ihnen suchen“, murmelte er verlegen und rannte zur Treppe, die nach oben in die Eingangshalle des Schlosses führte.

Es schien ihm sicherer zu sein, Pfeifer erst einmal aus dem Weg zu gehen.

Die Königinmutter Marie bewohnte das Schloss Hohenschwangau sehr oft und ging fast jeden Morgen vor dem Frühstück kurz in die Kapelle. Das war der Zeitpunkt, den Frühstückstisch in ihren Gemächern in der ersten Etage zu decken. Und das Geschirr dafür befand sich in der Silberkammer.

Lenz war froh, dass König Ludwig gerade nicht da war. Denn dann konnte es vorkommen, dass man mitten in der Nacht in die Silberkammer musste, um etwas zu holen. Der König war meistens nachts wach und verlangte oft nach Wein oder einer Kleinigkeit zu essen. Pfeifer hätte sicher einen Herzinfarkt bekommen, wenn der Schlüssel unauffindbar gewesen wäre.

Pfeifer selber wohnte im Kavaliersbau des Schlosses und sollte rund um die Uhr für alle erreichbar sein. Das war das Los eines Kastellans. Da Pfeifer nicht mehr der Jüngste war, suchte man eines Tages nach einem Gehilfen für ihn und fand Lenz.

 

„Hab ihn!“, frohlockte Lenz und lief dem Kastellan freudestrahlend entgegen, nachdem er den Schlüssel heimlich aus seiner Hosentasche hervorgeholt hatte.

Pfeifer hechtete auf Lenz zu und entriss ihm den Schlüssel mit weit geöffnetem Mund. „Das gibt’s ja nicht! Wo war er denn?“, fragte ihn der Kastellan.

„Hier auf der Treppe, ganz im Eck. War kaum zu sehen. Ich bin gestolpert, sonst hätte ich ihn nicht bemerkt“, fabulierte Lenz drauflos und fürchtete, einen hochroten Kopf zu bekommen. Er war ein miserabler Lügner.

Doch Pfeifer schöpfte keinen Verdacht. Er war sichtlich froh, den Schlüssel in Händen zu halten. Ohne ein weiteres Wort sprang der Kastellan die Treppe hinauf. Mit seinen spindeldürren Beinen nahm er gleich mehrere Stufen auf einmal. Lenz hatte den hageren Mann mit den tiefen Furchen im Gesicht und der viel zu großen Nase, die die anderen Dienstboten als Zinken bezeichneten, noch nie so flink laufen sehen.

 

Jetzt vergrub Lenz seine Hände so tief wie möglich in den Hosentaschen. Für April war es ziemlich frisch an diesem Morgen. Sein Blick wanderte vom Schlosshof über das Dach des Verbindungsbaus weiter in die Ferne. Lenz nutzte jede sich bietende Gelegenheit, die Aussicht zu genießen, die ihn stets in ihren Bann zog.

Es zogen dicke Nebelschwaden über die Felder und vom Ort Hohenschwangau war kein einziges Haus zu sehen. Auch Schwangau schien verschwunden zu sein. Nur der Bullachberg, ein bewaldeter Hügel zwischen den beiden Ortschaften, ragte aus dem Nebel hervor und wirkte wie ein einsames Schiff auf einem grauen Ozean. Lenz äugte in die Eingangshalle des Hauptgebäudes hinein, ob nicht der Kastellan irgendwo stand und ihn beobachtete. Pfeifer konnte es gar nicht leiden, wenn Lenz vor sich hin träumte.

Benedikt Pfeifer behauptete zwar von sich selber, er sei ein ruhiger Zeitgenosse, der es am liebsten gemütlich möge und jede Art von Hektik verabscheue, aber andere scheuchte er gern auf. Und er konnte sich fürchterlich aufregen. Am allermeisten über diese „preußische Hohenzollernbrut.“ Königinmutter Marie ging ihm als Einzige von diesem „vermaledeiten Kaisergesindel“, wie er sich gern ausdrückte, nicht gegen den Strich, vor allem seit sie im Herbst des letzten Jahres zum katholischen Glauben konvertiert war.

„Jetzt ist sie ja quasi eine von uns, sogar vor unserem Herrgott, im Gegensatz zu ihrer protestantischen Verwandtschaft“, führte er stets an, wenn die Diskussion zwischen den Bediensteten auf Marie oder ihren Cousin, Kaiser Wilhelm, kam. „Was kann sie schon für ihre Familie“, beendete er fast jedes Mal das Gespräch und nestelte nervös an seiner Jackentasche herum.

Alle wussten, was das zu bedeuten hatte, nämlich dass er sich gleich einen Schluck Schnaps aus einer kleinen, silbernen Flasche gönnte. Diese steckte unauffällig in der Innentasche seiner Livree. War der König da oder immerhin angekündigt, genehmigte er sich schon mal einen Schluck mehr als sonst, zur Beruhigung.

Pfeifer war es auch gewesen, der ihm den Namen Lenz verpasst hatte. „Lorenz Baumgartner ist mir viel zu lang. Ich nenn dich einfach Lenz“, hatte er eines Tages bei der Frühstückspause beschlossen. Seit diesem Tag nannte man ihn Lenz, nur seine Mutter konnte sich nicht so recht daran gewöhnen. Sie weckte ihn jeden Morgen gegen halb fünf mit einem lauten „Lorenz, der Tag beginnt“, schmierte ihm ein Butterbrot, ging in den Stall und kümmerte sich um ihre Kuh und das Dutzend Hühner.

Sie bewohnten ein windschiefes Haus mit einem steilen Dach, roten Fensterläden und einem winzigen Stall vor den Toren der Stadt Füssen am gegenüberliegenden Ufer des Lechs. Etwas oberhalb des Hauses verlief die Straße Richtung Schwangau und Tirol und gar nicht weit entfernt führte der Lechsteg mit seinen fünf hölzernen Brückenpfeilern auf die andere Seite des Flusses nach Füssen. Der Steg war nur für Fußgänger und kleine, leichtere Fuhrwerke benutzbar. Bei starkem Hochwasser konnte es vorkommen, dass die Holzpfeiler nachgaben und die Brücke für eine Weile unpassierbar war. Folgte man der Straße nach Tirol, erreichte man nach ein paar hundert Fuß die Theresienbrücke, deren massive Brückenpfeiler jeder Flut trotzten. Auf diesem Weg gelangte man unmittelbar am Fuße des Klosters St. Mang in die Stadt hinein. Von ihrem Gärtchen neben dem Haus konnten sie direkt auf das Hohe Schloss blicken, das – jenseits des Lechs – über der Stadt thronte. Früher hatten darin die Bischöfe von Augsburg gelegentlich im Sommer residiert. Jetzt war darin das Amtsgericht untergebracht, das Lenz niemals von innen sehen wollte. Seine Mutter gemahnte ihn ja auch regelmäßig, er solle stets auf dem rechten Weg bleiben. Unterhalb des Hohen Schlosses befand sich die Kirche St. Mang mit dem barocken Benediktinerkloster und wiederum nicht unweit davon das Kloster des Franziskanerordens. Doch das war für sie, vom Flussufer her, durch große Bäume fast vollständig verdeckt. Von ihrem Häuschen aus konnte man nur den Turm der Franziskanerkirche und das lang gezogene Dach des Klostergebäudes sehen, die über die Baumwipfel ragten.

Unterhalb ihres Häuschens schlängelte sich der Lech. Sein Vater hatte eine schmale Treppe die Böschung hinuntergebaut, damit die Mutter dort Wäsche waschen konnte. Nur wenn der Fluss zu viel Wasser führte, musste sie, wie die anderen Frauen, zum Waschplatz unterhalb des Klosters gehen, der mit kleinen Kaimauern gesichert war.

Sie durften das Haus bewohnen, weil Lenz’ Vater, neben seinem Beruf als Maurer, die Aufgabe des Brückenwärters für den Lechsteg übernommen hatte. Beinahe täglich kontrollierte er die Brücke. Hin und wieder entdeckte er Schäden, die er nicht selber beheben konnte, und meldete diese der Stadtverwaltung.

Sein Vater war im Frühjahr vor zwei Jahren an einem seltsamen Fieber gestorben. Sein Todeskampf hatte drei qualvolle Wochen gedauert. Jeden Tag saß Lenz‘ Mutter am Bett ihres Ehemannes, kühlte ihm die heiße Stirn und versuchte ihm zu trinken oder zu essen zu geben, doch er wurde zunehmend schwächer. Auch der Arzt war ratlos und empfahl ihnen schließlich, den Priester zu rufen. Sie hielten beide seine Hand, als er den letzten Atemzug tat. Noch nie hatte er die Mutter so verzweifelt gesehen wie damals. Sie weinte andauernd und kam kaum noch aus ihrer Kammer. Für Lenz war sie der Fels in der Brandung gewesen, liebevoll, aber bestimmt. Meistens hatte ein Lächeln ihre strahlend blauen Augen umspielt, selbst dann, wenn sie mit ihm schimpfte. Nach dem Tod des Vaters verschwand dieses Lächeln. Lenz war ebenfalls erschüttert, aber er konnte nicht weinen. Nach einiger Zeit stellte er jedoch fest, dass er eher Angst hatte, als dass er um seinen Vater trauerte. Er fürchtete, dass seine Mutter und er verhungern würden. Dass sie aus dem kleinen Haus ausziehen müssten und kein Dach mehr über dem Kopf hätten. Da wurde er zornig auf den Vater. Wie konnte er sie nur im Stich lassen? Weshalb hatte Lenz noch keinen Beruf lernen dürfen? Warum hatte er sich nur um den Hof kümmern sollen? Zu gern wäre er mit dem Vater auf die Baustelle gegangen. Doch der hatte seine Bitte einmal mit den Worten „Du hilfst gefälligst deiner Mutter im Haus und schaust nach dem Steg, das ist Aufgabe genug!“ abgetan. Dann sprachen sie nie mehr darüber, denn Lenz traute sich nicht nochmals zu fragen. Sein Vater war seit Baubeginn als Maurer an König Ludwigs neuer Burg beschäftigt gewesen und seit dieser Zeit mussten seine Mutter und er sich größtenteils um die Wartung des Lechstegs kümmern.

Lenz’ Mutter hatte gleich nach der Beerdigung bei der Stadtverwaltung vorgesprochen, dass sie sich weiterhin um die Brücke kümmern würden, wenn sie nur im Haus bleiben durften. Da bislang alles reibungslos funktioniert hatte, war ihrem Antrag auf unbestimmte Zeit stattgegeben worden.

Nur ein paar Tage nach dem Tod des Vaters erschien eine Abordnung der Arbeiterschaft bei ihnen zu Hause. Die Männer berichteten ihnen vom Verein der Handwerker am königlichen Schlossbau, den die Arbeiter der Neuen Burg von Hohenschwangau gegründet hatten und der sogar vom König finanziell unterstützt wurde. Man musste nur siebzig Pfennige im Monat einbezahlen und bekam dafür bei Krankheit oder Unfall noch für ein paar Wochen mehr als die Hälfte des Lohns ausbezahlt. Im Todesfall wurde für die Hinterbliebenen eine Rente gewährt.

Lenz konnte sich nur noch an einen der Männer von damals erinnern, an denjenigen, der vorwiegend gesprochen hatte und sich als Einziger mit Namen vorgestellt hatte. Richard Reisinger.

Er wurde zu ihrem Retter, nicht nur, weil er ihnen die Nachricht von der unerwarteten Witwenrente überbrachte. Er kam eine Woche später nochmals zu ihnen, diesmal alleine, und fragte, ob Lenz nicht im Schloss Hohenschwangau für den Kastellan arbeiten wolle. „Der Pfeifer ist mir noch einen Gefallen schuldig. Und du bist großgewachsen, kräftig und verfügst wohl über gute Manieren.“ Richard Reisinger sprach reinstes Hochdeutsch. Lenz war schon beim ersten Treffen der akkurat gezwirbelte Schnauzer Reisingers aufgefallen, der perfekt mit den buschigen Augenbrauen harmonierte, denn deren Enden waren ebenfalls leicht gezwirbelt worden. Dann die schlanken, langen Finger. Er tippte beim Reden ständig mit dem Zeigefinger gegen sein Kinn. „Wie alt bist du, Bursche? Sechzehn?“, fragte er und legte eine Hand auf Lenz‘ Schulter.

Lenz nickte und trat gleichzeitig überrascht einen Schritt zurück. Mit einer Berührung hatte er nicht gerechnet.

„Das ist alt genug.“ Reisinger wandte sich Lenz‘ Mutter zu. „Und ich sehe ja, dass es euch nicht gut geht. Sie zahlen ganz ordentlich. Am Anfang 15 Gulden im Monat. Zu essen gibt’s auch.“

Einen Wimpernschlag lang konnte Lenz ein Lächeln über die Lippen seiner Mutter huschen sehen, doch dann kullerten dicke Tränen aus ihren Augen. „Aber ... aber das können wir nie wieder gutmachen, Herr Reisinger.“ Sie blickte ihn sorgenvoll an.

Reisinger zog ein blütenweißes Taschentuch aus seiner Westentasche und hielt es ihr hin. „Kommt Zeit, kommt Rat“, erwiderte er leise. „Und du, Bursche, meldest dich morgen früh um halb sechs beim Pfeifer im Schloss.“ Ohne ein weiteres Wort ging Richard Reisinger damals aus ihrem Haus. Seitdem hatte Lenz ihn nicht wiedergesehen.

Schon am nächsten Tag hatte sich Lenz beim Kastellan gemeldet und kurz darauf seinen Dienst im Schloss antreten dürfen.

 

Hohenschwangau war für Lenz ein magischer Ort, und das nicht nur, weil er Klara dort kennengelernt hatte.

Wenn er frühmorgens auf seinem Weg zur Arbeit das Schloss zum ersten Mal vor sich auftauchen sah, blieb er jedes Mal kurz stehen. Zu diesem Zeitpunkt waren noch keine Arbeiter im nahe gelegenen Steinbruch neben dem Schwansee beim Klopfen und Sprengen, es ratterten noch keine Pferdefuhrwerke polternd durch die Allee nach Hohenschwangau und der Dampfkran oben an der Baustelle beförderte noch keine Materialien laut schnaufend in die Neue Burg.

Und da war noch kein Kastellan Pfeifer, der ihm schon alle möglichen Aufträge erteilte, bevor er überhaupt „Guten Morgen“ gesagt hatte.

Es herrschte nur himmlische Stille, höchstens untermalt vom Gesang der Vögel.

Das gelbe Schloss thronte über ihm wie in einem überdimensionalen Gemälde, umrahmt von grünem Gehölz, mal mit einem himmelblauen Hintergrund, mal schlängelten sich Nebelschwaden zwischen den Türmen hindurch und an den Mauern entlang. Sogar an tristen Regentagen wirkte das Gemäuer wie ein fröhlicher Farbklecks auf einer grauen Landkarte. Lenz bewunderte den Anblick von Schloss Hohenschwangau täglich aufs Neue.

Vor ungefähr fünfzig Jahren hatte Maximilian, der damalige Kronprinz von Bayern, die verlassene Burg bei einer Wanderung entdeckt, gekauft und herrichten lassen.

Lenz kam es manchmal so vor, als sei das Schloss der Fantasie eines Märchenerzählers entsprungen. Es lag eingebettet in dichte Wälder und wurde beschützt vom schroffen Massiv des Säulings, der sich dahinter auftürmte wie eine versteinerte Wache. Irgendwie hatte Lenz jeden Morgen, wenn er zum Dienst ging, das Gefühl, als ob er sich in eine andere Welt begeben würde. In eine Welt, in der alles gut war.

Doch Pfeifer schaffte es jedes Mal, diese märchenhafte Stimmung zunichte zu machen. „Abstauben! Kehren! Silber polieren! Das Lager aufräumen! Hopp, hopp!“ So begann in der Regel Lenz‘ Tag im Schloss. Manchmal kam es ihm so vor, als würde er die meiste Zeit in der Silberkammer verbringen. Dabei wollte er so gern das ganze Schloss erkunden. Doch dazu hatte sich noch keine Gelegenheit ergeben. Neben den Diensträumen des Personals und der Silberkammer kannte er die Eingangshalle im Erdgeschoss am besten. Sechs Säulen aus weißem Sandstein unterteilten die Halle in zwei Hälften. Auf beiden Seiten führten schwere Holztüren in verschiedene Räume – zum einem in die Silberkammer, zum anderen in einen Aufenthaltsraum der Lakaien und in die große Kleiderkammer. Dort hatte er Klara zum ersten Mal getroffen.

Sie sollte im Auftrag der Obersthofmeisterin mit dem klangvollen Namen Gräfin von der Mühle eine Miederbluse suchen, welche die Königinmutter unbedingt anziehen wollte.

Lenz konnte sich noch ganz genau daran erinnern. Schließlich hatte Klara ihn beim Öffnen der Tür beinahe von der Leiter gestoßen. Anfangs schämte er sich ein wenig dafür, dass er seine Leiter so ungeschickt hinter der Tür abgestellt hatte. Später war es für ihn eine Fügung des Schicksals.

Durch den Stoß verlor er den Halt, rutschte ab und knallte mit dem Kinn auf eine der Leitersprossen. Er war gerade dabei gewesen, den Türrahmen abzustauben. Bei dieser Arbeit streckte er anscheinend unwillkürlich seine Zunge ein wenig heraus und so biss er sich auf die Spitze und schrie vor Schmerz auf.

Klara erschrak ebenso. „Hab ich dir wehgetan?“, rief sie und zwängte sich durch den Türspalt in den Raum.

Lenz hielt sich den Mund und brachte nur ein leises Winseln zustande. Er hatte Tränen in den Augen und konnte sein Gegenüber lediglich verschwommen sehen, aber der süßliche Duft einer Blumenwiese im Frühling, den sie verströmte, stieg ihm sofort in die Nase.

„Zeig mal her!“ Sie griff nach der Hand vor seinem Mund. Obwohl sich ihre Finger samtweich anfühlten, war ihr Griff sehr energisch. Lenz ließ sofort los.

„Das blutet ja! Ich hole dir ein feuchtes Tuch.“ Flink schlüpfte sie durch den Türspalt nach draußen und verschwand.

Sie sollten sich erst Tage später wieder begegnen, denn kaum war sie weg, polterte Pfeifer in die Kleiderkammer, packte Lenz am Ärmel und zog ihn mit sich.

„Du musst mir eine Kommode tragen helfen. Hopp, hopp! Du kannst da nachher weitermachen.“

Lenz stolperte mit verschwommenem Blick hinter dem Kastellan her. Noch immer hing ihm der feine Duft von Blumen in der Nase, der allerdings mehr und mehr von Pfeifers Geruch nach Bierwurst verdrängt wurde. Pfeifer hatte irgendwie den Geschmack seiner Lieblingsspeise angenommen. Lenz vermutete, dass er in seiner Livree ständig ein Stück davon bei sich trug, anders konnte er sich diesen penetranten Geruch nicht erklären.

Ganz hinten in der Eingangshalle, etwas verdeckt durch die letzte Säule, befand sich ein Altar, der von zwei herrlichen Buntglasfenstern flankiert wurde. Pfeifer hatte ihm erklärt, dass die beiden Männer auf den Bildern zwei ruhmreiche Vorfahren der königlichen Familie seien, und einer von ihnen war sogar ein Kaiser gewesen.

Lenz fand das alles verwirrend. Es gab einen König von Bayern und dazu noch einen deutschen Kaiser. Zu den deutschen Ländern zählten Bayern und Preußen, Baden, Sachsen und noch viele andere, in denen deutsch gesprochen wurde. Alle hatten ihren eigenen Herrscher, dennoch brauchten sie einen gemeinsamen Kaiser. In Österreich sprach man ebenfalls Deutsch, aber die hatten ihren eigenen Kaiser. In der Schule hatte Lenz von all dem nie etwas gehört. Erst hier in Hohenschwangau.

Pfeifer redete viel über Politik, aber Lenz kapierte so gut wie nichts davon. Er verstand nur, dass der Kastellan die Preußen nicht ausstehen konnte. Pfeifer nannte alle Bayern, die sich als Deutsche bezeichneten und eine gemeinsame deutsche Nation forderten, Heuchler und Vaterlandsverräter.

Doch seit Lenz Klara kannte, wurde das mit der Politik verständlicher für ihn. Sie wusste unglaublich viel und brachte eine Menge Geduld auf.

Klara Grünspan war in München aufgewachsen und zur Schule gegangen, allein das nötigte Lenz eine gehörige Portion Respekt ab. München war für ihn wie eine andere Welt. Der Name der Hauptstadt war zwar am Hof in Hohenschwangau allgegenwärtig, aber für ihn blieb sie weit weg. Unerreichbar. Sie war eine Tagesreise entfernt und er konnte schließlich seine Mutter nicht allein lassen. Also hatte er sich damit abgefunden, München niemals zu sehen. Umso mehr sog er Klaras Geschichten von dort in sich auf.

Zwar hatte sie, genauso wie Lenz, nur bis zu ihrem zwölften Lebensjahr die Volksschule besucht, aber ihr Vater unterrichtete seine Töchter anschließend zu Hause. Er war Professor für Analytische Chemie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Lenz konnte sich darunter rein gar nichts vorstellen und war bei Klaras Erklärungsversuch, was genau ihr Vater da mit chemischen Stoffen, Versuchsanordnungen und Experimenten zu schaffen hatte, frühzeitig ausgestiegen. Aber er genoss es zu hören, wie Klara aufgewachsen war.

„Jeden Nachmittag ab drei Uhr, wenn der Vater nach Hause kam, war Studierzeit. Meine Schwester und ich mussten bis dahin der Mutter bei der Hausarbeit helfen und dann saßen wir alle gemeinsam am großen Tisch im Salon zum Lernen“, erzählte sie Lenz. „Der Vater war sehr streng mit uns. Wehe, Rosa oder ich waren nicht konzentriert bei der Sache oder unvorbereitet, was den Stoff vom Vortag betraf, dann holte er seinen Ledergürtel und ...“ Klara presste ihre sonst so vollen und wunderbar geformten Lippen zusammen, bis die rote Farbe aus ihnen wich. Ihr weicher Gesichtsausdruck wechselte schlagartig in eine undurchschaubare, starre Maske. Erst nach einer Weile fuhr sie fort: „Sogar am Samstag mussten wir studieren. Schön waren dagegen die meisten Sonntage. Am Morgen ging’s gemeinsam zur Messe in die Frauenkirche, danach verabschiedete sich der Vater zum Mittagessen mit Kollegen. Mutter, Rosa und ich gingen im Englischen Garten spazieren oder an der Isar entlang.“

Lenz hatte das Gefühl, dass Klara nicht gern über ihr Elternhaus redete. Auch von ihrer Schwester erzählte sie so gut wie nichts. Er wollte nicht nachfragen, denn sie sollte ihn nicht für neugierig halten. Wenn sie allerdings über den Englischen Garten sprach, über den Chinesischen Turm und die vielen interessanten Menschen, die dort promenierten, weil sie von den anderen gesehen werden wollten, strahlten ihre grünen Augen regelrecht. Wie zwei klare Gebirgsseen, die in der Sonne funkelten und ihn zu einem tollkühnen Sprung ins kühle Nass einluden. Er fand Klara wunderbar und verbrachte gern Zeit mit ihr, auch wenn sie so viel mehr wusste als er selber. Lenz hatte bei ihr nie das Gefühl, dass sie ihn für dumm oder ungebildet hielt.

 

Der Kastellan war nirgends in der Eingangshalle zu sehen, doch es konnte nicht allzu lang dauern, bis er irgendwo auftauchte, überlegte Lenz und rieb sich die klammen Hände warm. Manchmal fanden in der Halle des Schlosses Gottesdienste statt, zu denen ausgewählte Ortseinwohner eingeladen waren. Leider durfte Lenz bis jetzt noch nicht dabei sein, aber er hoffte inständig, dass Pfeifer ihn eines Tages zum Dienst einteilen würde. Denn manchmal war sogar der menschenscheue König Ludwig bei der Messe anwesend und diesem war Lenz bisher noch nicht persönlich begegnet. Er konnte ihn nur das eine oder andere Mal im Schlosshof stehen sehen oder einen Blick auf ihn erhaschen, wenn er aus seiner Kutsche stieg. Ansonsten herrschte die strikte Anweisung, dem Monarchen aus dem Weg zu gehen. Am besten sollte man augenblicklich unsichtbar sein, wenn der König irgendwo erschien. Einmal schaffte es Lenz gerade noch, in die Silberkammer zu huschen, als er die hochgewachsene Gestalt des Monarchen durch das Portal in die Halle kommen sah.

„Eigentlich glaube ich nicht, dass der König wirklich will, dass alle vor ihm davonlaufen und sich verstecken. Vielleicht weiß er von dieser Order gar nichts. Vor den Leuten hier hat er bestimmt keine Angst“, hatte Klara einmal gemutmaßt. „Nur vor den Großkopferten, die was von ihm wollen. Die mag er nicht. Denen geht er lieber aus dem Weg“, fügte sie hinzu.

Lenz stellte sich manchmal vor, dass die Waffen an den Wänden der Eingangshalle nur dort hingen, damit sich der König im Notfall verteidigen konnte. In den zwei Ritterrüstungen beim Kamin versteckten sich während der Messe bestimmt seine Leibwachen. Aus welchem Grund sollten sich denn sonst Schwerter, Streitäxte und Ritterrüstungen in einer Kapelle befinden? In den zahlreichen Kirchen und Kapellen von Füssen hatte er so etwas zumindest noch nie gesehen.

 

Es war nun wirklich an der Zeit, zurück nach drinnen zu gehen, bevor Pfeifer ihn hier auf der Treppe erwischte, dachte sich Lenz. Aber er konnte sich einfach nicht von dem wunderschönen Ausblick lösen. Die Nebelschwaden schienen mittlerweile sogar den Bullachberg verschlingen zu wollen. Lenz fühlte sich, als ob er über der Welt schwebe, fern von allen Sorgen und Nöten.

Sein Blick wanderte nach oben zur Baustelle. Die Mauern wuchsen stetig in die Höhe. Durch das Holzgerüst blitzte die helle Fassade des neuen Schlosses hindurch, denn die Ziegelmauern des Rohbaus wurden nach und nach mit weißen Kalkplatten verkleidet. Lenz konnte es kaum erwarten, die Neue Burg das erste Mal zu betreten. Heute war es endlich so weit.

 

 

 

 

„Du musst heute Abend zur Neuen Burg hinauf und die Öfen in der Königswohnung anfeuern.“ Sie hatten gerade an dem kleinen Tisch in der hintersten Ecke der Schlossküche gesessen und ihren morgendlichen Kaffee vor Arbeitsbeginn getrunken.

Lenz schüttete sich vor lauter Überraschung beinahe das heiße Gebräu auf die Hose, als der Kastellan ihm diese Neuigkeit eröffnete.

„Ich kann hier abends nicht mehr weg, weißt du. Es ist zu viel zu tun, damit für die Feier alles in Ordnung gebracht wird.“

Lenz musste husten und bemühte sich, den letzten Schluck Kaffee nicht auf den Tisch zu spucken. Pfeifer klopfte ihm mehrmals auf den Rücken.

„Keine Angst, ich zeig dir alles. Wir gehen später zusammen rauf. Sind ja nur die paar Öfen in der Wohnung vom Torbau“, sagte Pfeifer und klopfte nochmals besonders kräftig.

„Kommt er selber auch nach oben?“, ächzte Lenz. Er spürte Pfeifers Handabdruck noch auf seinem Rücken.

„Kann sein. Das weiß man bei seiner Majestät ja nie so genau. Auf jeden Fall muss alles vorbereitet sein. Und du solltest zum Nachfeuern oben bleiben. Zumindest so lange, bis dich einer seiner Lakaien wegschickt.“

An die Geburtstagsfeier von Prinz Otto hatte Lenz gar nicht mehr gedacht. Er selber hatte ja mit den Vorbereitungen gar nicht so viel zu tun, außer im Vorfeld das Silber zu polieren.

„Muss ich vielleicht sogar die ganze Nacht oben bleiben?“, fragte er den Kastellan. Insgeheim hoffte er das natürlich. Noch nie zuvor war er über Nacht von zu Hause weg gewesen, aber in diesem Fall konnte seine Mutter nichts dagegen einwenden.

„Du weißt ja, dass seine Majestät oft die ganze Nacht wach bleibt. Vielleicht überlegt er sich erst am frühen Morgen, hinaufzugehen, und dann sollte es schon noch warm sein da oben. Im Parterre vom Torhaus ist eine kleine Wohnung, direkt neben der Wachstube, dahin kannst du dich ja zurückziehen, solange man dich nicht braucht.“

Augenblicklich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, Klara zu fragen, ob sie ihn zum neuen Schloss begleiten oder ihn dort besuchen würde. Er wollte dieses Erlebnis nur zu gern mit ihr teilen. Deshalb war für Lenz dieser Tag so wichtig.

 

Er löste seinen Blick von dem Nebelmeer im Tal und kehrte ins Schloss zurück, um das Silberbesteck weiter zu polieren. Die ganze Zeit über hielt er Ausschau nach Klara. Ständig spähte er aus der Silberkammer in die Halle oder durch eines der Fenster in den Burggarten. Die Zeit kroch nur so dahin und Klara war nirgends zu entdecken. Der Kastellan kam kurz vorbei, um ihm zu sagen, dass er doch keine Zeit habe, mit ihm nach oben zu gehen. Er solle sich bei der Torwache melden, man würde ihm schon alles zeigen.

Klara war ihm den ganzen Tag über nicht begegnet. Erst als sein Dienst in Hohenschwangau zu Ende war und er sich auf den Heimweg machte, sah er Klara unten im Schlosshof stehen. Sein Herz begann wild zu klopfen.

„Ich dachte schon, wir treffen uns heute gar nicht mehr“, rief er ihr übertrieben fröhlich entgegen und sprang die Stufen hinab.

„Was ist denn los mit dir, Lenz?“, fragte sie und ging ihm entgegen. „Du strahlst ja übers ganze Gesicht!“

„Ich hab Neuigkeiten!“ Lenz packte Klara am Handgelenk. Sein Griff war wohl ein wenig zu heftig, denn Klara verzog das Gesicht. Sofort lockerte er die Umklammerung und Klara lächelte ihn an. Er liebte es, wenn Klara lächelte, und eine wohlige Wärme durchströmte dabei seinen Körper von den Haarspitzen bis zu den kleinen Zehen. „Aber das kann ich dir nicht hier erzählen. Begleitest du mich ein Stück nach unten?“

„Eigentlich habe ich gar keine Zeit. Die Blumen müssen nach oben.“