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Uwe Klausner

Staatskomplott

Tom Sydows zehnter Fall

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Zum Buch

Auftragsmörder West-Berlin, Mai 1970. Waldemar Pawelka, schillernde Figur in der Partyszene, wird erschossen aufgefunden. Kurz darauf ereignet sich ein weiterer Mord. Heidemarie Pawelka, die Frau des Toten, ist unter die U-Bahn geraten. Für Hauptkommissar Sydow deutet zunächst alles auf einen Racheakt hin. In Polizeikreisen ist Pawelka nämlich kein Unbekannter. Devisenschieberei, Handel mit Luxuskarossen, Prostitution im großen Stil: kein Geschäftszweig, in dem das kriminelle Multitalent nicht tätig wäre. Fiel Pawelka, der ein Millionenvermögen angehäuft hat, also einem Racheakt zum Opfer? Kurz darauf, als er sich auf der Spur des Täters wähnt, trifft eine weitere Hiobsbotschaft ein: Sydows Stieftochter wird verdächtigt, der RAF anzugehören. Am Boden zerstört, tut Sydow alles, um die Nachricht vor seiner Frau geheimzuhalten, was die Ermittlungen im Fall Pawelka zur Nebensache werden lässt. Nicht lange jedoch, und der Fall nimmt eine unerwartete Wendung. Eine Wendung, mit der Sydow nicht gerechnet hat …

Uwe Klausner, Jahrgang 1956, ist in Heidelberg geboren und aufgewachsen. Sein Studium der Geschichte und Anglistik absolvierte er in Mannheim und Heidelberg. Heute lebt er mit seiner Familie in Bad Mergentheim. Neben seiner Tätigkeit als Autor hat er bereits mehrere Theaterstücke verfasst.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

- Historische Romane -

Der Sturz des Ikarus (2017)

Pseudonym – das Shakespeare-Komplott (2016)

Die Fährte der Wölfe (2015)

Die Stunde der Gladiatoren (2013)

Engel der Rache (2012)

Die Bräute des Satans (2010)

Pilger des Zorns (2009)

Die Kiliansverschwörung (2009)

Die Pforten der Hölle (2007)

 

- Kriminalromane -

Blumenkinder (2016)

Führerbefehl (2015)

Walküre-Alarm (2014)

Stasi-Konzern (2014)

Eichmann-Syndikat (2012)

Kennedy-Syndrom (2011)

Bernstein-Connection (2011)

Odessa-Komplott (2010)

Walhalla-Code (2009)

Impressum

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – Klaus Mehner

ISBN 978-3-8392-5506-3

Haftungsausschluss

Figuren und Handlung des Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

HAUPTFIGUREN

(in alphabetischer Reihenfolge)

Angelika Behrens, Galeristin

Fritz Bollschweiler alias »Bolle«, Stadtstreicher

Erwin Drewitz, U-Bahn-Fahrer bei der BVG

Max Friedländer, 40, Chefarzt an der Charité in Ost-Berlin

Dr. Theobald Gürtner, Jurist und Spezialist für Terrorbekämpfung beim LKA West-Berlin

Klaus Jankowski, 41, Chauffeur

Karlheinz Jakubeit, Revierleiter in Berlin-Grunewald

Verena Kolberg, Arztgattin aus Grunewald

Manfred Konopka, 42, Leiter der Spurensicherung

Eduard Krokowski, 42, Kriminalhauptkommissar und Sydows Partner

Bernd Luckenbach, Oberstleutnant des MfS der Deutschen Demokratischen Republik

Wolf Marquardt, Tennislehrer

Erich Mielke, 62, Minister für Staatssicherheit der DDR

Waldemar Naujocks, Abteilungsleiter für Terrorismusbekämpfung beim LKA West-Berlin

Alfred Pawelka †, 31, (»Rotlicht-Ali«), Bordellbesitzer und Unternehmer

Doreen Pawelka, 32, seine Ehefrau

Heidemarie Pawelka, 57, seine Mutter

Heribert Peters, 55, Pathologe und Leiter des Gerichtsmedizinischen Instituts und Professor an der FU Berlin

Friedolin Rowitz, Hotelangestellter

Cosima Schneider-Jellinek, Opernsängerin

Tom Sydow, 57, Kriminalhauptkommissar der Kripo Berlin

Lea Sydow, 54, seine Frau

Frederick Verhoeven, Reporter bei der Berliner Morgenpost und Sydows bevorzugte Informationsquelle

Veronika von Oertzen, Leas Tochter aus erster Ehe und Sydows Stieftochter

Theobald von Prittwitz, 62, Abteilungsleiter im Ministerium für innerdeutsche Beziehungen

Sven Waldenmeier, 26, Kriminalassistent

Mark Westerkamp alias HM Albers, Offizier im besonderen Einsatz des MfS

Rosemarie Zinnowitz, Pawelkas Haushälterin

und

Rudolf, 13, Friedländers Sohn

ferner

zwei hauptamtliche Mitarbeiter (HM) des MfS

Vernehmungsoffizier des MfS

Major und Fahrer des MfS

Polizeipräsident von West-Berlin

Pförtner der Haftanstalt Tegel

etc.

 

REPUBLIKFLUCHT

§ 213. Ungesetzlicher Grenzübertritt.

(1) Wer widerrechtlich in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik eindringt oder sich darin widerrechtlich aufhält, die gesetzlichen Bestimmungen oder auferlegte Beschränkungen über Ein- und Ausreise, Reisewege und Fristen oder den Aufenthalt nicht einhält oder wer durch falsche Angaben für sich oder einen anderen eine Genehmigung zum Betreten oder Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik erschleicht oder ohne staatliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verlässt oder in dieses nicht zurückkehrt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder öffentlichem Tadel bestraft.

(2) In schweren Fällen wird der Täter mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. Ein schwerer Fall liegt insbesondere vor, wenn

1. die Tat durch Beschädigung von Grenzsicherungsanlagen oder Mitführen dazu geeigneter Werkzeuge oder Geräte oder Mitführen von Waffen oder durch die Anwendung gefährlicher Mittel oder Methoden durchgeführt wird;

2. die Tat durch Missbrauch oder Fälschung von Ausweisen oder Grenzübertrittsdokumenten, durch Anwendung falscher derartiger Dokumente oder unter Ausnutzung eines Verstecks erfolgt;

3. die Tat von einer Gruppe begangen wird;

4. der Täter mehrfach die Tat begangen oder im Grenzgebiet versucht hat oder wegen ungesetzlichen Grenzübertritts bereits bestraft ist.

(3) Vorbereitung und Versuch sind strafbar.

(Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 12. Januar 1969)

 



PROLOG
OST-BERLIN

Mai 1964

 

1

Ost-Berlin, Stadtbezirk Köpenick | Freitag, 15. Mai 1964, 18.00 h

»Machs Maul auf, ich hab dich was gefragt!«

Schweigen. Zwei Unbekannte, die du noch nie gesehen hast. Zwei Augenpaare, die dich anstarren, als seist du ein Schwerverbrecher. Und dein Herz, das wie ein Presslufthammer gegen die Rippen donnert.

Und dann die erneute Frage: »Sind Sie Doktor Friedländer, ja oder nein?«

Der bin ich. Fahndungsdaten gefällig? Daran soll es nicht scheitern. Vorname Max, 34 Jahre alt, derzeit Stationsarzt für Innere Medizin mit Schwerpunkt Kardiologie an der Charité. Gebürtiger Berliner, aufgewachsen unter der Knute Stalins und heimgekehrt ins Gelobte Land, um den Sozialismus aufzubauen. Jungpionier, Blauhemd und SED-Mitglied, sprich: ein Parteigenosse mit Perspektiven.

Aber nicht mehr lange, wie es den Anschein hat.

»Der bin ich, mit wem habe ich das Vergnügen?«

Komm schon, Max. Sieh den Tatsachen ins Auge. Wer das Kunststück vollbringt, die Stalin-Ära zu überstehen, der erkennt Geheimdienstler auf Anhieb.

Falls nötig, auf 100 Meter Entfernung.

Es sei denn, er sträubt sich gegen die Realität.

»Ich muss Sie auffordern mitzukommen.«

»Und weswegen?«

»Zur Klärung eines Sachverhalts.«

Typisch Stasi – und typisch Deutsch. Streng nach Vorschrift, selbst bei der Wortwahl. Alles andere wäre eine Überraschung gewesen. Ordnung muss sein, wo kämen wir da hin.

Gerade bei einer Verhaftung.

»Was ist, hören Sie schlecht?«

Das hast du dir selbst zuzuschreiben, Max. Du weißt doch, was passiert, wenn man eine freche Lippe riskiert. So was lassen sie dir nicht durchgehen, da klicken in Nullkommanichts die Handschellen. Wie kann man auch nur so dämlich sein, gerade du hättest wissen müssen, was dir blüht.

»Keineswegs.«

»Na also. Kleiner Rat gefällig?«

»Danke, kein Bedarf.«

»Machen Sie keinen Aufstand, Friedländer. Sonst müssen wir andere Saiten aufziehen. Täte mir leid für Sie.«

Sieht nicht gut für dich aus, Max. Aus der Traum vom Wochenende am Müggelsee, den Chefarztposten kannst du auch vergessen. Wenn die Greifer von Horch & Guck vor der Tür deiner Datsche stehen, dann weißt du, was die Stunde geschlagen hat.

»Denken Sie bloß nicht, wir lassen uns an der Nase rumführen. Wir sind schon mit anderen Kalibern fertig geworden als Ihnen.«

Gib es zu, Max: Darauf warst du nicht gefasst. Aber wer rechnet schon mit so was. Na ja, stimmt nicht ganz. Im Kollegenkreis hast du dich ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt. Wenn man die Dinge beim Namen nennt, macht man sich eben unbeliebt. Kritik an der Parteilinie? Undenkbar. Wäre ja noch schöner, wenn jeder aussprechen dürfte, was er denkt. Merke: »Die Partei, die Partei, die hat immer recht! Und, Genossen, es bleibe dabei; Denn wer kämpft für das Recht, der hat immer recht, gegen Lüge und Ausbeuterei«. Der hat immer recht, schön wär’s. Gegen Lüge und Ausbeuterei, wer’s glaubt, wird selig. Der Mensch macht nun mal Fehler, der eine mehr, der andere weniger. Die da oben mit inbegriffen. Wozu tun, als sei alles in Ordnung, ab und zu muss einfach Tacheles geredet werden. Eines lässt sich nämlich nicht bestreiten, den Propagandaparolen zum Trotz: Der Westen hat die DDR längst abgehängt – um Längen.

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort, Genosse … Wie war doch gleich der Na…?«

Du hättest es wissen müssen, wie kann man nur so bescheuert sein. Dass dir der kräftigere der beiden Greifer eine verpassen würde, dass dir Hören und Sehen vergeht, war abzusehen. Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Wer sich mit der Stasi anlegt, kriegt prompt sein Fett ab – die Belegschaft der Firma kennt da kein Pardon. Wie gesagt, wer unter Stalin groß geworden ist, sollte wissen, wie weit er gehen kann.

Und wenn es Zeit ist, klein beizugeben.

»So, Herr Doktor – nachdem das nun geklärt ist, schlage ich vor, Sie tun, was man Ihnen sagt. Scherereien haben Sie ja wohl genug am Hals.«

»Und die wären?«

»Ich bin es, der hier die Fragen stellt, ist das klar? Machen wir’s kurz: Wir werden uns jetzt die Freiheit nehmen, Ihre Datsche auf den Kopf zu stellen. Und zwar gründlich, so viel Zeit muss sein. Mal sehen, ob Sie wirklich so ahnungslos sind, wie Sie tun. Falls nicht, können Sie sich auf was gefasst machen. Ich sehe schon, der Herr Doktor bekommt allmählich Fracksausen. Hätte mich auch gewundert, wenn es nicht so wäre. Wissen Sie was, Friedländer? Typen wie Sie sind leicht zu durchschauen. Selbst ein Blinder würde merken, dass Sie Dreck am Stecken haben. Aber egal. Die Kollegen da hinten werden jetzt eine kleine Spritztour mit Ihnen machen. Wohin, wird nicht verraten!«

2

MENSCHENHANDEL

Riskante Besuche

Persönlich suchte Horst Müller als Kurier ausreisewillige DDR-Bürger in Ost-Berlin auf, um Instruktionen für die Flucht zu erteilen und um Passbilder abzuholen. Als Erkennungszeichen diente mal ein bunter, mal ein lindgrüner Schal; Losungsworte wurden verabredet. Die Staatssicherheit registriert in ihren akribischen Aufzeichnungen insgesamt über 50 Kontaktaufnahmen.

Die Passbilder klebten die Helfer der Fluchtorganisation auf eigens aus der Bundesdruckerei »besorgte« Druckbögen für Personalausweise. Professionell und echt mussten die Westberliner Personalausweise schon wirken, die damals anders aussahen als die Ausweise der Bundesbürger, denn die Stasi prüfte immer wieder die Papiere auf Echtheit. Manchmal standen die richtigen Namen der Ausreisewilligen in den Fälschungen, manchmal nur Fantasienamen.

Dann kam der 2. Februar 1971. An diesem Tag machte die Stasi dem Treiben des Fluchthelfers Müller ein jähes Ende. Nach einer kurzen Verfolgungsjagd durch Ost-Berlin klickten am Berliner Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße die Handschellen – Müller war durch den Verrat eines ostdeutschen Journalisten, der sich als Ausreisewilliger ausgegeben hatte, aufgeflogen. Was Müller damals nicht wissen konnte: Der Journalist L. war Inoffizieller Mitarbeiter der Spionage-Hauptabteilung XX der Stasi, seine Freundin war für die Stasi hauptamtlich im Westen tätig.

15 Jahre für »staatsfeindlichen Menschenhandel«

Es folgten endlose Verhöre in den gefürchteten Stasi-Untersuchungsgefängnissen Magdalenenstraße und Hohenschönhausen. Dann der Prozess: Fünf Tage lang verhandelte der Strafsenat unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Erst knapp 25 Jahre später konnte Müller beim Besuch in der Gauck-Behörde die Anklageschrift zum ersten Mal lesen. Er habe die DDR geschädigt und es »im Zusammenhang mit einer Organisation, die einen Kampf gegen die DDR führt, seit Anfang 1970 unternommen, Bürger der DDR in außerhalb ihres Staatsgebietes liegende Gebiete auszuschleusen«. Das Urteil: 15 Jahre Haft wegen »staatsfeindlichen Menschenhandels« und »Verstoßes gegen die Geldverkehrsordnung«.

(SPIEGEL ONLINE, 12. August 2007)

3

Ost-Berlin, Untersuchungsgefängnis des MfS in Hohenschönhausen | Montag, 18. Mai 1964, 03.20 h

»Leugnen bringt doch nichts, Friedländer. Die Beweislage ist erdrückend.« Der Vernehmungsoffizier drückte seine Zigarette aus, fläzte sich auf seinen Stuhl und seufzte gelangweilt auf. Hinter ihm griente SED-Chef Ulbricht von der Wand, und der Geruch von Bohnerwachs und Terpentin durchzog den spartanisch möblierten Raum.

Doch die Fassade war nur aufgesetzt. Das merkte man sofort. »Ich sage es Ihnen jetzt im Guten, zum wer weiß wievielten Mal. Wenn Sie denken, ich lasse mich für dumm verkaufen, sind Sie schiefgewickelt. Ich hoffe, das war deutlich genug. Entweder Sie nennen mir jetzt Ihre Hintermänner, oder wir drehen Sie durch die Mangel, dass Ihnen Hören und Sehen vergeht. Wir können auch anders, lassen Sie sich das gesagt sein.«

Seit drei Tagen ging das jetzt schon so. Oder waren es vier, am Ende gar fünf oder sogar eine Woche? Er konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. Im gleichen Moment, als er in den Kleintransporter mit der Aufschrift ›Esst frischen Fisch‹ bugsiert worden war, hatte er das Gefühl für Raum und Zeit verloren. Wohin der weiß lackierte Zweitakter vom Typ Barkas B 1000 fuhr, er wusste es nicht. Aber er hatte es sich denken können. An Gefängnissen herrschte in der DDR kein Mangel – und an Informanten leider auch nicht.

Friedländer grinste schief. Esst frischen Fisch. Tarnung war eben alles. Darin war das MfS Meister. Selbst der KGB hätte vom ihm noch lernen können. Und der war schon schlimm genug.

Kein Zweifel, Mielke & Co. wussten, wie man den Leuten Angst einjagte. Die hatten Ahnung, Übung machte schließlich den Meister. Fragen waren nicht erlaubt, schon gar nicht nach dem Wo oder dem Warum. Das hatte er gleich zu spüren bekommen. Der Uniformierte, auf den er bei seiner Einlieferung traf, hatte ihn erst gar nicht ausreden lassen. Das Gleiche galt für den Beschließer, Befehle natürlich ausgenommen. Die erfolgten zumeist im Kommisston, bei einem subversiven Element wie ihm kein Wunder. Oder, um es im Fachjargon auszudrücken, bei einem Saboteur im Sold der CIA. »Links raustreten, Gesicht zur Wand!« So lautete die stets gleiche Order, wenn er zum Verhör eskortiert wurde. Mit »links« war der Gefangene gemeint, dessen Pritsche sich auf der linken Seite der Zelle befand, mit »rechts« der jeweilige Mithäftling. Nichts, aber auch rein gar nichts blieb hier dem Zufall überlassen. Das lernte man ziemlich schnell. »Nach rechts ablaufen, Mund halten und Augen geradeaus. Nach rechts ablaufen, hab ich gesagt, hörst du schlecht?«

Natürlich wurde man geduzt, auch das war Teil des Systems. Und nie beim Namen angesprochen, außer beim Verhör: »Was ist los, Friedländer, hören Sie mir überhaupt zu?«

»Natürlich höre ich Ihnen zu.«

»Wie schön. Was ist, haben Sie es sich überlegt?«

»Ich fürchte, da gibt es nichts zu überlegen.«

Das war die Wahrheit, wie oft sollte er das eigentlich noch sagen. Er hatte keinen blassen Dunst, wer ihm den Schlamassel eingebrockt hatte, aber davon wollte der Uniformierte mit dem Stern auf den Schulterstücken nichts hören. »Doch, gibt es«, konterte der Verhöroffizier, Anfang bis Mitte 40, mittelgroß, mit ergrauten Schläfen, gewelltem Haar und auffallend schief gewachsener Nase. »An Ihrer Stelle wäre ich nicht so voreilig. Wenn Sie schlau sind, kommen Sie von Ihrem hohen Ross runter, mit der Masche macht man sich verdammt unbeliebt.«

»Ach ja?«

»Jetzt tun Sie nicht so, Friedländer!«, brach es aus dem Major des Staatssicherheitsdienstes hervor, längst nicht so beherrscht, wie er sich nach außen hin präsentierte. »Ich sage Ihnen doch, wenn Sie mich für dumm verkaufen wollen, müssen Sie früher aufstehen. Bei der Durchsuchung Ihrer Datsche ist den Kollegen stapelweise belastendes Material in die Hände gefallen, das wissen Sie so gut wie ich. Als da wären: auf den Namen von BRD-Bürgern ausgestellte Pässe, Passierscheinformulare, Druckbögen für Personalausweise, die für ein ganzes Regiment ausgereicht hätten, Adresslisten samt Telefonnummern, fein säuberlich abgetippt, versteht sich. Also, ich weiß ja nicht, was Sie mit Ihrer Hinhaltetaktik bezwecken, aber wenn das nicht der Beweis für organisierten Menschenhandel ist, dann bin ich der Maharadscha von Hinterindien.« Der Verhöroffizier stieß ein gekünsteltes Lachen aus. »Und als sei dies nicht schon schlimm genug, kommen Sie daher, machen einen auf Grimms Märchen und wollen mir weismachen, Sie hätten keinen blassen Schimmer davon. Alles, was recht ist, Friedländer. Aber das können Sie Ihrer Großmutter erzählen. Wenn Sie Glück haben, kauft sie Ihnen die Lügengeschichte ab. Vorausgesetzt, die Dame ist senil genug. Was mich betrifft, lassen Sie sich eines gesagt sein: Ihr Getue geht mir auf den Geist. Bedeutet: Wenn Sie weiter auf Durchzug stellen, werde ich Mittel und Wege finden, um Sie zur Räson zu bringen. Eines garantiere ich Ihnen, Friedländer, ich bin schon mit ganz anderen Typen fertig geworden als mit Ihnen. Kleine Kostprobe gefällig? Kein Problem, wird im Handumdrehen erledigt. Auf Typen wie Sie haben wir hier nur gewartet. Gucken Sie nicht so dämlich aus der Wäsche, das ist mein voller Ernst. Bis jetzt haben wir noch jeden kleingekriegt, schreiben Sie sich das hinter die Ohren. Und noch was, ob es in Ihren Akademikerschädel reingeht oder nicht. Wir können Sie so lange hierbehalten, wie es uns passt, einen Monat, ein Jahr, zehn Jahre, so lange, bis kein Hahn mehr nach Ihnen kräht.« Der Stasi-Major nahm ein Feuerzeug der Marke Dupont zur Hand, steckte sich die nächste Zigarette an und sagte: »Unter uns, mir persönlich ist es schnurzegal, wie lange Sie hier brummen müssen. Bei subversiven Elementen wie Ihnen ist Rücksicht fehl am Platz, die können von Glück sagen, wenn wir sie auf Staatskosten durchfüttern. Wenn es Ihnen so gut bei uns gefällt, wie es den Anschein hat – na bitte! Bekanntlich kriegt jeder, was er verdient. Acht Quadratmeter Wohnfläche, Unterbringung mit Gleichgesinnten, Kost und Logis frei, Betreuung rund um die Uhr, anregende Gespräche – was will man mehr. Da gibt es Schlimmeres, finden Sie nicht auch?«

Vier Meter Länge, circa zwei in der Breite. Alles in allem knapp zehn Quadratmeter. Die Wände dunkelgrün gestrichen, ein Fenster aus Glasbausteinen an der Stirnwand, das man mit einer Zugschnur öffnen kann. Linker und rechter Hand zwei Holzpritschen, dazu ein Wandklapptisch samt Hocker, Plumpsklo und vergammeltes Waschbecken nicht zu vergessen. Von nun an war das seine Welt, für wie lange, stand in den Sternen. »Und was ist mit meiner Familie, wie geht es meinem Sohn?«

»Bedaure, aber ich bin nicht befugt, Auskünfte zu erteilen, es sei denn …«

»So gern ich auf den Kuhhandel eingehen würde, ich kann Ihnen nichts mitteilen, was Sie nicht schon wissen.«

Der Verhöroffizier zuckte zusammen, beugte sich nach vorn und nahm Friedländer mit heruntergeschobener Brille ins Visier. »Sagen Sie mal, Sie Klugscheißer: Sind Sie eigentlich so naiv oder tun Sie nur so? Wenn Sie zehn Jahre aufgebrummt kriegen, können Sie sich glücklich schätzen. Beihilfe zur Republikflucht, verbrecherischer Menschenhandel und Urkundenfälschung. Wenn das nicht reicht, um Sie aus dem Verkehr zu ziehen, weiß ich auch nicht mehr. Wissen Sie was? Ich kenne Staatsanwälte, die warten nur darauf, auf einen wie Sie losgelassen zu werden. Angenommen, Sie geraten an den Falschen, was dann? Ab nach Bautzen, kann ich da nur sagen, wenn Sie Pech haben, für mindestens 15 Jahre. Da bleibt Ihnen die Spucke weg, was? Mal ehrlich, haben Sie etwas anderes erwartet? Wenn ja, leben Sie hinter dem Mond. Halten Sie uns für so dämlich, dass wir mit ansehen, wie unser sozialistisches Vaterland von den Handlangern der CIA unterminiert und bei passender Gelegenheit ans Messer geliefert wird? Kommen Sie schon, Friedländer, das glauben Sie doch nicht im Ernst. Wir Tschekisten sind Schild und Schwert der Partei und werden weder rasten noch ruhen, bis Quertreiber wie Sie von der Bildfläche verschwunden sind. Falls erforderlich, für immer. Vertrauen ist gut, Kontrolle allemal besser. Pointierter als der Genosse Lenin hätte man es nicht ausdrücken können.«

»Mit Verlaub, ich habe meine Jugend in der Sowjetunion verbracht. Mein Bedarf an Kontrolleuren ist gedeckt.«

Die Miene des Majors gefror zu einer hasserfüllten Fratze. »Auch noch frech werden, was? Aber das wird sich legen, da bin ich mir sicher. Schneller, als Sie piep sagen können. Und wenn wir gerade dabei sind, die Kollegen haben sich erlaubt, Erkundigungen über Sie einzuziehen.« Der Vernehmer lächelte süffisant, öffnete die Kladde, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und würdigte Friedländer keines Blickes mehr. Dieser wiederum ließ sich das Unbehagen, das ihn beschlich, nicht anmerken. Erwartungsgemäß gelang ihm das mehr schlecht als recht, und er überlegte fieberhaft, wie er den Kopf aus der Schlinge ziehen konnte. »Ob Sie es mir abkaufen oder nicht, wir wissen besser Bescheid, als Sie ahnen.«

»Das glaube ich Ihnen aufs Wort.«

Der Verhöroffizier tat so, als habe er die Bemerkung nicht gehört. »Geboren 1929, aufgewachsen bei Pflegeeltern, kurzzeitiger Aufenthalt in Dänemark, mit fünf Emigration in die Sowjetunion, Einlieferung ins Kinderheim Nr. 6, nachdem die Pflegemutter wegen antisowjetischer Hetze zu fünf Jahren Arbeitslager in Workuta verurteilt wird, Besuch der Karl-Liebknecht-Schule und der 93. Schule in Moskau. Umsiedlung nach Kasachstan, nach Einreichung eines Gnadengesuchs Besuch der Komintern-Schule in Kuschnarenkowo – und so weiter, und so fort.« Der Major lächelte süffisant. »Wenn ich Ihre Kaderakte so anschaue, Friedländer, drängt sich mir ein ganz bestimmter Eindruck auf.«

»Nämlich der, dass ich ein linientreuer Kommunist bin, da haben Sie recht.«

Das Lächeln verschwand so schnell, wie es aufgeflammt war. »Falsch.«

»Hört sich an, als seien Sie dabei gewesen.«

»Für jemanden, dem das Wasser bis zum Hals steht, riskieren Sie eine ziemlich kesse Lippe. Aber das nur nebenbei.« Die Filterzigarette der Marke »Club« in der Hand, schürzte der Stasi-Offizier die Lippen. Dann zischte er: »Mein Eindruck, Herr Doktor Friedländer, ist der, dass Sie jemand sind, der es versteht, sich über die Runden zu mogeln. Der es schafft, anderen nach dem Mund zu reden. Der das Fähnchen nach dem Wind dreht und auf Teufel komm raus versucht, seine wahren Absichten zu verbergen.«

»Sie müssen es ja wissen.«

»Werden Sie nicht frech, das habe ich Ihnen schon einmal gesagt.« Der Verhöroffizier drückte die Zigarette aus, obwohl sie nur halb zu Ende geraucht war, klappte den Aktendeckel mit einer unwirschen Handbewegung zu und ließ die Kladde in der Schreibtischschublade verschwinden. Dann zupfte er eine Textilfaser vom Jackett, verstellte den Schirm seiner Schreibtischlampe, um sie hingebungsvoll zu begutachten, und murmelte wie im Selbstgespräch: »Soll ich Ihnen was verraten? Typen wie Sie habe ich gefressen.«

Friedländer senkte den Blick und schwieg. An Schlaf war seit seiner Einlieferung nicht zu denken gewesen. Ein, zwei Stunden am Stück, das war alles. Das ging auf Kosten der Konzentration, keine Frage. Und natürlich steckte eine gezielte Absicht dahinter. Die vermeintlichen Staatsfeinde sollten gedemütigt und in willenlose Werkzeuge verwandelt werden. Unter Anwendung von Mitteln, die in einem zivilisierten Land verpönt waren. Schlafentzug stand diesbezüglich an erster Stelle. Warum sich die Hände schmutzig machen, wenn es auch einfacher ging. So lautete anscheinend die Devise. Die Vernehmungsoffiziere lösten sich turnusmäßig ab, er dagegen musste in immer kürzeren Abständen antreten. Auf Dauer war dem niemand gewachsen. Auch er nicht, der von sich glaubte, ihn könne nichts erschüttern. Falsch gedacht, Max. Wie damals in der Sowjetunion saßen die Folterknechte am längeren Hebel. Dagegen anzugehen war aussichtslos. Die Menschenschinder im Gewand des Biedermannes kannten kein Pardon. Der Handlanger gegenüber lieferte den Beweis.

»Das ist bedauerlich.«

»Aber nicht zu ändern.« Der Vernehmungsoffizier atmete geräuschvoll aus und machte eine finale Geste, indem er sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel klopfte. »Das hat unser Gespräch ja bewiesen.«

»Wenn Sie meinen.« Friedländer konnte kaum noch die Augen offen halten, wünschte sich nichts sehnlicher als Ruhe. Einmal nur ungestört schlafen, ohne mitten in der Nacht aus den Träumen gerissen zu werden, ohne angeschaltetes Deckenlicht, ohne auf dem Rücken schlafen zu müssen, die Hände vorschriftsmäßig ausgestreckt. Einmal wieder Mensch sein dürfen und nicht wie der letzte Dreck behandelt werden. Das wünschte er sich aus vollem Herzen.

Ein Wunsch, dessen Erfüllung in weiter Ferne lag.



SECHS JAHRE SPÄTER

 



EINS
WEST-BERLIN

Mai 1970

 

4

Berlin-Wedding, Grenzübergang Bornholmer Straße | Freitag, 15. Mai 1970, 08.20 h

»Na, Friedländer, schon in Vorfreude auf drüben?« Bis vor wenigen Sekunden, als der Lada 1200 S im Schritttempo auf den Schlagbaum zusteuerte, hatte er noch an einen makabren Bluff geglaubt. Um ihm zu zeigen, wie der Hase lief, war der Stasi jedes Mittel recht gewesen. Allein schon deshalb war Misstrauen angesagt. Nur wer dies beherzigte, der war imstande, sechs Jahre in Bautzen II zu überstehen. Traue niemandem über den Weg, der Mensch ist des Menschen größter Feind. So lautete das oberste Gebot nicht nur im Knast, sondern überall im Land.

Um zu kapieren, wo es langging, hatte er reichlich Lehrgeld zahlen müssen. Weitaus mehr, als er für möglich gehalten hätte. Ein Blick in den Rückspiegel, und ihm wurde klar, wie sehr er während der Haft gealtert war. Bei seiner Einlieferung gerade einmal 35, groß, schlank, ausdauernd und gesundheitlich auf der Höhe. Davon konnte keine Rede mehr sein. Nur ein paar Wochen U-Haft hatten genügt, um den kerngesunden OP-Arzt in ein Wrack zu verwandeln. Das einstmals wellige dunkle Haar fast vollständig ergraut, blutleere Lippen, die Nase gleich mehrfach gebrochen, eingefallene Wangen, die Haut fahl und gelblich verfärbt. Kein Zweifel, Doktor Max Friedländer war nur noch ein Schatten seiner selbst in früheren Tagen. Einzig die Augen, die durch die randlose Brille spähten, erinnerten an das Stehaufmännchen von einst. An einen Mann, der im Ruf stand, nichts könne ihn aus der Bahn werfen.

Sechs Jahre Bautzen waren eine lange Zeit, und er konnte von Glück sagen, dass es dabei geblieben war. Ein falsches Wort, und man bekam den Wind von vorn. Das Wachpersonal wartete nur darauf, aufmüpfige Insassen kleinzukriegen, egal mit welchen Methoden. Beschimpfungen waren dabei noch das geringste Übel, an die gewöhnte man sich schnell. Das Gleiche galt für den Fraß, den sie einem in der U-Haft vorsetzten. Lieber fasten als sieben Tage in der Woche Schwarzbrot mit Margarine runterwürgen, die man mit der Lupe suchen musste. Moment, das stimmte nicht ganz. Ab und zu gab es sogar Wurst, in hauchdünnen Scheiben, damit der Schimmel nicht so auffiel. Oder Käse voller Maden, für Staatsfeinde war nur das Schlechteste gut genug. Aber was tat man nicht alles, um zu überleben. Brathering ohne Tunke war besser als nichts und Muckefuck besser als nach Rost schmeckendes Leitungswasser.

Richtig unangenehm wurde es erst, wenn schwere Geschütze aufgefahren wurden. Je nach Vergehen wurde eine ganze Palette von Strafen verhängt, so auch Schlafentzug, mit Abstand das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte. Verhöre gab es zu jeder Tages- und Nachtzeit, nicht selten mehrfach hintereinander. Kaum war man eingenickt, riss der Schließer die Zellentür auf, drosch mit dem Knüppel auf den Pritschenrand ein und stauchte den Gefangenen zusammen, dass ihm Hören und Sehen verging. »Links zum Verhör, aber ein bisschen plötzlich! Los, Bewegung, oder ich mach dir Beine!« So oder so ähnlich hatte es sich angehört, wenn er mitten in der Nacht aus dem Schlaf katapultiert wurde. Der Fantasie, will sagen dem Sadismus, waren keine Grenzen gesetzt gewesen.

Zu Beginn der U-Haft war Wachhalten an der Tagesordnung gewesen, sein Rekord lag bei drei Nächten, in denen er kein Auge zubekam. Wenn das nicht half, wurde der Hofgang gestrichen. Dieser dauerte zumeist eine halbe Stunde, nicht gerade viel, aber immer noch besser als nichts. Reden war natürlich strikt verboten, es sei denn, man hatte Lust auf die Dunkelzelle. Oder es stand einem der Sinn nach Isolationshaft, eine der wirksamsten Schikanen, die es gab.

»Machen Sie sich fertig, Friedländer, es ist gleich so weit.« Sechs Jahre, auf den Tag genau. Wäre es nach dem Stadtgericht von Groß-Berlin in der Littenstraße gegangen, hätte er doppelt so lang ausharren müssen. Beihilfe zur Republikflucht, Urkundenfälschung und verbrecherischer Menschenhandel seien eben keine Bagatellen, hatte der Richter bei der Urteilsverkündung schwadroniert. Somit könne er von Glück sagen, wenn er die Kleinigkeit von zwölf Jahren absitzen müsse. 15 Jahre oder mehr seien im Rahmen des Vertretbaren gewesen, doch wolle er noch mal ein Auge zudrücken.

Ob er so lange durchgehalten hätte, stand auf einem anderen Blatt. Es hatte Momente gegeben, wo er kurz vor dem Durchdrehen gewesen war, und er fragte sich, wie er es geschafft hatte, die Hölle von Bautzen zu überstehen. Besonders bitter und nur mit Mühe zu verkraften war die Tatsache gewesen, dass er die Straftaten, die man ihm vorwarf, nicht begangen hatte. Darüber und über manch anderes, auf das er sich keinen Reim machen konnte, war er lange Zeit nicht hinweggekommen. Viel hätte nicht gefehlt, und er wäre bis zum Äußersten gegangen, und das, obwohl er Frau und Kind gehabt hatte. »Hören Sie schlecht, Friedländer? Ich habe gesagt, Sie sollen sich fertig machen!«

»Doktor Friedländer, wenn ich bitten darf.«

Der Stasi-Offizier auf dem Vordersitz, einer von der ganz harten Sorte, fuhr mit krebsrotem Gesicht herum. »An Ihrer Stelle würde ich mich nicht so weit aus dem Fenster lehnen!«, zischte der Choleriker im grauen Jackett, stolzer Träger eines Parteiabzeichens, wie die Anstecknadel auf dem Revers bewies. »Sonst heißt es kehrt marsch, und zwar schneller, als Sie piep sagen können.«

Anfang bis Mitte 30, getönte Sonnenbrille, Gelfrisur, faltenfreier Hemdkragen. Und der penetrante Geruch nach Filterzigaretten, von dem einem beinahe schlecht wurde. Mit dieser Sorte Mensch, das wusste Friedländer aus Erfahrung, war in der Regel nicht zu spaßen. Typen wie er, auch diese Lehre war ihm nicht erspart geblieben, begnügten sich nicht damit, große Töne zu spucken. Im Gegenteil. Sie zogen das, was sie einem an den Kopf warfen, auch durch. Bedenkenlos, ohne Rücksicht auf Verluste. »Muss nicht sein«, murmelte Friedländer, eher an die eigene Adresse als an diejenige des Stasi-Schnüfflers gerichtet. »Sechs Jahre sind genug.«

»Was murmeln Sie da in Ihren Bart?«

»Nichts von Belang«, gab Friedländer zurück, wich dem Blick des MfS-Agenten aus und musterte den Wachturm, der das östliche Ende der Bösebrücke markierte. Irgendwo da drüben, verborgen hinter bleifarbenen Dunstschwaden, lag also der Westteil von Berlin. Der Ort, nach dem sich nicht nur die Zukurzgekommenen im Osten sehnten. Er selbst war da nicht ganz so euphorisch. Vor gut 20 Jahren war er zum letzten Mal drüben gewesen, kurz vor Beginn der Blockade, als überall noch Berge von Schutt herumlagen. Mittlerweile hatte sich das geändert, zum Nachteil des Ostens, der meilenweit hinter der Konkurrenz herhinkte. Dort drüben gab es den Ku’damm, das »KaDeWe«, Glitzerfassaden, Nobelherbergen, sündhaft teure Boutiquen und den sogenannten »American Way of Life«, was immer man darunter verstehen mochte. Verglichen damit, hatte der Osten nicht annähernd so viel zu bieten, und wie die Dinge lagen, würde es auch so bleiben.

Dennoch wäre er lieber hiergeblieben, allen Unkenrufen zum Trotz, dass es mit dem Sozialismus steil bergab gehen würde. Mag sein, es hörte sich kurios an, wenn er sich als DDR-Bürger bezeichnete, aber es war nun mal die Wahrheit. Hier fühlte er sich zu Hause, trotz MfS, Propagandagetöse und was es sonst noch gab, das Menschen wie dir und mir auf den Senkel ging. Ein dicker Benz und Geld scheffeln waren längst nicht alles, das hatten schon seine Pflegeeltern gesagt. Auch heute noch, kurz vor der Ausbürgerung ins Gelobte Land, konnte er dem nur zustimmen. »War nur so dahergeredet.«

»Falls Sie Muffensausen kriegen, Sie können es sich ja noch überlegen.« Die Stimme des Stasi-Offiziers quoll vor Zynismus fast über, und er genoss es, als Friedländer nachdenklich vor sich hinstarrte. »Na, was sagen Sie dazu? Das Angebot steht, Sie müssen es nur noch abnicken.«

Friedländer gab keine Antwort. In circa 50 Meter Entfernung war ein Transparent über die Fahrbahn gespannt, leuchtend rot und nicht zu übersehen: ›DDR – die Bastion des Friedens in Deutschland‹ war darauf zu lesen, für die einen ein schlechter Witz, für andere die reine Wahrheit. Was aber, wenn die Wahrheit in der Mitte lag, wenn es sich im Westen nicht so leicht leben ließ, wie die Unzufriedenen im Osten behaupteten? Was, wenn er dort nicht Fuß fassen konnte?

Und vor allem: was, wenn sein Vorhaben scheitern würde?

Er wusste es nicht. Klar war nur: Einen Plan B würde es nicht geben.

Auf keinen Fall.

Blieb also Plan A, die Flucht nach vorn mit vollem Risiko. Ob sie glückte, hing von mehreren Faktoren ab, unter anderem vom Zufall. Seine Mutter, einziger Helfer in der Not, hatte ihm händeringend abgeraten. Er solle die Vergangenheit ruhen lassen, hatte sie ihm wiederholt eingeschärft. Geschehen sei geschehen. Mit dem Versuch, an seine Vernunft zu appellieren, war sie jedoch auf taube Ohren gestoßen. Er brachte es ums Verrecken nicht fertig, sechs Jahre Stasi-Knast zu den Akten zu legen, einfach so, als sei nichts geschehen. Und er wollte herausfinden, ob er einem Komplott zum Opfer gefallen war.

»Na dann mal los, bringen wir es hinter uns.« Kaum war der Schlagbaum offen, forderte der Stasi-Major den Fahrer zur Weiterfahrt auf. Nach knapp 50 Metern, in Sichtweite der Demarkationslinie, fand sie jedoch ein abruptes Ende. Abgesehen von zwei DDR-Grenzern, die Zeugen des merkwürdigen Spektakels wurden, war die Bogenbrücke aus Nickelstahl wie leer gefegt. Der Morgendunst, der sie wie ein Leichentuch eingehüllt hatte, kam den Beteiligten wie gerufen. Zeugen des Geschehens waren unerwünscht, je weniger Aufsehen, desto besser für die Beteiligten. Eine Maxime, die der Belegschaft von Horch & Guck in Fleisch und Blut übergegangen war. »So, da wären wir.«

Friedländer zögerte.

»Ab durch die Mitte – hören Sie schlecht?«, blaffte der Stasi-Offizier und wies mit dem Doppelkinn auf die Westseite, wo die Dunstschwaden wie von unsichtbarer Hand in Stücke gerissen wurden. »Sie werden auf Ihre alten Tage doch nicht sentimental werden, oder?«

Der Angesprochene schüttelte den Kopf, die Hand auf dem Griff einer Reisetasche, in der sich seine wenigen Habseligkeiten befanden. Zwischen ihr und dem Ledergriff hatte sich eine Patina aus Schweiß gebildet, ein untrügliches Zeichen, wie schwer ihm die Entscheidung fiel.

Auf Ihre alten Tage. Friedländer setzte ein wehmütiges Lächeln auf. Wer weiß, vielleicht hatte der HM sogar recht. Vielleicht waren seine Tage wirklich gezählt. An seinem Entschluss, so schwer er ihm auch fiel, würde dies jedoch nichts ändern.

Es gab nur eines, die Flucht nach vorn. Etwas anderes kam nicht infrage.

»Schönen Tag noch, die Herren«, sagte Friedländer, riss die Tür auf und sog die Morgenluft in seine Lungen. Fast gleichzeitig fegte ein Windstoß über ihn hinweg, und während er so dastand, keimte Wehmut in ihm auf. »Und schönen Dank fürs Mitnehmen.«

Da drüben, wo der Westteil der Stadt gerade zum Leben erwachte, befand sich also die neue Heimat. Und hinter ihm die Vergangenheit, ob er es wahrhaben wollte oder nicht. »Na dann mal los«, murmelte Friedländer im Selbstgespräch, umklammerte den Griff seiner Tasche und steuerte unsicheren Schrittes auf die Linie zu, die mit weißer Farbe auf die Fahrbahn gepinselt worden war. Und ergänzte mit tonloser Stimme: »Bringen wir es hinter uns.«

*

»Freut mich, Sie wohlbehalten in Empfang zu nehmen!«, rief der distinguierte ältere Herr im dunklen Lodenmantel aus, schüttelte Friedländer die Hand und eskortierte ihn zu einer Limousine vom Typ Mercedes Benz 280 SE, die mit laufendem Motor an der Bordsteinkante stand. Dort angekommen, lüpfte er den breitkrempigen Hut und sagte: »Bevor wir weiterreden, gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: von Prittwitz, Abteilungsleiter im Ministerium für innerdeutsche Beziehungen. Willkommen in West-Berlin, Herr Doktor Friedländer. Ich hoffe, Sie hatten keine Unannehmlichkeiten?«

»Kommt drauf an, was Sie darunter verstehen.«

»Sie haben recht, verzeihen Sie die indiskrete Frage.« Der Diplomat der alten Schule, der den Rittergutsbesitzer a.D. nicht verleugnen konnte, machte eine entschuldigende Handbewegung, ließ sich von Friedländer die Reisetasche aushändigen und öffnete die Beifahrertür, um seinen Schützling zum Einsteigen zu bewegen. »Nein, nein, geht schon in Ordnung«, zerstreute er Friedländers Bedenken, nachdem er die Tasche im Kofferraum verstaut hatte. »Bitte auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen, schließlich sind Sie die Hauptperson.«

Friedländer nickte widerstrebend mit dem Kopf, neugierig beäugt vom Fahrer, der ihn mit festem Händedruck begrüßte. »Und was nun?«

»Jankowski und ich bringen Sie jetzt ins Hotel«, antwortete von Prittwitz, die schmalgliedrige Hand, an der ein Siegelring mit eingestanztem Wappen steckte, mit lässiger Gebärde auf die Rückenlehne gelegt. »Dort sollten Sie sich erst mal ausruhen.«

»Und dann?«

»Dann hätte ich noch die eine oder andere Frage«, ergänzte der Diplomat, während die Limousine nach links in die Prinzenstraße einbog. »Aber nur, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Eines würde mich interessieren, Herr …«

»Von Prittwitz«, soufflierte der Grandseigneur, richtete die dunkle Seidenkrawatte und sagte: »Sprechen Sie sich aus, ich erzähle es auch nicht weiter.«

»Daran muss ich mich erst gewöhnen.«

»An was denn?«

»Dass ich reden kann, wie mir das Mundwerk gewachsen ist«, entgegnete Friedländer, in Gedanken bei dem Tag, als er von der Stasi abgeholt worden war. »Sie wissen ja, drüben bei uns ist das nicht selbstverständlich.«

Von Prittwitz stimmte schweigend zu. »Was das betrifft, kann ich Ihnen das gut nachfühlen. Schon schlimm, wenn man seine Gedanken nicht frei äußern darf.«

»Und wie ist es bei Ihnen?«

Von Prittwitz rutschte nervös hin und her. »Wo denken Sie hin«, setzte er sich vehement zur Wehr. »Selbstverständlich darf hier jeder sagen, was er denkt. Schließlich leben wir in einer Demokratie.«

»Stimmt«, erwiderte Friedländer amüsiert, eine Mischung aus Skepsis und Belustigung im Ton. »Sie müssen es ja wissen. Was das betrifft, können wir im Osten ja nicht mitreden.«

»Das … ähm … Das will ich meinen«, bekräftigte von Prittwitz, dem die Verunsicherung deutlich anzumerken war. Der Grund, weshalb er abrupt das Thema wechselte: »Ich schlage vor, wir lassen die Politik ruhen, Herr Doktor Friedländer. Also: Was möchten Sie wissen?«

»Wem ich meine Freilassung zu verdanken habe.«

»Selbst wenn ich es wüsste, ich bin nicht befugt, Auskünfte zu erteilen.«

»Nicht einmal mir gegenüber?«

»Nicht einmal gegenüber Ihnen«, bekräftigte der Di­plomat mit dem eisengrauen Haar und wich dem Blick, den Friedländer über die Schulter warf, mit regungsloser Miene aus. »Wie gesagt, dazu bin ich nicht befugt.«

»Schon merkwürdig.«

»Was denn?«

»Ihre Geheimniskrämerei«, erwiderte Friedländer und richtete den Blick nach vorn. Linker Hand tauchte der Nordhafen aus dem Frühdunst auf, überragt von einem Schwimmkran, der in der ölig schillernden Brühe vor sich hindümpelte. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber finden Sie nicht, ich sollte darüber Bescheid wissen?«

»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, junger Mann«, ereiferte sich der Grandseigneur, gab seine entspannte Haltung auf und verlagerte das Gewicht nach vorn. »Wir, das heißt die Bundesregierung, haben sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt, um …«

»Und welche? Ach übrigens, danke für den ›jungen Mann‹. Nach all den Jahren kann ein Kompliment nicht schaden.«

Von Prittwitz seufzte gequält auf. Dann verzog er das Gesicht und sagte: »Sie können einem den letzten Nerv töten, wissen Sie das?«

»Ob Sie’s glauben oder nicht, das höre ich nicht zum ersten Mal.«

»Na, wenigstens haben Sie Ihren Humor nicht verloren, das ist schon was wert.« Um Zeit zu gewinnen, massierte von Prittwitz seine Nasenspitze. Der Zwiespalt, in dem sich der 64-jährige Spitzendiplomat befand, war ihm deutlich anzumerken. »Drücken wir es mal so aus, die Bundesregierung hat erhebliche Mittel aufgewandt, um Ihre Freilassung in die Wege zu leiten. Haben Sie überhaupt eine Vorstellung, wie schwierig das ist?«

»Damit wir uns nicht missverstehen, ich weiß, dass ich Ihnen großen Dank schulde.«

»Und jetzt wollen Sie bestimmt erfahren, wie viel uns die humanitäre Aktion wert gewesen ist.« Von Prittwitz gab ein abermaliges Seufzen von sich. »Ist doch so, oder?«

Friedländer antwortete mit einem Lächeln.

»50.000 D-Mark, wenn Sie es genau wissen wollen.«

»Wie bitte, sagen Sie das noch mal!«

»Freut mich, dass Sie es zu schätzen wissen«, fuhr von Prittwitz fort, im Begriff, seine Zurückhaltung aufzugeben. »Um Ihren Wissensdurst zu stillen: Wir tun das bereits seit sieben Jahren. Und wir tun es ohne Hintergedanken, falls Sie verstehen, was ich damit zum Ausdruck bringen will.«

»Nicht ganz, wenn ich ehrlich bin.«

»Ganz einfach: Wir erachten es als unsere Pflicht, politischen Häftlingen aus der Patsche zu helfen.«

»Wenn das so ist, sind Sie an den Falschen geraten.«

»Wie meinen?«

Friedländer wandte den Kopf nach hinten, nur um sich Sekundenbruchteile später wieder umzudrehen. »Ich will damit sagen, dass ich kein Politischer bin.«

»Was dann?«

»Sie wissen doch, wie es bei uns zugeht«, antwortete Friedländer, der beim Gedanken an die Vergangenheit von Jähzorn gepackt wurde. »Oder etwa nicht? Was ich damit sagen will, ist: Ich habe keinen blassen Schimmer, wem ich meine Misere zu verdanken habe. Ich kann es mir zwar halbwegs zusammenreimen, aber das war es dann auch schon. Verstehen Sie doch, ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Im Kollegenkreis habe ich zwar eine freche Lippe riskiert, aber deswegen wird man doch nicht gleich vor den Kadi gezerrt.« Friedländer schnappte nach Luft. »Wissen Sie, was die Genossen von der Stasi mir vorgeworfen haben?«

»Beihilfe zur Republikflucht, Urkundenfälschung und verbrecherischen Menschenhandel?«

»Wie ich sehe, sind Sie gut informiert. Entschuldigung, aber hätten Sie vielleicht was zu qualmen?«

Der Fahrer kam dem Wunsch umgehend nach.

»Besten Dank.« Friedländer steckte sich eine »Peter Stuyvesant« an, gab dem Fahrer das Dupont-Feuerzeug zurück und nahm gleich mehrere Züge hintereinander. »Der Duft der großen weiten Welt, na, wer sagt’s denn. Was anderes als unsere Lungentorpedos. Darf ich Sie etwas fragen?«

Von Prittwitz lächelte süffisant. »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, das tun Sie andauernd.«

»Wieso gerade ich? Das würde mich wirklich interessieren.«

»Auch wenn Sie sich auf den Kopf stellen, junger Mann, ich werde Ihnen die Person nicht nennen.«

»Nicht einmal im Vertrauen?«