Danke an

Dörte Graul für ihren guten Namen in »Die Hex ist tot«,

Polizeihauptkommissar a. D. Klaus-Dieter Brehm,

die Polizeipuppenbühne des Polizeipräsidiums Westpfalz,

herland,

Andrea Schneider,

Andrea Holmes, Jutta Braun,
Martina Sema-Weiss und Ana Bügler,

Andreas Peter,

Valentin und Paul Klar,

Elisabeth und Franz Geier,

Roman Klar für seine sehr hilfreichen Kommentare,

Kriminalhauptkommissar a. D. Herbert »Schnully« Walter (der war übrigens früher beim SEK!),

die wunderbare Ariadne

und an meine ebenso wunderbare Lektorin Ulrike Wand.

cover

Über das Buch

In einem Frankfurter Vorstadtbordell empfängt die junge Hure Manga einen Freier, einen ihrer Stammkunden. Man kommt zur Sache. Dann schnappt sie sich seine Kanone, schießt ihn nieder und ergreift die Flucht.

Kriminalkommissarin Bettina Boll wird in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett geklingelt: Ein Kollege ist tot, heißt es. Erschossen. In einem Frankfurter Puff. Und es handelt sich ausgerechnet um ihren Ex-Partner und Ex-Beinahe-Freund Kriminalhauptkommissar Michael Ackermann.

Dann kommt aus dem abgeschiedenen Dorf Höhweiler in Rheinland-Pfalz die Meldung, dass ein aufreizend gekleidetes junges Mädchen vor großem Publikum den Schuldirektor erschossen hat. Ist das der nächste Tote auf dem Konto der geheimnisvollen Manga?

 

Monika Geier, Meisterin der exzentrischen Charaktere, knöpft sich mit der ihr eigenen sardonischen Heiterkeit einen grimmigen Stoff vor – mitreißend, rockig, direkt aus dem echten Leben.

 

Über die Autorin

Monika Geier, Jahrgang 1970, wurde in Ludwigshafen geboren. Nach dem Abitur folgte eine Ausbildung zur Bauzeichnerin. Für ihr Debüt »Wie könnt ihr schlafen« wurde sie mit dem Marlowe geehrt. Inzwischen ist sie Diplomingenieurin für Architektur, Mutter von drei Jungs, freie Künstlerin und Schriftstellerin.

 

 

Vorwort von Else Laudan

Monika Geiers Kriminalromane, fein geplottet und bevölkert mit frappierend echten Figuren, sind eine Klasse für sich. Es gibt darin so ein warmes Leuchten. Als ob der ziemlich schwarze Humor mit der empathischen Darstellung menschlicher Realität – die ebenfalls reichlich finstere Seiten hat – eine liebende Verbindung eingeht und so all die Widersprüche, Tücken, Egoismen, Missstände und Verfehlungen in eine leise, nüchterne Heiterkeit transzendiert. Eine Wahrhaftigkeit. Wie die Schönheit eines nicht geschönten Kunstwerks.

»Alles so hell da vorn« liefert meiner Fantasie eine mit Rätseln durchwebte Gemäldegalerie. Satte florale Motive und Landschaftspanoramen, wenn Boll ihren klapprigen Taunus durch die Pfalz lenkt, wie Naturbilder alter Meister mit unheilvoll schattendunklen Ahnungen von Abgründen und Tabus. Schnelle Skizzen alltäglicher Szenen und hingehauchte Porträts, so lebendig, als würden sie gleich zwinkern.

Und dann, damit es nicht zu gemütlich wird, eine ganz besondere Erzählstimme: wild, vehement, garstig, bestürzend in ihrer schlichten Brutalität. Pablo Picasso, im besetzten Paris von kunstliebenden SS-Größen hofiert, soll von einem perplexen deutschen Offizier beim Anblick des Bildes Guernica gefragt worden sein: Haben Sie das gemacht? Seine Antwort: Nein, das haben Sie gemacht.

Monika Geier klagt nicht an, belehrt uns nicht, sie beschränkt sich strikt aufs Erzählen, kunstvoll, spannend und verschmitzt: So sieht Kriminalermittlerin Bettina Boll die Welt, unsere Welt, hier und heute. Das zu lesen ist reiner Genuss. Und zugleich steckt darin eine dunkle Geschichte, bei der man sich gerne mal fragen darf: Haben wir das gemacht?

Else Laudan

1

Nicht von dieser Welt, dachte Bettina, als sie ihren Taunus auf dem Trottoir unter der alten Eibe aus Tante Elfriedes Vorgarten parkte. Der Baum war wie eine Zeitkapsel, man stellte sein Auto drunter und befand sich unversehens im vergessenen Außenposten einer uralten Schattenwelt. Sie stieg aus und fröstelte. Wie immer hier. Obwohl die Seele des Ganzen, Tante Elfriede, jetzt in einem anderen Teil der Stadt unter Linden ruhte und Baum, Garten, Haus Bettina gehörten: Es war kein angenehmer Ort. Alles viel zu groß, darum längst schleichend stillgelegt und umgeben von zudringlichen alten Gehölzen. Im Grunde besaß sie einen Wald und ein Schloss. Ich bin Dornröschen, dachte Bettina und versuchte ein Lächeln. Es geriet schief, denn plötzlich streiften sie ein paar weiche Eibennadeln an der Wange, ganz zart, wie die Finger einer Taschenspielerin. Bettina schrak zurück. Den herabhängenden Ast hatte sie nicht bemerkt, obwohl er unübersehbar im Weg hing. Witzig, dachte sie. Du wirst fallen, Eibe. Du wirst die Erste sein. Deinen billigen Grusel werden die neuen Besitzer nicht mehr dulden. Sie werden dich bewerten, schwieriges Mikroklima, Umsturzgefahr, Schädlingsbefall, vergiftet den Boden. Und dann werden sie dich fällen, ganz ohne sich die Jahre zu nehmen, die man braucht, um deine boshafte Seele so richtig kennenzulernen. Irgendwie fast schade, aber ich werde dich verkaufen, Eibe, und das ganze Anwesen dazu. Mitsamt seinen abgesperrten Schränken, den seltsamen Kellern und unerklärlichen Luftzügen.

Mit Schwung öffnete Bettina die Gartenpforte. Kühl hier, trotz Augusthitze, aber gefegt und aufgeräumt. Alles sah ein bisschen nackt aus, die breiten Eingangsstufen, die hölzerne Haustür. Es würde schon gehen, für den ersten Besichtigungstermin. Morgen kamen die Inter­essenten, ein Architektenpaar aus Grünstadt mit zwei Kindern. Die waren von hier, die hatten Pläne und Ahnung. Die würden etwas Neues aus diesem Vorkriegsbunker machen, Mietwohnungen, gehobener Standard, große Zimmer für kleine Familien und Singles mit Niveau.

Bettina inspizierte die Rabatte, die sie letzte Woche bepflanzt hatte, damit es einladender wirkte. Umsonst, sah sie jetzt. Die Blumen kümmerten, nein, faulten. Nichts wächst unter einer Eibe, weißt du doch. Irgendetwas wisperte im Geäst. Bettina blickte auf, der Baum stand still und majestätisch, als sei jede Gehässigkeit weit unter seiner Würde. Und plötzlich dachte sie, dass es vielleicht doch mehr als Ahnung, Pläne und ein optimistisches Familienkonzept brauchte, um dieses Hauses und dieses Baums Herr zu werden.

 

Dann wanderte sie durch die Zimmer und öffnete die Fenster. Lüften Sie, hatte der Makler gesagt, und wenn Sie können, backen Sie Brot. Es muss gut riechen, und es darf nicht klamm sein. Klamm war es in den hohen Räumen aber immer gewesen, das kriegte man auch in einer Hitzeperiode mit der sattesten Augustluft nicht weg. Die Nässe steckte in den Mauern. Alle Klinken und Geländer waren mit einer feuchten Schicht überzogen. Bettina betrat das Klavierzimmer, klappte die Läden auf und ließ die Abendluft ein. Die Einrichtung wollte sie im Haus lassen. Das ist ein Risiko, hatte der Makler zu bedenken gegeben, nur wenige Käufer betrachten Möbel als Mehrwert, und, tja, räumen Sie wenigstens die Bücher raus, und alles, was noch persönlicher ist, erst recht.

Tatsächlich weggeschafft hatte Bettina dann nach ihrer ersten chaotischen Hauruck-Räumung gar nichts mehr, denn unpersönlich sah es sowieso aus. Sie lehnte sich an die Fensterbank und schaute hinaus in den Garten: eine Wildnis. Zurück ins Zimmer: eine Gruft. Trotzdem hatte sich etwas verändert. Die Räume kamen ihr kleiner vor als sonst. Und viel schmutziger. Seltsam, es schien, als wäre der Dreck zwar immer da gewesen, hätte sich aber erst jetzt, nach Jahren der Unsichtbarkeit, auf einen Schlag bemerkbar gemacht. Sie fror nicht mehr hier drin, und sie fühlte sich nicht mehr hässlich. Höchst merkwürdig.

Genau wie diese Sache mit dem Rauchen.

Sie hatte damit aufgehört.

Erzählt hatte sie das noch keinem, denn es war ihr selbst nicht geheuer. Musste man nicht kämpfen, um die Sucht loszuwerden? War sie es nicht allen anderen Ex-Rauchern schuldig, sich mit Pflastern zu bekleben und Sprays und Kaugummis und Eso-Ratschläge zu verschleißen, um dann bis aufs Blut gereizt jeder Zigarette einzeln zu widerstehen und außerdem zehn Kilo zuzunehmen? Sollte das nicht Grundvoraussetzung sein, um sich nach Äonen des Tabakkonsums »Nichtraucherin« nennen zu dürfen?

Sie war Nichtraucherin. Seit zwei Monaten. Ganz einfach so. Sie, Kriminalkommissarin Bettina Boll, hatte gedankenlos eine Kippe nach der anderen geplotzt, seit sie zwölf war, denn da waren ihre Eltern gestorben. Jetzt rauchte sie nicht mehr. Das war alles. Einen Entschluss dazu hatte sie nicht gefasst. Es war nur einfach nicht mehr notwendig. Und wenn sie überhaupt genervt war, dann eher von den umständlichen Ritualen der Raucher als von ihrem eigenen niedrigen Nikotinpegel. Das Verlangen war auf einen Schlag verschwunden. Seltsam allerdings, was ihr erst an diesem Abend und angesichts des staubigen Klavierzimmers in ihrer kalten Familiengruft klar wurde: Verschwunden war es exakt am Tag von Tante Elfriedes Beerdigung.

 

Was du mal werden willst: Nichtraucherin. Nee, jetzt im Ernst, ein Körper, der ganz sauber ist, das wär’s. Alle Löcher gehören dir allein. Und deine Lunge und dein Herz auch und vor allem dein Gehirn. Dein Herz: Schalt es aus. Deine Lunge: Halt sie frei. Dein Gehirn: Tja. Da läuft alles zusammen. Komisch, dass du ausgerechnet hier aufgewacht bist, in dieser Drecksbude, bei diesen Losern. Plötzlich hat es Zoom gemacht und alles war hell. Du kannst hören, was die anderen denken. Dabei bist du nicht mal mehr drauf, du kannst wirklich alles sehen. Den ganzen Müll.

Kommt vielleicht daher, dass hier nicht so viel los ist. Kein gutes Haus, baufällig und dreckig, manchmal passiert gar nix. Da ist einfach Pause und du kannst denken. Vielleicht ist es auch, weil du aus ’nem Club kommst und nicht von der Autobahnraststätte wie Olga und Angelique, und wer weiß, aus was für Dingern die andern sind. Auf jeden Fall bist du hier falsch. Davor, ganz früher, warst du eine Preziose. H. G. hat dich so genannt, H. G., der Richter. Pre-Zi-Ose. Das war … na ja, H. G. eben. Die anderen Sachen sind unwichtig, dieses andere Leben ist sowieso vorbei. Jetzt sitzt du in der Wandnische, Beine breit, ein Fuß im schwarzen Creeper auf dem Sitzpolster, Faltenmini knapp überm Schritt und verträumter Augenaufschlag. Ein Mann betritt den Raum. Du siehst, wie Diandra ihre Brust vorschiebt. Sie senkt die Wimpern, richtet den Blick. Es ist still, na ja, es fühlt sich still an. Die Anlage haut Beats raus, aber das zählt nicht, das ist Tapete. Die Stimmung ist ungemütlich. Alle sitzen auf Position. Du bist genauso gespannt wie die anderen, irre, als würdet ihr zusammen auf diesen einen Mann warten. Er wird fliehen, denkst du, jeder vernünftige Mensch würde das tun.

Er bleibt. Er schwitzt und geht auf Diandra zu. Sie grinst ein Grinsen, das aus tausend vergeblichen Versuchen besteht. All die Lächeln, die davor schon nicht geklappt haben, stecken mit drin, so verzerrt sie ihr Gesicht. Du siehst, dass sie ein Zombie ist, das ist ganz klar. Du bist nicht drauf. Du hast seit zweieinhalb Monaten nichts mehr genommen. Daher weißt du es genau: Diandra ist ein Zombie, und die anderen sind viel zu kaputt, um noch irgendwas zu sein, die könnten genauso gut sofort verfaulen. Geisterbahn. Das hier ist ein leeres Zimmer voller leerer Menschenhüllen, da ist dieser Mann, der gleich einen Zombie ansprechen wird, und da bist du. Der einzige Mensch hier, vielleicht der einzige Mensch überhaupt auf der Welt außer Nini: du. Witzig, oder? Mach die Augen zu und die Welt ist weg. Mach deine Löcher zu und die Männer sind weg. Mach die Augen auf und du siehst: Diandra.

Und weißt du, was? Diandra ist das Letzte, aber sie ist alt. Sie ist über vierzig. Sie hat einen Körper, eine Stimme. Sie ist die Zukunft. Wenn du es schaffst, so alt zu werden wie sie, dann darfst du eine Diandra sein.

Du hörst, wie sie mit dem Mann redet. Sie sagt: »Wo wir sind, ist vorn.« Ihr Spruch für alles. Sie fügt an: »So weit vorn hattest du ihn noch nie.«

Der Kerl wird rot. Diandras Blick beginnt zu suchen. Das richtige Mädchen für den roten Typen, der schwitzt. Sie schaut sich lange um. Der Mann wartet. Er braucht Gelegenheit, auszudünsten, an seinem Bier zu trinken und alle zu betrachten. Damit sich irgendwie zeigt, worauf er steht. Du lässt dich tiefer in die dreckigen lila Polster sinken. Deine Beine wickeln sich umeinander. Eine Serviette wandert vor dein Gesicht. Du fächelst, als bräuchtest du Abkühlung. Diesen roten Typen willst du nicht. Den kannst du jetzt auf keinen Fall brauchen. Du musst frei bleiben für den Bullen.

Diandras Blick bleibt an dir hängen. Mist. »Ich glaube, du suchst mal was Echtes und Ehrliches in deinem Leben«, hörst du Diandra zu dem schwitzenden Typen sagen. Sie sieht dich an.

Der Mann schluckt. Er ringt sich seinen Satz ab. »Was kostest du?«, fragt er laut. Er meint Diandra. Die ist mindestens zwanzig Jahre älter als er. Du hättest gelacht, aber es ist nicht komisch. Es ist nur gut gegangen.

Du legst ruhig die Serviette weg. Gehst wieder in Position, fast lässig, als wärst du nur einen kurzen Moment abgelenkt gewesen. Das Glück ist auf deiner Seite. Diandra ist jetzt eine halbe Stunde beschäftigt. Und heute Abend noch, sehr bald schon, wird der Bulle kommen. Das ist die Nacht der Nächte. Du spürst es, weißt es sogar: Der Bulle hat angerufen. Macht er immer. Und der Bulle will immer zu dir.

 

»Ach genau, Sie sind die Polizistin«, sagte die Stimme des Maklers aus Bettinas Handy, was die etwas irritierend fand, denn was hatte ihr Beruf mit dem Hausverkauf zu tun? »Polizisten rufen immer vorher noch mal an«, fügte er hinzu, und der kleine Seufzer danach ließ durchblicken, dass er mindestens im Liegestuhl, wenn nicht in einem Pool saß, Zielvorgabe: ein entspannter Sommerabend ohne die Anliegen seiner kontrollsüchtigen Klienten.

»Ich wollte Sie nur dran erinnern, morgen die Pläne vom Haus mitzubringen«, sagte Bettina etwas grantig. Die Pläne hatte sie dem Makler ganz selbstverständlich überlassen, aber jetzt wünschte sie, dass sie zumindest eine Kopie behalten hätte.

»Aber klar, Frau Boll«, sagte der Makler verbindlich und geduldig. Irgendetwas plätscherte leise bei ihm im Hintergrund.

»Danke«, sagte sie.

»Aber gern, dann bis morgen.«

»Em –«

Längere Pause. »Ja, Frau Boll?«

»Sie haben die Pläne nicht zufällig jetzt irgendwo in der Nähe …?«

»Tut mir leid«, antwortete der Makler entschieden. »Ich bin grad im Außendienst und hab keinen Zugang zu meinem Büro. Morgen bring ich alles mit, versprochen.«

»Na gut«, sagte Bettina zögernd. »Es ist nur –«

»Was denn?«

Bettina fror. Jetzt doch. Denn sie stand im Licht ihrer ­Maglite in Tante Elfriedes Apfelkeller, einem düsteren Loch ohne Tageslicht voll alter Apfelsteigen, Kartoffelkisten und ­Regalen mit Einmachutensilien. Es war saukalt, richtig eisig, hier schien der Ursprung des Unbehagens zu liegen, das durch die Mauern nach oben kroch. Bettina konnte sich an diesen Raum kaum erinnern, sie wusste, dass es ihn gab, aber sie hätte nicht sagen können, ob sie überhaupt je drin gewesen war.

»Ich hab eine Tür gefunden«, sprach sie in ihr Handy und leuchtete den wurmstichigen Schrank an, den sie soeben beiseite­gerückt hatte. Weil darunter so eine seltsame Kante gewesen war. Die Kante hatte sich als Stufe entpuppt. Welche hinab zu einer Tür führte. Und diese Tür hatte Bettina noch nie im Leben gesehen.

»Frau Boll, Ihr Anwesen ist wirklich ein eindrucksvolles Ensemble«, beschwichtigte der Makler, jetzt spürbar bemüht. »Und wenn Sie dort nicht aufgewachsen sind oder längere Zeit gewohnt haben, ist es nur natürlich, dass Sie nicht alle Räumlichkeiten kennen. In diesen alten Häusern gibt es viele Abseiten, Nebenräume und so weiter, einmal haben wir ein ganzes Treppenhaus entdeckt, war zugemauert, das kommt alles vor. Wir werden –«

»Sie verstehen nicht«, sagte Bettina, zitternd vor Kälte und dem dringenden Wunsch, das Rätsel zu lösen und dann schnell hier zu verschwinden. »Diese Tür kann es gar nicht geben, weil das sozusagen eine Außenwand ist, nur unter der Erde, wenn man sie also aufmacht, dann stößt man eigentlich aufs Fundament, beziehungsweise sie ist im Fundament und führt in die – na ja, in die Erde.«

Pause. Dann seufzte der Makler. »Frau Boll.«

»Tut mir leid«, sagte Bettina. Sie hörte sich vermutlich ziemlich wirr an, und hinter der Tür, egal wie verschlossen und versteckt sie war, konnte tatsächlich nicht viel mehr sein als ein weiterer Keller. Der dann eben ein eigenes Fundament besaß. Oder so. Und das war nichts, weswegen man einen vielbeschäftigten Makler am heißesten Abend des Jahres aus dem Pool jagte.

»Wir klären das morgen«, sagte er versöhnlich. »Alles klar, Frau Boll?«

»Alles klar«, sagte Bettina, unterbrach die Verbindung und steckte ihr Handy in die Hosentasche. Dann leuchtete sie die Tür an. Die war aus dickem Holz, Eiche vermutlich, trotz der Wurmlöcher solide, ziemlich breit und oben rund.

Das ist keine Tür zu einem Nebenraum, sagte eine Stimme in ihr. Das hier ist mysteriös. Und mit einer Kraft und Verzweiflung, die ihr selber ziemlich unheimlich war, warf sie sich gegen das Türblatt und rüttelte mit aller Macht am Knauf.

Nichts tat sich. Nur die Stille, die in den Raum zurückflutete, sobald Bettina nachließ, wirkte jetzt lauschend. Sie fluchte und ließ den Lichtkegel der Maglite durch den Raum wandern. Schatten tanzten. Ihre Zehen in den Cowboyboots waren so kalt, dass sie kaum noch zu spüren waren.

 

Der Bulle ist da. Diandra nicht. Das macht ihn nervös. Normal kommt er reinstolziert, in Uniform mit allem Drum und Dran, marschiert straight auf Diandra los und sagt so Sachen wie: Ich werd hier mal eine Razzia anberaumen. Und Diandra sagt dann: Aber, Hasi, kann man da nicht IRGENDETWAS tun? Und der Bulle so: Ich glaube nicht! Das hier ist ein Sündenhaus, wie ich sehe, beschäftigt ihr sogar Minderjährige! Darauf Diandra: Aber nein, gucken Sie sich die Mädchen doch an, Herr Kommissar! Und er: Das tue ich grade, und die sind viel zu jung! Und ­Diandra: Aber eine Razzia, lieber Kommissar, das ist echt too much! Könnten wir nicht so ganz unter uns noch mal drüber reden? Und der Kommissar: Ich muss mir diese Girlies mal genauer ansehen! Diandra, flehentlich: Es geht ihnen gut hier bei uns, und glauben Sie mir: Die wollen das! Die sind so heiß, zu einem langweiligen Leben wären die gar nicht imstande, schauen Sie mal, die kleine Manga, wie die unter Strom steht, die BRAUCHT einen dicken, fetten …

Heute fehlt Diandra. Darum fehlt dem Bullen sein Vorspiel. Du siehst ihn dastehen, in seiner engen Uniform. Sein stumpfer Blick huscht durch den plüschigen Raum. Er sucht eine Bühne für sein Bullenspiel, das Stichwort für seinen Auftritt. Aber du weißt, er weiß, alle wissen: Die anderen Mädchen können mit Irren nicht so wie Diandra. Sie räkeln sich nur in ihren Positionen. Olga und Angelique kichern an der Bar und rufen: »Hallo, Bulle!« Und: »Willste wieder ’ne Razzia machen?«

Sie lachen ihn aus. Das macht dich panisch. Du musst etwas unternehmen. Er wird schon ganz starr. Olga und Angelique könnten nie so bösartig sein wie Diandra. Aber genau darum kann jetzt jeder sehen, wie dreckig und verrückt das alles hier ist, ein Polizist, der echt in Uniform, mit Schlagstock und Pisto­lengürtel antanzt. Ein großer, schöner Mann. Wahrscheinlich nicht mal doof. Der draußen sicher geachtet, klug und gefährlich ist. Und der nur hier so gebückt steht wie ein betäubter Bär, der nicht anders kann.

Du schluckst die Angst weg und erhebst dich. Schlenderst auf ihn zu. Darfst du nicht, musst du jetzt aber. Das ist nicht deine Rolle, und du sollst nicht ewig mit den Typen reden. Du bist der Preis und nicht die Puffmutter. In all der Zeit, die du bisher mit dem Bullen verbracht hast, habt ihr bestimmt nicht mal hundert Worte gesprochen. Aber so wie es jetzt aussieht, braucht er Hilfe.

Und du brauchst ihn.

 

Draußen in der weichen Abenddämmerung vor der alten ­Remise überlegte Bettina, wen sie an einem Donnerstag um die Zeit noch bitten konnte, eine Tür aufzubrechen. Inzwischen hatte sie ein komisches Gefühl bei der Sache. Eine verschlossene Tür mit einem Schrank davor, die barg doch nicht nur einen leeren Keller.

Eventuell war es klüger, die Tür zu öffnen, bevor die Käufer kamen. Aber wie? Wer war dazu in der Lage? Ein Kollege? Kollege Ackermann? Der wäre bestimmt stark genug, aber ob er jetzt sofort hierherkommen würde, an einem Sommerabend in Bettinas Löwinnenhöhle? Es hatte mal eine Zeit gegeben, da hätte sie ihn ohne Zögern angerufen, aber dann hatten sich die Verhältnisse kompliziert. Jetzt gingen sie sich nur noch aus dem Weg, also konnte sie ihn kaum herbestellen, wenn sie bloß einen Rammbock brauchte. Und sonst fiel ihr niemand ein. Also musste sie doch hoch, in Tante Elfriedes »Büro«, die Kiste mit den Schlüsseln holen.

Noch so eine Sache, die der Makler ihr aufgetragen und die sie nicht gemacht hatte: alle Türen mit den passenden Schlüsseln versehen. Eine Wahnsinnsarbeit, und die vielen abgesperrten Schränke machten sie wütend, zumal meistens nichts drin war. Genau wie das Klavier. Nur Tante Elfriede würde es einfallen, ein Klavier abzuschließen, so dass niemand mehr etwas mit dem Instrument anfangen konnte. Es war schlichtweg Schikane, sämtliche Möbel im Haus zu versperren und die Schlüssel dann wild durcheinander in eine riesige Kiste zu werfen. Aber vielleicht, dachte Bettina jetzt, hatte Tante Elfriede die Kiste gebraucht. Um ein Versteck zu haben für den einen, den geheimen, den kostbaren Schlüssel. Der zur Tür im Apfelkeller passte.

 

Mit dem Bullen ist es so: Sobald er bei dir im Zimmer steht, ist das Spiel vorbei. Da sagt er gar nichts mehr. Er sieht dich nicht an. Dann ist er am Ersaufen, will ausgezogen werden, reißt dir die Klamotten weg, küsst dich und ist jedes Mal erstaunt, dass du ihn nicht wiederküsst. Er ist sehr groß. In jeder Hinsicht. Stark und hart und gleichzeitig ewig weit weg.

Jetzt steht er an der Bar neben der kichernden Olga. Die macht sich immer noch wispernd mit Angelique über ihn lustig. Er sieht dich an, als sähe er dich zum ersten Mal. Als wüsste er nicht, ­wohin mit seinem dämlichen Pädo-Polizistenspruch.

Du sagst: »Hallo, Bulle.«

Er sagt: »Guten Abend.«

Du, melancholisch: »Kennen wir uns?«

Er, schwach: »Bist du eigentlich alt genug, um hier zu arbeiten?«

Du siehst ihn an. Sein Blick hält deinem nicht stand. Da nimmst du seine Hand. Und so geht ihr auf dein Zimmer.

 

Als sie wieder vor der seltsamen Tür stand, erkannte Bettina, dass sie so nichts erreichen würde. Es war zu kalt hier und zu dunkel. Draußen im Hof mochte es als eine durchaus erfüllbare Aufgabe erscheinen, aus mehreren Kilo gemischten Schlüsseln den richtigen für ein bestimmtes Schloss herauszu­fischen, doch hier unten in der klammen Finsternis war einfach jeder Misserfolg einer zu viel, hier krochen einem die Schatten in den Nacken und die Gänsehaut ging nicht weg, hier wurde man ungeduldig, ungenau und wollte nur noch eins: hoch, in Sicherheit. Es war scheußlich wie Schwimmen im kalten Wasser. Da half auch die kratzige Wolljacke nicht, die Bettina jetzt einhüllte. Das Ungetüm hatte an einem Haken gehangen und spendete kaum Wärme, war hauptsächlich widerlich und roch modrig wie das Haus. Diese Jacke zu tragen war fast so, als würde sie dem alten Gemäuer gestatten, ihre Haut zu berühren und ihren Körper einzufangen. Das Gefühl wurde so übermächtig, dass Bettina die Jacke mit einem Ruck abstreifte, in eine Apfelstiege feuerte, dabei die Maglite zu Boden warf und dann natürlich noch viel mehr fror, während die Taschenlampe davonrollte und komische Lichtflecke über den Boden zucken ließ. Fluchend packte Bettina die Schlüsselkiste, eilte ihrer Lampe hinterher und verließ den Keller. Den Gedanken an einen Spezialisten vom Schlüsseldienst verdrängte sie gleich wieder. Heute würde sie nicht mehr in dieses Loch zu dieser Tür hinabsteigen. Selbst wenn dahinter ein Goldschatz lag: Den letzten schönen Sommerabend war er nicht wert.

 

Es ist wie immer mit dem Bullen: Er ist grob. Aber trotzdem ein super Kunde. Weil er eben einfach unter Strom steht und du ihn nicht mühsam hochkitzeln musst. Im Zimmer drin packt er dich und drückt dich gegen die Tür. »Was MACHST du da?«, hauchst du. Wehrst dich ein bisschen. Er küsst dich in die Halsbeuge, so zärtlich, dass du ihn ohrfeigen willst. Du schiebst ihn weg. Du musst zum CD-Player. Ihr braucht Musik. Sehr laute Musik, der Bulle verlangt es nicht, aber er ist dann besser. Weil er im Rhythmus bleibt. Und das muss sein, denn er ist echt groß und kann schnell und heftig werden. Aber er ist auch ein Tänzer, folgt immer dem Takt. Du drehst die Anlage bis zum Anschlag. Bässe hämmern los, fetter Elektropop mit verfremdeten Girlie-Stimmen. Ihr hört hier deine Mucke, macht DEINE Schulmädchennummer.

Der Bulle berührt deine Schulter. Du wirbelst anmutig herum. Augenaufschlag, comicmäßig, du bist Manga, die Animefigur, ohne Piercings, aber Wimpern so lang und gezackt wie Schuppen auf der Drachenhaut. Das sieht er aber gar nicht. Er hält die Augen geschlossen. Legt dir die Hand zwischen die Schulterblätter. Zieht deine Bluse nach hinten. Dann berührt er die klaffenden Säume über deiner Brust mit den Lippen. Leckt deine Haut ab, da, wo er sie erreichen kann. Jetzt klebt er an deinem Körper. Bewegt die Hüften im Rhythmus. Auch seine Uniform spannt überall.

Du fragst dich plötzlich, ob es wirklich eine richtige Uniform ist. Sie riecht irgendwie. Vielleicht spielt er den Schupo nur. Ist gar kein Bulle. Aber: Der Schlagstock und die Pistole, die sind echt. Müssen sie sein. Du fummelst an seinem Gürtel. Er stoppt. Sieht auf, blickt dich an. Du küsst ihn. Hast du noch nie gemacht. Erst aufs Kinn, dann auf die Wange, die Nase, die Lippen. Er steht ganz still. Dann küsst er zurück. Du nimmst wieder den Gürtel. Das hier, diese Pistole in diesem Gürtel an diesem Mann, das ist trauriger Alltag und gleichzeitig das Irrste, was dir je passiert ist. Es ist ein Geschenk. Du musst annehmen. Wenn du diese Chance nicht ergreifst, dann wird Gott nie wieder einen Gedanken an dich verschwenden. Dann wirst du mit viel Glück wirklich eine Diandra werden.

Der Rhythmus wird schneller. Die Frauenstimme von der CD kreischt. Der Bulle ist in seiner Welt gefangen, nur noch Bewegung, Gewalt und Sehnsucht. Breitbeinig. Im Nirwana. Vorsichtig öffnest du die Druckknöpfe der Pistolentasche. Ziehst die Pistole halb heraus. Das Ding muss geladen werden, dazu schiebt man den oberen Schlitten zurück. Das geht nicht mit einer Hand. Der Bulle greift unter deinen Rock und reißt deinen Slip mit einem Ruck fort. In der Bewegung lässt du die Pistole zurückgleiten. Dass die echt ist, hat der Bulle selbst gesagt. Er hat sie rausgeholt und dir gezeigt, ungern, aber doch auch stolz. Jetzt greift er selber nach seiner Gürtelschnalle. Du fasst seine Schulter. Trittst einen Schritt zurück. Tanzt um ihn herum, den rechten Zeigefinger an seiner Hüfte. Kommst hinter ihm zu stehen. Dort hebst du die Hände, um die Berührung zu unterbrechen. Wie um es spannender zu machen. Die Pistole hängt direkt vor dir. Rechts. An seiner Hüfte. Er quält sich mit dem Reißverschluss.

Du machst eine schnelle Handbewegung und packst die Waffe. Bekommst sie gleich richtig zu fassen. Ziehst den Schlitten zurück. Alles funktioniert wunderbar. Du hörst die Musik nicht mehr. Zeitlupe. Schwarze Seite im Comic. Er fährt herum, schnell vermutlich, aber für dich ist es ewig: Überraschung, Schreck, dann Unglaube, Wut und jetzt Entsetzen. Also, denkst du. Schieß.