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Christine Rath

Kastanienfeuer

Ein Romantikkrimi

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Zum Buch

Brennende Angst Golden leuchtet die Oktobersonne auf den herbstlichen Bodensee. Plötzlich lodern hellrote Flammen durch das bunte Laub: Majas Café »Butterblume« brennt lichterloh! War es Brandstiftung? Maja sucht Zuflucht in einer Ferienwohnung, in der sie ein wenig zur Ruhe kommt. Doch nach einem mysteriösen Einbruch häufen sich dort seltsame Ereignisse: Majas persönliche Dinge wechseln auf unerklärliche Weise ihren Platz und sie fühlt sich ständig beobachtet. Ein unheimlicher Anrufer verstärkt ihre Angst, denn er scheint offenbar sehr gut über sie Bescheid zu wissen. Majas Freunde halten ihre Nerven für überreizt und auch sie selbst beginnt schon bald, an ihrem Verstand zu zweifeln. Psychisch am Ende verursacht sie einen Unfall, bei dem sie den charismatischen Arzt Dr. Erik Bergmann kennenlernt. Seine einfühlsame Art gibt Maja Halt und berührt ihr Herz … bis sie hinter sein Geheimnis kommt. Traurig sucht sie Zuflucht in der Ferienwohnung. Plötzlich wird ihr klar, dass sie dort nicht alleine ist! Maja bekommt Todesangst …

Die Autorin Christine Rath, Jahrgang 1964, lebt und schreibt am schönen Bodensee, wo sie mit ihrer Familie ein kleines Hotel betreibt. Hier findet sie durch die vielen interessanten Begegnungen und Situationen mit anderen Menschen viele neue Ideen für ihre Romane. Ihre Wurzeln hat sie jedoch an der Ostsee und auf der Insel Sylt, auf der ihre Eltern einige Zeit lebten. An beiden Meeren findet sie in der zauberhaften Natur Ruhe und Erholung.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Windflüstern (2017)

Eisblumenglitzern (2016)

Heidezauber (2016)

Maiglöckchensehnsucht (2015)

Sanddornduft (2014)

Wildrosengeheimnisse (2013)

Butterblumenträume (2012)

Impressum

Ausgewählt durch Claudia Senghaas

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Benjamin Arnold

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © dietwalther / fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5542-1

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Gedicht

Novembertag

 

Nebel hängt wie Rauch ums Haus,

drängt die Welt nach innen;

ohne Not geht niemand aus;

alles fällt in Sinnen.

Leiser wird die Hand, der Mund,

stiller die Gebärde.

Heimlich, wie auf Meeresgrund,

träumen Mensch und Erde.

 

Christian Morgenstern

1. Kapitel
Wo Rauch ist, ist auch Feuer

Golden leuchtet das sanfte Licht der untergehenden Sonne auf den herbstlichen Bodensee. Ein paar einzelne Segelboote ziehen auf ihrem Weg zum Hafen an mir vorüber. Ich lege die Kastanien, die ich gerade im Garten gesammelt und die ich für die Tischdekoration im Gastraum verwenden möchte, auf einen der Terrassentische und verweile einen Moment, um diesen romantischen Ausblick in mich aufzunehmen. Obwohl ich mein Café »Butterblume« nun schon seit über vier Jahren direkt am lieblichen Seeufer in Überlingen-Nußdorf betreibe, vermag mich die wundervolle Natur, die sich häufig so stimmungsvoll wie heute zeigt, immer wieder zu bezaubern. Ich setze mich einen Augenblick auf einen der Terrassenstühle und genieße diesen vollkommenen Moment der Ruhe. Meine müden Füße, die aufgrund der noch immer milden Temperaturen in Sandalen stecken, lege ich auf einen der anderen Stühle und atme tief durch. Der heutige Tag war wieder einmal sehr anstrengend gewesen. Obwohl es schon Mitte Oktober ist, hatten die warmen Sonnenstrahlen viele Radfahrer und Spaziergänger herausgelockt, die sich nach einem Spaziergang oder ihrer Radtour auf unserer Terrasse am See einer guten Tasse Kaffee und einer unserer leckeren selbstgebackenen Gebäckspezialitäten erfreuten. Offenbar wollten sie alle noch einmal so viele Sonnenstrahlen wie möglich in sich aufnehmen, denn wer kann schon sagen, wie lange das gute Wetter anhalten wird? Schon bald werden sich Regen, Herbststürme und vor allem der typische Bodenseenebel ablösen und solch goldene Tage wie der heutige nur noch eine schöne Erinnerung sein.

»Puh … das war ja wieder mal ein Tag heute«, sagt Ruth und lässt sich auf den Stuhl neben mir fallen.

Sie stellt zwei Gläser mit Suser, dem neuen Wein, und zwei Teller mit Zwiebelkuchen auf den Tisch vor uns und pustet sich eine Strähne ihrer blonden Haare aus der Stirn. Dafür, dass Ruth schon Mitte 50 ist, sieht sie immer noch sehr gut aus, auch wenn an Tagen wie dem heutigen ein paar müde Augenschatten unter ihren Augen liegen.

»Endlich Feierabend, Maja. Das sind die letzten beiden Stücke«, sagt Ruth und schiebt mir den Teller mit einem besonders großen Stück Zwiebelkuchen herüber. »Drei Bleche habe ich heute früh davon gebacken … und nun sind alle weg.« Sie schiebt sich eine Gabel von dem herzhaften Kuchen in den Mund.

»Kein Wunder. Der schmeckt ja auch besonders gut. Wie alles, was du herstellst«, lobe ich sie mit einem Lächeln und ohne jede falsche Schmeichelei. Nicht umsonst haben wir so viele Stammkunden: Ruth hat einfach die tollsten Backideen und setzt diese scheinbar mühelos und voller Freude täglich um.

Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie ich das Café je ohne sie betreiben konnte. Zu Beginn unserer Freundschaft war Ruth eigentlich nur eine treue Stammkundin, die jedoch spontan einsprang, als sie merkte, dass ich Hilfe brauchte. Doch inzwischen ist sie natürlich weit mehr als das. Sie kümmert sich einfach um alles: die Gäste, die Kuchenauswahl, den Wareneinkauf und vieles mehr. Dabei habe ich nicht im Geringsten das Gefühl, die Arbeit könnte ihr zu viel werden, ganz im Gegenteil. Ich glaube, Ruth ist glücklich, noch einmal eine Aufgabe gefunden zu haben, die sie erfüllt und die ihrem Leben einen Sinn gibt. Darin unterscheiden wir uns gar nicht so sehr. Auch ich bin froh, dass das Schicksal mir vor einigen Jahren noch einmal die Möglichkeit geschenkt hat, meinem Leben eine neue Wendung zu geben und mich mit dem Café, das sich in einer alten Villa direkt am See befindet, selbstständig zu machen.

»Ist es nicht herrlich heute Abend?«, frage ich sie und trinke einen großen Schluck von dem leckeren Suser.

»Hmmm …«, antwortet Ruth nickend mit vollem Mund. »… einfach traumhaft. Wir sollten es genießen … solche Abende wird es in diesem Jahr nicht mehr viele geben«, setzt sie hinzu, als sie den Bissen heruntergeschluckt hat.

»Hoffentlich hast du dieses Mal ausnahmsweise einmal nicht recht«, antworte ich lachend. »Ich finde, ein paar goldene Oktobertage wie diesen haben wir uns mehr als verdient, nachdem wir den ganzen Sommer so hart gearbeitet haben.«

»Ach, wer fragt uns schon?«, sagt Ruth seufzend und legt ihre Beine ebenfalls auf einen der Stühle.

Ihr Gesichtsausdruck wird auf einmal ernst.

»Ich glaube, es wird nicht mehr lange dauern, dann wird das Wetter umschlagen. Ich darf gar nicht daran denken: Bald kommen die grauen und dunklen Tage … der November mit seinem Trübsinn …«

»Ach, Ruth. Nun sei doch nicht so pessimistisch. Ich finde die verträumten Nebelstimmungen hier am See durchaus ganz romantisch«, entgegne ich.

Ungläubig zieht Ruth eine Augenbraue nach oben.

»Aha. Du findest es also toll, eine dicke Jacke anzuziehen und einsam im grauen Nebel an der Uferpromenade spazieren zu gehen?«

»Manchmal schon. Irgendwie hat das so etwas Melancholisches …«, antworte ich.

Ruth verdreht die Augen.

»Ich weiß nicht recht. Mir sind der Frühling und der Sommer am See tausendmal lieber. Das Vogelgezwitscher … die blühenden Obstbäume … das Lachen der Kinder in den Strandbädern … die weißen Segel auf dem blauen See … ganz zu schweigen von den gemütlichen Abenden auf dem Balkon …«, schwärmt sie.

»Dann verbringst du eben die gemütlichen Abende in den nächsten Monaten auf dem Sofa. Im Arm von deinem Mausebär«, necke ich sie.

Ruths ›Mausebär‹ ist mein bester Freund, der Kriminalhauptkommissar Michael Harter, mit dem Ruth vor Kurzem zusammengezogen ist.

»Wenn er dann mal zu Hause ist«, antwortet Ruth seufzend und schiebt sich den letzten Bissen Zwiebelkuchen in den Mund.

»Michael ist eben sehr beschäftigt, Ruth. Immerhin hast du einen ›Mausebär‹, der die langen Winterabende mit dir gemeinsam verbringt.«

Ruth und Michael sind beide seit Jahren verwitwet und haben sich bei einem von Michaels zahlreichen Besuchen in der »Butterblume« ineinander verliebt. Als Michael Ruth vor ein paar Monaten fragte, ob sie nicht zu ihm ziehen wolle, war ihr Glück perfekt.

»Komm schon, Maja. Kein Selbstmitleid bitte. Du weißt ganz genau, dass auch DU jemanden zum Kuscheln hattest. Aber diesen musstest du ja in die Flucht treiben. Nun beschwere dich nicht.«

»Ich beschwere mich doch gar nicht«, antworte ich und gebe mir Mühe, nicht allzu verschnupft zu wirken.

Obwohl ich Ruths Ehrlichkeit sehr schätze, könnte ich sie ebenso gut manchmal verfluchen. Die Wahrheit ist eben schwer zu ertragen, sogar oder vielleicht gerade wenn sie von einem uns nahestehenden Menschen kommt.

»Ach, Maja … sei mir nicht böse«, schlägt Ruth auf einmal versöhnliche Töne an. Möglicherweise hat sie gespürt, dass sie doch etwas zu harsch war.

»Aber ich weiß immer noch nicht, warum du Klaus hast gehen lassen. Er hat dir doch so gut getan«, setzt sie hinzu.

»Das hat er. Klaus hat mir wirklich gut getan. Er war genau der richtige Mann zum richtigen Zeitpunkt«, antworte ich ruhig.

»Du meinst, er war nur eine Art Lückenbüßer, um dir über Christians Tod hinwegzuhelfen?«, fragt Ruth ein wenig schnippisch und setzt hinzu: »Hast du ihn deshalb in die Wüste geschickt?«

»Ich habe Klaus keineswegs ›in die Wüste geschickt‹, Ruth«, antworte ich, nun auch leicht angesäuert. »Klaus hat entschieden, in Zukunft auf Fuerteventura leben zu wollen.«

»Fuerteventura? Wollte er nicht früher einmal nach Teneriffa?«, wundert sich Ruth.

»Klaus will heute dies und morgen das. DAS genau war ja unser Problem.«

Das Angebot, eine Surfschule auf Teneriffa zu übernehmen, hatte Klaus meinetwegen ausgeschlagen. Eigentlich hatte er im vergangenen Winter geplant, das Strandbad in Ludwigshafen zur neuen Saison zu übernehmen, doch er hatte so lange mit seiner Zusage gezögert, bis die Gemeinde einen neuen Pächter eingesetzt hatte. Auf einmal hatte Klaus kein Ziel mehr gehabt … Schuld daran waren natürlich alle anderen. Irgendwann war der Sommer halb vorüber und Klaus hatte noch immer keine Ahnung, was er tun sollte. Ich muss mir selbst eingestehen, dass mir seine Unschlüssigkeit und sein mangelnder Ehrgeiz gehörig auf die Nerven gingen. Hauptsächlich deshalb, weil ich selbst durch die viele Arbeit im Café und in der Pension »Maiglöckchen« nebenan, die für uns in der Hauptsaison selbstverständlich ist, ständig unter Stress stand … während er es sich den ganzen Tag in den Strandbädern und Biergärten gut gehen ließ. Je besser seine Laune nach einem schönen Tag war, desto gereizter und ungerechter wurde ich. Ich machte ihm Vorwürfe, dass er »so gar nichts aus seinem Leben machte«, wodurch er sich immer mehr als Versager gefühlt haben musste. Auch wenn mir bewusst war, dass mein Verhalten nicht in Ordnung war, konnte ich doch nichts dagegen tun. An einem schönen Sommerabend gab es wieder einmal eine Missstimmung zwischen uns. Da platzte Klaus mit dem Angebot, einen Surfladen auf Fuerteventura zu übernehmen, heraus. Ohne auch nur eine einzige Minute zu zögern, bat ich ihn, es anzunehmen. Voller Wut und Enttäuschung darüber, dass ich ihn so schnell und leicht loslassen wollte und offenbar auch konnte, packte Klaus seine Siebensachen und verabschiedete sich enttäuscht in Richtung Kanarische Inseln.

»Du meinst, er war einfach nicht zuverlässig genug für dich, Maja?«, hakt Ruth nach.

Ich sehe sie an, unschlüssig, ihr wirklich zu sagen, was ich empfinde. Klaus ist ganz bestimmt nicht der zuverlässigste Geselle auf Erden … aber das allein war nicht der Grund, warum ich ihn bat zu gehen. Es ist nur die halbe Wahrheit und vielleicht nicht einmal das.

»Klaus ist ein sehr wertvoller und liebenswürdiger Mann …«, antworte ich daher ausweichend.

»Aber du liebst ihn nicht«, bringt Ruth es in ihrer direkten Art auf den Punkt.

Ich bin unfähig, ihr ebenso ehrlich darauf zu antworten. Würde sie nicht fragen, warum ich dann überhaupt mit ihm monatelang zusammen war? Müsste sie nicht ernsthaft glauben, ich habe ihn nur benutzt? Benutzt, um meine durch Christians Tod verletzte Seele und mein einsames Herz zu heilen? Ganz tief in mir drin weiß ich, dass die Antwort darauf ein klares »Ja« wäre. Aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. Klaus hat mir wirklich unendlich gut getan. In einer Zeit, in der ich vor lauter Kummer und Schmerz völlig am Boden war, stand mein alter Schulfreund Klaus plötzlich – als Weihnachtsmann verkleidet – vor mir in meinem Café »Butterblume«. In gewisser Weise hatte ich an ein Zeichen des Himmels geglaubt, ein unerwartetes Weihnachtsgeschenk, das das Schicksal mir gnädigerweise in den Schoss fallen ließ. Klaus hatte mich mit seiner unbekümmerten Art so oft zum Lachen gebracht und seine Liebe und seine Zärtlichkeit hatten mich zurück ins Leben geholt. Doch abgesehen davon gab es keine Gemeinsamkeiten zwischen uns. Wir waren zu gegensätzlich, um in der Lage zu sein, uns ein gemeinsames Leben aufzubauen.

»Ich habe es wirklich versucht, Ruth«, verteidige ich mich, auch wenn ich im Moment gerade nicht weiß, warum ich meine Gefühle vor irgendjemandem rechtfertigen sollte. Außer vor Klaus vielleicht oder mir selbst.

»Vielleicht hast du ja recht. Ich glaube, meine Gefühle für ihn waren einfach nicht stark genug. Sonst hätte ich sicher über manches hinweggesehen und ihn gebeten zu bleiben.«

Ich lasse meinen Blick über den See schweifen. Die Sonne steht schon reichlich tief und das Blau des Himmels hat sich in ein helles Graublau verwandelt. Auf dem Wasser ziehen leichte Nebelschwaden auf und lassen das andere Ufer wie durch einen Weichzeichner verschwimmen. Fröstelnd streiche ich über meinen Arm.

»Weißt du, in gewisser Weise war ich erleichtert, als er weg war. Kannst du dir das vorstellen? Dieses ganze Hin und Her, die Zweifel … das Unbehagen tief in mir drin … auf einmal war das alles weg.«

»Klaus war und ist eben nicht Christian, Maja«, sagt Ruth leise und streicht mir über die Hand. »Und das wird auch kein anderer Mann sein. Wenn du ständig alle mit ihm vergleichst, wirst du nie glücklich werden … und auf Dauer alleine bleiben.«

»Na und? Dann bleibe ich eben alleine. Was ist daran so schlimm? Es gibt Millionen Singles auf der Welt, die glücklich und zufrieden sind. Ich brauche keinen Mann, um glücklich zu sein«, antworte ich mit Nachdruck.

Ruth nickt, sieht mich aber zweifelnd an.

»Irgendwann wird es wieder jemanden geben, der dein Herz berührt, Maja. Da bin ich mir ganz sicher. Du bist viel zu jung und zu hübsch, um alleine zu bleiben.«

»Irgendwann vielleicht. Aber im Moment ist alles gut so, wie es ist. Sag mal, was stinkt hier eigentlich so? Es sieht so aus, als wäre es der Nebel.«

Dicke Rauchschwaden ziehen zu uns herüber.

»Das ist kein Nebel, Maja. Das ist Rauch«, antwortet Ruth und steht auf, um nachzusehen, wo der Rauch herkommt. »Ach, das ist wieder dieser komische Pankow«, sagt sie, nachdem sie um die Ecke des Hauses gesehen hat, und setzt sich wieder hin. »Du weißt schon, unser neuer Nachbar von schräg gegenüber, der vor Kurzem aus Brandenburg hierhergezogen ist. Er hat doch das kleine Häuschen mit dem verwilderten Garten von der alten Frau Müller geerbt.«

»Ach der. Pankow heißt der? Jetzt weiß ich, wen du meinst. Irgendwie ist das ein komischer Kauz. Er scheint weder einen Job, noch eine Frau zu haben und wurschtelt den ganzen Tag im Garten herum«, antworte ich.

»Genau der. Hundertprozentig verbrennt er wieder seine Gartenabfälle. Also Maja, wenn ich DU wäre, dann würde ich diesen Pankow anzeigen. Es kann doch nicht sein, dass er ständig in seinem Garten Feuer macht … das stinkt doch einfach entsetzlich. Erst gestern, als du auf dem Markt warst, konnte ich die ganze Wäsche wieder abnehmen, weil der stinkende Rauch in deinen Garten gezogen ist. Dabei war es so ein schöner Tag und die Wäsche hätte wunderbar draußen getrocknet werden können. Wie gesagt: Ich würde ihn anzeigen.«

»Das kann ich doch nicht machen, Ruth. Was soll das denn für eine Nachbarschaft werden, die schon mit einer Anzeige losgeht? Wenn der Rauch wirklich von einem Feuer aus dem Garten von diesem Pankow stammt, dann rede ich lieber einmal mit ihm. Mal abgesehen von dem Müll-Verbrennen scheint er ja eigentlich ganz nett zu sein. Jedenfalls hat er schon ein paarmal freundlich gegrüßt und mir erst neulich mit einer Sonnenblume aus seinem Garten zugewunken.«

»Ach so.« Ruth verdreht die Augen. »Das ändert natürlich alles.«

»Es wird langsam kühl.« Ich ziehe fröstelnd die Strickjacke um meine Schultern und stehe auf. »Lass uns lieber reingehen. Komisch … am Nachmittag ist es oft noch so schön, dass man im T-Shirt und barfuß draußen sitzen kann. Gegen Abend wird es von einer Minute auf die andere auf einmal kalt.«

»Sag ich doch. Die dunkle Jahreszeit steht vor der Tür«, antwortet Ruth, steht ebenfalls auf und stapelt die Teller übereinander.

»Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben …«, zitiert sie das wundervolle Herbstgedicht von Rilke, das ich sehr liebe. Auf einmal macht mich dieser Satz seltsam traurig.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben … auch ich werde in der bevorstehenden dunklen Jahreszeit wohl alleine sein. Im Café wird nach all der Hektik vom Sommer endlich Ruhe einkehren … doch was in aller Welt soll ich anfangen mit dieser Ruhe? Meine Tochter Nini ist nach dem erfolgreichen Abschluss ihrer Ausbildung zur Fotografin ihrem Freund Freddy nach Hamburg gefolgt und hat dort im September eine tolle Stelle bei einem renommierten Zeitschriftenverlag angetreten.

Als könne sie meine Gedanken lesen, fragt Ruth als wir hineingehen: »Warum fährst du nicht einmal in Urlaub?«

»Urlaub? Was soll ich denn im Urlaub, Ruth?«, frage ich sie erstaunt.

»Nun, seitdem ich dich kenne … und das sind immerhin schon einige Jahre … hast du dir meines Wissens keinen Urlaub gegönnt. Du hast immer nur gearbeitet. Erst hast du deine ganze Zeit und Kraft in das Café gesteckt. Dann hast du auch noch die Pension übernommen, das ganze Haus renoviert und jeden Tag bis zum Umfallen geackert. Tja, und nach Christians Tod hast du dich noch mehr in die Arbeit gestürzt … um deine Trauer zu vergessen. Das ist ja alles schön und gut, aber irgendwann muss man auch einmal ein paar Tage Urlaub machen. Ehrlich gesagt, Maja …«

»Ehrlich gesagt was?«

Fragend ziehe ich eine Augenbraue hoch. Was kommt jetzt? Wieder eine von Ruths ehrlichen Wahrheiten? Ich bin nicht so sicher, ob ich sie hören will.

»Ehrlich gesagt warst du in diesem Sommer so gestresst wie noch nie. Du bist mir oft furchtbar gereizt und genervt vorgekommen … und du hast viele Sachen durcheinandergebracht …«, antwortet Ruth vorsichtig.

»Wie bitte? Ich soll ›Sachen durcheinandergebracht‹ haben? Was meinst du denn damit? Das ist doch Blödsinn«, antworte ich aufgebracht und räume wütend das Geschirr in die Spülmaschine.

»Schon gut, Maja. So habe ich das nicht gemeint. Trotzdem glaube ich, dass dir eine kleine Auszeit sehr gut tun würde. Wie wäre es, wenn du einfach einmal ein paar Tage abhaust? Im November, wenn es hier grau und kalt wird? Im Café wird dann nicht mehr viel los sein … und mit den Stammgästen werde ich auch alleine fertig. Dasselbe gilt für Nora und die Pension ›Maiglöckchen‹.«

Begeistert von ihrer eigenen Idee sieht mich Ruth aufmunternd an.

»Ich weiß nicht recht …«, sage ich unbestimmt, obwohl plötzlich der Gedanke, wirklich einmal allem zu entfliehen, in der Tat etwas Verführerisches hat. Ich weiß, dass es Ruth gut mit mir meint und mich nicht kritisieren wollte. Möglicherweise hat sie ja recht und ich war in der letzten Zeit tatsächlich ein wenig überfordert. In den letzten Jahren habe ich ja wirklich viel zu viel gearbeitet, und zwar nicht nur, um meine Existenz zu sichern, sondern auch um den schrecklichen Unfall und Christians Tod vergessen zu können. Auch wenn ich mein Café und den Umgang mit den vielen verschiedenen Menschen wirklich liebe, so ist die Arbeit doch manchmal sehr anstrengend und einen geregelten Feierabend beziehungsweise ein Wochenende gibt es eigentlich nie.

»Du könntest nach Fuerteventura reisen. Es muss herrlich dort sein um diese Jahreszeit … und ich wüsste da jemanden, der sich ganz bestimmt gut auskennt und dich herumführen könnte«, sagt Ruth mit einem Augenzwinkern.

»Vergiss es«, antworte ich lächelnd.

Allerdings tauchen plötzlich Bilder in meinem Kopf auf … Bilder von einer anderen wunderschönen Insel mit vielen Palmen, Sonnenschein über dem blauen Meer und sanften grünen Hügeln. Teneriffa. Klaus hatte mir damals diese Bilder auf dem Computer gezeigt, als er mit dem Gedanken gespielt hatte, dort als Surflehrer zu arbeiten. Hohe Wellen, die auf den schwarzen Lavasand zurollen … bunte Stühlchen vor kleinen Tapas-Bars, auf denen gut gelaunte Urlauber das milde Klima bei einem Glas spanischem Rotwein genießen … im Hintergrund der schneebedeckte Gipfel des höchsten Berges und gleichzeitig Wahrzeichens Teneriffas »Teide« … die bunten Bilder sind auf einmal präsent in meinem Kopf, dabei hatte ich schon geglaubt, sie vergessen zu haben.

Ob so ein Urlaub mir wirklich gut tun würde? Auch alleine?

»Hättest du denn vielleicht Lust, mit mir zu kommen?«, frage ich spontan. Der Gedanke an Ferien im warmen, sonnigen Süden gerade jetzt, wo hier praktisch der Winter vor der Tür steht, beflügelt mich auf einmal.

Doch Ruth schüttelt lachend den Kopf.

»Das geht doch nicht. Eine von uns muss sich um den Laden hier kümmern.«

Ich habe den Verdacht, dass sie nicht nur den Laden, sondern auch ihren Mausebär meint.

»Ach Ruth, alleine macht Verreisen aber doch keinen Spaß. Ich bleibe lieber hier und kümmere mich um das Café. Fahr du doch mit deinem Michael ein paar Tage weg.«

»Michael kann im Moment keinen Urlaub nehmen. Außerdem haben wir doch im Frühling eine tolle gemeinsame Radtour durch Holland unternommen und einige schöne Sommerwochenenden auf dem See verbracht. Nein, Maja … jetzt bist du einmal dran. Du kannst nicht immer nur arbeiten. Und hast du nicht eben erst gesagt, du brauchst keinen Mann, um glücklich zu sein? Dann kannst du auch alleine verreisen. Nur zu. Es gibt ganz tolle Reiseangebote, gerade jetzt außerhalb der Schulferien. Die Welt ist soo schön.«

Die Welt ist so schön. Und ich habe noch gar nicht viel davon gesehen. Als alleinerziehende Mutter konnte ich es mir nie leisten, große Reisen zu unternehmen. Nini und ich haben das auch nie vermisst, denn immerhin leben wir ja in einer der schönsten Urlaubsregionen von ganz Deutschland. Hin und wieder haben wir Tagesausflüge in die Berge oder nach Stuttgart und München, sowie kleinere Touren nach Österreich oder in die Schweiz unternommen. Vielleicht haben wir deshalb gar nicht so viel entbehrt. Die Saison war gut und ich habe ein wenig Geld gespart. In den letzten Jahren habe ich immer alles, was ich verdient habe, ins Geschäft gesteckt … warum sollte ich mir nicht auch einmal etwas gönnen?

»Warum lächelst du so?«, fragt Ruth neugierig.

»Das fragst du noch? Du hast mir gerade einen Floh ins Ohr gesetzt«, antworte ich lachend.

»Super. Glaub mir, Maja … so ein Urlaub wird dir gut tun. Fuerteventura muss eine wunderbare Insel sein …«

»Wenn man Surfer ist, ganz bestimmt«, antworte ich. »Doch ich habe an ein anderes Urlaubsziel gedacht, Ruth.«

»Was ist denn das?«, ruft sie plötzlich statt einer Antwort.

Erschrocken springen wir beide auf, weil das laute Geheul des Martinshorns unser Gespräch unterbricht. Wir laufen zum Fenster und blicken auf die Straße.

Hell leuchtet Blaulicht in der einsetzenden Dämmerung. Es kommt immer näher und schließlich erkennen wir die großen Wagen, die mit hoher Geschwindigkeit auf uns zu durch die Seestraße fahren.

»Die Feuerwehr«, rufen wir beide wie aus einem Mund.