Über das Buch

Es ist die Geschichte einer Liebe: Maggie Nelson verliebt sich in Harry Dodge, einen Künstler – oder eine Künstlerin? – mit fluider Genderidentität. Harry hat bereits ein Kind, Maggie wird schwanger, zu viert bauen sie ein gemeinsames Leben. Die Argonauten ist eine ergreifende Geschichte queeren Familienlebens, zugleich erfindet Maggie Nelson eine ganz eigene, leuchtend klare Form der philosophischen Erkundung. Memoir, Theorie, Poesie: Es ist ein Buch, das sich nicht einordnen lässt und das unsere Einordnungen herausfordert mit seinem radikal offenen Denken. Dem Festhalten an fixen Kategorien setzt es den Gedanken des permanenten Werdens entgegen: das Lebens als freie – und befreiende – Improvisation.

Maggie Nelson

Die Argonauten

Aus dem Englischen von Jan Wilm

Hanser Berlin

Für Harry

Oktober 2007. Die Santa-Ana-Winde reißen die Rinde der Eukalyptusbäume in langen, weißen Streifen von den Stämmen. Eine Freundin und ich wagen es, draußen unter den durchstürmten Kronen zu Mittag zu essen, und sie schlägt mir vor, ich solle mir die Worte HARD TO GET auf meine Knöchel tätowieren lassen, als Erinnerung an die möglichen Früchte dieser Haltung. Stattdessen purzeln mir die Worte Ich liebe dich wie eine Zauberformel aus dem Mund, als du mich das erste Mal in den Arsch fickst. Mein Gesicht wird dabei gegen den Zementboden deiner feuchten und entzückenden Junggesellenwohnung gedrückt. Du hattest Molloy neben dem Bett liegen und einen Haufen Dildos in einer schattigen, unbenutzten Duschkabine. Geht es noch besser? Worauf stehst du?, fragtest du mich. Und bliebst, um auf meine Antwort zu warten.

Bevor wir uns kennenlernten, war ich mein Leben lang Wittgensteins Gedanken verpflichtet, das Unaussprechliche sei – unaussprechlich! – im Ausgesprochenen enthalten. Er kriegt weniger Sendezeit als das ehrfurchtsvollere wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen, doch es ist, finde ich, der bedeutendere Gedanke. Das ihm innewohnende Paradox ist auf ganz wörtliche Weise der Grund, warum ich schreibe, warum ich das Gefühl habe, ich kann weiterschreiben.

Warum? Weil er nicht die Angst belebt oder schürt, die man verspüren mag angesichts der Unmöglichkeit, etwas in Worte zu fassen, was sich den Worten entzieht. Er bestraft, was gesagt werden kann, nicht für das, was es der Definition nach nicht sein kann. Und er verherrlicht die Grenzen des Ausdrucksvermögens nicht durch einen gespielt zugeschnürten Hals: Was ich nicht alles sagen würde, wenn die Worte doch bloß gut genug wären. Worte sind gut genug.

Es ist müßig, ein Netz seiner Löcher wegen zu verurteilen, meint meine Enzyklopädie.

Deshalb kann man beides haben: eine leere Kirche mit festgestampftem, gefegtem Boden und eine Kathedrale, unter deren Dachgiebeln das Licht auf spektakuläre Weise durch die Buntglasfenster funkelt. Denn nichts, was man sagt, kann Gott diesen Ort ruinieren.

Ich habe das zuvor schon erklärt. Aber hier versuche ich, etwas anderes zu sagen.

Bald wurde mir klar, dass du dein Leben lang mit ähnlicher Unbedingtheit dem Gedanken verpflichtet warst, dass Worte nicht gut genug sind. Nicht nur nicht gut genug, sondern schädlich für alles, was gut ist, was real ist, was im Fluss ist. Wir diskutierten und diskutierten mit Leidenschaft, ohne Gehässigkeit. Sobald wir etwas benennen, sagtest du, können wir es nie wieder auf dieselbe Weise betrachten. Alles, was unbenennbar ist, fällt weg, geht verloren, wird abgetötet. Du nanntest das die Ausstechform-Funktion unseres Geistes. Deine Überzeugung, sagtest du, komme nicht daher, dass du die Sprache gemieden hättest, sondern gerade daher, dass du in sie eingetaucht seist, auf der Leinwand, in Gesprächen, auf der Bühne, auf dem Papier. Ich argumentierte wie Thomas Jefferson über die Kirchen: für Überfülle, für kaleidoskopischen Wandel, für Exzess. Ich bestand darauf, dass Worte mehr tun, als bloß zu benennen. Ich las dir den Anfang der Philosophischen Untersuchungen vor. Platten, rief ich, Platten!

Eine Zeitlang glaubte ich, ich hätte gewonnen. Du gestandst mir zu, ja, vielleicht gibt es den guten Menschen, das gute menschliche Tier, auch wenn dieses menschliche Tier Sprache benutzt, selbst wenn das Benutzen von Sprache irgendwie sein Menschsein definiert – auch wenn Menschsein an sich bedeutet, den gesamten knallbunten, kostbaren Planeten niederzutreten und niederzubrennen und mit ihm seine – unsere – Zukunft.

Aber ich bemerkte auch eine Veränderung an mir. Ich schaute von neuem auf unbenennbare Dinge oder jedenfalls auf Dinge, deren Wesen das Flackern ist, das Fließen. Ich ließ wieder die Traurigkeit über unsere unvermeidliche Auslöschung in meine Gedanken und die Ungerechtigkeit unseres Auslöschens anderer. Ich hielt inne und wiederholte selbstgefällig: Alles, was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden, und fragte mich noch einmal: Kann alles gedacht werden?

Und du – was immer du sagtest, du hast mir nie einen zugeschnürten Hals vorgespielt. Im Gegenteil, du warst mir um Längen voraus, und Worte strömten in deinem Kielwasser. Wie könnte ich jemals aufholen (womit ich meine, wie könntest du mich jemals wollen?).

Ein oder zwei Tage nach meiner Liebeserklärung – ich war jetzt wild vor Verletzlichkeit – schickte ich dir die Passage aus Roland Barthes’ Über mich selbst, in der Barthes schreibt, das Subjekt, das die Worte ich liebe dich ausspreche, sei vergleichbar mit »dem Argonauten, der sein Schiff während der Reise erneuert, ohne [dessen] Namen zu ändern«. So wie die Einzelteile der Argo im Laufe der Reise ausgetauscht werden können, obwohl das Schiff weiterhin Argo heißt, so muss auch der oder die Liebende mit jeder Verwendung der Worte ich liebe dich deren Bedeutung erneuern, weil »die Arbeit der Liebe und der Sprache eben darin besteht, dem gleichen Satz immer neue Inflexionen zu geben«.

Ich hatte geglaubt, die Passage sei romantisch. Du hast sie als einen möglichen Widerruf gedeutet. Rückblickend glaube ich, sie war beides.

Du hast meine Einsamkeit durchbrochen, sagte ich dir. Sie war eine nützliche Einsamkeit gewesen, errichtet um eine neue Nüchternheit: lange Spaziergänge zum YMCA und zurück durch die schmutzigen, mit Bougainvilleenblüten bestreuten Seitenstraßen von Hollywood, abendliche Fahrten den Mullholland Drive rauf und runter, um die langen Nächte totzuschlagen und – natürlich – lange Perioden des Schreibens. Lernen, im Schreiben niemanden anzusprechen. Aber es war Zeit, die Einsamkeit zu durchbrechen. Ich habe das Gefühl, dass ich mich dir hingeben kann, ohne mich wegzugeben, flüsterte ich in deinem Bett im Keller. Wenn man das Einsamsein richtig anstellt, ist das die Belohnung.

Einige Monate später verbrachten wir Weihnachten zu zweit in einem Hotel in Downtown San Francisco. Ich hatte das Zimmer online gebucht in der Hoffnung, wenn ich das Zimmer buchen würde und wir Zeit in dem Zimmer verbringen würden, würdest du mich für immer lieben. Es stellte sich heraus, dass das Hotel so günstig zu buchen war, weil es gerade einer erstaunlich groben Renovierung unterzogen wurde und weil es sich genau in der Mitte des crackverseuchten Tenderloin-Viertels befand. Es machte nichts – wir hatten Wichtigeres zu tun. Die Sonne schimmerte durch die schäbigen Jalousien, die kaum die draußen hämmernden Bauarbeiter verdeckten, während wir uns dem Wichtigeren widmeten. Als du deinen Ledergürtel auszogst, sagte ich mit einem Lächeln: Bring mich bloß nicht um.

Nach dem Barthes-Zitat versuchte ich es noch einmal, jetzt mit einem Gedichtfragment von Michael Ondaatje:

Küsse auf den Bauch,

Küsse auf dein vernarbtes

Hautboot. Geschichte ist,

worauf du gereist bist

und was du bei dir trägst

Jeder von uns wurde

auf den Bauch geküßt

von – für den anderen – Fremden

und zumindest ich

gebe jedem meinen Segen

der dich da geküßt hat

Ich schickte dir das Fragment nicht, weil ich die darin enthaltene Gelassenheit in irgendeiner Weise erreicht hatte. Sondern mit der Hoffnung, dass ich sie eines Tages erreichen würde, dass meine Eifersucht verschwinden würde und ich in der Lage wäre, die Namen und Bilder von Fremden, die in deine Haut gestochen waren, ohne Zerrissenheit oder Abscheu betrachten zu können. (Ganz zu Beginn machten wir einen romantischen Ausflug zu Dr. Tatoff auf dem Wilshire Boulevard, erfüllt von schwindeliger Vorfreude darauf, unsere beschriebenen Tafeln sauberzuwischen. Als wir gingen, waren wir niedergeschlagen: Der Preis war zu hoch, als dass wir uns je vollkommen die Tinte aus der Haut saugen lassen könnten.)

Nach dem Mittagessen begleite ich die Freundin, die vorschlug, mir die Tätowierung HARD TO GET stechen zu lassen, in ihr Büro, wo sie mir anbietet, dich für mich zu googeln. Sie will herausfinden, ob das Internet ein bevorzugtes Pronomen für dich bereithält, denn obwohl – oder weil – wir jede freie Minute miteinander im Bett verbringen und schon darüber reden zusammenzuziehen, kann ich mich nicht überwinden, dich selbst danach zu fragen. Stattdessen habe ich die Vermeidung von Pronomen perfektioniert. Der Schlüssel liegt darin, sein Ohr daran zu gewöhnen, dass es den Namen eines Menschen wieder und wieder hört. Man muss lernen, sich in grammatikalischen Sackgassen zu verstecken, sich fallenzulassen in eine Orgie aus Präzision. Man muss lernen, etwas auszuhalten, was über die Vorstellung von zweien hinausgeht, und das gerade dann, wenn du versuchst, eine Partnerschaft darzustellen – sogar eine Vermählung. Vermählung ist das Gegenteil einer Paarbeziehung. Binäre Maschinen wie Frage – Antwort, Männlich – Weiblich, Mensch – Tier etc. haben hier ihren Sinn verloren. Das könnte eine Unterhaltung sein: Prozeß und Verwirklichung eines Werdens.

Ganz egal wie erfahren man in einer solchen Unterhaltung wird, ist es mir bis heute fast nicht möglich, einen Flug zu buchen oder mit meiner Personalabteilung unsere Angelegenheiten zu klären, ohne Momente von Scham oder Verwirrung zu erleben. Es ist nicht direkt meine Scham oder meine Verwirrung – es ist eher, dass ich mich für die Person schäme (oder mich über sie ärgere), die andauernd falsche Annahmen macht und verbessert werden muss, aber nicht verbessert werden kann, weil die Worte nicht gut genug sind.

Wie können die Worte nicht gut genug sein?

Liebeskrank liege ich auf dem Boden des Büros meiner Freundin und schiele zu ihr hoch, wie sie sich durch die Fluten greller Informationen scrollt, die ich nicht sehen will. Ich will das Du, das sonst niemand sehen kann, das Du, das so nah ist, dass die dritte Person niemals nötig ist. »Guck mal, hier ist ein Zitat von John Waters, der sagt: ›Sie sieht sehr gut aus.‹ Also solltest du vielleicht ›sie‹ sagen. Immerhin: John WatersDas ist Jahre her, sage ich mit Augenrollen vom Boden aus. Die Dinge haben sich vielleicht geändert.

Als du mit Silas Howard deinen Butch-Buddy-Film By Hook or By Crook geschrieben hast, habt ihr beschlossen, dass die Butch-Figuren, wenn sie unter sich waren und übereinander redeten, »er« und »ihn« sagen würden, die Menschen in der Außenwelt von Lebensmittelläden und Autoritätsfiguren dagegen »sie« und »ihr«. Es ging darum zu zeigen, dass nicht automatisch alles gut wäre, wenn die Menschen der Außenwelt nur Bescheid wüssten über die bevorzugten Pronomen der Figuren. Denn ein »er« der Außenwelt wäre ein anderes »er«. Wörter ändern ihre Bedeutung, je nachdem, wer spricht; dagegen gibt es kein Heilmittel. Die Antwort ist nicht einfach, andere Worte zu erfinden (Boi, Cisgender, Andro-Fag) und sich dann vorzunehmen, ihre Bedeutung zu konkretisieren (selbst wenn Pragmatismus und Ermächtigung dafür sprechen). Man muss sich auch bewusst werden über die Vielzahl der möglichen Verwendungen, der möglichen Kontexte, über die Flügel, mit denen jedes Wort sich aufschwingen kann. Wenn du flüsterst: Du bist nur ein Loch, du lässt mich dich füllen. Wenn ich sage: Ehemann.

Kurz nachdem wir zusammenkamen, gingen wir zu einem Abendessen, bei dem eine (wahrscheinlich heterosexuelle oder zumindest heterosexuell verheiratete) Frau, die Harry schon länger kannte, sich mir zuwandte und sagte: »Und, hattest du schon andere Frauen vor Harry?« Ich war sprachlos. Unbeirrt fuhr sie fort: »Heterofrauen standen schon immer auf Harry.« War Harry eine Frau? War ich eine Heterofrau? Was hatten vergangene Beziehungen, die ich mit »anderen Frauen« hatte, mit dieser Beziehung zu tun? Warum musste ich darüber nachdenken, dass »Heterofrauen« auf meinen Harry standen? War seine sexuelle Kraft – von der ich wusste, dass sie enorm war – eine Art Bann, unter dem ich stand und der mich verloren zurückließe, während er weitersegeln würde, um andere zu verführen? Warum sprach diese Frau, die ich kaum kannte, auf diese Weise mit mir? Wann würde Harry endlich von der Toilette zurückkommen?

Es gibt Leute, die sich daran stören, dass Djuna Barnes, anstatt sich als lesbisch zu identifizieren, es immer vorzog zu sagen, dass sie »einfach Thelma liebte«. Gertrude Stein sagte anscheinend ähnliche Dinge, wenn auch nicht mit genau diesen Worten, über Alice. Ich verstehe schon, warum das politisch unerträglich ist, aber ich fand es immer auch romantisch, weil die individuelle Erfahrung des Begehrens Vorrang hat vor der kategorischen. Die Geschichte erinnert an den Kunsthistoriker T. J. Clark und seine Rechtfertigung im Dialog mit imaginären Gesprächspartnern, warum er sich für Nicolas Poussin, den Maler des 18. Jahrhunderts, interessierte: »Das Interesse an Poussin nostalgisch oder elitär zu nennen ist in etwa so, als würde man das Interesse an dem geliebten Menschen ›hetero- (oder homo-)sexistisch‹ oder ›exklusiv‹ oder ›besitzergreifend‹ nennen. Sicher, das mag stimmen. So in etwa sind die Parameter, und das ist bedauerlich; aber dieses Interesse kann trotzdem vollständiger und menschlicher sein – kann mehr von menschlicher Möglichkeit und menschlichem Mitgefühl enthalten – als ein Interesse, das nicht von solchen Affekten oder Zwängen kontaminiert ist.« Hier wie auch sonst: Kontamination disqualifiziert nicht, es vertieft.

Außerdem weiß jeder, dass Barnes und Stein auch Beziehungen zu anderen Frauen als Thelma und Alice hatten. Auch Alice wusste das: Scheinbar war sie so eifersüchtig, als sie erfuhr, Steins früher Roman Q. E. D. erzähle die kodierte Geschichte eines Dreiecksverhältnisses zwischen Stein und einer gewissen May Bookstaver, dass sie – die auch Steins Herausgeberin und Sekretärin war – alle möglichen wieseligen Mittel und Wege fand, die Wörter May und may komplett zu vermeiden, als sie Steins Stanzas in Meditation abtippte – ein Werk, das auf diese Weise zu einer unwissentlichen Zusammenarbeit wurde.

Als der Februar kam, fuhr ich in der Stadt herum auf der Suche nach einer Wohnung, die groß genug wäre für uns und deinen Sohn, den ich noch nicht kennengelernt hatte. Schließlich fanden wir ein Haus auf einem Hügel mit glänzenden, dunklen Holzböden und Blick auf einen Berg und einer zu hohen Miete. Am Tag an dem wir die Schlüssel bekamen, schliefen wir in einem Anfall von Übermut miteinander auf einer dünnen Decke, die wir auf dem Holzboden des Zimmers ausgebreitet hatten, das unser erstes Schlafzimmer werden würde.

Dieser Ausblick. Es war vielleicht nur ein Hügel aus struppigem Gebüsch mit einem brackigen Tümpel in Gipfelnähe, aber für zwei Jahre war das unser Berg.

Und dann, einfach so, legte ich die Wäsche deines Sohnes zusammen. Er war grade drei geworden. Diese winzigen Söckchen! Diese winzige Unterwäsche! Ich bestaunte sie, machte ihm jeden Morgen lauwarme Schokolade mit einem Fingerbreit Kakaopulver, spielte mit ihm stundenlang Gefallener Soldat. Er fiel mit seiner gesamten Ausrüstung zu Boden: dem paillettenbesetzten Maschenpanzer-Helm, dem Schwert, dem Schild, ein Bein oder Arm war im Gefecht verletzt worden und in einen Schal gebunden. Ich war die gute Blaue Hexe, die Heilstaub über ihn streuen musste, um ihn ins Leben zurückzuzaubern. Ich hatte eine Zwillingsschwester, die böse war; die böse Zwillingsschwester hatte ihn niedergestreckt mit ihrem blauen Pulver. Aber jetzt war ich da, um ihn zu heilen. Er lag reglos auf dem Boden, die Augen geschlossen, auf seinen Lippen die Spur eines Lächelns, während ich meinen Monolog rezitierte: Aber wo könnte dieser Soldat hergekommen sein? Was trieb ihn so weit weg von zu Hause? Ist er schwer verletzt? Wird er freundlich oder feindlich sein, wenn er aufwacht? Wird er wissen, dass ich gut bin, oder wird er mich verwechseln mit meiner bösen Zwillingsschwester? Was kann ich sagen, um ihn zurück ins Leben zu zaubern?

Den ganzen Herbst über sprossen Schilder aus dem Boden, wohin man auch schaute, auf denen stand JA ZU PROPOSITION 8. Besonders prominent prangte eines der Schilder auf einem ansonsten kahlen und schönen Berg, an dem ich jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit vorbeifuhr. Das Schild zeigte vier Strichfiguren, die ihre Hände in einem Ausbruch von Freude zum Himmel streckten – Freude, nehme ich an, über die Heteronormativität, die hier dadurch angedeutet wurde, dass eine der Strichfiguren einen Dreiecksrock zur Schau trug. (Was soll dieses Dreieck überhaupt sein? Meine Fotze?) BESCHÜTZT KALIFORNIENS KINDER!, riefen die Strichfiguren.

Jedes Mal wenn ich an dem unbescholtenen Berg und dem Schild vorbeikam, musste ich an Catherine Opies Arbeit Self-Portrait/Cutting von 1993 denken, in der Opie ihren Rücken fotografiert hatte, und in die Haut ihres Rückens geritzt war die Zeichnung eines Hauses mit zwei Strichfiguren-Frauen, die Händchen hielten (zwei Dreiecksröcke!), zusammen mit einer Sonne, einer Wolke und zwei Vögeln. Sie hatte das Foto gemacht, als die Zeichnung noch blutete. »Opie, die sich kürzlich von ihrer Partnerin getrennt hatte, wünschte sich zu dieser Zeit die Gründung einer Familie, und das Bild strahlt all die schmerzhaften Widersprüche aus, die in diesem Wunsch verborgen liegen«, erklärt das Buch Art in America.

Ich verstehe das nicht, sagte ich zu Harry. Wer will denn eine Version des Proposition-8-Schilds, nur mit zwei Dreiecksröcken drauf?

Vielleicht Cathy, sagte Harry schulterzuckend.

Vor Jahren habe ich ein Buch über die Repräsentation von Häuslichkeit in der Lyrik einiger homosexueller Männer (John Ashbery, James Schuyler) und Frauen (Bernadette Mayer, Alice Notley) geschrieben. Ich lebte damals in New York City, in einer winzigen, zu heißen Dachwohnung an einer Hauptverkehrsstraße in Brooklyn, die entlang der F-Linie verlief. Ich hatte einen unbenutzbaren Herd, der gefüllt war mit versteinertem Mäusedreck, und einen Kühlschrank, der bis auf ein paar Flaschen Bier und Joghurt-Erdnuss-Honig-Riegel leer war. Als Bett diente mir ein Futon auf einer Sperrholzplatte, die schief auf ein paar Milchkästen lag, und durch den Boden hörte ich morgens, mittags und nachts Standcleartheclosingdoors. Ich verbrachte jeden Tag knapp sieben Stunden – im Bett liegend – in dieser Wohnung, wenn überhaupt. Meistens schlief ich irgendwo anders. Das meiste von dem, was ich schrieb und las, schrieb und las ich im öffentlichen Raum, genau wie das hier.

Ich war überglücklich, dass ich in New York City so lange zur Miete wohnen konnte, denn wenn man zur Miete wohnt – jedenfalls so, wie ich das tat, ohne je einen Finger zu rühren, um meine Umgebung zu verschönern –, kann man wortwörtlich alles um einen herum verkommen lassen. Und wenn es zu viel wird, zieht man einfach weiter.

Viele Feministinnen haben vom Untergang des Häuslichen als separierte, inhärent weibliche Sphäre geschrieben und von der Verteidigung des Häuslichen als eine Ethik, als Affekt, als Ästhetik und als Öffentlichkeit. Ich bin mir nicht sicher, worin diese Verteidigung genau bestehen könne, obwohl ich glaube, dass ich in meinem Buch hinter etwas Ähnlichem her gewesen bin. Aber schon damals vermutete ich, dass dies der Fall war, weil ich eben keinen Haushalt hatte, und das gefiel mir.

Mir gefiel Gefallener Soldat, weil ich dabei Zeit hatte, das Gesicht deines Sohnes in seiner stillschweigenden Ruhe zu betrachten: große, mandelbraune Augen, Haut, die gerade begann, Sommersprossen zu bekommen. Und offensichtlich empfand er eine ungeahnte, erholsame Freude dabei, einfach so dazuliegen, beschützt durch seine imaginäre Rüstung, während eine beinahe Fremde, die mehr und mehr zur Familie gehörte, seine Gliedmaßen nacheinander in die Hand nahm, sie umdrehte und nach der Wunde absuchte.

Vor kurzem kam eine Freundin zu Besuch und nahm einen Kaffeebecher vom Regal, der ein Geschenk meiner Mutter war. Es ist einer dieser Becher, die man online bei Snapfish kaufen kann, geschmückt mit einem Foto seiner Wahl. Ich war entsetzt, als ich ihn bekommen habe, aber es ist der größte Becher, den wir besitzen, deshalb haben wir ihn behalten, falls mal jemand in der Stimmung ist für einen Trog voll warmer Milch oder so.

Wow, sagte meine Freundin, als sie ihn füllte. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so etwas Heteronormatives gesehen.

Das Foto auf dem Becher zeigt meine Familie und mich zur Weihnachtszeit, allesamt herausgeputzt, um den Nussknacker anzuschauen – ein Ritual, das meine Mutter ernst nahm, als ich ein kleines Mädchen war, und das wir mit ihr zusammen wieder haben aufleben lassen, seit ich Kinder in meinem Leben habe. Auf dem Foto bin ich im siebten Monat schwanger mit dem Baby, das Iggy werden würde, ich trage einen hohen Pferdeschwanz und ein Kleid mit Leopardenmuster; Harry und sein Sohn tragen schwarze Anzüge im Partnerlook, und sie sehen klasse aus. Wir stehen im Haus meiner Mutter vor dem Kamin, von dessen Sims Weihnachtsstrümpfe mit Monogrammen herunterhängen. Wir sehen glücklich aus.

Was daran ist also der Inbegriff des Heteronormativen? Dass meine Mutter einen Becher bei einem pseudoschicken Bestelldienst wie Snapfish machen lässt? Dass wir uns ganz offensichtlich in die lange Reihe von Familien einreihen – oder bereit sind, uns einreihen zu lassen –, die sich zu den Feiertagen in Festtagsmontur ablichten lassen? Dass meine Mutter mir den Becher auch deshalb machen ließ, um mir mitzuteilen, dass sie meine Sippschaft anerkennt und als Familie akzeptiert? Wie steht es mit meiner Schwangerschaft – ist sie an sich schon heteronormativ? Oder ist der angenommene Widerspruch von Queerness und Fortpflanzung (oder, um es auszuschärfen: Mutterschaft) eher eine reaktionäre, bereitwillige Akzeptanz der Einschränkungen von Queers als das Zeichen einer ontologischen Wahrheit? Wenn Queers jetzt häufiger Kinder haben, wird der angenommene Widerspruch einfach verschwinden? Wirst du ihn vermissen?

Ist Schwangerschaft an sich schon queer, insofern sie den »normalen« Zustand eines Menschen grundlegend verändert und eine radikale Intimität mit dem eigenen Körper (wie auch eine ebenso radikale Entfremdung von ihm) zur Folge hat? Wie kann eine so fundamental fremde, wilde und transformative Erfahrung zugleich ultimative Konformität symbolisieren oder inszenieren? Oder ist das nur ein weiteres Beispiel dafür, dass alles, was eng verbunden ist mit dem weiblichen Tier, von den privilegierten Begriffen fernzuhalten ist (in diesem Fall von den Begriffen Nonkonformität und Radikalität)? Wie verhält es sich mit der Tatsache, dass Harry weder männlich noch weiblich ist? Ich bin etwas Besonderes – zwei für einen, erklärt seine Figur Valentine in By Hook or By Crook.

Wann oder wie ahmen neue Verwandtschaftssysteme ältere Arrangements der Kernfamilie nach, und wann oder wie können sie diese auf so radikale Weise rekontextualisieren, dass sie ein Umdenken über Verwandtschaft bewirken? Wie bemerkt man das, oder eher, wer ist in der Position, das zu bemerken? Sag deiner Freundin, sie soll sich jemand anderen zum Vater-Mutter-Kind-Spielen suchen, sagte deine Ex, nachdem wir zusammengezogen waren.

Sich auf das Reale, das Echte zu berufen, während andere beim Spielen sind, beim Ungefähren oder beim Imitieren, das kann sich ziemlich gut anfühlen. Aber jeder unbewegliche Anspruch auf das Reale, besonders, wenn es gebunden ist an eine Identität, rührt auch immer an die Psychose. Wenn ein Mann, der sich für einen König hält, verrückt ist, ist es ein König, der sich für einen König hält, nicht weniger.

Vielleicht ist das der Grund, warum D. W. Winnicotts Idee davon, »sich real zu fühlen«, mich so berührt. Man kann danach streben, sich real zu fühlen, man kann anderen dabei helfen, sich real zu fühlen, und man kann sich selbst real fühlen – ein Gefühl, das Winnicott beschreibt als die zusammengesetzte ursprüngliche Empfindung der »Lebendigkeit des Körpergewebes und der Körperfunktionen, inklusive des Herzschlags und der Atmung«, eine Empfindung, die spontane Gesten ermöglicht. Winnicott betrachtet sie als unabhängig von äußeren Stimuli, und für ihn stellt sie auch keine Identität dar. Sich real oder echt fühlen ist eine Empfindung – eine Empfindung, die sich entfaltet. Unter anderem bewirkt sie, dass man leben will.

Manche Menschen nehmen für sich gerne eine Identität in Anspruch. You make me feel like a natural woman – eine Vorstellung, die zuerst von Aretha Franklin bekannt gemacht wurde und später von Judith Butler, die sich auf die Instabilität dieses Vergleichs konzentrierte. Doch darin kann auch ein Schrecken liegen, ganz zu schweigen von einer Unmöglichkeit. Es ist nicht möglich, vierundzwanzig Stunden am Tag im unmittelbaren Bewusstsein seines Geschlechts zu leben. Geschlechtsbewusstsein hat dankenswerterweise eine flatterhafte Natur.

Ein Freund sagt, er denkt sich Geschlecht als eine Farbe. Beiden ist eine gewisse ontologische Unbestimmtheit zu eigen: Es ist weder ganz richtig zu sagen, ein Objekt ist eine Farbe, noch, ein Objekt hat eine Farbe. Der Kontext verändert das Objekt: Alle Katzen sind grau etc. Auch ist Farbe nicht unbedingt etwas Freiwilliges. Und dennoch bedeutet keine dieser Feststellungen, das besagte Objekt sei farblos.

Die schlechte Lesart [von Das Unbehagen der Geschlechter] geht in etwa so: Ich kann morgens aufstehen, in meinen Kleiderschrank schauen und mir aussuchen, welches Geschlecht ich heute haben will. Ich kann ein Kleidungsstück herausnehmen, ich kann mein Geschlecht verändern, es stilisieren, und am Abend kann ich es erneut wechseln und etwas radikal anderes sein, so dass alles auf eine Kommodifizierung von Geschlecht hinausläuft, auf eine Vorstellung der Annahme eines Geschlechts als Konsumentscheidung … Dabei ging es mir gerade darum, dass die Formierung von Subjekten, die Formierung von Personen, Geschlecht auf eine gewisse Weise voraussetzt – dass man ein Geschlecht nicht wählen kann, dass »Performativität« keine radikale Wahl ist und kein Voluntarismus … Performativität hat zu tun mit Wiederholung, sehr häufig mit der Wiederholung tyrannischer und schmerzhafter Geschlechternormen, um sie zur Bedeutung zu zwingen. Das hat nichts mit Freiheit zu tun, sondern es geht darum, wie man mit der Falle umgeht, in der man sich unweigerlich befindet.

Vielleicht solltest du auch einen Becher bestellen, sagt meine Freundin nachdenklich, während sie ihren Kaffee trinkt, als Replik. Zum Beispiel einen mit Iggys Kopf, wie er sich gerade aus deiner Vagina schiebt, mit Blut und allem? (Ich hatte ihr vorher erzählt, dass ich ein bisschen gekränkt war, weil meine Mutter Iggys Geburtsfotos nicht anschauen wollte; es war dann Harry, der mich daran erinnerte, dass sich kaum jemand irgendwelche Geburtsfotos anschauen will, zumindest nicht solche mit überdeutlichen Details. Und ich musste mir eingestehen, dass meine bisherigen Gefühle, was die Geburtsfotos anderer Leute anging, ihm recht gaben. In meinem nachgeburtlichen Nebel jedoch kam mir Iggys Geburt wie eine enorme Errungenschaft vor, und war meine Mutter etwa nicht stolz auf meine Errungenschaften? Als ich in der New York Times als Guggenheim-Stipendiatin gelistet wurde, hatte sie die Seite laminiert. Damals hatte ich mich nicht überwinden können, das Guggenheim-Platzdeckchen wegzuwerfen (Undankbarkeit), wusste aber auch nicht, was ich sonst damit anfangen sollte, und jetzt liegt es unter Iggys Hochstuhl, um das Essen aufzufangen, das ihm herunterfällt. Weil das Stipendium gewissermaßen für seine Zeugung bezahlt hat, habe ich jedes Mal, wenn ich Reste von Weizenflöckchen oder Brokkoliröschen davon abwische, die vage Empfindung, Gerechtigkeit walten zu lassen.)

Während unserer ersten Ausflüge als Paar errötete ich ständig, mir war schwindlig vor Glück, ich fühlte mich unfähig, die unfassbare Tatsache zu verbergen, dass ich offensichtlich alles bekommen hatte, was ich mir jemals gewünscht hatte, alles, was man sich wünschen könnte. Gutaussehend, brillant, schlagfertig, redegewandt, stark, du. Wir verbrachten Stunden und Stunden kichernd auf unserem roten Sofa. Die Glückspolizei wird kommen und uns festnehmen, wenn wir so weitermachen. Wegen unseres unverschämten Glücks.

Was, wenn der Ort, an dem ich bin, das ist, was ich brauche? Bevor ich dich kannte, war das mein Mantra dafür, mich mit irgendeinem Scheiß oder einer katastrophalen Situation abzufinden. Niemals hätte ich mir ausmalen können, dass es auch auf Momente der Freude passt.

Im Krebstagebuch schimpft Audre Lorde gegen das Gebot des Optimismus und des Glücks im medizinischen Diskurs über Brustkrebs. »Habe ich wirklich die Ausbreitung von radioaktiver Energie, Rassismus, Frauenschlächterei, chemischer Nahrungsvergiftung, Umweltverschmutzung, Mißbrauch und seelischer Zerstörung unserer Kinder bekämpft, nur um meiner dringendsten und vornehmsten Verantwortung auszuweichen: glücklich zu sein?«, schreibt Lorde. »Suchen wir lieber ›Freude‹ statt wertvolle Nahrung und saubere Luft und eine gesündere Zukunft auf einer lebensfähigen und lebenswerten Erde! Als könnte pures Glücklichsein uns vor den Folgen des Profitwahnsinns bewahren!«

Glücklichsein ist kein Schutz, und es ist ganz bestimmt keine Verantwortung. Die Freiheit, glücklich zu sein, schränkt die menschliche Freiheit ein, wenn man nicht frei ist, nicht glücklich zu sein. Aus beiden Freiheiten können Gewohnheiten werden, und nur man selbst weiß, für welche man sich entschieden hat.

Die Hochzeitsgeschichte von Mary und George Oppen ist eine der wenigen Hetero-Geschichten, die ich kenne, in denen die Ehe gerade dadurch romantischer wird, dass sie fingiert sind. Hier ist ihre Geschichte: Eines Abends im Jahr 1926 ging Mary mit George aus. Sie kannte ihn flüchtig aus einem Lyrik-Seminar am College. Mary erinnert sich so daran: »Er holte mich mit dem Model T Ford seines Mitbewohners ab, und wir fuhren raus aufs Land, hielten irgendwo, redeten, liebten uns und redeten bis zum Morgengrauen … Wir redeten, wie wir nie zuvor mit einem Menschen geredet hatten. Es war wie ein Ausbruch.« Als sie am Morgen zurückkehrten, wurde Mary aus ihrem Wohnheim verwiesen; George wurde suspendiert. Gemeinsam brachen sie auf und schlugen sich als Tramper durch.

Bevor sie George kennenlernte, war Mary felsenfest gegen die Ehe gewesen, die sie für eine »desaströse Falle« hielt. Aber sie wusste auch, dass George und sie aufgrund des Mann Act in Schwierigkeiten kommen könnten, wenn sie gemeinsam reisten, ohne verheiratet zu sein – der Mann Act war eines der vielen Gesetze in der Geschichte der USA, die vorgeblich erlassen worden waren, um eindeutig verwerfliche Handlungen wie sexuelle Sklaverei zu verfolgen, in Wirklichkeit aber benutzt wurden, um jeden zu verfolgen, dessen Beziehung der Staat als »unmoralisch« ansah.

Also heiratete Mary. Hier ist ihre Darstellung jenes Tages im Jahr 1927: