Über Ingrid Kaltenegger

Foto: Bettina Fürst-Fastré

Ingrid Kaltenegger, geboren und aufgewachsen in Salzburg, ist Schauspielerin und Drehbuchautorin. 2015 wurde ihr Text Punks Not Dead mit dem Deutschen Kurzkrimi-Preis ausgezeichnet. Ingrid Kaltenegger lebt mit ihrer Familie in Köln. Das Glück ist ein Vogerl ist ihr erster Roman.

er Franz glaubte nicht an Geister. Und wenn man jetzt seine Frau, die Linn, schnell gefragt hätte, dann wäre ihr womöglich überhaupt nichts eingefallen, woran der Franz glaubte. Dafür war es aber auch noch sehr früh.

Sehr früh

Das war kein gewöhnliches Gitarrespielen, mehr göttlich. Der Franz träumte sich eine Halle – riesig. Ihm war nicht ganz klar, ob er Gitarre spielte oder ob er vielleicht selber die Gitarre war. Er hätte genauso gut die Band sein können, die Boxentürme, die Bühne, sogar die Musik, alles war eins im Scheinwerferlicht. Genau zu erkennen war nur die Begeisterung der Menge. Sie schwitzte, hüpfte auf und ab, streckte ihm tausend Hände entgegen und rief seinen Namen: »Franz! Franz! Franz! Franz! Franz!«

Eine Singdrossel begann zu zwitschern. Den Franz, vorn an der Rampe, wunderte das überhaupt nicht. Alles war genau so, wie es schon immer hatte sein sollen. Er breitete die Arme aus und ließ sich fallen. Fallen. Fallen. Fallen. Fallen.

 

Die Linn, neben ihm, wachte davon auf, dass sie strampeln konnte, soviel sie wollte, es half nichts. Sie kriegte die Bettdecke einfach nicht über ihre Füße gezogen, weil etwas Schweres darauf lag. Das war der Franz.

Die Arme quer über das ganze Bett gebreitet lag er da, aber einen Ausdruck im Gesicht, dass sie ihre kalten Füße vergaß und sich diesen Ausdruck genauer anschaute, weil wach hatte die Linn den Franz schon lang nicht mehr so glücklich gesehen. Sie beugte sich zu ihm, um ihn zu küssen.

Er drehte sich weg.

Mit einem gezielten Schlag brachte die Linn die Singdrossel zum Schweigen. Sie fiel zurück in ihre Polster und griff nach dem Buch auf ihrem Nachttisch, aber zum Lesen war es zu dunkel. Draußen vor dem Fenster war Dezember. Von Singdrosseln weit und breit keine Spur. Der Regen tropfte von der Straßenlaterne, die durch den kahlen Birnbaum genau in ihr Schlafzimmer schien. Das Zwitschern kam von einem Wecker, der in verschiedenen Vogelstimmen zwitschert, damit man leichter aufwacht, mehr im Einklang mit der Natur. Solche Sachen waren der Linn wichtig. Trotzdem schaffte sie es jeden Tag, eine Minute vor dem armen Vogel wach zu werden und ihm beim ersten Mucks den Garaus zu machen.

Sie stand auf und ging hinüber in die Küche. Dabei hielt sie die Bettdecke vom Franz fest, gerade lang genug, dass er abgedeckt und aufgeweckt liegen blieb, in seiner zerschlissenen Boxershort und dem Smashing-Pumpkins-T-Shirt. Ein Außenstehender hätte das leicht für ein Versehen halten können, aber es war halt gerade kein Außenstehender dabei.

 

Der Franz schnappte sich ihre Decke, zog sie sich über den Kopf und versuchte, unten die Füße hineinzukriegen, dann oben wieder den Kopf, was sich auch deshalb nur schwer bewerkstelligen ließ, weil er immer noch halb drauflag. Wie sollte er denn so zurückfinden in einen Traum, an den er sich jetzt schon nicht mehr richtig erinnern konnte?

Heute war Dienstag. Am Dienstag musste der Franz erst in der sechsten Stunde unterrichten, und die Linn wusste das genau. Folglich gab es nicht den geringsten Grund, ihn um sieben Uhr früh um einen Traum zu bringen.

Aus der Küche klapperte sie mit der Kaffeedose herüber, und gleich im Anschluss auch noch das Radio.

Mehrmals.

Vergeblich.

 

Drüben hörten sie ihn nicht. Die Linn hatte zum Radio noch den Wasserkocher eingeschaltet, und die Julie, die gerade fröstelnd in ihrer Pyjamahose und einem Kapuzensweatshirt in die Küche kam, war vierzehn und verschwendete möglichst wenig Aufmerksamkeit an Informationen, die ihr nicht auf elektronischem Weg zugetragen wurden. Es kostete sie genug Anstrengung, ein zernudeltes Lateinheft auf den Tisch zu legen und sich vor dem Orangensaft, den die Linn ihr hingestellt hatte, auf die Bank plumpsen zu lassen. Ihr verschlafener Blick fiel auf das Buch, das umgedreht aufgeschlagen auf der Tischdecke lag: Wünschen Sie sich Sex?

Die Julie wurde munter. Aus den Augenwinkeln schaute sie zu ihrer Mutter, die gerade dabei war, acht Löffel Kaffee in die Bistrokanne zu zählen. Wie überhaupt alles, nahm die Linn auch das Kaffeekochen ausgesprochen ernst. Sie bedeckte das Pulver knapp mit kochendem Wasser und schwenkte das Gemisch andächtig eine von ihr festgelegte Zeit, aus Gründen, die nur sie selbst kannte, womöglich religiös.

Das Buch hieß Der Fahrstuhl zum Glück. Außer Sex stand neben dem Wünschen Sie sich auf der Rückseite noch Spiritualität, Selbstverwirklichung, Anerkennung, Liebe, Erfolg und Geld, also ein Rundumschlag an allem, was man sich wünschen konnte. Die Liste war untereinandergeschrieben, um die Anfangsbuchstaben jeweils so ein orangener Punkt, der wohl einen Druckknopf im Fahrstuhl darstellen sollte. Vorn auf dem Umschlag ging über ein paar Wolkenkratzern die Sonne auf, hinten lächelte der Autor von einem geschickt

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Die Julie drückte auf das S von Sex. Nichts passierte. Nur die Linn kam mit ihrem Kaffee zum Tisch herüber.

»Was für ein Scheiß.« Mit einem verächtlichen Lächeln schubste die Julie den Fahrstuhl zum Glück von sich.

Die Linn atmete tief ein und setzte sich langsam. Nicht zu urteilen war eins der Basics des international erfolgreichen Konzepts. »Es ist gar nicht schlecht«, rechtfertigte sie sich und ärgerte sich noch im gleichen Augenblick darüber. Rechtfertigen war genauso schlecht wie Urteilen, aber ärgern sollte man sich dann auch wieder nicht. Sie war einfach nicht ganz auf der Höhe heute, rein fahrstuhlmäßig. »Es steht zum Beispiel drin, dass du wen anderen nicht dafür verantwortlich machen kannst, wie du dich selber fühlst«, sagte sie.

Die Julie zog mit dem Mund den Stöpsel von ihrer Füllfeder. »Echt?« Trotz des Stöpsels war glasklar zu verstehen, wie wenig es sie interessierte, was die Linn oder der gefeierte Life-Coach aus den USA ihr zu sagen hatten.

»Du entscheidest selber, ob du sauer wirst. Du könntest dich in dem Moment ja auch dagegen entscheiden«, erklärte ihr die Linn, »wart einmal«, sie blätterte ein paar Seiten zurück, »ich les es dir vor, dann verstehst du’s leichter.«

Die Julie nickte abwesend, als würde eine alte Frau, die sich im Bus zufällig neben sie gesetzt hatte, auf sie einschwafeln. Sie blätterte durch ihr Lateinheft, und als ein leiser Summton in ihrem Sweatshirt ertönte, holte sie ihr Handy aus der Tasche.

»Du bist –« Die Julie fand kein Wort, das ausdrückte, was die Linn war. Sie schüttelte nur stumm den Kopf, griff hinter sich und drehte das Radio lauter.

Die Linn hatte immer geglaubt, die Pubertät von der Julie würde milde verlaufen, milder wenigstens als ihre eigene, und die Julie schrie auch nicht viel und knallte wenig mit den Türen. Sie verachtete ihre Eltern einfach, ohne viele Worte darüber zu verlieren. Die Linn wäre der Julie gern beigestanden bei den Kämpfen, die sich in ihrem Inneren abspielten, oder hätte wenigstens gern in Erfahrung gebracht, ob sich dort überhaupt welche abspielten, aber das Einzige, was sich mit Sicherheit darüber sagen ließ, war, dass sie nichts gemeinsam hatten mit denen des Julius Caesar. Seit dem Sommer schrieb die Julie in Latein nur Fünfer. Das Angebot, mit der Linn zu lernen, lehnte sie ab, lieber simste sie den ganzen Tag mit der Tamara oder bastelte und saugte die nötigen Kenntnisse für die nächste Schularbeit aus ihrem Pelikano-Stöpsel. Diese stumme, desinteressierte Halberwachsene fraß ihr aufgewecktes, pausbäckiges Mädchen auf und ließ nichts übrig als einen explodierenden Busen und Hintern und ein paar Pickel auf der Stirn. Die Linn drückte das Sieb der Kaffeekanne hinunter. Wenigstens der Kaffee tat, was man von ihm erwartete.

 

Dem Franz reichte es jetzt endgültig. So vorwurfsvoll wie möglich stapfte er hinüber in die Küche und stellte sich in die Tür.

»Vielleicht seids ihr taub, ich nicht!«

Er stand da, den Stecker als Mahnmal in der Hand, und wartete auf eine Entschuldigung, aber alles, was die Julie zu sagen hatte, war: »Das war Wanda?«

Es ging dem Franz so dermaßen auf die Nerven, dass sie jeden Satz mit einem Fragezeichen beendete. »Will ich wissen, wie die Band heißt?«, schrie er.

»Spinnst du?«, fragte ihn die Linn.

Ihn erst aufwecken und dann entgeistert schauen, ja, das konnten sie. »Jetzt hab ich Kopfweh«, gab er bitter zurück. Keine Viertelstunde war der Franz jetzt wach und der Tag im Grunde gelaufen.

 

Die Julie schaute ihm immer noch nach, als er sich längst wieder ins Bett fallen lassen hatte. Sie nahm sogar den Füllfederstöpsel aus dem Mund, um langsam eine Frage zu formulieren: »Warts ihr eigentlich schon immer so?«

Die Linn öffnete den Mund zu einer Antwort. Und schloss ihn wieder. Die Julie hatte eigentlich auch nicht wirklich sie gefragt, sondern mehr sich selber, als versuchte sie mit aller Kraft, zu begreifen, wann genau aus ihren Eltern diese völlig abartigen Gestalten geworden waren, nachdem sie doch irgendwann angefangen hatten wie alle anderen auch, als hoffnungsvolle junge Menschen.

Hoffnungsvolle junge Menschen

Dreihundertzweiundzwanzig Kilometer vom Franz entfernt, in einem barrierefreien Zimmer im betreuten Wohnen am Rennbahnweg in Wien, bearbeitete der Herr Egon Stachowiak sein linkes Bein. Er selbst lag schon ein Weilchen wach und sah den Lichtern zu, die die vorbeifahrenden Autos an die Decke warfen, aber sein Bein schlief noch fest. Das Klopfen und Schlagen diente dazu, es aufzuwecken und wenigstens ein bisschen beweglich zu machen.

Zirka eine Stunde später hatte der Herr Egon dann auch die restlichen, mittlerweile fast genauso steifen Knochen aus dem Bett und ein Stückchen die Straße hinunter ins Café Hackl verfrachtet, wo er zum ersten Mal am Tag aufatmete.

Im Hackl tranken manchmal abgerissene Gestalten um sieben Uhr in der Früh schon ein Bier an der Bar, es gab blinkende Spielautomaten und eine Vitrine mit einem Kuchenangebot, das verdächtig selten wechselte. Das störte den Herrn Egon aber nicht. Für seine Zähne und sein Cholesterin war Kuchen sowieso nichts, und das Hackl hatte andere Qualitäten. Die Besitzerin, die Frau Gerti, sperrte früh auf, das war dem Herrn Egon wichtig. Sie redete wenig Blödsinn, das war ihm fast noch wichtiger, und bestellte extra für ihn die Salzburger Nachrichten, eine Zeitung, die im Hackl nur er las. Täglich servierte sie sie ihm mit einem freundlichen Lächeln zum Frühstück: zwei Eier im Glas und einen Ver

Ihren 85. Geburtstag feiert heute Frau Amalia Hirsch in der Seniorenresidenz Amadé.

Der Mund blieb ihm offen stehen. Ein bisschen Eidotter tropfte heraus, genau auf die Krawatte. Der Herr Egon bemerkte es nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, jetzt keinen Infarkt zu kriegen.

Die Mali! Also tatsächlich in Salzburg. Seit er in Pension war, hatte er immer wieder mit dem Gedanken gespielt, zurück nach Salzburg zu ziehen, aber stattdessen war er voriges oder vorvoriges Jahr ins betreute Wohnen gezogen und hatte bei der Frau Gerti jeden Tag die neuesten Salzburger Neuigkeiten gelesen. Amalia Hirsch. Hirsch? Amalia. Die Mali.

»Zahlen bitte«, seine Stimme überschlug sich, als er der Frau Gerti schrie. Gleichzeitig stand er auf. Das überraschte die Frau Gerti, weil der Herr Egon sonst immer mindestens zwei Stunden hinten im Eck bei seinem Verlängerten und der Zeitung sitzen blieb. Neugierig kam sie an seinen Tisch und holte ihr Portemonnaie unter der Spitzenschürze heraus. Der Herr Egon schnaufte und war ganz blass.

»Ist Ihnen nicht gut, Herr Professor?«

»Doch, doch. Ich muss telefonieren.« Er zwang sich, wieder ruhiger zu atmen und sogar zu lächeln, und er merkte, dass das seinem wildgewordenen Herzen guttat. Suchend klopfte er sich über sämtliche Anzugtaschen. »Haben Sie einen Stift?« Natürlich hatte die Frau Gerti einen Kuli für ihn, sie hätte ihm auch einen Zettel von ihrem Rechnungs

»Haben S’ einen Termin vergessen?«

Zuerst sah er sie erschrocken an, dann nickte er feierlich: »Ja, einen Termin.« Er holte den Lodenmantel vom Haken. Dabei fiel ihm etwas ein: »Hab ich überhaupt mein Auto noch?« Mit großen Augen schaute er die Frau Gerti an, die diese Frage nicht beantworten konnte. Es war das erste Mal überhaupt, dass sie den Herrn Egon gedanklich mit einem Auto in Verbindung brachte.

»Na ja, da hätten S’ doch vielleicht einen Schlüssel«, sagte sie. Die Frau Gerti war praktisch veranlagt. Auch das schätzte der Herr Egon an ihr.

Er zog ein abgegriffenes blaues Ledertäschchen aus der Manteltasche, an dem ein großer und ein kleiner Schlüssel klimperten. General für Haus- und Zimmertür im betreuten Wohnen und Briefkasten womöglich, aber kein Auto. Es hätte die Frau Gerti ehrlich gesagt auch gewundert. Der Herr Egon hinkte nämlich stark, das linke Bein schien ganz steif zu sein, vielleicht sogar eine Prothese, hatte sie sich manchmal gedacht, weil er den Fuß beim Gehen so schief aufsetzte. Fragen getraut hatte sie sich aber nicht, und der Herr Egon hatte diesbezüglich auch nie von sich aus etwas gesagt, so nach dem Motto: Heute hab ich aber wieder schlimme Phantomschmerzen, was ja recht eindeutig auf eine Prothese hingewiesen hätte.

Er drehte das Schlüsseltascherl um. Mit zitternden Fingern öffnete er einen Reißverschluss auf der Rückseite. »Wer sagt’s denn«, presste er hervor, während er weitere Schlüssel herauswurstelte. Einen normalen und – er hielt ihn ihr entgegen und strahlte – einen Autoschlüssel.

»Ja, wo wollen S’ denn hinfahren?«, fragte sie besorgt.

So eilig hatte er es an diesem Dienstagmorgen, aus dem Café Hackl zu kommen und das passende Auto zu seinem Schlüssel zu finden.

*

Als der Franz zum zweiten Mal an diesem Tag wach wurde, hörte er draußen den Regen auf die Straße tropfen, so still war es im Haus. Heller würde es heute nicht mehr werden, und langsam wurde es Zeit zum Aufstehen, wenn er vor seiner ersten Stunde noch einen anständigen Kaffee trinken wollte. Sonst würde er den trinken müssen, der seit Stunden in der Kaffeemaschine von der Schule vor sich hin kokelte und dessen eigentlicher Zweck es war, dem Lehrerzimmer seine unverwechselbare Duftnote zu verleihen. Noch drei Wochen bis zu den Weihnachtsferien.

Er setzte sich auf und strich sich mit beiden Händen die Haare zurück, eine Geste, die er seit jeher beim Aufwachen machte. Früher war sie nötig gewesen, um seine Mähne zu bändigen. Jetzt war sie nicht mehr nötig, aber immer noch da. Irgendwo hatte er gehört, dass Menschen über vierzig beim Aufstehen Geräusche von sich geben. Am nächsten Tag in der Früh hatte er festgestellt, dass es stimmte. Er stöhnte und gähnte ausführlich, rieb sich die Augen und kratzte sich am Bauch. Auf diese Weise schaffte er es meistens am Spiegel vorbei, ohne sich genauer anschauen zu müssen.

Er holte die Kaffeedose aus dem Regal und erkannte schon an ihrem Gewicht, dass heute kein frischer Kaffee mehr drin war für ihn. Unter anderem deshalb, weil die Linn ungefähr einen halben Meter Pulver in ihre Kanne hatte schütten müssen, die noch drei viertel voll auf dem Küchentisch

Auf der Küchenuhr, die die Linn noch von ihrer Oma hatte, war es zwanzig nach zehn. Viele Sachen im Haus waren von der Oma, das Haus hatte der Oma gehört, und obwohl sie nur die schönsten Möbel – weit weniger als die Hälfte – behalten hatten, lebten sie umgeben von Sachen, die nicht ganz reibungslos funktionierten. Die Schubladen klemmten, die Stühle gingen aus dem Leim, die Uhren mussten aufgezogen werden. Die Linn hatte noch zwei ältere Schwestern, die aber beide bereits einwandfrei funktionierende Häuser hatten und bereit gewesen waren, ihr und dem Franz das winzige Haus von der Oma – drei Zimmer, Küche, Keller und ein kleiner schattiger Garten – gegen einen, wie sie sich ausdrückten, finanziellen Ausgleich zu überlassen, den sie gern als symbolische Summe bezeichneten. Haben wollten sie die symbolische Summe dann aber doch sofort. Deshalb hatten der Franz und die Linn einen Kredit aufgenommen, und seither überwiesen sie jeden Monat das gesamte Einkommen vom Franz an die Bank. Dafür kamen die Schwestern hin und wieder mit der Mama von der Linn auf einen Sprung vorbei und waren sich alle einig, dass es höchste Zeit war für eine umweltfreundliche Außendämmung oder eine kleine Solaranlage oder neue Kellerfenster oder etwas anderes, was einen Haufen Geld kostete, den der Franz und die Linn nicht hatten, dank ihnen. Der Franz schaltete das Radio ein, um den Gedanken daran loszuwerden. Und das Scheißding funktionierte nicht.

Es dauerte ein bisschen, bis er sich erinnerte. Wie er den Stecker einsteckte, plapperte sofort und viel zu laut ein spritziger Moderator auf eine muntere Meteorologin ein. Die Quintessenz dieser Unterhaltung war, dass es bis Weih

Die letzten zwei Tropfen Milch, die sich aus dem Tetrapack wringen ließen, das er gestern, in der Hoffnung, dass es jemand anderer in den gelben Sack schmeißen würde, leer in den Kühlschrank zurückgestellt hatte, absorbierte der Kaffee auf dem Herd, ohne auch nur ansatzweise seine Farbe zu ändern. Der Franz feuerte die Kühlschranktür zu, dass einer der Magnete quer durchs Zimmer flog und die Weihnachtskarte, die seit Jahren damit daran befestigt war, zu Boden segelte.

Ewig hatte der Franz sie nicht mehr angeschaut. Eine vielleicht fünfjährige Julie hielt darauf eine Ukulele, ein noch nicht einmal vierzigjähriger Franz seine Gitarre und eine albern glückliche Linn ein Triangel in der Hand.

Er schüttelte den Kopf. Wie lang war das her, dass ihn jemand so angehimmelt hatte, für ein paar Akkorde? Kling, Glöckchen hatte er der Julie beigebracht. Die Linn hatte diesen stolzen Moment festhalten wollen und alle daran teilhaben lassen. Darum lachten sie ein hellblaues Fröhliche Weihnachten und guten Rutsch in den Selbstauslöser.

Wie lang hält eigentlich so ein Magnet, fragte sich der Franz, während er den Boden nach ihm absuchte. Er wusste, dass das T-Shirt von der Karte in seinem Kasten war, aber wo war eigentlich das Gesicht hin, das er auf der Karte noch hatte? Er fuhr durch die graumelierten Zotteln auf seinem Kopf und entdeckte den Magneten hinter dem Fuß der Eckbank, neben etwas, das entweder ein vertrockneter Champignon war oder ein staubiges Plektrum, und befestigte die Karte wieder am Kühlschrank. Im Radio wiesen sie auf die nachfolgende Sendung über ungewöhnliche Wetterphänomene hin: »Erdbeben, Tsunamis, Hurricanes, was kommt noch?«

»Zwölf Uhr«, sagte der Radiosprecher, »die Nachrichten.« Der Franz schaute zur Uhr von der Oma. Auf der war es immer noch zwanzig nach zehn. Dafür, fiel ihm jetzt auf, tickte sie aber auch nicht. Im gleichen Moment roch er, dass sich sein Kaffee in eine stinkende, zähflüssige Masse verwandelt hatte, die langsam mit dem Topf verschmolz, ganz ähnlich der, die im Gymnasium auf ihn wartete, in das er jetzt ungeduscht und unrasiert fahren musste, um dort den ganzen Nachmittag unbegabten Jugendlichen Gitarrenunterricht zu erteilen.

*

Papierfetzen und Blätter wirbelten durch die Luft, das linke Bein vom Egon schmerzte und das andere auch. So weit war er schon lang nicht mehr gewandert. Bis du heutzutage erst einmal eine Telefonzelle findest. Früher hatte er hier gewohnt, im 18. Bezirk. Wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, hinkte er kreuz und quer durch die Straßen, ganz durcheinander von der Vorstellung, die Mali wiederzusehen. Fünfundsechzig Jahre hatte er davon geträumt.

Die ersten zehn, fünfzehn Jahre hatte er sich noch bei jeder Straßenecke, um die er gebogen war, vorgestellt, gleich mit ihr zusammenzustoßen. Dann nur noch bei jeder zweiten, und irgendwann hatte er aufgehört, ständig an sie zu denken. Das An-sie-Denken beschränkte sich auf besondere Gelegenheiten, im Sommer, wenn er sich auf den Weg zum Heurigen machte, was für den Egon einer Bergtour gleichkam, oder zu Weihnachten, wenn er vor dem Fernseher saß und in der Peter-Alexander-Show die Mädchen mit den langen Beinen tanzen sah, aber die hatten sie auch schon lang nicht mehr gesendet.

Die Autos waren Automatik, wegen dem Bein. Er hatte einen eigenen Parkplatz in der Firma dafür bekommen und war nach Italien gefahren damit und nach Goldegg.

Die Mali hätte überall sein können. Auf der ganzen Welt. Frauen änderten ihren Nachnamen. Hirsch. Wie soll man denn darauf kommen? Sie war eine alte Frau, schon lang, wie er schon lang ein alter Mann war. Womöglich hätte er sie nicht erkannt, selbst wenn er an der nächsten Straßenecke mit ihr zusammengestoßen wäre. Oft erkannte er sich nicht einmal selber, und die Mali war für ihn immer noch ein junges Mädchen mit zwei um den Kopf geflochtenen Zöpfen, aus denen sich einzelne Locken befreiten, wenn sie tanzte, auf diesen langen Beinen, die hinauswollten, hinaus in die weite Welt. In den letzten Jahren war er so sentimental geworden. Schon bei der Vorstellung, dass die Mali gestorben sein könnte, hatte er nasse Augen gekriegt und trotzdem irgendwann angefangen, die Salzburger Nachrichten zu lesen, auf der Suche nach einem Hinweis. Jedes Jahr, wenn die neuen Telefonbücher herauskamen, schaute er nach, aber er fand immer nur eine A. Reisinger in der Priesterhausgasse, aber die hieß Annemarie und sagte, dass sie nicht die Richtige war. Sie kannte keine Amalia, nein, sie war nicht verwandt, und er sollte doch bitte nicht mehr anrufen.

Jeden Tag studierte er unter den Jubiläen die Todesfälle und fand immer weniger, die er kannte oder die ihm bekannt vorkamen, jedenfalls war die Mali nie darunter. Und heute auf einmal war sie kein Todesfall, sondern am Leben und feierte Geburtstag. Apropos. Wie sah das denn aus? Nach

Er drehte um und humpelte zurück, und keine zwei Stunden später stand er schon mit einem Dahlienstrauß in der schwitzigen Hand vor einer Toreinfahrt, Nur für Mieter!, mit Rufzeichen, stand auf einem rot gerahmten Schild, und der Egon wusste, das war die richtige.

Auf dem Garagenhof polierte ein junger Mann um die sechzig ein Mercedes Coupé. Er hatte eine Glatze, die beinah noch schöner spiegelte als sein Auto. Der Herr Egon ging an ihm vorbei, auf die Garage rechts neben der offenen zu, aus der der Mann sein Coupé zum Polieren herausgefahren hatte. Er ärgerte sich über den Schlüssel, der zwar ins Schloss ging, sich aber nicht und nicht drehen lassen wollte.

»Hamma das Schild übersehen?«, fragte der Mann. Er fragte recht unfreundlich, aber darauf konnte der Egon keine Rücksicht nehmen.

Neben dem Mercedes standen zwei Kübel, im einen Seifenlauge, im anderen ein umfangreiches Arsenal an Putzmitteln. Der Egon holte die Brille aus dem Etui, nahm eine blaue Sprühdose aus dem Kübel, sagte »Geh, bitte«, und ging damit zum Garagentor.

Skeptisch wischte sich der Coupé-Polierer die Hände an seinem Fetzen ab und folgte ihm. Der Egon sprühte einen kleinen Stoß ins Schloss und gab dem Mann lächelnd die Dose zurück. Dann steckte er den Schlüssel hinein, der sich darin drehte wie in Butter. Quietschend öffnete sich das Garagentor, und als er sah, was sich dahinter befand, öffnete sich der Mund vom Coupé-Polierer in etwa genauso weit.

»Ist das ein Opel Voyage?«, fragte er ehrfürchtig.

Mit zwei exakten Sprühstößen, die der Coupé-Polierer nun für den Egon ausführte, ohne dass der ihn extra darum gebeten hätte, wurden das Türschloss und das Zündschloss gängig gemacht und gleich nachpoliert mit dem Fetzen. Der Egon stieg ein, drehte den Zündschlüssel, und der Voyage sprang an wie ein Glockerl.

»Fünftausend«, stieß der Coupé-Polierer heiser hervor, ganz als hätte der Egon zähe Verhandlungen mit ihm geführt.

»Wie bitte?«

Der Mann kämpfte mit sich. »Na gut, sieben!«

»Ja, was ist damit?«, fragte der Egon.

»Achttausend Euro, letztes Angebot«, ließ sich der andere breitschlagen.

»Aber nein«, der Egon schüttelte den Kopf, »ich hab ja was zu erledigen.«

Enttäuscht musste der Coupé-Polierer zuschauen, wie der Herr Egon den Ascona vorsichtig aus der Garage hinausmanövrierte, haarscharf vorbei am blitzblanken Mercedes, und aufbrach zu seiner letzten Voyage.

Voyage

Wieso ihr?«, fragte die Elisabeth, die ein Ohr für sprachliche Feinheiten besaß, genau wie die Linn. Die zwei teilten sich ein kleines Büro in einem der wenigen Hochhäuser von Salzburg, wo sie Gebrauchsanweisungen, Kochbücher und Urkunden aus fast allen gebräuchlichen und ein paar ungebräuchlichen Sprachen ins Deutsche übersetzten. Was sie für die Aussicht auf die Stadtberge ausgeben mussten, sparten sie an der Ausstattung wieder ein. Den grauen Spannteppich und die zwei Schreibtisch-Ungetüme hatten sie von den Vormietern übernommen und nach etlichen Versuchen, das Chi in dem kleinen Zimmer unterm Dach nach Feng-Shui-Gesichtspunkten ins Fließen zu bringen, wieder so hingestellt, wie diese sie hinterlassen hatten, leicht schräg und einander gegenüber. Darauf befanden sich, je nach Auftrag, wechselnde Elektrogeräte, aufgeschlagene Bücher und stapelweise Papier.

»Möchte ich auch gern wissen.« Die Linn schob einen Porenreiniger zur Seite und lehnte sich mit ihrer Tasse an den Schreibtisch von der Elisabeth, dass ihr Kaffee überschwappte. Es war ihr fünfter an diesem Tag, um kurz vor zwölf. Der Teppichboden hatte ihn eigentlich nötiger als sie.

Sie starrte auf den Bildschirm, auf dem auf Chinesisch, Spanisch und Deutsch zu lesen war, wie kinderleicht die

Die Elisabeth war immer bereit, sich bei ein paar fremden Familienproblemen von ihren fesselnden Aufgaben zu erholen. Aus einer Schublade holte sie ein Packerl Manner-Schnitten und fuhr mit dem Stuhl zurück, um der Linn ihre volle Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen.

»Eine Innovation ist immer neu, oder?«, fragte die Linn.

Die linke Augenbraue von der Elisabeth verschwand in ihrem asymmetrischen Haarschnitt. Per Fingernagel aktivierte sie den Bildschirmschoner, eine Diashow aus Sonnenuntergängen am Meer, Bergpanoramen und zufälligen Begegnungen mit Berühmtheiten, die sich alle mehr oder weniger freiwillig mit der Elisabeth oder ihrem Mann, dem Bernie, fotografieren ließen. Immer schafften sie es, mit der einen Hand den Auslöser zu drücken, während sie den Daumen der anderen hochgestreckt ins Bild hielten. Die Elisabeth neben der Senta Berger und dem Ding, dem Ex von der Anna Netrebko, der Bernie mit dem Beckenbauer und zwischendurch immer wieder einer oder beide mit dem Scott Acton, bei einem Workshop im Sommer, seit dem die Elisabeth praktisch über nichts anderes mehr redete als über den Elevator to Happiness.

Sie war es auch, die der Linn das Standardwerk der Selbsthilfeliteratur, wie sie den Fahrstuhl zum Glück gern nannte, feierlich zum Geburtstag überreicht hatte. Vom Autor signiert. Best Wishes, Scott Acton, hatte er auf die erste Seite geschrieben, sie musste sich ja bloß die Schrift anschauen, hatte die Elisabeth gesagt, ein Strich durch alle drei T, also bitte.

»Du bist aber manchmal schon ein bisschen kleinlich, oder?«, fragte sie jetzt freundlich.

Darauf war die Linn nicht gefasst. »Ich bin doch nicht kleinlich!«

Die Linn verstand sie schon richtig, aber egal wie konstruktiv, Kritik ist eben immer auch Kritik, und Kritik wollte die Linn jetzt gerade überhaupt keine hören. Sie wollte hören, wie undankbar Teenager im Allgemeinen sind und was für ein Glück die Julie im Besonderen hatte, ausgerechnet sie zur Mutter zu haben.

»Ich glaub nicht, dass ich das Problem bin.« Das kam nicht so locker heraus, wie sie beabsichtigt hatte.

»Sondern der Franz«, sagte die Elisabeth. Es war eine Feststellung, keine Frage.

Das Lächeln von der Linn stürzte sich zum verschütteten Kaffee auf den Boden.

Die Elisabeth kaute an ihrem Wafferl, wobei es ihr nur halb gelang, ihre Lust am Tratschen mit einem verständnisvollen Ton zu überdecken. »Ist er wieder beleidigt, weil das Leben so ungerecht zu ihm ist?«

Die Linn hatte guten Grund, anzunehmen, dass die Elisabeth den Franz für einen verantwortungslosen Spinner hielt, der nicht darüber wegkam, dass aus ihm kein Rockstar geworden war. Unter anderem deshalb, weil sie sich selbst oft genug in diese Richtung äußerte, wenn sie sich über ihn ärgerte. Anschließend ging die Elisabeth mit ihr auf einen Kaffee oder auf ein Achterl, und dann lachten sie darüber, dass sich der Bernie in seinem ganzen Leben noch nie eigenhändig Unterhosen gekauft hatte und der Franz seine Haare eisern schulterlang trug, obwohl sie immer weniger wurden, und sie gern zu Tour-T-Shirts von Bands kombinierte, deren verwaschene Konzerttermine irgendwann im Eozän stattgefunden hatten.

Doch das war alles vor dem Elevator. Seit ihrer Begegnung mit dem Scott Acton klagte die Elisabeth weit weniger über

»Überleg einmal, wenn die Außenwelt nur ein Spiegel deiner Innenwelt ist, was sagt das dann über dich?«, fragte sie stattdessen.

Das stand auch im Fahrstuhl zum Glück. Sie würde in Zukunft vorsichtiger sein müssen, was sie der Elisabeth erzählte, dachte die Linn. Der Elevator empfahl für diesen Fall, über einen Menschen nur Gutes zu sagen, wobei man davon aber auch ehrlich überzeugt sein musste.

»Der Franz hat’s auch nicht ganz leicht«, probierte sie es, »das Unterrichten –«

Dem Gesichtausdruck von der Elisabeth nach war das Leben vom Franz ungefähr so schwer wie die Waffelblättchen, die ihr verächtliches Schnauben in die Heizungsluft wehte, aber schon fand ein neuer Gedanke ungebremst seinen Weg durch ihren Mund: »Glaubst, dass er dir die Schuld gibt, dass aus ihm nichts geworden ist, insgeheim?«

Zum zweiten Mal an diesem Tag war die Linn sprachlos, und die Elisabeth nutzte die entstandene Pause, um den Gedanken auszubauen: »Oder der Julie?«

»Nein.« Sie ging zu ihrem Platz zurück und arbeitete drauflos. »Wieso? Und es ist auch nicht nichts aus ihm geworden.«

»Kinder haben feine Antennen, sagt der Scott«, zog sich die Elisabeth aus der Schusslinie.

»Die Julie ist kein Kind mehr.«

Die Elisabeth schaute ihr tief in die Augen und zeigte mit ihrem Wafferl auf sie: »Linn, bei euch ist es höchste Zeit für’n Elevator.«

Die Linn hörte nicht auf zu tippen, musste aber wirklich lachen bei der Vorstellung, den Franz zu einem Selbsthilfeworkshop überreden zu wollen.

Die Linn tat, als müsste sie sich wahnsinnig konzentrieren, einen Textbaustein in ihre Datei einzufügen. In Wahrheit kam ihr zum ersten Mal in den Sinn, dass die Elisabeth und der Bernie mit ihren wechselnden Ernährungskonzepten und Prominentenfotos und Sonnenuntergängen mehr gemeinsam haben könnten als sie und der Franz. Der Franz und sie redeten nicht mehr oft miteinander, sie lachten nicht mehr oft miteinander, und sie schliefen auch nicht mehr oft miteinander.

»Vielleicht hilft’s ja auch, wenn ich ihn anruf«, überlegte die Elisabeth mit vollem Mund.

»Den Franz?«, fragte die Linn verwundert, worauf die Elisabeth ebenso verwundert die Stirn runzelte: »Nein, den Scott. Manchmal gibt’s Nachrückerplätze.«

Obwohl sich die Linn direkt verschrieb, so beeindruckt war sie, dass die Elisabeth die persönliche Telefonnummer vom Scott Acton hatte, schüttelte sie den Kopf: »Das tut der Franz nie.«

Doch die Elisabeth gab noch nicht auf. Während sie mit dem angefeuchteten Zeigefinger die Manner-Schnitten-Brösel aus der Packung wischte, sagte sie ganz nebenbei: »Na ja, der Bernie jedenfalls ist wie ausgewechselt seither.«

Die Linn hörte auf zu tippen. Nachdenklich sah sie dem ausgewechselten Bernie zu, wie er langsam, den Daumen nach oben, über den Bildschirm von der Elisabeth schwebte. Dann löschte sie den ganzen blödsinnigen Absatz, den sie gerade geschrieben hatte, und sagte: »Vielleicht hab ich eine Idee.«

*

An der Jäger Sonja zum Beispiel war an diesem, für die Jahreszeit zu warmen, Dezembernachmittag nichts auszusetzen. Sie hatte geübt, anständig gespielt und nach seinem überschwänglichen Lob – »Na also, geht doch« – bescheiden gelächelt.

Der Johannes Metzger war sechzehn und erst seit diesem Schuljahr in der Klasse. Also waren ihm die anderen schon zwei Jahre in Gitarre voraus, und vom Land kam er auch nicht. Der Franz ließ ihn seit Oktober die Spanische Romanze wiederholen, ganz einfach weil ihm der Bub so unsympathisch war. Das lag nicht ausschließlich an seinem deutschen Akzent. Es spielte auch hinein, dass er es offenbar nicht nötig hatte, vorbereitet zum Unterricht zu erscheinen, und sein fehlendes Talent mit derselben Überheblichkeit spazieren trug wie seine erlesene Western-Gitarre. Die Mutter vom Johannes Metzger, eine Frau Doktor, hatte mit ihrer Freundin Anke, die zufälligerweise die Direktorin vom Franz war, entschieden, dass ihr Sohn diese Schule besuchen würde. Der Franz wurde auserkoren, dafür ein spezielles Training zu entwickeln, das dem Johannes erlaubte, in Windeseile den versäumten Stoff aufzuholen, aber bitte spielerisch. Das also hatten die Frau Doktor und die Frau Direktor gemeinsam beschlossen, aber weder der Franz noch der Johannes waren emotional in diesen Prozess involviert.

Es war eh kaum möglich, auf den Stahlseiten eine anständige Spanische Romanze hinzukriegen, aber in der Metzger’schen Interpretation musste man sich ernsthaft Sorgen um den Fortbestand der spanischen Bevölkerung machen. Der Johannes entschied einfach, dass es, wenn’s

»Was soll das?«, fragte der Franz.

»Ich kann das nicht.«

»Was du nicht sagst.«

Der Johannes rieb sich die Fingerkuppen und schaute unbeteiligt zum Fenster hinaus.

»Wie wär’s mit Üben? Schon einmal gehört?«

Wie gewohnt sprang ihm die Sonja zur Seite: »Er ist doch neu, Herr Professor«, gab sie zu bedenken. Dabei sprühten ihre Augen vor Inbrunst. Der Johannes vermied es, sie anzuschauen. Es war ihm unangenehm, jede Stunde von einer pummeligen Landpomeranze in Schutz genommen zu werden, dabei hätte er froh sein sollen darüber, fand der Franz.

»So neu auch wieder nicht«, sagte er. »Wo warst du vorher?«

Überrascht, dass er immer noch nicht vom Haken war, ließ der Johannes die Gitarre sinken und sagte: »Auf einem humanistischen Gymnasium in Köln.«

Er hatte es schon vieltausendmal erzählt, und sogar der Franz wusste es. Er wollte es nur noch einmal hören, um zu einer kleinen Demütigung auszuholen, die dem verzogenen Schnösel guttun würde. Und wenn nicht, dann würde sie wenigstens dem Franz guttun.

»Humanistisch? Warum bist du dann nicht auf den Rainberg gewechselt?«

Weil es nach Pisa und allem, was man von den deutschen Schulen so hörte, unmöglich für ihn gewesen wäre, auf dem anspruchsvollsten Gymnasium der Stadt mit den Gleichaltrigen mitzuhalten.

Der Johannes zuckte bloß die Schultern.

»Ὁ μὲν βίος βραχύς, ἡ δὲ τέχνη μακρά«, sagte der Franz. Es war der einzige altgriechische Satz, den er kannte. Er

Der Johannes Metzger sah aus den Augenwinkeln zu den anderen. Sollte er das jetzt übersetzen, oder was? Aber der Franz hatte nur eine Kunstpause gemacht.

»Ist eh super, Altgriechisch. Geht halt nur schlecht auf der Gitarre.«

Der Max und der Pascal, beide musikalisch mehr so Stadtrandgebiet, grinsten unentschlossen über diesen Witz, aber die Mutter T‌heresa vom Oberstufenrealgymnasium hatte eine Idee: »Vielleicht, wenn Sie es ihm einmal vorspielen?«, fragte sie. »Damit er hört, wie’s richtig ist.«

Die Sonja hatte schon recht. Ihr und anderen – musikalischen – Kindern half es manchmal, ein Stück zu hören. Beim Johannes Metzger hatte der Franz da wenig Hoffnung. Trotzdem nahm er seine Gitarre und spielte ihm das Stück vor. Die ersten paar Takte schaute er ein paarmal bedeutsam in die Runde, sie sollten aufpassen, wie er die Stellen spielte, die ihnen immer Schwierigkeiten machten. Und seine Schüler taten ihm den Gefallen, setzten brav ihre aufmerksamen Gesichter auf, denn alle wussten, was gleich passieren würde.

Der Franz schloss die Augen und verlor sich. Selbst in dieses leichte, zu oft schlecht gehörte Stück. Er konnte ihnen nichts beibringen. Sie mussten es selber wollen und zuhören. Es drehte sich darum, den Klang nicht zu unterbrechen. Alles andere war Lärm.

Die Sonja schaute schüchtern zum Johannes. Fast jede Stunde verschaffte sie ihm auf diese Weise eine kurze Auszeit, und nichts als ein flüchtiges Lächeln war ihr Lohn.

Es klopfte. Alle Schülerköpfe fuhren neugierig herum, um

Wenn der Franz spielte, unterbrach die Linn ihn nicht. Er sah dann auf eine verletzliche Art aus, als wüsste er genau, was er tat. Das war eine unwiderstehliche Mischung für die Linn, die ihr außerdem Hoffnung machte für das, was sie vorhatte.

Die Schüler begannen zu kichern, doch auch das hörte der Franz nicht. Er öffnete die Augen und spürte dem letzten Ton nach, bevor er sich bewusst wurde, wo er sich befand und dass die Linn in der Tür eigentlich nicht in dieses Bild gehörte.

»Hallo«, sagte sie, »ich war grad in der Nähe.«

Als würde das etwas erklären. Sie verließ ihr Büro praktisch nie während der Arbeitszeit, aber selbst wenn sie in der Nähe zu tun hatte, gab es keinen ersichtlichen Grund, einfach in seinen Unterricht zu schneien.

»Kann ich dich kurz sprechen?«

Dem Franz fiel auf, dass seine Schüler dieses Intermezzo mit einem Interesse verfolgten, das er von ihnen sonst nicht kannte. Unschlüssig blickte er in die Runde, bevor er sich mit einem »Ja, ist eh wurscht« erhob und der Linn auf den Gang folgte.

 

Aus einigen Zimmern drang gedämpfter Musikunterricht. Ansonsten war es leer und still, wie eine Schule nur an einem Winternachmittag sein kann. Die Linn stand am Fenster, sah hinaus in den Regen und atmete sich Mut an.

»Was ist denn so dringend?«, fragte der Franz.

Die Anke, die Direktorin vom Franz, kam auf ihrem Weg nach unten an ihnen vorbei. Als sie den Franz sah, fiel ihr etwas ein, doch im Gegensatz zur Linn, die ihr freundlich

Die Linn wartete, bis sie außer Hörweite war, dann zog sie eine Karte aus rotem Pappkarton aus ihrer Handtasche. »Erinnerst du dich?«, fragte sie.

Natürlich erinnerte sich der Franz an den Gutschein. Er hatte ihn selbst gebastelt, gerade einmal zwei Wochen war es her. Er hatte nicht gewusst, was er ihr zum Vierziger schenken sollte, außer der CD-Sammlung von Wes Montgomery, die sie erwartungsgemäß nicht vom Hocker gerissen hatte. Er hatte, als die Gäste mit ihren Champagnerflaschen, Glücksratgebern und Vogelstimmenweckern eintrafen, noch schnell eine nette Kleinigkeit gebraucht, und ein Gutschein war eine nette Kleinigkeit, fand der Franz, außerdem praktisch. Weder musst du dir etwas einfallen lassen noch durch die überfüllten Geschäfte ziehen, um es zu finden, noch es bezahlen. Vor ein paar Jahren zu Weihnachten hatte er der Linn schon einmal einen geschenkt, und sie hatte sich sehr gefreut darüber damals. Zu seinem Entsetzen zauberte sie diesen nun ebenfalls aus ihrer Tasche hervor.

»Wir machen am Wochenende einen Workshop.«

Der Franz lehnte sich leicht vor. Er hatte sie nicht richtig verstanden – hoffte er.

»Der Fahrstuhl zum Glück.«

»Bitte nicht«, sagte er.

»Doch«, sagte die Linn, »wir haben Nachrückerplätze gekriegt.«

Sie sah ihn so außergewöhnlich fest an, dass er eine Ausflucht brauchte, um ihrem Blick zu entkommen. Er nahm ihr die Gutscheine aus der Hand und studierte sie eingehend. Gutschein, stand auf beiden, für einen Tag deiner Wahl. Auf dem einen außerdem: Happy Birthday, Baby, ich liebe Dich. Und auf dem anderen stand statt dem Happy Birthday groß

»Es steht keines drauf«, sagte die Linn.

Er schaute fragend auf.

»Ablaufdatum«, sagte sie angriffslustig.

Sie hatte recht. Wie konnte er nur so blöd sein? Er hatte kein Ablaufdatum draufgeschrieben und auch keine Ausnahmen. Aber wie sollte der Franz auch ahnen, dass die Linn nicht auf ein Konzert gehen wollen würde oder, bitte, von mir aus, in eine fremde Stadt fahren, sondern zu einem geschissenen Glücksworkshop? Wer sollte ahnen, dass sie diese Gutscheine überhaupt je einlösen würde?

Sie fischte die Karten aus seiner Hand, drehte auf dem Absatz um und ging. Der Franz stand nur da und hörte ihren Schritten drei Stockwerke beim Hinunterlaufen zu.

 

»Hast du kurz Zeit?«

Woher tauchte denn jetzt auf einmal die Anke auf?

»Ah, nein, ich bin mitten im Unterricht.«

Warum er mitten im Unterricht einsam auf dem Flur stand, erklärte er nicht. Sie schaute zur Tür seines Klassenzimmers, dann auf ihre Armbanduhr und verglich sie mit der Uhr auf dem Gang.

»Okay, dann morgen?«

»Sicher, jederzeit«, behauptete der Franz.

Sie blieb noch einen eigenartigen Moment stehen – wie bei einem Schüler, bei dem sie sich lieber persönlich davon überzeugen wollte, ob er auch wirklich in seine Klasse zurückging und die elendige Stunde zu Ende brachte.

*

»Herr Brandstätter?« Die Hoffnung starb. Jetzt blieb ihm nur noch, so zu tun, als hätte er sie nicht gehört.

»Herr Brandstätter?« Sie hatte ihn eingeholt. Sportlich. Er setzte eine gehetzte Miene auf. »Nein, jetzt ist es ganz schlecht«, sagte er und schwang sich noch zu einem nachgeschobenen »leider« auf, weil der erste Teil so irrsinnig genervt herausgekommen war.