Die Geschichte, könnte man meinen, hat Karl Marx widerlegt. Kaum jemand träumt noch von der Revolution, und doch ist in jüngster Zeit ein Unbehagen gewachsen: Wir wollen wissen, wie jene Kraft entsteht, die unsere Welt immer tiefer spaltet. Thomas Steinfeld hat Karl Marx noch einmal gelesen und einen Intellektuellen gefunden, der selbst dort, wo er offensichtlich irrt, klüger ist als viele seiner Kritiker. Eine Weltanschauung wird man bei ihm nicht mehr suchen, dafür findet man bestechende Analysen zur Gewalt, die das Geld auf den Menschen ausübt, zur Macht, die in Waren verborgen ist, oder zur Krise als einem Normalfall unserer Wirtschaftsform. Befreit von einer weltgeschichtlichen Mission, öffnet sein Werk die Augen für jene Effekte des Kapitalismus, die unser Leben bestimmen, mehr denn je. Thomas Steinfeld zeigt, dass Karl Marx auch heute lesen muss, wer die Gegenwart verstehen will.

 

Hanser E-Book

Thomas Steinfeld

 

HERR DER GESPENSTER

 

Die Gedanken des Karl Marx

 

 

Carl Hanser Verlag

INHALT

Vorwort

Ein Bild des Philosophen

Eine Aufforderung zum Denken

Eine Frage des Rechthabens

 

Der Ruhm

Der Theoretiker und der Revolutionär

Die Ökonomie und der Rest der Welt

Die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters

Die Aufhebung der Politik

Das billige Brot

 

Das Manifest

Die Brüder des Trostes

Das Gespenst des Kommunismus

Die Kunst der Masse

Ein Dokument des Umbruchs

Der Entwurf einer Weltgeschichte

Die Botschaft der Geschichte

Mängel und Schwächen

 

Die Verschwörung

Die Notwendigkeit der Geschichte

Die Guten dieser Erde

Das Ende von allem

 

Das Geld

Das Maß der Dinge

Die Zauberkraft des Geldes

Das Universum des Tausches

Die Gewalt der Verfügung

Die Macht des Unbekannten

 

Das Mehr

Forschungen eines Hundes

Gewinner und Verlierer

Arbeitszeit und Bezahlung

Sinnliches und Übersinnliches

Hoffnung und Weltuntergang

 

Das Kapital

Der Held der Geschichte

Glaube und Krise

Die Gesellschaft der Spekulanten

Kapital und Zukunft

Die Bändigung des Zufalls

Das Gold und die Deckung

Das Reale und das Fiktive

 

Das Eigentum

Kommunismus ist Diebstahl

Die Welt ist Eigentum

Das Eigentum ist Person

Arbeitsmittel sind Privateigentum

Der Einzige ist sein Eigentumn

Eigentum ist Entfremdung

Das Haus bin ich

 

Die Sprache

Das Kapital und der Vampir

Die Bilder der Lehre

Metapher und Wahrnehmung

Der Effekt des Wirklichen

Die Geschichte des Zombies

 

Die Arbeit

Die Grabenden und die Schlagenden

Die Sichtbarkeit der Mühsal

Der Verein der Arbeit

Die Gegenwart der Klassen

Das Schwinden der Arbeiterklasse

Das Ende der Arbeit

 

Die Gleichheit

Ungleichheit ist eine Bedrohung

Die Macht ist die Bank

Der Tausch verlangt Gleichheit

Die Gleichheit widerspricht der Freiheit

Gleichheit ist eine junge Errungenschaft

Ungleichheit verlangt nach Empirie

Die Gleichheit sucht ihren Rhythmus

 

Die Krise

Die Möglichkeiten des Verstandes

Das Wissen der Krise

Die Fortschritte des Kapitals

Die Lehre vom Exzess

Der Fall der Profitrate

Das Neue und das Alte

Das Ende des Wachstums

 

Die Revolution

Der Umsturz und seine Richtung

Der Aufstand und sein Publikum

Das Gefühl und seine Helden

Die Revolution und ihr Rahmen

Die Revolte und ihr Preis

Der Griff zur Notbremse

 

Die Wissenschaft

Ein Leben in der Bibliothek

Die Wissenschaft im Singular

Ein Einsiedler in einem Riesennest

Die Unendlichkeit der Exzerpte

Ein Einzelner in der Wissenschaft

Ein Übermaß an Arbeit

Ein Dialektiker in der Naturgeschichte

 

Die Zeitung

Der Großteil des Werks

Die Bedeutung des Journals

Die Gunst des Augenblicks

Die Gemeinsamkeit der Bildung

Die Aufgabe der Öffentlichkeit

 

Der Fetisch

Die Seele der Ware

Der Tisch und die Grillen

Ware und Schaufenster

Der Name der Sache

Kreativität und Reklame

Entfremdung für Dinge

 

Das Scheitern

Die Tragik des Ruhms

Eine Sache ohne Ende

Welt ohne Ketten

Abschied von der Theorie

Der Protest und die Kunst

Wissen, woran man ist

 

Ein Dank

 

Anmerkungen

VORWORT

Ein Bild des Philosophen

 

Auf den meisten Porträts, die man von Karl Marx kennt, ist ein mächtiger Kopf zu sehen, eine gewaltige Stirn, ein Paar entschlossener Brauen, eine wüste Mähne. Karl Marx: Das ist ein Bart, so groß, dass man ihn raumgreifend nennen könnte, und ein beseelter, konzentrierter Blick, der über den Betrachter hinweg in eine unendliche Tiefe zielt. In Chemnitz steht ein solcher Kopf auf einem öffentlichen Platz im Zentrum, in Bronze gegossen und mehr als sieben Meter hoch, den Sockel nicht gerechnet. Die DDR ging unter, die Bürger entschieden, die Stadt solle nicht mehr Karl-Marx-Stadt, sondern wieder Chemnitz heißen. Aber das Denkmal wollten sie behalten. Namen schaffen mehr Verpflichtung als Skulpturen.

Ein Visionär mag so aussehen in den Augen seiner Anhänger, ein Dämon oder ein Religionsstifter. Denker hingegen eignen sich nicht für heroische Darstellungen. Denn sie erobern ihre Gedanken nicht, sondern bringen sie meistens in mühevoller Kleinarbeit hervor. Manchmal begegnen sie ihnen auch wie zufällig, aber auch darin liegt keine heldenhafte Tat. Oft sind Denker unsicher, ob man, was sie sagen wollen, tatsächlich so sagen kann. Und wenn sich endlich ein Ergebnis eingestellt hat, wird es, kaum dass es vorhanden ist, einer Prüfung unterzogen und dann noch einer Prüfung und noch einer. Denken bedarf der Ruhe, der Dauer, des nagenden Zweifels und der immer wieder neu ansetzenden Anstrengung. Wer vermöchte dann, mit tiefen Ringen unter den Augen und zerwühltem Schopf, von seinem Schreibtisch so aufzuschauen, als ob er die Welten jenseits des Horizonts mit seinem Blick bezwingen könnte?

Von Karl Marx ist ein Bild geblieben. Nicht das Bild eines Denkers, sondern das eines Kämpfers und Moralisten, der die Ausbeutung des Menschen in kapitalistischen Verhältnissen geißelt, für Gleichheit und Gerechtigkeit eintritt und zur Revolution auffordert. An diesem Bild ist nicht viel Wahres, und dennoch wird es weitergetragen. Diese Beständigkeit geht weniger auf Marx’ Theorien als vielmehr auf seine Radikalität zurück. Zum einen scheinen er und seine Lehren das Extrem dessen zu bilden, was man sich als Einwand gegen die herrschenden Verhältnisse vorstellen kann, unter der Voraussetzung, dass man diesen Extremismus nicht teilen muss. Zum anderen genügt es den meisten zu wissen, dass seine Werke eine wie auch immer geartete, jedenfalls entschiedene Position gegen »das Kapital« beziehen. Stellt nicht der Volksglaube, das große Geld habe sich gegen die kleinen Leute verschworen, nach wie vor die beliebteste Rechtfertigung dar, sich als angebliches Opfer der Verhältnisse in ebendiesen Verhältnissen einzurichten? Zum dritten verbindet sich mit dem Namen Karl Marx eine Erinnerung an aufrührerische Bewegungen, Revolutionen und Aufstände, an rote Fahnen, Barrikaden und Schwaden von Tränengas. Und auch wenn diese Ereignisse schon Jahrzehnte zurückliegen, so ist deren Bild doch gegenwärtig, genau wie der Chemnitzer Kopf.

Es besteht kein Grund zu der Annahme, es gäbe viele Menschen, jüngere gar, die das »Kapital« tatsächlich gelesen hätten – und seien es nur die ersten vier Kapitel. Dennoch lebt eine Vorstellung von diesem Werk fort. Im selben Maße, wie sich der Kapitalismus als einzige, unausweichliche Form der Gesellschaft darstellt, behauptet sich die Idee, in Karl Marx konzentriere sich, über die Jahrzehnte, ja schon über weit mehr als ein Jahrhundert hinweg, der Widerstand gegen die Herrschaft des Kapitals. Diese Vorstellung hat weit mehr mit dem gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft zu tun als mit einem Erbe oder gar einem Wissen, das aus dem 19. Jahrhundert übernommen worden wäre.

 

 

Eine Aufforderung zum Denken

 

Versuche, wenn schon nicht die Welt, doch wenigstens Karl Marx und dessen Werk zu retten, gibt es viele, darunter auch solche, die einer solchen Rettung wegen den Mann und seine Bücher ins Reich der Erfindungen umsiedeln wollen. »Das erste große modernistische Kunstwerk«, sagt der amerikanische Politologe Marshall Berman, sei diese Hinterlassenschaft.1 Doch wem wäre geholfen, wenn dieses Werk für die Kunst geborgen würde? Ähnliches gilt für die beliebte Idee, Karl Marx und Friedrich Engels hätten zwar das Richtige gewollt, sie seien von Leninisten, Stalinisten, Maoisten aber falsch ausgelegt oder gar verraten worden. Was sollte denn »das« Richtige sein an einem Werk, das ebenso groß wie unvollendet ist und zudem in durchaus verschiedene Richtungen weist? Manch einer unter Marx’ modernen Verteidigern geht sogar so weit, ihn zu einem Anwalt der »Mittelklasse« und ihrer »großen revolutionären Werte: Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstentfaltung« zu erklären.2 »Pfäffisches Getue« hätte man im 19. Jahrhundert den Versuch genannt, selbst die brutalsten Interessenkonflikte in Verfehlungen gegenüber einem gemeinsamen, grundsätzlich guten Anliegen umzudeuten.

Es gibt in Karl Marx’ Werk nichts, was unter allen Umständen gerettet werden müsste, und sei es durch eine Verwandlung in Kunst oder Moral. Das Werk ist auch keine Bibel, die man, weil sie in Bildern spricht, nach Belieben auslegen kann, worauf dann die Theologen einander mehr bekämpfen, als sie es je mit einem Heiden täten. Es gibt bei Karl Marx allenfalls etwas zu verstehen. Es finden sich Gedanken in diesen Büchern, die man prüfen, zurückweisen oder sich zu eigen machen kann. Und wenn die Argumente nicht zufriedenstellend ausfallen, liegt darin kein Scheitern. Denn zum Scheitern gehört ein Idealismus: der Wille, mit einer Idee auf die Welt loszugehen, damit diese sich dem Konzept füge. Dergleichen fertige Ideen finden sich gelegentlich bei Karl Marx, aber sie stehen nicht für seine Arbeit im Ganzen. Anderenfalls gäbe es bei ihm nicht so unendlich viele Revisionen der Gedanken, die er bereits gefasst und niedergeschrieben hatte. Und mit Scheitern hat Revidieren nichts zu tun: Ein mangelhaftes Ergebnis mag darauf zurückgehen, dass die Aufgaben, die man sich gestellt hatte, so außerordentlich schwierig waren, dass man sie nicht bewältigen konnte. Oder darauf, dass man auf eine falsche Spur geriet und erst spät bemerkte, dass sie in die Irre führte. Auch deswegen werden sich auf den folgenden Seiten einige Gewissheiten über die Forderungen und Visionen auflösen, die Karl Marx angeblich in die Welt trug: das Verlangen nach »Gleichheit« zum Beispiel, oder auch die Vorstellung, jenseits der Revolution würde den befreiten Menschen das Leben eines faulenzenden Großgrundbesitzers erwarten, wenn nicht gar ewige Ferien. Wie gesagt: Es gibt die entsprechenden Sätze in Karl Marx’ Schriften. Aber sie blieben nicht unwidersprochen, und das geschieht oft noch in derselben Arbeit.

Zum Vorschein kommt stattdessen die Mühe eines rastlosen Intellektuellen. Seinen Gegenständen widmet sich Karl Marx in unendlich oft neu ansetzenden, immer wieder weit ausholenden, immer wieder sich verirrenden Überlegungen. Sie gilt es ernst zu nehmen, um den Preis, dass man auch mit dem eigenen Denken noch einmal von vorn anfangen muss. In den hundertfünfzig Jahren, die seit Erscheinen des ersten Bands des »Kapitals« vergangen sind, entstanden zwar unzählige Interpretationen dieses Werks. Keine aber fand allgemeine Anerkennung. Eher als ein Denkmal, das von den Nachfolgenden zu bewundern wäre, oder als ein System, in dem jedem Ereignis ein fester Platz zugewiesen ist, erscheint Karl Marx’ Werk als ein Feld fortlaufender, zuweilen disparater Bewegungen. 

In diesem Buch wird es darum gehen, einige der Bewegungen nachzuvollziehen, aus einer persönlichen Perspektive, so knapp wie möglich und stets mit einem Blick auf die Gegenwart – einem Blick, der nicht nur um den Abstand weiß, der zwischen Marx und der Gegenwart liegt, sondern auch, dass er ein gegenwärtiges Interesse in die Vergangenheit trägt. Ein Studium der Schriften von Karl Marx kann dadurch in keiner Weise ersetzt werden, und gegen das Übermaß an Sekundärliteratur hilft vermutlich ohnehin nur der Versuch, zu den originalen Schriften zurückzugehen und selbst zu denken. Dieses Buch soll deswegen von der Art sein, die man im Englischen »a book of ideas« nennt. Die »ideas« kommen dabei oft aus der Literatur und aus der Kulturgeschichte, was nicht nur am Verfasser dieses Buches, sondern auch an Karl Marx liegt, der in jedem seiner Werke die historische und literarische Bildung eines liberalen Bürgers seiner Zeit mobilisiert. Zudem findet sich in der sogenannten schönen Literatur häufig ein zumindest diffuses Bewusstsein davon, was für eine gespenstische Angelegenheit eine entfaltete Warenwirtschaft eigentlich ist.

Karl Marx schrieb das »Kapital«, sein wichtigstes Werk, in der Form einer philosophischen Ableitung, ausgehend von der Monade der kapitalistischen Produktionsweise, der Ware, und dann allmählich zur gesellschaftlichen Form aufsteigend, zum »Kapital im Allgemeinen«, bis zu dem Punkt, an dem sich das »Wertgesetz der Konkurrenz« durchsetzt. Jenseits dieser Theorie beginnt die »wirkliche Bewegung der Konkurrenz« und damit das Reich des Zufälligen und Willkürlichen, der individuellen Interessen und Kollisionen.3 Ein großer Teil der Literatur zu Marx ist ebenfalls in Gestalt von Ableitungen geschrieben, sei es in unterstützender und kommentierender Weise, sei es kritisch, etwa um der Arbeitswertlehre oder dem Eigentumsbegriff endlich und endgültig einen jeweils grundlegenden logischen Mangel nachzuweisen. Das vorliegende Buch ist keine Ableitung, sondern besteht aus einer Folge von Essays, die um die Gegenstände der Marx’schen Theorie kreisen. Für die Wahl dieser Form gibt es eine Reihe von Gründen, von denen Lesbarkeit nur einer ist. Dass der Essay Unsicherheiten und Unvollständiges erlaubt, ist ein anderer: Manche Passagen des »Kapitals« sind nicht nur gedanklich schwierig, sondern mehrdeutig und dem Verständnis etwa durch den extensiven Gebrauch von Metaphern geradezu verstellt. An solchen Stellen muss man sich entscheiden. Oft geht das nicht ohne Zweifel.

Die essayistische Form erlaubt, einen Mangel oder gar einen Irrtum in Marx’ Lehre hinzunehmen, ohne dass deswegen deren Bedeutung geschmälert würde. Das gilt zumal im Hinblick darauf, dass seine Gedanken selbst Phänomene erhellen, die erst hundert Jahre nach seinem Tod scharf hervortraten, in Bezug auf den Fetischcharakter der Ware etwa. Und auch dem Verhängnis der Biographie entkommt man in Gestalt des Essays, der in Lebensgeschichten unvermeidlichen Gefahr, ihn und seine Lehre zu historisieren und damit die Frage nach der Wahrheit außer Kraft zu setzen. Es gibt etwas Drittes zwischen Ableitung und Biographie. Wenn es gelänge, einen Essay zu schreiben, der diesem Dritten gerecht würde, wäre tatsächlich etwas geschafft: die Vorstellung von einem Geist entstehen lassen, der zu seiner Zeit etwas schuf, das weit über diese Zeit hinausweist und für das es in der Gegenwart keine Entsprechung gibt – eine substantielle Kritik der ökonomischen Form, in der sich die Gesellschaft bewegt. Der Denker ist keine heroische Figur, der Essay ist kein heroisches Genre, so soll beides zusammenfinden.

 

 

Eine Frage des Rechthabens

 

In den meisten Schriften von Karl Marx wird man einen Gedanken finden, der es lohnt, darüber innezuhalten, ihn nachzuvollziehen und zu reflektieren. Das gilt auch für die kleinen, journalistischen Arbeiten und für viele der Briefe. Vor allem aber stößt man in diesen Schriften auf Analysen im Großen, deren Ergebnisse ihre erklärende Kraft nicht einbüßen, auch wenn seit ihrer Formulierung hundertfünfzig Jahre vergangen sind: zum Beispiel, dass die Arbeitskraft in einer unternehmerischen Kalkulation in Gestalt von Kosten neben anderen erscheint (und solche sind möglichst gering zu halten). Oder dass der Zweck, weshalb im Kapitalismus gearbeitet wird, nicht die Versorgung der Menschen mit nützlichen und guten Dingen ist, sondern die Vermehrung des Kapitals. Oder dass der technische Fortschritt kaum stattfindet, um die Menschheit mit Wohlstand und Bequemlichkeit zu beglücken, sondern um zu rationalisieren, vor allem beim Einsatz menschlicher Arbeitskraft – und also wiederum die Kosten zu verringern und dadurch die Rendite zu steigern. Oder dass mit der Herstellung von Waren im Überfluss zugleich Armut geschaffen wird. Das alles gehört zu einer ökonomischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit, die nicht vergangen ist und offenbar auch nicht vergeht.

Die häufig gestellte Frage, ob Karl Marx denn nun »doch recht hatte«, ist deswegen in den meisten Fällen nicht sonderlich erleuchtet, geschweige denn, dass sie zu brauchbaren Resultaten führte. Denn es wäre doch viel wichtiger zu wissen, ob man mit diesem oder jenem Gedanken etwas anfangen kann, ob und warum man ihn falsch oder richtig findet – wichtiger jedenfalls, als gleichsam offiziell anerkannt zu bekommen, dass man sich guten Gewissens zu Karl Marx bekennen dürfe. Zwei Motive scheinen sich in dieser Frage zu verbergen: Zum einen macht sich darin ein Bedürfnis nach Orientierung und Wegweisung geltend. Beim Versuch, selber zu denken, führt die Anrufung einer Autorität jedoch nicht weit. Deswegen ist die Frage, ob Karl Marx recht hatte oder nicht, oft auch nur eine Verkleidung, ein Vorwand, hinter dem sich eine ganz andere Frage verbirgt: ob »wir« (wer immer das sein mag) richtig leben oder nicht. Nicht wissenschaftliche Werke, sondern heilige Schriften werden in dieser Art befragt.

Zum anderen verlangt die Frage, ob Marx »doch recht hatte«, in vielen Fällen gar nicht nach einer Antwort: Es gibt sie überhaupt nur, weil sie den Schein einer Radikalität verbürgt, während die Dinge ihren Lauf nehmen, den sie auch ohne diese Frage gegangen wären. Die Frage dient dann als Signal, das auf den vorgeblich aufrührerischen Geist des Fragenden verweist und darin seine Bestätigung findet. Sie ist deswegen verwandt mit einer anderen rhetorischen Figur, die sich gegenwärtig oft mit dem Namen »Karl Marx« verbindet: mit der Feststellung nämlich, er sei »aktuell« – weil er die Gesellschaft beschreibe, in der wir heute leben, weil er die Finanzkrise vorausgesehen habe, weil er beschrieben habe, dass sich der Kapitalismus – weil er alle natürlichen Ressourcen aufzehre – am Ende selber vernichten werde, oder aus ähnlichen Gründen. »Vergesst die Marxisten, lest Marx!«, hieß es neulich in einer großen deutschen Wochenzeitung. »Denn der ist modern. Studenten der Wirtschaft und der Politik debattieren über ihn, eingefleischte Liberale bewundern seine Prognose-Fähigkeiten. Das liegt an den Problemen der Gegenwart, die 150 Jahre nach Erscheinen seines Buchs ›Das Kapital‹ genau seine Themen sind. Es ging ihm um die Ungleichheit, die der Kapitalismus erzeugen kann, um die Ausbeutung ganz unten in der Gesellschaft und die Exzesse ganz oben.«4 Vernünftig beantworten ließe sich die Frage, ob Karl Marx nun recht habe oder nicht, nur in einer Weise, und diese ist mit Arbeit verbunden: in einer Auseinandersetzung mit dem Werk, und zwar nicht im Hinblick auf ein allgemeines »Rechthaben«, sondern in der Prüfung einzelner Behauptungen und Argumente. Dann würden sich auch Vereinnahmungen wie die, es sei ihm um die »Ungleichheit« gegangen, die der Kapitalismus »erzeugen könne«, schnell erledigen.

Warum überhaupt sollte es für das Denken eines toten Philosophen sprechen, wenn sich die Gegenwart darin vereinnahmend wiedererkennen kann? Verbirgt sich in dieser Vorstellung nicht eine Überschätzung der Gegenwart, auf Kosten einer Vergangenheit, die sich offenbar glücklich schätzen soll, wenn sie heute überhaupt noch vorkommt? Es wäre ja immerhin möglich, dass der technische und wissenschaftliche Fortschritt der vergangenen hundertfünfzig Jahre kein Äquivalent im Denken besitzt oder dass sich der Fortschritt nur in einigen Bereichen einstellte und in anderen nicht, so dass man sich die Geistesgeschichte nicht zwangsläufig als eine Entwicklung zu immer höherem Erkenntnisgewinn und immer klarerem Durchblick vorzustellen hat – der französische Philosoph Jacques Derrida hat im Jahr 1993, in einer Schrift mit dem Titel »Marx’ Gespenster«, versucht, einer solchen Teleologie zu widersprechen und damit einem geschichtslosen Kapitalismus, der sich als endgültige neue Weltordnung versteht.5 Marx’ Gespenster dienen ihm bei diesem Versuch als Statthalter einer lebendigen Vergangenheit.

Es mag sogar sein, dass in früheren Epochen Gedanken gefasst wurden, hinter die das Denken unserer Gegenwart zurückfällt. Das gilt umso mehr, als man nicht den Eindruck gewinnen kann, dass jüngere Vorbehalte gegen den entfesselten Kapitalismus – in Gestalt von Reflexionen über Gerechtigkeit vor allem, bei John Rawls, Jürgen Habermas oder Axel Honneth etwa – dem Lauf der Dinge tatsächlich etwas entgegenzusetzen hätten. Die alten Gedanken zu suchen und neu zu entwickeln: das wäre etwas anderes, Sinnvolleres, als einem toten Philosophen eine Aktualität zu attestieren, die ihn zum Lieferanten von »Denkanstößen« für eine vermeintlich überlegene Gegenwart degradiert.

Eine Idee schließlich findet sich in Karl Marx’ Analysen des Ökonomischen, die allen Gedanken an das Geld und den Mehrwert, an das Kapital und die Ausbeutung innewohnt und sie zugleich übersteigt: die Idee nämlich, dass in der Mitte dieser Ökonomie etwas ganz und gar Metaphysisches herrsche. Der Tauschwert, der Preis, das Eigentum, die Ware, die Marke, all diese Elemente des Ökonomischen sind geronnene, allgegenwärtige Abstraktionen – wobei man sie nicht als Abstraktionen wahrnimmt, weil sie sich im Denken aller Menschen festgesetzt haben. Sie sind Gespenster, die ins sinnliche Dasein getreten sind. »Ich schlage nur die Zeitungen auf, und ich sehe die Gespenster zwischen den Zeilen. Unser Land ist voller Gespenster. Gespenster überall wie Sand am Meer«, heißt es in Henrik Ibsens Drama »Gespenster« aus dem Jahr 1881.6 Ibsens Gespenster sind mit Marx’ Gespenstern vermutlich nur weitläufig verwandt. Sinnlich-übersinnliche Wesen, in denen ein Weltzustand Gestalt annimmt, sind sie indessen in beiden Varianten. Tageslicht kann diese Gespenster nicht verscheuchen. Aber dem Licht der Aufklärung, im weitesten Wortsinn, sollte man sie aussetzen.