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Maiken Nielsen

4 x Herz
und Croque Monsieur

Roman

hockebooks

1. Kapitel

Alexa blickte aus dem Wagenfenster und erschauerte. Vor der Freitreppe zum Schloss stand eine weiße, maskierte Gestalt. »W… was ist das?«, flüsterte sie.

Die Gestalt bewegte sich direkt auf sie zu.

»Ach, das ist nur James.« Nicolines Mutter zog sich im Rückspiegel die Lippen nach. »Unser englischer Nachbar. In seiner Freizeit ist er Imker.«

Die Fahrertür wurde aufgerissen, und der Maskierte beugte sich ins Innere des Wagens. »Hello, my dear. Welcome back in France!«

Frau Edelhagen hob den Schleier des Maskierten, um ihn auf die Wange zu küssen. »Hello, James!«, begrüßte sie ihn und stellte ihre Mitreisenden vor: »Meine Tochter Nicoline, die kennst du ja schon. Und ihre Freundinnen Viviane, Alexa und Inci. Ach ja, und das ist Incis Bruder.« Sie deutete auf den schlafenden Gökhan, der in einer Wagenecke zusammengerollt lag. »Wir mussten ihn mitnehmen, weil Inci Türkin ist.«

Alexa hatte Mitleid mit Gökhan. Er hatte sich nicht um den Aufpasser-Job gerissen. Für Gökhan musste es eine Menge Sachen geben, die spaßiger waren, als mit seiner Schwester und deren drei Freundinnen in ein südfranzösisches Dorf zu fahren, das noch nicht mal am Meer lag, um darauf zu achten, dass Inci keine Jungs kennenlernte. Nicht mal Fußball würde er in dieser Zeit spielen können. Es sei denn, er würde irgendwelche Jungs kennenlernen.

Der Maskierte murmelte etwas, was nach bloody foreigners klang, aber Alexa wusste nicht, was er damit meinte, schließlich trugen weder Inci noch Gökhan irgendwelche blutenden Wunden zur Schau, und foreigners, also Ausländer, waren sie schließlich alle hier in Cascadet.

»Wenn Sie mit dem Bienenkönig fertig sind, Frau Edelhagen, könnten Sie dann bitte die Kindersicherung entriegeln, damit wir aussteigen können?« Vivi pustete sich die feucht gekräuselten Locken aus dem Gesicht.

Im Wagen war die Hitze kaum noch auszuhalten. Höchste Zeit, dass sie herauskamen. Eine lange Nacht im Autozug von Hamburg nach Avignon lag hinter ihnen, gefolgt von einer mehrstündigen Fahrt durch die Dörfer, weil Nicolines Mutter hinter Avignon das Auto verlassen hatte, um vor einem Olivenbaum zu meditieren. Im Anschluss daran hatten sie sich verfahren, obwohl Frau Edelhagen das Schloss in Cascadet bereits zum fünften Mal gemietet hatte und den Weg eigentlich hätte kennen müssen. Aber Nicolines Mutter schien seit ihrer Trennung von Nicolines Vater ein bisschen verwirrt zu sein.

»Verzeihung, Kinder.« Frau Edelhagen drückte auf den Knopf, und Alexa, Inci, Vivi und Nicoline flüchteten ins Freie.

Alexa blickte am Schloss empor. Es sah alt aus, Ehrfurcht gebietend alt, fast wie aus einem Märchen. An den Fensterrahmen blätterte bereits die Farbe ab, und Alexa hätte nicht gedacht, dass Frau Edelhagen so ein altes Gemäuer gefallen würde. Vielleicht war es die Größe, die ihr so imponiert hatte, die Säle und Hallen, die es in dem Schloss ohne Zweifel gab, die Erker an den Ecken des Gebäudes, der kleine Glockenturm oben auf dem Dach.

In Hamburg wohnten die Edelhagens in einer Traumvilla in Alsternähe. Das heißt, Nicolines Vater wohnte jetzt nicht mehr da. Der lebte seit der Trennung in einem Luxushotel. Alexa zuckte zusammen. Eine Biene zischte dicht vor ihrem Gesicht vorbei.

»Allons enfants de la patrie, le jour de gloire est arrivé.« Die französische Nationalhymne ertönte aus Vivis Handtasche. Vivi griff hinein, förderte ihr Handy zutage, blickte auf das Display – und strahlte. Sie hatte eine SMS von Siddharta, ihrem Freund, bekommen.

»Liebe muss schön sein«, murmelte Nicoline. »Was meinst du, Alexa?«

»Bin keine Expertin auf dem Gebiet.« Alexa öffnete den Kofferraum und wuchtete ihren Koffer hervor. Ein sanftes Schnarchen ertönte vom Rücksitz. Gökhan schien sich bei seinem Ausflug ins Traumland durch die siedepunktnahen Temperaturen im Wageninneren nicht beirren zu lassen.

»Komm, komm, so lange ist das mit Gabriel nun auch noch nicht her.« Nicoline griff ebenfalls nach ihrer Tasche.

»Das war keine Liebe.« Alexa hatte mit dem Thema abgeschlossen.

»Nicoline, Liebling, hilft dir denn keiner?« Frau Edelhagen kam um den Wagen herumgeschossen. »Stell sofort die Tasche ab, die ist viel zu schwer für dich! Wo bleibt eigentlich das Personal?« Sie blickte Hilfe suchend zu den Fenstern empor.

»Ich kann das alleine, Mama, wirklich.« Nicoline trug ihre Tasche zur Treppe hinüber und stellte sie dort ab. »Könntest du vielleicht mal die Tür aufschließen?«

»Aber den Schlüssel hat doch der Verwalter!« Nicolines Mutter wischte sich den Schweiß von der Stirn. »James, could you please …?«

Aber der Imker war schon wieder davongetrottet. Er warf einen ulkigen Schatten, stellte Alexa fest, mit seinem breitkrempigen Hut und dem wehenden Schleier darüber.

»Monsieur Perpignan ist nicht der Verwalter, Mama, sondern der Eigentümer hier!« Nicoline rollte mit den Augen.

Alexa blickte sich nach Inci um, die auf Zehenspitzen stand, um zu den Türmen hochzuschauen. Die Freundin hatte bislang noch gar nichts gesagt. Alexa wusste, dass sie immer noch unglücklich darüber war, dass ihr Vater sie gezwungen hatte, mit dem großen Bruder im Schlepptau zu reisen. Sie legte den Arm um sie. »Wo Imker sind, ist auch der Honig nicht weit. Bestimmt gibt es hier ordentlich was zu naschen.«

In diesem Moment kam ein ausgesprochen attraktiver Junge um die Ecke gebogen. Er schlenderte geradewegs auf sie zu und lachte sie freundlich an. In seinem braun gebrannten Gesicht leuchteten zwei überaus blaue Augen. Alexa erstarrte mitten in der Bewegung. Es war, als träfe sie beim Aldi um die Ecke plötzlich Jude Law oder George Clooney.

»Famille Edel-agönn?«, lächelte die Erscheinung. Sogar der Akzent war hinreißend.

Nicoline erwiderte etwas, das lang, kompliziert und irgendwie richtig klang. Mit ihrem Französisch- und Spanisch-Privatunterricht war sie die Sprachexpertin in der Runde. Inci, die in jedem Fach außer Sport eine Eins hatte, galt zwar als das Universalgenie, hatte aber statt Französisch Latein gewählt und konnte sich deshalb eher mit Leuten unterhalten, die in ein besseres Leben übergegangen waren, wie Frau Edelhagen es ausdrückte. Frau Edelhagen sprach neuerdings auch mit Leuten, die in ein besseres Leben übergegangen waren, allerdings nicht auf Latein.

Der Junge ging die Freitreppe hinauf, holte einen Schlüssel hervor, steckte ihn ins Schloss, es knarrte, und dann sprang die Tür auf. Ein schwarzes Loch gähnte ihnen entgegen. »Follow me«, lächelte er, während er sich zu ihnen umdrehte.

Alexa war nur allzu gewillt, dieser Aufforderung Folge zu leisten, aber Frau Edelhagen runzelte die Stirn. »Sag Antoine, er soll drinnen erst mal die Fenster öffnen und lüften. Ich begreife nicht, warum Monsieur Perpignan das nicht schon längst getan hat! Ich betrete doch keine Leichenhalle!«

Vivi hüpfte ungeduldig auf und ab. »Ich bin sicher, Frau Edelhagen, dass in Leichenhallen ganz grelles Licht scheint. Schließlich müssen die Mitarbeiter doch erkennen, mit wem sie es da zu tun haben. Warum folgen wir Superman nicht einfach ins Schloss und lüften selbst?«

Nicoline wandte sich wieder an den Jungen und sprach leise auf ihn ein. Der zuckte lächelnd mit den Achseln, verschwand im Inneren, und Sekunden später flog der erste Fensterladen auf. Dann noch einer und noch einer, bis Alexa den Boden im Eingang erkennen konnte. Er war mit Steinen ausgelegt, die Alexa noch nie zuvor in einem Gebäude gesehen hatte. Große, unregelmäßig geformte Platten, die über die Jahrhunderte von Schritten gezeichnet waren. Dann trat der Junge wieder in die Sonne, griff nach ihren Koffern, als wären sie Fliegengewichte, und trug sie hinein. Vor der Tür drehte er sich zu Alexa um und lächelte sie an.

»Wer ist der Typ?«, flüsterte Alexa an Nicoline gewandt.

»Antoine, der Sohn von Monsieur Perpignan, dem das Schloss gehört. Er hilft seinem Vater, die Leute zu betreuen, die hier ihren Urlaub verbringen.« Nicoline folgte dem Jungen nach drinnen.

Alexa ging zu Vivi, die erneut auf ihrem Handy herumtippte. »Was passiert da jetzt im Schloss?«, flüsterte sie.

Vivi warf einen flüchtigen Blick in den Eingang. »Keine Ahnung. Mein Röntgenblick ist momentan außer Betrieb.«

Wie ferngesteuert setzte Alexa sich ebenfalls in Bewegung. Sie trat über die Schwelle und spürte, wie kühle Luft sie umfing. Die Diele ging in einen Raum über, an dessen Ende ein riesiger Kamin stand. Daneben konnte sie eine Flügeltür erkennen.

Hinter ihr betraten Frau Edelhagen und Inci das Schloss. Alexa bemerkte, wie Frau Edelhagen die Augen zumachte und tief Luft holte. »Aaah«, hörte sie sie sagen. »Diese Schwingungen hier!«

Als Letzte kam Vivi herein. Sie rannte geradewegs auf Alexa zu und schloss sie in die Arme. »Hey!«, rief sie, während sie ihr Handy in die Hosentasche steckte. »Nicoline hat mir erzählt, dass hier der letzte Bürgermeister von Cascadet gewohnt hat! Aber jetzt haben wir die Macht! Jetzt kann das Vergnügen losgehen! Nicoline, sagtest du nicht auch irgendwas von Schwimmbad?«

»Na klar! Kommt mit!« Nicoline wackelte mit dem Zeigefinger in Richtung der Tür, die sich neben dem Kamin befand. Von hier führte eine Treppe in den ersten Stock.

Vivi stieß einen Schrei aus, als sie von der ehemaligen Bürgermeisterstube die Terrasse erblickte mit ihren gläsernen Flügeltüren und dem hellblau schimmernden Wasser dahinter. »Wer als Erste im Wasser ist!«, rief sie und riss sich T-Shirt und Rock herunter.

»Du Schummlerin!«, schrie Nicoline. »Wieso hast du denn deinen Bikini schon drunter?«

»Weil ich schlau bin!«, brüllte Vivi und sprang kopfüber hinein.

»Huhu, jetzt komm ich!«, schrie Alexa und riss sich ihr Kleid über den Kopf. In Sekundenschnelle löste sie ihren BH und wedelte ihn über ihrem Kopf wie ein Lasso. »Hey, ich bin ein Cowgirl! Juhuuuuu, und ich fang die wilden Wasserbüffel ein! Haha, Wegschwimmen zwecklos, ihr Büffel, mit meinem Lasso bin ich nämlich … ja, was denn?« Sie blickte zu Inci hinüber, die ihr verzweifelt Zeichen machte. Sie deutete auf irgendwas, was sich hinter Alexas Rücken befand.

Und plötzlich ging alles ganz schnell. Alexa drehte sich um – und sah in das grinsende Gesicht von Antoine. Erschrocken drückte sie sich ihren BH an die Brust. Der Junge sagte etwas, was sie nicht verstand, was sie auch gar nicht verstehen wollte. Sie wünschte sich einfach bloß, dass die Erde sich vor ihr auftun würde und sie darin versinken könnte.

Nicoline fing sich als Erste. »Er sagt, er hätte alles vorbereitet und ob er jetzt gehen könnte?«, grinste sie.

Alexa drehte sich um und nickte grimmig. »Sag ihm, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche als das.«

Später am Abend, als sie auf dem Schlossvorplatz unter einer Platane saßen und Baguette mit überbackenem Schinken und Käse aßen, kicherte Vivi immer noch.

»Alexas Blick!«, brach es von Neuem aus ihr heraus. »Mann, war das göttlich! Warum hab ich die Szene nicht gedreht? Ich hab doch für den Urlaub extra meine Kamera mitgebracht! Wie teuer könnte ich das jetzt bitte verkaufen?«

»Extrem teuer«, brachte Alexa zwischen zwei Bissen hervor. »Ein solcher Verrat hätte dich mindestens einen Knochenbruch gekostet.«

Vivi lachte. »Deine Mafiosi jagen mir keine Angst ein! Igitt, mein Croque ist ja mit Schinken!« Sie spie den Bissen, den sie gerade in den Mund genommen hatte, wieder aus.

»Wir haben Croque-Monsieur gemacht, Vivi. Da ist immer Schinken drin«, erklärte Nicoline.

»Ich bin Vegetarierin, Mann! Begreifst du das endlich, oder muss ich ’n Plakat malen?«

Die französische Nationalhymne ertönte.

»Was ist das denn?«, fragte Frau Edelhagen irritiert.

»Vivis Versuch, sich hier einzugliedern.« Nicoline biss genüsslich in ihren Croque. »Sie glaubt, dass die Marseillaise als Klingelton sie wie eine echte Französin wirken lässt.«

»Hättet ihr es vielleicht lieber gehabt, ich hätte für unseren Frankreichurlaub die deutsche Hymne gewählt?«

»Ich hoffe übrigens, dass ihr die könnt«, bemerkte Frau Edelhagen. »Man hört ja so allerhand über eure Generation. Ich sage nur: Pisa. Na los, wer singt mir die deutsche Nationalhymne vor?«

Nicoline und Alexa sahen sich bestürzt an.

»Ich kann nur die Melodie«, bemerkte Alexa kleinlaut.

»Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland …«, schmetterte Inci brav. Als ein Traktor langsam über den Rasen auf sie zugetuckert kam, brach sie abrupt ab. Am Lenker saß ein älterer Mann mit Zigarrenstummel im Mund. Er brummte etwas in Incis Richtung, was nach sale boche klang.

»Er hat gesagt, du wärst eine schmutzige Deutsche«, kicherte Nicoline, die neben Inci saß.

»Du kannst ihm ausrichten, dass ich sauber bin und Türkin, alles klar?«, gab Inci empört zurück.

Frau Edelhagen war aufgestanden. »Monsieur Perpignan!«, lächelte sie. »Wie nett, dass Sie uns mit Ihrem Besuch beehren. Möchten Sie ein Glas Wein?«

Nicoline übersetzte. Monsieur Perpignan schien kurz zu überlegen, dann schüttelte er den Kopf.

»Aber ich würde so gern etwas mit Ihnen besprechen!« Alexa erkannte Frau Edelhagen nicht mehr wieder. In Hamburg hätte sie garantiert nicht darauf bestanden, mit einem traktorfahrenden und zigarrenrauchenden Bauern zu plaudern. »Hier, dieser Wein ist sensationell! Probieren Sie doch einen Schluck!«

Wieder schüttelte Monsieur Perpignan den Kopf.

In diesem Moment fiel Alexa etwas ein. Sie beugte sich zu Inci hinüber. »Inci!«, zischte sie. »Wo ist eigentlich dein Bruder?«

Inci fuhr zusammen. »Ach du Elend!«

Alexa brach in Gelächter aus. »Bitte, sag nicht, er ist immer noch im Auto!«

Inci kaute an ihrem Fingernagel. »Wir sollten ihn wecken …«

»… und ihm einen Croque bringen. Für den einzigen Monsieur bei uns. Nicoline?« Alexa wollte der Freundin auf die Schulter tippen, sah aber, dass Nicoline mitten in einer Übersetzung steckte.

»Sag ihm«, erregte sich Frau Edelhagen, »dass wir die anderen Käufer bestimmt überbieten können! Frag ihn, welchen Preis er verlangt! Ach, ich ärgere mich über mich selbst, ich hätte dieses Schloss schon im letzten Urlaub kaufen sollen! Aber da waren dein Vater und ich ja mit was anderem beschäftigt.«

Nicoline übersetzte, und der Mann auf dem Traktor hörte ihr aufmerksam zu. Alexa sah, wie er zögerte, den Kopf schüttelte und etwas sagte, was Nicoline nicht zu verstehen schien, denn sie fragte noch einmal nach, und der Mann wiederholte seine Worte. Nicoline sah ihn ungläubig an, ohne zu antworten.

»Was sagt er denn?« Frau Edelhagen rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum.

»Er sagt«, antwortete Nicoline langsam, »dass er es für keine gute Idee halte, dieses Schloss zu kaufen.«

»Und warum?«

Nicoline blickte in die Runde, von Alexa über Vivi zu Inci, bis sie wieder bei ihrer Mutter landete. »Weil ein Gast während seines letzten Aufenthalts hier gestorben ist. Im Juni. Und seitdem …«

»Seitdem was?«, drängte Frau Edelhagen.

»Seitdem sollen hier angeblich komische Sachen passieren. Mama, Monsieur Perpignan sagt, dass es hier spukt!«

2. Kapitel

»Wenn das Schloss tatsächlich verhext ist, möchte ich eigentlich nicht so gern hier wohnen.« Inci blickte ängstlich in die Runde.

Es war dunkel geworden. Sie saßen auf der Mauer, die das Dorf umfasste, und blickten ins Tal hinab. Der Mond schien voll und weiß auf sie herunter. Sein Licht fing sich in der Glocke im Turm.

»Ich auch nicht«, sagte Alexa und rückte noch ein bisschen dichter an Inci heran. »Aber ich halte das Gerücht mit dem Spuk für Quatsch. Es gibt keine Toten, die umherirren und Leute zutexten. Das wäre doch komplett widernatürlich!«

Inci blickte sie zweifelnd an. »Ihr Atheisten denkt immer in so geraden Bahnen. Solche geraden Bahnen gibt es im wirklichen Leben gar nicht.«

Im Olivenhain unterhalb der Mauer schrie ein Käuzchen auf. »Meine Mutter meint, sie könnte mit dem Geist Kontakt aufnehmen und ihn zum Fortgehen bewegen«, meinte Nicoline langsam.

»Deine Mutter ist in letzter Zeit ein bisschen ulkig, oder?« Vivi brachte auf den Punkt, was auch die anderen dachten.

»Na ja, ihr wisst doch … die Scheidung und so, das hat sie alles sehr mitgenommen.« Nicoline klang ein bisschen unsicher.

»Also, mich wundert das überhaupt nicht«, fuhr Vivi dazwischen. »Hätte man mich vorher gefragt, wie ich mir einen südfranzösischen Bauern vorstelle, dann hätte ich gesagt: kauzig, mag keine Deutschen, fährt den ganzen Tag Traktor und glaubt, dass es in Schlössern spukt. Also – worüber reden wir noch?«

»Monsieur Perpignan ist ein bisschen mehr als bloß Bauer«, erklärte Nicoline nachdenklich. »Er ist der Sohn des letzten Bürgermeisters hier im Dorf und hat im Schloss seine Kindheit verbracht. Es heißt sogar, er habe studiert. Erst nach dem Tod seines Vaters, als schon längst keiner der alten Dorfbewohner mehr hier wohnte, hat er mit der Landwirtschaft angefangen. Nebenbei vermietet er sein altes Elternhaus. Wenn du mich fragst, ist das ein schlauer Fuchs.«

In diesem Moment war ein Krachen und Stöhnen zu hören. Inci klammerte sich an Alexa und begann am ganzen Leib zu zittern. Auch Alexa war zusammengezuckt. Vivi sprang von der Mauer und verrenkte sich den Hals, um zu erkennen, was sich da im Mondlicht auf sie zubewegte. Auf einmal brach sie in Gelächter aus. »Inci«, sagte sie, während sie sich zu der Freundin umdrehte. »Ich glaube, dein Bruder ist endlich aufgewacht!«

Alexa schlug die Augen auf. Durch die hohen Fenster strahlte die Sonne. Inci hatte offenbar schon die Vorhänge geöffnet. Einen Moment lang konnte Alexa es nicht fassen. Sie hatte die Nacht in einem Schloss verbracht – einem richtigen Schloss! Alles in diesem Raum war groß und schön und edel. Das Bett mit Baldachin, das sie ganz für sich allein hatte, die Ritterrüstung in der einen Ecke, der Schminktisch mit dem vergoldeten Spiegel in der anderen. Und im Himmelbett gegenüber von ihr lag – nein, keine Prinzessin, sondern Inci, die in ihrem Mathebuch las. Alexa drückte Toby, den Koalabären, an sich. Sie wusste, dass es kindisch war, mit vierzehn noch ein Stofftier mit in den Urlaub zu nehmen, aber sie hatte Toby nun mal total gern bei sich. »Guten Morgen, Einstein!«, lächelte sie in Incis Richtung. »Wollen wir zu den anderen rüber und gucken, ob die auch schon wach sind?«

Inci stieg aus dem Bett, stapfte zum Fenster und blickte hinaus. »Den Umweg können wir uns sparen«, erklärte sie. »Die sitzen unten an einem supergut aussehenden Frühstückstisch!«

»Guten Morgen, Kinder!«, rief Frau Edelhagen ihnen entgegen, als sie auf den Platz vor das Schloss traten. »Wollt ihr auch einen Brennnesseltee? Mit einer schönen Reiswaffel und Sojasauce dazu?«

Alexa warf einen hilfesuchenden Blick zu Nicoline hinüber. »Öööh …«

Nicoline grinste. »Kein Problem. Ich hab schon einen Caffè Latte aufgesetzt!«

»Also, was ist der Plan heute?« Vivi stürzte ihren Orangensaft wie eine Verdurstende hinunter. »Joggen? Schwimmen? Geister jagen?«

»Dein andauernder Bewegungsdrang macht mich fertig«, gähnte Inci. »Warum können wir nicht einfach chillen und lesen?«

»Weil wir hier nicht im Altersheim sind?«, fragte Vivi zurück.

»Alte Leute chillen nicht.« Inci rieb sich die Augen.

»Quatsch, alte Leute chillen sehr wohl. Sie nennen es bloß anders. Häkeln und über Krankheiten reden und so.« Vivi schenkte sich das Glas so voll, dass es überschwappte.

»Du kannst das überhaupt nicht beurteilen«, bemerkte Inci. »Weil du nämlich nicht alt bist. Aber zum Glück haben wir jemanden hier, der uns etwas darüber erzählen kann. Frau Edelhagen …« Ein warnender Blick aus Nicolines Richtung ließ sie innehalten.

»Was denn, mein Kind?« Frau Edelhagen lächelte Inci zu.

»Ich, äh, wollte bloß …«

»Inci wollte bloß wissen, ob wir heute nach Apt fahren.«

»Was ist das, Apt?«, flüsterte Inci Alexa zu.

Alexa zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich dachte immer, du wärst das Lexikon von uns beiden.«

Nicolines Mutter schien zu überlegen. »Warum eigentlich nicht? Heute ist Markttag. Da ist in dem Ort ordentlich was los.«

»Apt ist ein Ort«, wisperte Inci in Alexas Richtung.

»Danke, Diderot«, flüsterte Alexa zurück. »Das hab ich jetzt auch gehört. Ich bin vielleicht unwissend, aber nicht taub.«

Nicolines Mutter erhob sich. »Ich schau mal nach eurem Kaffee. Wenn ich recht verstanden habe, braucht ihr das Gift.«

»Welches Gift?«, fragte Vivi bestürzt.

»Na, das, was in eurem Muntermacher steckt. Kaffee enthält zwölf verschiedene Nervengifte. Ich dachte, das wüsstet ihr.« Sie ging die Freitreppe hinauf und verschwand im Schloss.

»Seitdem sie Qigong und Yoga macht, ist sie ein bisschen fixiert auf Gifte in Nahrungsmitteln«, bemerkte Nicoline schulterzuckend.

Die große Eingangstür öffnete sich erneut, und Gökhan kam auf sie zugewankt. Sein Haar war verstrubbelt, und seine Augen sahen aus, als hätte er Mühe, sie offen zu halten.

»Macht dein Bruder eigentlich auch was anderes als schlafen?«, fragte Alexa an Inci gewandt.

»Ich nehme an, er lag die halbe Nacht wach, weil er nach seinem Nickerchen im Auto nicht mehr müde war«, erklärte Inci.

»Hey«, rief Gökhan. »Ihr seid doch Mädchen, oder?« Vivi zuckte gespielt übertrieben zusammen. »Scheiße, Lieutenant, man hat uns enttarnt.«

Gökhan rieb sich die Augen. »Könnt ihr mir dann vielleicht mal erklären, wie man ein Ei brät? Ich hab irgendwie Hunger.«

»Jungen«, murmelte Vivi. »Müssen immer eine Extrawurst bekommen.«

»Ich will keine Wurst. Ich will ein Ei.« Gökhan bemühte sich um eine deutliche Aussprache. »Und ich habe mit keinem Wort verlangt, dass mir eine von euch das brät, oder?«

»Gökhan, wir haben hier reichlich zu essen!«, erklärte Inci und deutete auf den Tisch. »Sieh doch mal, Brot und Reiswaffeln, Käse, Marmelade, Wurst …«

»KEINE WURST. EIN EI.« Gökhans Stimme überschlug sich fast.

»Ist ja gut, Mann, ich hab’s begriffen.« Inci rollte mit den Augen. »Bin nicht verblödet, bloß taub.«

»Ey, das war meiner!« Alexa konnte es nicht leiden, wenn man ihre Sprüche klaute.

»Wenn du willst, dass er von keinem anderen benutzt wird, melde doch ein Patent drauf an!«, zischte Inci.

»Kinder, ihr müsst diese negativen Energien in euch neutralisieren.« Nicolines Mutter trat mit einem Tablett vor die Tür. »Oh, guten Morgen, Gökhan! Möchtest du auch einen Kaffee?«

»Ich – will – ein – Ei!«, brachte Gökhan zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

Frau Edelhagen überlegte kurz. »Dir täte ein bisschen Tai-Chi gut. Wenn du willst, zeige ich dir nachher ein paar Übungen. Dann kannst du freier atmen.«

Gökhan ballte die Fäuste und kehrte nach drinnen zurück.

Frau Edelhagen reichte jedem Mädchen seinen Kaffee. »Nach dem Frühstück fahren wir nach Apt, ja? Das ist ein hübscher Ort. Aber ich muss euch warnen. Apt liegt in einer Talsohle des Lubéron-Gebirges.«

»Lustig, dieser Unterschied zwischen den Familien«, bemerkte Vivi, während sie ihren Kaffee schlürfte. »Meine Eltern haben immer viel mehr Angst um mich, wenn ich auf einem Berg stehe. Wahrscheinlich, dass ich runterfalle.«

»Ich habe keine Angst um euch«, bemerkte Frau Edelhagen. »Ich wollte euch nur vor den Schwingungen warnen. In Talsohlen stauen sich oft fürchterliche Energien. Deshalb liebe ich ja dieses Schloss auch so.« Sie machte eine Geste über die Abhänge zu ihren Füßen. »Weil es in einem Dorf liegt, das sich hoch über allem erhebt. Nicht wahr, euch gefällt das auch, Kinder, oder?«

In diesem Moment steckte Gökhan den Kopf zum Fenster hinaus. »Nur dass ihr es wisst: Ich hab es auch ohne eure Hilfe herausgefunden! Man schlägt es in die Pfanne und wartet, bis es braun ist!!!«