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Sandra Dünschede

Kilometer 151

Kriminalroman

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Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Friesennebel (2017), Kofferfund (2016),

Friesenmilch (2016), Knochentanz (2015),

Friesenschrei (2015), Friesenlüge (2014),

Friesenkinder (2013), Nordfeuer (2012),

Todeswatt (2010), Friesenrache (2009),

Solomord (2008), Nordmord (2007), Deichgrab (2006)

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Dominika Sobecki

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Lutz Eberle

ISBN 978-3-8392-5458-5

Widmung

Für Michael, der Peer Nielsen mit zum Leben erweckt hat

 

 

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
Art 3

(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

 

 

1. Kapitel

Peer Nielsen schrak auf. Was war das? Etwa schon wieder Babygeschrei? Ein Stöhnen entfuhr ihm.

Er hatte sich am gestrigen Freitag freigenommen und seinem besten Freund beim Umzug geholfen. Kisten, Körbe, Schrankwände, Stühle – kurzum den gesamten Hausstand hatte er aus der kleinen Altbauwohnung in Eimsbüttel in die neue Vierzimmerwohnung nach Rissen geschleppt. Lange hatte Sören nach einer neuen Bleibe für seine kleine Familie gesucht, denn als sich der Nachwuchs angekündigt hatte, war schnell klar gewesen, dass die alte Wohnung zu klein sein würde.

Die Suche hatte sich mehr als schwierig gestaltet – zu hohe Mieten, nicht sanierte Häuser und zig Bewerber, gegen die Sören als zukünftiger Alleinverdiener kaum Chancen gehabt hatte. Daher hatte er auch nicht lange gezögert, als ihm diese Dachgeschosswohnung unter der Hand von einem Kollegen angeboten worden war, auch wenn sie im vierten Stock ohne Aufzug lag.

Peer hatte im Prinzip kein Problem mit Treppen. Er war körperlich fit, wohnte selbst im Dachgeschoss eines Altbaus ohne Fahrstuhl, aber normalerweise stieg er am Tag keine 100 Mal auf und ab, und schon gar nicht mit schweren Kisten oder gar einer Waschmaschine beladen.

Er war daher mehr als froh gewesen, als der Freund ihm gegen Mitternacht angeboten hatte, einfach bei ihm auf der Couch zu übernachten. Er hätte ohnehin kaum das Gaspedal betätigen können, so sehr schmerzten seine Beine. Und nicht nur die – als er nun versuchte sich aufzurappeln, spürte er jeden einzelnen Knochen in seinem Körper.

Die Nacht auf dem alten Sofa hatte wenig Erholung gebracht; zumal er ständig aus dem Schlaf gerissen worden war, weil Julius, der drei Monate alte Sohn von Sören, permanent geschrien hatte.

Doch diesmal hatte ihn etwas anderes geweckt. Es war kein Kindergeplärre, das ihn aus seinem Schlaf hatte auffahren lassen, sondern sein Handy.

Mühsam angelte er nach seiner Jacke, die über der Lehne eines Sessels hing, und fingerte das Telefon aus der Tasche.

»Niel…« Er räusperte sich. »Nielsen?«

»Chef, wir haben einen Leichenfund in Stellingen«, erklang die dynamische Stimme seines Mitarbeiters Michael Boateng, während er sich mit der freien Hand über seinen kahlen Kopf fuhr.

»Wo genau?«

»Auf der Baustelle.«

»Welche Baustelle?« Peers Gehirnzellen liefen noch nicht auf Hochtouren. Er versuchte, seine Augen weiter zu öffnen und erblickte das Chaos um sich herum.

»Na, die von der A 7 – an der Langenfelder Brücke.«

»Aha.« Nielsen blickte auf seine Uhr. Es war kurz nach sieben. Zu früh, um aufzustehen, aber als sein Blick erneut auf die Kisten und noch nicht aufgestellten Möbel fiel, spürte er trotzdem so etwas wie Erleichterung. »Gut, ich komme. Gib mir ’ne halbe Stunde.«

Er beendete das Gespräch und ließ sich zurück aufs Sofa fallen. Eigentlich hatte er Sören versprochen, ihm heute weiter zu helfen, aber er hatte Bereitschaft an diesem Wochenende, und wenn er ehrlich zu sich selbst war, kam ihm die Leiche gar nicht so ungelegen. Zwar bedeutete der Leichenfund zunächst einmal Arbeit, aber zumindest keine körperliche.

Er rappelte sich stöhnend auf, zog aus seiner Jacke das Merkbuch und riss ein unbeschriebenes Blatt heraus.

Musste zum Einsatz – sorry, aber kann dauern. Leichenfund an der A 7.

Er legte den Zettel auf den Küchentisch, auf dem etliche leere Bierflaschen standen, die in dem Chaos aber nicht weiter ins Gewicht fielen. Er seufzte, denn an einen Kaffee war nicht zu denken. Schnell ging Peer ins Bad, um zu pinkeln und etwas kaltes Wasser über seine Hände laufen zu lassen und in sein Gesicht zu spritzen, dann zog er leise die Wohnungstür hinter sich zu.

Die ersten Treppenstufen waren die reinste Folter. Peer stützte sich beim Laufen an der Wand ab. Als er unten ankam, ging es zwar schon besser, aber er musste noch eine Hürde nehmen und in den geliehenen Lkw klettern, den sie gestern nicht mehr zurückgebracht hatten. Peers Wagen stand bei der Autovermietung in der Stresemannstraße.

Um diese Uhrzeit waren schon mehr Leute auf der Straße, als er gedacht hatte. Die Osdorfer Landstraße war eine der Haupteinfallstraßen in die Stadt. Er kam nur langsam voran, zumal er in dem Lkw kein Blaulicht hatte, und selbst wenn, dann hätten sich die anderen Verkehrsteilnehmer wahrscheinlich gefragt, an was für einem Polizeieinsatz ein Möbeltransporter beteiligt war, und vermutlich kaum Platz gemacht.

An einer roten Ampel sah er den Hinweis auf einen Frühstücksimbiss und sofort setzte ein innerlicher Kampf ein – Kaffee oder Leihwagen wegbringen? Kaffee? Lkw?

Die Ampel sprang auf Grün und Peer setzte den Blinker. Eine Leiche auf nüchternen Magen konnte er nur schlecht vertragen. Er arbeitete mittlerweile seit fast 15 Jahren bei der Mordkommission und war den Anblick toter Menschen gewohnt – sofern man sich daran gewöhnen konnte, aber ohne was im Bauch fiel es ihm schwer, einen Toten zu betrachten. Erst recht, wenn die Leiche übel zugerichtet war. Über den Zustand hatte Boateng schließlich nichts gesagt, rechtfertigte er seinen Stopp beim Imbiss. Vielleicht war die Leiche scheußlich entstellt? Oder zerstückelt? Den Lkw konnte er später zur Leihstation zurückbringen. Kaffee ging eindeutig vor.

Mit einem Coffee to go und einem Käsebrötchen bewaffnet stieg er wenig später zurück in den Lkw und fuhr weiter zur Baustelle in Stellingen. Den Fundort konnte er kaum verpassen, denn schon als er von der Autobahn abbog, sah er das Blaulicht der Kollegen aus dem PK 25, die man zuerst über den Leichenfund informiert hatte, am Fuße der Brücke blinken.

Nielsen suchte einen geeigneten Platz für sein Gefährt, nahm einen letzten Schluck Kaffee und sprang aus dem Wagen.

Erst jetzt fielen ihm die gewaltigen Ausmaße der Baustelle auf. Vor einigen Monaten hatte man den Ausbau der A 7 in Angriff genommen. Ein Großprojekt, das sich über mehrere Jahre hinziehen würde, längst überfällig, da die vorhandene Autobahn schon lange nicht mehr dem täglichen Ansturm der Blechlawine gewachsen war. Zusätzlich sollte im Zuge der Baumaßnahmen ein Teil der Strecke in einem Tunnel verschwinden. Peer hatte sich bisher nicht näher mit dem Ausbau befasst, lediglich gehört, dass es trotz der positiven Auswirkungen, die das Projekt bringen sollte, etliche Proteste dagegen gegeben hatte. Aber war das nicht normal?

Gerade in Hamburg waren die Bewohner mehr als sensibel, wenn es um die Verwendung ihrer Steuergelder ging. Nicht zuletzt deswegen hatte man in einem Volksentscheid auch gegen Olympia gestimmt, was Peer persönlich bedauerte.

»Na, Zweitjob angenommen?« Boateng war bereits vor Ort und kam ihm grinsend in Gummistiefeln entgegen. Die letzten Tage hatte es stark geregnet, die Baustelle hatte sich in ein Schlammloch verwandelt, doch Michael war wie immer bestens ausgerüstet. Ganz im Gegensatz zu Peer, der weiße Sneakers trug, die er nach dem Einsatz wahrscheinlich würde wegwerfen können. Da halfen auch nicht die Schutzüberzieher, die Boateng ihm mit einem leicht mitleidigen Blick reichte, während er bereits die ersten Informationen für seinen Chef zusammenfasste.

»Bei der Leiche handelt es sich um Harry Neumann, 67 Jahre alt, Rentner und Inhaber einer Parzelle in der Gartenkolonie ganz in der Nähe.« Boateng deutete in die entsprechende Richtung. »Gefunden hat ihn einer der Bauarbeiter. Die fangen hier gegen 6:00 Uhr an, und auf dem Weg zu seinem Bagger hat Lothar Wutzke den Toten entdeckt.«

Sie hatten die Stelle erreicht, die die Kollegen mittlerweile abgesperrt hatten und nun nach Spuren absuchten.

Die Leiche wirkte wenig entstellt und auf den ersten Blick war für Peer nicht erkennbar, wie der Mann umgekommen war.

»Schlag auf den Hinterkopf«, klärte Michael ihn auf, als er Peers forschenden Blick bemerkte.

»Womit?«

»Kann man noch nicht sagen. Etwas Passendes haben die Kollegen jedenfalls noch nicht gefunden. Die haben aber auch gerade erst angefangen, und vielleicht bringt die Obduktion da mehr Licht rein.« Boateng wies zu dem Leichenwagen, der gerade eintraf.

Nielsen trat näher an die Leiche. »Und habt ihr sonst was?«, fragte er die Kollegen von der Spurensicherung.

Die schüttelten die Köpfe. »Aber lange liegt der hier noch nicht. Und der Tatort ist das wahrscheinlich auch nicht.«

»Wieso? Wie kommt ihr darauf?«

Einer der Männer im Schutzanzug drehte den Kopf des Toten leicht zur Seite. »Recht wenig Blut für solch eine große Wunde, finde ich.« Unter dem Leichnam hatte sich wirklich nur ein ganz kleiner roter Fleck gebildet. »Außerdem gibt es direkt hier Reifenabdrücke.«

»Reifenabdrücke?« Peer blickte sich um. Die mussten in der Tat frisch sein, ansonsten hätte der Regen der letzten Tage, der erst gestern Abend endlich aufgehört hatte, die Spuren gleich zerstört.

»Ja, könnten von einer Schubkarre stammen und …«

»Was ist hier los?«, zerschnitt plötzlich eine schrille Stimme die Luft.

Nielsen drehte sich um und sah einen Mann, den er höchstens auf Anfang 30 schätzte, mit gelbem Schutzhelm auf die Fundstelle zueilen. Automatisch trat er dem Heran­stürmenden in den Weg. »Polizei Hamburg. Peer Nielsen. Und wie ist Ihr Name?«

Der Angesprochene blieb stehen und reckte den Hals in die Höhe. »Ich bin hier der Bauleiter. Stephan Braun. Wieso wird hier nicht gearbeitet? Ein Stopp kostet uns viel Geld.«

Peer zuckte mit den Schultern. Das war ihm zunächst einmal ziemlich egal. Für ihn galt es, ein Verbrechen aufzuklären. »Es wurde auf Ihrer Baustelle eine Leiche entdeckt. Von einem Ihrer Bauarbeiter.«

Stephan Braun schluckte. »So?«

»Ja, und daher müsste ich einmal mit Ihnen sprechen.«

»Jetzt?« Braun blickte auf seine Uhr und Nielsen konnte hinter der Stirn seines Gegenübers die Rechenmaschine rattern hören, die summierte, wie viel Geld die Verzögerung bereits gekostet hatte.

»Wer hat hier Zugang zu der Baustelle?«

»Na, die Bauarbeiter. Und das sind eine Menge. Sehen Sie sich um, das ist ein Großprojekt!«

Nielsen drehte sich tatsächlich einmal um die eigene Achse. Sein räumliches Vorstellungsvermögen war nicht besonders ausgeprägt, daher konnte er die Fläche schwer einschätzen. In der Ferne sah er einen Bauzaun, doch bereits aus Kindheitstagen wusste er, dass ein solcher niemanden davon abhielt, eine Baustelle zu betreten. Und bewacht wurde das Areal bestimmt nicht. Er fragte dennoch nach.

»Was glauben Sie denn? Dafür haben wir kein Geld, und generell ist das ja wohl auch nicht nötig. Zu klauen gibt es hier nicht wirklich etwas, jedenfalls nichts, womit man einfach so verschwinden könnte.« Braun zeigte dabei auf Stahlträger, die einen Teil der neuen Autobahnbrücke stützten.

»Und Manipulationen? Ist das vielleicht ein Thema?«

»Bisher nicht.«

»Was, glauben Sie, war dann der Grund, aus dem sich dieser Mann hier aufgehalten hat?«

»Was weiß ich? Ist das mein Job, das herauszufinden? Wohl kaum!« Stephan Braun stemmte die Hände in die Hüften.

»Kannten Sie Harry Neumann?«

»Woher?«

»Na, ist quasi ein Nachbar.« Peer nickte mit dem Kopf Richtung Gartenkolonie.

»Was glauben Sie eigentlich, was wir hier machen?«, schnaubte der Bauleiter unvermittelt los. »Wir haben hier eine Großbaustelle mit engen Zeitfenstern und Deadlines, die wir einhalten müssen. Meinen Sie, da haben wir Zeit, uns mit den Nachbarn am Zaun zu unterhalten?«

Stephan Brauns Gesicht wirkte, als würde es jeden Moment platzen. Nielsen fragte sich, ob es nur der Zeitverzug war, der den Mann so rasend machte. So oder so, jedenfalls war in diesem Zustand nicht mit dem Mann zu reden.

»Mein Kollege nimmt Ihre Personalien auf und wir melden uns dann bei Ihnen.« Er wies auf Boateng, der bereits mit gezücktem Merkbuch parat stand.

»Ja, und was ist mit dem Bau?«

Peer zuckte mit den Schultern. »Also heute wird das wohl nichts mehr, die Kollegen müssen die Spuren sichern. Wir melden uns, wenn das Gelände wieder freigegeben werden kann.«

2. Kapitel

Zwei Stunden später saß das Team der Mordkommission am großen Tisch im Besprechungszimmer zusammen. Es roch nach Kaffee, dessen Duft aus den dampfenden Tassen vor Peer und seinen Mitarbeitern aufstieg.

»Die Obduktion übernehme ich«, sagte Nielsen, er war bereit, sich der unbeliebtesten Aufgabe zu stellen. »Wer kümmert sich um die Befragung der Bauarbeiter?«

Jens und Carsten meldeten sich.

»Gut, Lutz, du fährst mit raus und hörst dich mal bei den Pächtern in der Gartenkolonie um.« Es war wichtig, auch das Umfeld des Opfers zu erkunden. »Lass dir zeigen, welche Parzelle Harry Neumann gehörte, und wenn da irgendetwas ungewöhnlich ist, ruf sofort die Spusi, klar?«

»Natürlich«, entgegnete Lutz Bielenberg, dem ähnlich wie den anderen Teammitgliedern Peers Kontrollwahn ziemlich auf die Nerven ging.

»Michael ist schon raus zu den Angehörigen. Das konnte nicht länger warten.«

Zwar war Hamburg eine Großstadt, trotzdem sprachen sich gewisse Dinge schnell herum. Gerade ein Leichenfund, dem aller Wahrscheinlichkeit nach ein Mord zugrunde lag, war schnell in aller Munde. Zumal die Presse mittlerweile bestimmt schon Wind von der Sache bekommen hatte.

»Alles klar, dann an die Arbeit. Wir treffen uns am Nachmittag. Dann haben wir vielleicht schon erste Ergebnisse.« Peer schob seinen Stuhl zurück und verursachte ein lautes Scharren auf dem Laminatfußboden, der an einigen Stellen reichlich abgewetzt war durch das ewige Stühlerücken.

Er ging schnell in sein Büro und checkte die Mails. Nichts, was nicht warten konnte. Der aktuelle Fall hatte ohnehin oberste Priorität. Er griff nach seinen Autoschlüsseln – den Lkw hatte er auf dem Weg ins Präsidium zurückgebracht –, als sein Vorgesetzter den Raum betrat.

Gerhard Fritsche sah schlecht aus, dennoch fragte er sofort nach dem Fall.

»Haben alles im Griff«, sagte Peer. Er versuchte, seinem Chef die Last von den Schultern zu nehmen. Seit dem Tod seiner Frau war Fritsche deutlich gealtert, hatte sich gehen lassen. Nielsen verstand nicht, warum er nicht in den Ruhestand ging und seine Stelle frei machte. Ganz offensichtlich war er seit einiger Zeit überfordert mit der Arbeit.

Es ging Peer dabei nicht darum, den Posten zu übernehmen. Er war Teamleiter – das reichte ihm. Nur im Büro sitzen und Akten wälzen konnte er sich nicht für sich vorstellen. Selbst wenn seine Aufgaben nicht immer die angenehmsten waren.

»Muss zur Obduktion«, erklärte er, als er sich seine Jacke überwarf und sich an Fritsche vorbeiquetschte. »Aber heute Nachmittag ist Besprechung der ersten Ergebnisse. Komm doch dazu.«

Er wartete die Antwort nicht ab, sondern ging den Flur entlang zum Aufzug, wo er einen Kollegen traf.

»Na, hab gehört, ihr habt ’nen toten Laubenpieper?«, sagte der und grinste.

»Und ihr?«, fragte Peer zurück.

»Ach.« Die Miene des anderen verfinsterte sich augenblicklich. »Wir ermitteln doch in dem Fall der Kindesmisshandlung mit Todesfolge.«

»Oh«, entfuhr es Nielsen.

»Ja, ganz unschöner Fall. Geht einem echt an die Nieren.«

Peer nickte, als sie in den Aufzug stiegen und schweigend abwärts fuhren.

Der Verkehr floss wie immer zäh, und obwohl die Strecke nicht sonderlich weit war, brauchte Peer beinahe eine halbe Stunde zum Rechtsmedizinischen Institut, was nicht zuletzt an den zahlreichen Baustellen auf dem Weg lag.

Warum hatte man den Mann gerade in Stellingen auf die Baustelle gelegt? Und dann so offensichtlich? War doch klar, dass man die Leiche schnell finden würde. Der Mörder hatte sich ja nicht einmal die Mühe gemacht und dem Opfer die Papiere abgenommen. Also nach einem Raubmord sah das nicht aus, eher nach einem Unfall oder einer Affekthandlung. Vielleicht hatte der Täter Harry Neumann im Streit erschlagen. Peer baute auf Erkenntnisse, die die Obduktion hoffentlich bringen würde.

Michael Boateng räusperte sich, ehe er den obersten Klingelknopf drückte und auf das Summen des Türöffners wartete. Er hatte sich auf der Fahrt nach Osdorf ein paar Sätze zurechtgelegt, die er in Gedanken noch einmal wiederholte.

Er zuckte daher zusammen, als nach einer längeren Pause die Anlage surrte. Schnell drückte er die dunkle Holztür auf und betrat den schummrigen Flur.

Der alte Aufzug wirkte wenig vertrauenerweckend auf Boateng, sodass er lieber die Treppe nahm. Für Michael kein Problem. Er war sportlich, gut trainiert und hatte wenig Mühe, die Stufen in den dritten Stock hinaufzusteigen. Dass die Frau, die er erblickte, als er um die letzte Ecke im Treppenhaus bog, und die ihm ein »Harry, bist du es? Wo hast du denn deinen Schlüssel?« entgegenrief, dazu in der Lage war, bezweifelte er allerdings. Selbst der Lift könnte an seine Grenzen kommen, überlegte Michael, als er die Frau musterte.

Er schätzte, dass sie an die 160 Kilo auf die Waage brachte und es nur mithilfe des Rollators bis zur Wohnungstür geschafft hatte.

Als sie Boateng erblickte, kniff sie die Augen zusammen und machte mühsame Anstalten, die Tür zu schließen. Michael kannte derartige Reaktionen auf sein Erscheinen und zückte blitzschnell seine Dienstmarke, die er der Frau entgegenstreckte.

»Polizei?« Sie musterte ihn von oben bis unten und wieder bis oben.

»Ja, und Sie sind Frau Neumann?«, fragte er, obwohl er sicher war, die Witwe des Toten von der Baustelle vor sich zu haben. Prompt bestätigte sie ihre Identität und Boateng versuchte, sich an die zurechtgelegten Sätze zu erinnern.

»Ich habe Ihnen eine traurige Nachricht zu überbringen«, begann er. »Wir haben Ihren Mann leider heute Morgen auf der Baustelle in Stellingen tot aufgefunden.«

»Harry? Tot? Auf der Baustelle?« Sie glotzte ihn mit großen Augen an und schüttelte vehement den Kopf. »Das kann nicht sein.«

»Was ist denn, Mutter?«, hörte er plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund. Gleich darauf erschien ein Mann in den Vierzigern in Unterhemd und Boxershorts. Seine Figur ließ keine Zweifel an einer möglichen Verwandtschaft.

»Hier ist jemand, der behauptet, Vadder sei tot!«, entgegnete Ruth Neumann in einem ähnlich lauten Ton.

»Darf ich vielleicht reinkommen?«, erkundigte sich Boateng, dem die Unterhaltung auf dem Hausflur unangenehm wurde. Wieder musterte ihn die Witwe von oben bis unten, machte dann aber stöhnend Platz und ließ ihn eintreten. Langsam folgte er der ächzenden Frau ins Wohnzimmer, das anscheinend gleichzeitig als Schlafzimmer diente. Die Couch war zum Bett hergerichtet, und es roch wie in einem Pumakäfig. Boateng atmete automatisch flacher.

Die Witwe ließ sich stöhnend in einen abgewetzten Sessel plumpsen, Boateng blieb stehen und drehte sich zu dem jungen Mann um, der ihnen gefolgt war.

»Also, jetzt noch mal«, forderte der ihn auf. »Was ist mit meinem Vater?«

Boateng verwarf die zurechtgelegten Sätze. Mit Beileid und Mitgefühl schien er nicht weiterzukommen. Hier hatte er anscheinend zwei harte Brocken vor sich, wobei er »Brocken« aufgrund der körperlichen Ausmaße der beiden wirklich für eine passende Bezeichnung hielt. »Die Leiche Ihres Vaters wurde heute Morgen von einem Baggerfahrer gefunden, und zwar auf der Baustelle in Stellingen, direkt an der Langenfelder Brücke. Wie es aussieht, ist Ihr Vater ermordet worden.«

Zwei stumme Gestalten schauten ihn an, dann wiederholte Frau Neumann: »Das kann nicht sein.«

Und auch der Sohn schüttelte den Kopf. »Vaddern war doch in der Laube.«

»In der Laube?«, hakte Michael sofort nach.

»Ja, mein Vater wohnt da in den Sommermonaten, in der Gartenkolonie am Volkspark. Ist ein wenig eng hier.«

Boateng zog die Augenbrauen zusammen. War es dann nicht an der Zeit, den Sohn auszuquartieren? Der war mindestens Anfang 40, schätzte Michael. Alt genug, um flügge zu werden, oder was war der wirkliche Grund für Harry Neumanns Sommerquartier? Er zückte sein Merkbuch und notierte sich die Frage.

»Wann haben Sie Ihren Mann denn das letzte Mal gesehen?«

Die Witwe fing nun plötzlich an zu schluchzen und daher antwortete der Sohn erneut: »Gestern Nachmittag war er hier. Hat ein paar Einkäufe gebracht. Eigentlich kam er fast täglich. Um nach Muttern zu schauen. Es geht ihr ja nicht so gut.« Er blickte hinüber zum Sessel, auf dem der massige Körper unter den Schluchzern bebte.

Boateng nickte. »Hatte Ihr Vater Feinde, oder ist da irgendjemand, mit dem es Streit gab?«

Der Sohn blähte die Wangen wie ein Hamster auf und stieß dann geräuschvoll die Luft heraus. »Keine Ahnung.«

»Und was könnte er auf der Baustelle gewollt haben?«

»Woher soll ich das wissen? Mutter, kannst du dir vorstellen, was Papa da wollte?«

»Uh, neiin«, jammerte die Witwe nun laut und Michael hatte das Gefühl, hier im Augenblick nicht weiterzukommen. Die Familienkonstellation erschien ihm ziemlich seltsam, und anscheinend hatte man nicht viel miteinander zu tun gehabt. Allein der Auszug in die Laube sagte für ihn so einiges über die Familienverhältnisse aus.

Boateng steckte das Buch ein. »Ja, das war es fürs Erste. Wir melden uns dann wieder.«

3. Kapitel

Peer hatte vor dem Gebäude der Rechtsmedizin geparkt, das auch am Wochenende besetzt war, und lief zum Eingang hinüber. Er holte tief Luft, ehe er die Eingangstür, die von innen durch einen Türsummer bedient wurde, aufstieß. Viel helfen wird das Luftschnappen nicht, fuhr es ihm durch den Kopf, aber schaden kann es auch nicht.

Er war spät dran, das wurde ihm klar, als die Empfangsdame ihm mitteilte, dass man ihn im Keller erwarte. Peer nickte lediglich und stieß die Tür zum Untergeschoss auf. Augenblicklich lief ihm wie bei jedem seiner Besuche in dem Rechtsmedizinischen Institut ein Schauer über den Rücken. Er würde sich nie daran gewöhnen, derart geballt und in dieser Art mit dem Tod konfrontiert zu werden. Es war eine Sache, die Leichen am Fundort zu sehen; bei einer Obduktion hier im Sektionssaal dabei zu sein, war etwas ganz anderes. Er konnte es nicht beschreiben, aber wohl war ihm nicht, als er sich den grünen Kittel überstreifte und nach ein paar Schutzüberziehern für seine ruinierten Sneakers griff.

Auf raschelnden Sohlen näherte er sich dem Bereich, in dem die Leichen untersucht wurden, und traf auf dem Weg dorthin einen Sektionshelfer, der eine Bahre zu den Kühlfächern schob, auf der die Leiche eines Kindes lag. Peer schluckte. Es war das tote Mädchen aus dem Fall seines Kollegen, der in Hamburg gerade hohe Wellen schlug, da das Kind von seinen Eltern trotz Betreuung vom Jugendamt zu Tode misshandelt worden war. Schnell bog er in den Sektionssaal ab, in dem Harry Neumanns Leichnam bereits auf dem Tisch lag.

»Dann können wir ja«, bemerkte Dr. Choui, der Leiter des Instituts, nachdem er Nielsen kurz zugenickt hatte. Irgendwie schien der Rechtsmediziner nicht ganz bei der Sache zu sein, war Peers erster Eindruck, nachdem er sich einen Platz gesucht hatte, von wo aus er die Obduktion gut im Blick hatte, denn sonst war Dr. Choui gesprächiger. Na ja, es ist Samstag, vielleicht hätte er auch lieber frei, dachte Peer. Doch die Toten nahmen nun mal keine Rücksicht auf Wochenende oder Feiertage, und da momentan mehrere prekäre Fälle zusammengefallen waren, musste der Leiter persönlich mit ran.

Heute war im Sektionsraum beinahe nur die Stimme von Dr. Lutz zu hören, der die Ergebnisse der äußeren Leichenschau in ein Diktiergerät sprach. »Männliche Leiche, 67 Jahre alt, 84 Kilo, 1,72 Meter groß. Der Leichnam ist bis auf eine Wunde oberhalb der Hutkrempe, die einen Schlag und somit eine Fremdeinwirkung vermuten lässt, unversehrt.«

Die Hutkrempenregel, schoss es Peer durch den Kopf. Eine Verletzung oberhalb der gedachten Hutkrempe deutete auf Schläge, unterhalb dieser Linie auf Stürze hin. Wobei es natürlich Ausnahmen gab, denn Tritte oder Stürze auf unebenen Flächen konnten das Verletzungsmuster durchbrechen.

Aber bei Harry Neumann untermauerte eine elf Zentimeter lange Fleischwunde den Verdacht der Fremdeinwirkung durch stumpfe Gewalt, wobei die Tatwaffe eine scharfe Kante besessen haben könnte, erklärte nun Dr. Choui.

»Meinen Sie, da hat jemand mit einem Beil …?« Nielsen hatte natürlich von solchen Fällen gehört, aber allein die Vorstellung gruselte ihn.

»Dafür ist die Wunde nicht tief genug; daher tendiere ich eben auch zur stumpfen anstatt zur halbscharfen Gewalteinwirkung. Eine Axt hätte direkt den Knochen gespalten, der scheint aber unverletzt«, beantwortete Dr. Choui seine Frage. »Ich tippe eher auf einen Spaten oder eine Schaufel.«

Da war auf der Baustelle sicher ranzukommen, überlegte Peer, und sofort kam ihm sein Anfangsverdacht in den Sinn, es könne sich um einen Unfall oder einen Mord im Affekt handeln. Vielleicht hatte Neumann unerlaubt die Baustelle betreten, und es war zum Streit gekommen? Hatte Stephan Braun rotgesehen, eine Schaufel genommen und einfach zugeschlagen? Zuzutrauen wäre es dem Bauleiter. So wie der sich am Morgen aufgeführt hatte.

»Herr Nielsen?«

Peer blickte den Mediziner an. »Äh, bitte?«

»Haben Sie denn solch einen Gegenstand gefunden?«

»Nein, am Fundort der Leiche haben die Kollegen nichts gefunden, was als Tatwaffe hätte dienen können, soweit ich weiß.«

»Na, gucken wir mal weiter«, sagte Choui und drehte den Toten mit der Hilfe des Sektionshelfers um.

»Hm«, entfuhr es ihm anschließend, als er die dunklen Flecken auf dem Rücken begutachtete. »Die Leiche scheint nach dem Tod bewegt worden zu sein.«

»Was?«, entfuhr es Peer.

»Ja, ich sehe hier einige Blutungen, sogenannte Vibices, allerdings außerhalb der Totenflecken. Das deutet auf eine postmortale Lageänderung hin. Und wenn ich mir das genauer anschaue …« Der Rechtsmediziner beugte sich noch ein Stück tiefer über den Leichnam. »… dann ist der Täter nicht gerade sanft mit dem Toten umgegangen. Sieht aus, als habe er ihn transportiert.«

»Dann stimmt die Vermutung des Kollegen, dass der Fundort nicht der Tatort ist?«, erkundigte Nielsen sich.

»Wahrscheinlich nicht. Und wenn man sich das Muster der Totenfleckblutungen anschaut, dann würde ich fast vermuten, die Leiche wurde in einer Schubkarre oder einem ähnlichen Gefährt herumgefahren.«

»Das passt«, kommentierte Peer Dr. Chouis Aussage und erzählte von den frischen Reifenspuren, die die Spusi gesichert hatte.

Dr. Lutz diktierte diese Ergebnisse für den Bericht, während Dr. Choui den Toten erneut zusammen mit dem Sektionshelfer wendete und anschließend zum Skalpell griff.

Das war der Moment, in dem sich Peer wünschte, er könne sich wegbeamen. Oder nur äußerlich anwesend sein und mit den Gedanken ganz tief abtauchen in ein Meer voller traumhafter Bilder. Eine Blumenwiese, ein Strand – irgendetwas, das schöner war als der Anblick der geöffneten Leiche, den er schwer ertragen konnte. Und dann der Geruch.

Während Dr. Choui die Organe entnahm, untersuchte und dem Helfer gab, der sie wog und das Gewicht an einer Tafel notierte, überlegte Peer, wo sich der Tatort befinden könnte. Natürlich war es immer noch möglich, dass Harry Neumann auf der Baustelle ermordet und dann lediglich auf dem Gelände bewegt worden war. Schubkarren gab es dort bestimmt, obwohl sich Nielsen nicht konkret daran erinnern konnte, derartiges Gerät gesehen zu haben. Aber welchen Grund sollte der Täter gehabt haben, den Toten innerhalb des Areals zu verlagern? Ergab es da nicht mehr Sinn, den Tatort woanders zu vermuten? Beispielsweise in der Gartenkolonie. Immerhin war Harry Neumann dort Pächter einer Parzelle gewesen.

Das Geräusch der oszillierenden Säge riss ihn aus seinen Grübeleien. Herr Holst, der Sektionsassistent, setzte zur Schädelöffnung an.

Peer schluckte und unterdrückte den Reflex, sich die Ohren zuzuhalten. Mit starrem Blick verfolgte er, wie die Schädeldecke abgenommen wurde und Dr. Choui nach einem prüfenden Blick das Hirn entnahm.

»Ja, wie vermutet. Der Schlag war tödlich. Hat zu Blutungen geführt. Kein schöner Tod, da kann man nur hoffen, dass er frühzeitig das Bewusstsein verloren hat.«

»Und falls nicht?«, entfuhr es Peer.

»Na ja, die Blutungen haben zu einem erhöhten Druck geführt, und da sich der Schädel nun einmal nicht ausbreiten kann, kommt es zu neurologischen Ausfällen und zu Bewusstseinsstörungen.«

»Und wann ist der Tod eingetreten?«

»Schwer zu sagen.« Der Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts blickte zu Dr. Lutz. »Ich denke aber, der Todeszeitpunkt liegt noch nicht allzu lange zurück. Vielleicht gestern Abend – also vor gut 14 bis 16 Stunden.«

Der Kollege nickte und sprach diese Information sogleich in sein Diktiergerät.

»Ansonsten war der Mann gut in Schuss. Bis auf seine Leber, aber die hätte noch ein wenig durchgehalten.«

»Heißt das, er war Alkoholiker?«

»Er hat auf jeden Fall gerne Alkohol getrunken.«

»Dann könnte er vielleicht auch einfach nur betrunken gestürzt und unglücklich aufgeschlagen sein?«

Dr. Choui stemmte die Hände in die Hüften. »Na, das müsste schon ein ziemlich exakter Sturz gewesen sein, denn ein Stein etwa hätte diese Verletzungen nicht hervorgerufen. Und angeblich haben Sie doch keine Schaufel oder ähnliches Gerät gefunden. Dann muss es wohl jemand weggeräumt haben, oder?«

»Also Fremdeinwirkung?«

»Definitiv.«

Boateng war nach dem Besuch bei den Neumanns zu den Kollegen auf die Baustelle gefahren. Carsten Hinrichs und Jens Schnitter hatten bereits einige der Bauarbeiter befragt, die alle vor dem Container, in dem sich das Büro des Bauleiters befand, darauf warteten, dass sie ihre Arbeit wieder aufnehmen konnten. Stephan Braun hatte die Leute nach der jeweiligen Befragung nicht nach Hause geschickt, obwohl Peer angekündigt hatte, dass die Baustelle nicht so schnell freigegeben werden würde. Der Bauleiter schien unter enormem Druck zu stehen, dachte Michael, als er an die Containertür klopfte und eintrat. Ein Schwall warmer, abgestandener Luft schlug ihm entgegen; es roch nach Kaffee, Schweiß und matschiger Erde. Seine Kollegen saßen an einem Tisch, vor dem sich Stephan Braun aufgebaut hatte.

»Haben Sie überhaupt eine Vorstellung, wie viel Geld hier gerade zum Fenster rausgeblasen wird?«

Michael konnte an den Gesichtern der Angesprochenen ablesen, wie lange diese Diskussion bereits lief.

Er räusperte sich laut. »Also entschuldigen Sie mal, aber auf Ihrer Baustelle wurde vor wenigen Stunden eine Leiche entdeckt, und wie es bis jetzt aussieht, wurde der Mann ermordet. Da können Sie doch nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.«

Stephan Braun drehte sich um und blitzte Michael feindselig an, hielt sich aber mit Worten zurück. Wütend stapfte er an ihm vorbei und verließ den Baucontainer mit einem lauten Türknallen.

Carsten und Jens atmeten laut auf.

»Und habt ihr was rausgefunden?«

Die beiden zuckten beinahe synchron mit den Schultern.

»Wie man es nimmt«, entgegnete Carsten Hinrichs, »angeblich will keiner etwas bemerkt haben, Anfeindungen gab es natürlich, aber das sei bei einem Projekt dieses Ausmaßes normal.«

»Normal?« Boateng zog die rechte Augenbraue hoch.

»Na, du weißt doch, bei solchen Projekten gibt es immer ein paar Naturschützer, die eine seltene Raupenart auf dem Gebiet der Baumaßnahme entdeckt haben.«

»Aber hier war doch schon bebaut, oder?«

»Ja, aber nicht umsonst nennt sich das Ausbau der A 7.«

Michael hatte sich mit dem genauen Bebauungsplan bisher nicht auseinandergesetzt und blickte die Kollegen fragend an.

»Einige Anwohner haben geklagt, aber auch die Gartenkolonie am Volkspark ist wohl gegen den Ausbau, weil die Gärten quasi plattgemacht werden sollen«, klärte Jens ihn auf.

»Aber die kriegen doch bestimmt eine Ausweichfläche, oder?«

Die beiden hoben die Schultern.

»Haben die Angehörigen etwas darüber erzählt, ob es hier Stress gab? Du warst doch bei der Familie?«, erkundigte sich Jens.

»Ja, aber angeblich haben die keine Ahnung, wer Harry Neumann umgebracht haben könnte. Ich hatte ehrlich gesagt den Eindruck, dass da keine echte Verbindung bestand.«

»Hä, wie meinst du das?«, hakte Carsten nach.

»Harry Neumann lebte quasi in seiner Laube. War für die Familie im Prinzip nur der Versorger, denn neben der Witwe lebt anscheinend auch der erwachsene Sohn von dessen Rente. Ich gehe gleich mal rüber in die Gartenanlage. Die anderen Besitzer können bestimmt etwas darüber sagen. Ist Lutz noch da?«

Carsten und Jens nickten.