Emilia war noch Emilka, als ihre Eltern sie ins Auto setzten und mit ihr losfuhren – raus aus dem grauen Polen, nach Westberlin! Das war 1988. Nur ein Jahr später hatte sie einen neuen Namen, eine neue Sprache, ein neues Land: Sie war jetzt Deutsche, alles Polnische war unerwünscht, und aus dem Traum von einem besseren Leben war der tägliche Kampf geworden, bloß nicht aufzufallen. Wenn die neuen Kollegen der Eltern zum Essen kamen, gab es nicht etwa Piroggen, sondern Mozzarella und Tomate. Und als Emilia ein Deutschdiktat mit zwei Fehlern nach Hause brachte, war ihre Mutter entsetzt: Was war schiefgelaufen? Aus keinem Land sind in den vergangenen Jahrzehnten mehr Menschen nach Deutschland gekommen als aus Polen. Und keine Einwanderergruppe war so sehr darauf bedacht, sich unsichtbar zu machen. Ergreifend erzählt Emilia Smechowski die persönliche Geschichte einer kollektiven Erfahrung: eine Geschichte von Scham und von verbissenem Aufstiegswillen, von Befreiung und Selbstbehauptung.

 

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Emilia Smechowski

 

Wir Strebermigranten

 

 

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Babci Basi

Leistungsträger

Ich weiß, das kann nicht stimmen, aber in meiner Erinnerung ist es so, es ist ein Stummfilm, ein Tag voller Schweigen. Niemand spricht, es gibt keinen Kartoffelsalat, kein Bier, keine Würstchen, keine Aufbruchstimmung. Wir ziehen den Umzug durch, als wäre er ein Punkt auf der Tagesordnung. Sechs Kilometer innerhalb Berlins, check. Vom Rentnerparadies, in dem der Place-to-be eine Dönerbude ist, in ein Viertel mit Bioläden und Dreck auf der Straße. Und einer Brücke, von der man sich stürzen kann, theoretisch. Das jedenfalls dachte ich, als ich sie bei der Besichtigung sah. Dann musste ich laut lachen. Als ob!

Es ist ein Samstag im Mai, als ich mein Jugendzimmer ausräume und abhaue aus unserem privilegierten Leben. 2000, das Millenniumsjahr, und für mich ist tatsächlich eine Welt untergegangen.

Ich bin sechzehn, fast siebzehn Jahre alt.

Meine Familie, meine Eltern und meine zwei Schwestern, hat sich für diesen Tag etwas vorgenommen, ich weiß nicht mehr, was. Vielleicht sind sie ins Kino oder schwimmen gegangen, in Ausnahmefällen dürfen wir danach bei McDonald’s essen. Happy Meal, aber keine Cola.

Das Haus ist also leer, ich packe zusammen, was ich eigentlich hinter mir lassen will, das rote Bett mit diesen merkwürdigen Kreismustern drauf, den Schreibtisch, der mein halbes Zimmer einnimmt, dazu ein paar Kisten, und als dann endlich die Freunde da sind, warte ich schon an der Tür, bereit für das neue Leben.

Meinen Schwestern habe ich Tschüss gesagt, meinen Eltern nicht, sie haben sich an mir vorbei aus dem Haus geschlichen, und als sie schon im Auto sitzen, bin ich zu stolz, ihnen hinterherzurennen. Meine Eltern halten mich für komplett durchgeknallt, mit sechzehn ausziehen, das machen doch nur Junkies und Verlierer. Und ich schließe nicht aus, dass meine Mutter genau das befürchtet: Ich werde mein Abi vermasseln, das Falsche essen, dick werden und hässlich, dieser absurde Traum, den ich mir in den Kopf gesetzt habe, wird platzen, und am Ende sitze ich auf der Straße, mit einer Heroinspritze in der Hand. Bei diesem Untergang wollen sie bitte schön nicht auch noch zuschauen.

In meiner Familie geht man nicht unter. Es gibt nur eine Richtung: nach oben. Wir sind Leistungsträger, so lautet das schöne deutsche Wort, bis heute weigere ich mich, es zu benutzen. Auch weil ich lange Zeit unsicher war, was es bedeutet.

Wenn ich darüber nachdenke, wann ich zum ersten Mal eine Ahnung hatte, dass ich bald ausbrechen würde aus diesem Käfig, fällt mir ein anderer Samstag ein, ein paar Monate früher, im Januar. Ich stehe im Bad und übe, wie ich meinen Eltern die große Neuigkeit überbringen soll, entschlossen, erwachsen, wie im Film: Ich muss euch etwas sagen. Dann gehe ich die Treppe runter, mein großer Auftritt, und so sitzen wir uns auf den Sofas gegenüber, meine Eltern und ich, auf diesem braunen Leder, kurz nach unserer Ankunft in Deutschland gekauft.

»Ich muss euch etwas sagen.« Mir wird schlecht.

»Bitte«, sagt mein Vater. Meine Mutter sagt nichts.

»Ich will Sängerin werden.«

Schnell wie Pflasterabziehen.

»Was?«, sagt meine Mutter, sie schreit es fast. Der Mund meines Vaters, der normalerweise so schmal ist wie ein Bleistift, verzieht sich zu einem Bleistiftstrich. Als würde er sich auf die Lippen beißen, als müsste er gleich platzen vor Lachen. Aber mein Vater platzt nicht. Er lächelt nur leicht und sagt einen Satz.

»Das schaffst du nie.«

Ich gehe in die zehnte Klasse und leite die Musical-AG der Schule. In der Kirche singe ich sonntags die Soli im Chor, der Leiter nickt anerkennend, wenn ich fertig bin. Du hast eine warme Stimmfarbe, sagt meine Gesangslehrerin, wenn ich nachmittags mit ihr Dreiklänge übe. Das schaffst du nie. Der Satz meines Vaters brennt sich tief ein.

Sängerin! Was soll das denn für ein Beruf sein? Klavierunterricht, der ist sinnvoll, Singen im Kirchenchor, gehört irgendwie dazu. Aber Musik als Lebensinhalt? Wir haben uns doch nicht unser Leben lang abgestrampelt, damit du dein zukünftiges Leben damit verbringst, bis mittags zu schlafen!

Das müssen sie gar nicht sagen. Ich weiß auch so, was sie denken. Schweigend geht meine Mutter in die Küche, und mein Vater schließt sich im Arbeitszimmer ein. Ich renne die Treppen hoch und werfe mich heulend aufs Bett. Ich hasse sie, alle beide. Und ich hasse dieses Haus und dieses Zimmer, in dem ich nichts darf, noch nicht mal eine Kerze anzünden. Oder Räucherstäbchen – schließlich könnte das Haus abbrennen!

Die folgenden Monate fühlen sich an wie schockgefrostet. Ich gehe zur Schule, zum Gesangsunterricht. Zu Hause ist es, als hätte jemand auf Pause gedrückt. Es geht nicht vor und nicht zurück. Meine Eltern und ich, wir sagen uns nicht einmal mehr Guten Morgen, ich verschwinde im Bad, ziehe mir die Schuhe über und bin weg. »Warum ziehst du nicht mit ein?«, fragt eine Freundin, die drei Jahre älter ist und eine Wohnung sucht. Ja. Warum nicht.

Mein Vater droht immer mit irgendwelchen Konsequenzen. Wenn ich den Tisch nicht richtig abräume, wenn ich meinen Teller nicht leer esse, wenn ich zu spät nach Hause komme. Meist besteht die Konsequenz aus Schlägen auf den Hintern und Hausarrest, ein bis zwei Wochen, je nach Schwere der Tat. Diesmal werde ich meine Konsequenz ziehen und gehen. Meine Eltern werden nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Sie werden nicht süffisant lächeln, sondern vor Entsetzen vom Sofa kippen. Vielleicht flehen sie mich sogar an, zu bleiben.

Ist dann nicht so. Mein Vater sagt, wenn ich so erwachsen sei, könne ich in Zukunft ja mein eigenes Geld verdienen. Von ihm bekäme ich nichts. Meine Mutter weint, wie willst du denn so das Abitur schaffen? Du bist noch nicht mal in der Oberstufe!

Ich weine nicht mehr. Jahrelang habe ich in meinem Zimmer auf dem Bett gelegen und darauf gewartet, dass diese elende Jugend vorbei ist. Nun werde ich alles anders machen. Und so viel besser.

Heute weiß ich, dass dieser Ausbruch von zu Hause mehr war als die Rebellion eines Teenagers. Es war auch eine Absage an die Art, wie wir in Deutschland lebten.

Wir Strebermigranten.

 

Ein besseres Wort fällt mir nicht ein für das, was wir waren. Wir hatten uns hochgekämpft. Meine Mutter war in einem polnischen Dorf aufgewachsen, die Erste in ihrer Familie, die Abitur machte, mein Vater hatte sein halbes Leben lang nur ein Ziel gehabt: abhauen in den Westen. Sie schafften es. Und zusammen stiegen wir auf in diesem neuen Land. Meine Eltern arbeiteten als Ärzte, wir bauten ein Haus, mit Garten. Wir fuhren erst einen Mazda, dann einen BMW und einen Chrysler, später nur noch Limousinen von Audi. Wir Kinder lernten Latein und Altgriechisch, Klavier und Ballett. Eine Assimilation im Zeitraffer. Wir sind die Wirklichkeit gewordene Phantasie eines rechtskonservativen Politikers, dem zufolge Einwanderer sich der neuen Gesellschaft anpassen müssen, die ihrerseits aber bleibt wie zuvor.

Und wir sind nicht die Einzigen. Es gibt kein Volk, das zahlreicher nach Deutschland einwandert, als wir Polen es tun. Seit Jahrzehnten schon. Nur: Als Migranten sieht man uns kaum. Jedenfalls diejenigen nicht, die in den achtziger und neunziger Jahren kamen – und das sind mit Abstand die meisten. Wir sind unsichtbar. Wir sind quasi gar nicht mehr da, so gut gliedern wir uns ein. Wie Chamäleons haben wir gelernt, uns in der deutschen Gesellschaft zu verstecken.

 

An jenem Tag im Mai hatte ich so gut wie vergessen, dass wir zwölf Jahre zuvor aus Polen gekommen waren und dass dieser unbedingte Wille zum Erfolg, vor dem ich nun floh, auch mit unserer Einwanderergeschichte zu tun hatte. Woran ich dachte, als ich in der Einfahrt auf das kleine Umzugsauto wartete: Irgendwann werdet ihr das alles bereuen! Irgendwann, wenn ich erwachsen und berühmt bin, werdet ihr am Bühnenausgang auf mich warten, ich werde herauskommen, in Mantel und Schal, Konzertkleid noch drunter, Lidstrich, Hochsteckfrisur, Blumen im Arm, ihr werdet mich ansehen, ihr werdet die Autogrammjäger sehen, und am Ende werdet ihr um Vergebung bitten!

Erinnerungen sind tückisch. Sie betrügen uns immer wieder, und wenn wir nicht aufpassen, erzählen sie eine falsche Geschichte. Wahrscheinlich schwiegen wir an diesem Umzugstag gar nicht, vielleicht war ich gar nicht allein? Vielleicht ist das nur ein Trick meines Gehirns, um die Erzählung der dramatischen Situation anzupassen, und deshalb hat es alle fröhlichen Momente dieses Tages gelöscht. Meine Freunde erinnern sich nicht. Meine Eltern auch nicht wirklich – oder sie wollen es nicht. Damals erzählten sie Bekannten erst einige Zeit später, dass ihre älteste Tochter ausgezogen war.

Die Sache passte auch einfach nicht zu unserer Erfolgsgeschichte. Es war, als hätte in uns ständig ein Motor gebrannt, immer kurz davor heiß zu laufen. Wenn ich mit einer Zwei plus nach Hause kam, fragte meine Mutter, wo denn das Problem gewesen sei. Es herrschte ein permanenter Druck, und sosehr ich auch strampelte, ich wurde ihn nicht los. Bedingungslose Liebe – als ich diesen Ausdruck zum ersten Mal hörte, musste ich bitter auflachen. Geliebt werden, ohne dafür zu arbeiten, sich entspannen, ohne vorher etwas geleistet zu haben – das alles kannte ich nicht. Und oft genug ist es noch heute etwas, worauf ich mir keinen Anspruch zugestehe.

Wann hat das alles angefangen?

 

Am Ende des Tages, als die Umzugshelfer weg sind, liege ich auf demselben Bett, aber nun habe ich Dielenboden und eine zitronengelbe Wand. Meine Mitschüler haben Geld gesammelt und mir einen Kühlschrank gekauft. Ich schaue nun nicht mehr von einem weißen französischen Balkon auf den Garten, sondern durch ein undichtes Fenster auf einen Berliner Hinterhof. Im Grunde nicht auf den Hinterhof, sondern auf eine graue Wand, denn das nächste Haus steht wenige Meter entfernt. Ich bin jetzt also arm. Ich finde es großartig.

Ein paar Dinge habe ich mitgehen lassen, Musik vor allem, die CDs der Deutschen Grammophon, die ich mir niemals selbst würde kaufen können, Mozarts Requiem, Wagners Tannhäuser. Und Fotos, von früher. Fotos, auf denen mein Vater nicht streng guckt und meine Mutter nicht gestresst. Fotos, auf denen beide lächeln. Sie sind kleiner als die neuen, vergilbt oder in Schwarzweiß. Auf einem bin ich gerade ein Jahr alt geworden und trage meine ersten Schuhe. Mein Vater hockt neben mir. Er trägt Zehntagebart und eine blaue Trainingsjacke mit zwei Streifen (drei gab es bei uns nicht), seine Erich-Honecker-Brille steht ihm wesentlich besser als Erich Honecker. Er umarmt mich von hinten und lächelt. Er sieht sehr glücklich aus.

Dieses Wir, das spüre ich, ist verloren gegangen.

Warum lächelte mein Vater irgendwann nicht mehr, und warum hatte meine Mutter immer öfter rote Augen? Fragen, die ich mir am Tag meines Auszugs nicht stelle. Den Kontakt zu meinen Eltern habe ich abgebrochen. Kurz darauf fange ich bei Burger King an. Ich muss nun Miete zahlen.

Die Balken knarzten laut

Es war während des Streiks auf der Danziger Werft, als mein Vater zum ersten Mal das Gefühl hatte, es könnte sich vielleicht doch etwas ändern. August 1980, und er, ein Einzelgänger, der am liebsten über seinen Büchern hing, wollte plötzlich die Welt verändern. Mit hundert anderen besetzte er die medizinische Fakultät, sie schliefen, aßen, lebten dort, wochenlang. Sie hatten genug davon, sich von der kommunistischen Partei alles vorschreiben zu lassen. Als Studenten wollten sie sich selbst organisieren. Mein Vater wurde sogar Mitglied im Unabhängigen Studentenverband. Insgesamt streikten am Ende des Monats 750.000 Polen in 750 Betrieben, die größte Streikwelle, die das Land bis heute gesehen hat.

Die Hoffnung wuchs. Auf Babynahrung, Fleisch und eine freie Meinung.

Dann kam der 13. Dezember 1981. Ein polnischer General erklärte der polnischen Gesellschaft den Krieg. Plötzlich standen Panzer an den Straßenecken, Soldaten mit Waffen in der Hand. Telefone wurden abgeschaltet, Schulen und Universitäten geschlossen, die Fernsehnachrichten verlasen Offiziere in Uniform. Das Militär war überall. Menschen wurden inhaftiert, gefoltert, getötet. Wieder einmal herrschte Kriegszustand in Polen, doch diesmal kam die Gefahr nicht von außen, von den Deutschen oder Russen, sie kam von innen, so jedenfalls sah es die polnische Regierung.

Es war das Jahr, in dem mein Vater auf meine Mutter traf. Auch sie war Absolventin der Danziger Universität. Aber kennengelernt haben sie sich erst in Wejherowo, dreißig Kilometer entfernt, dort zogen sie beide hin, dort gab es Jobs, ein neues Krankenhaus war gebaut worden, und es gab Wohnungen. Die Plattenbausiedlung, in der meine Mutter wohnte, war so schnell hochgezogen worden, dass man nie wusste: Ist das noch Rohbau oder schon Ruine, entsteht da was, vergeht da was? In jedem Fall war es grau. Wejherowo war auch für sozialistisch geprägte Augen hässlich und für die meisten nur ein Umsteigebahnhof, auf dem Weg irgendwohin – wohin, dass wusste keiner, und am Ende blieben die meisten ein Leben lang.

Für meine Mutter war Wejherowo ein Aufstieg. Ihre Mutter war Näherin gewesen, ihr Vater Lackierer, und die ersten zwei Lebensjahre hatte sie bei ihrer Oma auf dem Dorf verbracht, denn die Mutter musste kurz nach der Geburt wieder an die Nähmaschine zurück. Jeden Tag gab es Milchsuppe, in Milch gekochte Nudeln mit Zucker, und an den Wochenenden Besuch von den Eltern. Später, als auch noch ein Bruder kam, lebte die Familie wieder zusammen, in einer Kleinstadt bei Bydgoszcz, alle vier auf einem Zimmer, ohne Klo, und einmal die Woche wurde eine Wanne aus dem Keller geholt. Erst durften die Kinder baden, dann die Erwachsenen. Meine Mutter wollte weg. Ein Abitur und ein Studium später war sie Ärztin.

Zum ersten Mal sahen sich meine Eltern in Wejherowo in der Anästhesie, als meine Mutter einen Menschen reanimierte und mein Vater zuschaute. Ob der Mensch wieder zurück ins Leben fand, wissen die beiden nicht mehr. Aber meine Mutter weiß, was sie so mochte an dem jungen Arzt mit der Denkerstirn: seine Ernsthaftigkeit. Er imponierte ihr, er war nicht so albern wie ihre Freunde. Es schien ihm nichts auszumachen, dass er als übereifrig galt und ausgelacht wurde, wenn er mit komischen Turnschuhen und seinem Stethoskop um den Hals mittags in die Kantine kam.

Meine Mutter hatte etwas von Hollywood, volle Lippen und Wellen im Haar. Sie rauchte, sie tanzte, die Miniröcke, die sie trug, konnten nicht kurz genug sein, davon erzählt sie heute noch. Sie führte in Wejherowo das Leben, das sie immer führen wollte, war endlich raus aus dem Dorf, weg von den Eltern, die nichts verstanden, weg von der Enge der Einzimmerwohnung.

Mein Vater hatte etwas von Wojciech Jaruzelski, dem General, der das Kriegsrecht ausgerufen hatte – optisch jedenfalls. Auch er trug die Brille, die damals unter den Kommunistenführern so beliebt war, und hatte dieselben kahlen Stellen wie Honecker und Jaruzelski. Sonst hatte er wenig mit den beiden gemein, außer später seinen leichten Hang zum Diktatorischen.

Meine Eltern verliebten sich. Doch auch die Liebe war in Zeiten des Sozialismus nicht frei. Als junges Paar gingen sie kaum aus, wegen der Ausgangssperre und der eingeschränkten Versammlungsfreiheit. Jede zweite Nacht eine Schicht, mit dem Rettungswagen fuhren sie raus aus der Stadt, in die Internierungslager, in denen Tausende einsaßen. Manche nahmen sie einfach mit, Verdacht auf Blinddarmentzündung, in diesen Monaten stiegen die Appendizitis-Fälle im Krankenhaus von Wejherowo überraschend an.

Was sie verdienten, reichte gerade für einen mittleren Standard. Wohnung: Platte. Küche und Auto: von den Eltern meines Vaters. Es gab geringe Unterschiede, doch im Grunde waren im sozialistischen Polen alle gleich arm.

Mein Vater sagt, für das Krankenhaus war die Zeit des Kriegsrechts immer noch besser als die anderen Jahre im Sozialismus, denn während des Kriegsrechts kamen Hilfsgüter aus dem Westen.

Meine Eltern gingen morgens zur Arbeit und abends nach Hause. Ein kleiner Horizont. Nur der meines Opas in Danzig war größer. Der Vater meines Vaters war Elektroingenieur und Freizeitfunker. Er hatte Freunde auf der ganzen Welt. An dem Morgen, als das Kriegsrecht ausgerufen wurde, stand die Polizei vor seiner Tür. Sie stellte seine Anlage in einen Schrank und versiegelte ihn. Eine Banalität, Alltag in diesen Jahren, wenn man bedenkt, dass insgesamt 13.000 Menschen inhaftiert wurden und mehrere Dutzend getötet.

Am 21. Januar 1983 heirateten meine Eltern. Eine lange Tafel, wenig Fleisch, viel Wodka, irgendjemand hatte frische Blumen besorgt, alle riefen immer wieder: »Küssen! Küssen! Küssen!«, dann küssten sie sich, »na zdrowje!«, und die Kapelle spielte auf. Sie spielte Lieder der Band »Rote Gitarren«, der polnischen Beatles. Ein Kuss, ein Wodka, ein Tanz, bis der letzte Gast gegangen war, eine polnische Hochzeit eben. Eine Sache fällt mir auf, wenn ich heute die Bilder sehe: Meine Mutter hat nichts Klares in ihrem Wodkaglas, sondern etwas anderes, Trübes. Sie war schwanger.

Am 22. Juli 1983 hob die Regierung das Kriegsrecht wieder auf. 21 Tage später wurde ich geboren. Wenn sich meine Eltern überhaupt je wirklich für Politik interessiert hatten, dann hörten sie jetzt damit auf.

Der Sozialismus war weiterhin grau und stank nach Kohle. Es gab weder Perspektive noch Möbel. Grundnahrungsmittel wurden rationiert. Es kam vor, dass die Butterpreise von einem Tag auf den anderen um das Zwölffache schwankten. Polnische Läden sahen aus, wie Läden heute aussehen, bevor sie dichtmachen: Man sieht viel vom Regal und wenig Ware. Der Staat sparte an seinen Bürgern, wo er nur konnte. Die Tugend der Stunde war Geduld. Es sei denn, man hatte Kontakt in den Westen. Es würde sich eh nichts ändern, dachten meine Eltern, außer sie änderten es selbst. Nicht das Land, sondern ihr Leben. Sie wollten ein schönes Leben. So einfach.

Das schöne Leben konnte man auch schon in Polen kaufen, im Pewex. Es gab Westjeans, Westzigaretten, Westschallplatten. Wer das Geld hatte, konnte für einen kurzen Moment so tun, als sei gerade Freiheit und nicht Volksrepublik. Das Geld hatte kaum jemand.

Der Schriftsteller Milan Kundera hat einmal Ostmitteleuropa als »entführten Westen« bezeichnet. Genauso fühlte mein Vater sich auch: gefangen. Als würde er eigentlich woanders hingehören, als sei Polen gar nicht sein Land.

Drei Mal war er im Westen gewesen, in den Sommerferien, er wollte während des Studiums ein bisschen Geld verdienen, und Studenten durften für eine begrenzte Zeit ins Ausland. Also fuhr er nach Schweden, Holland, Frankreich. Er schnitt Prospekte zurecht, goss Chrysanthemen in Gewächshäusern und erntete Äpfel, und jedes Mal nach diesen zwei Monaten hätte er als wohlhabender Mann zurückkommen können, der Lohn hätte in Polen für ein ganzes Jahr gereicht. Doch dann sah er in Stockholm zum ersten Mal in seinem Leben ein Elektrofachgeschäft. Immer wenn er freihatte, ging er hinein, lief durch die Gänge, verglich die Stereoanlagen. Es waren so viele! Große und kleine, teure und etwas günstigere. Dass man nicht einfach nahm, was zufällig da war, dass man nicht nur kaufte, was man zum Überleben brauchte, und vor allem: dass man wählen konnte! Das faszinierte ihn.

Mein Vater liebte Musik, klassische auch, aber vor allem die von Led Zeppelin und Black Sabbath, die so wild war, wie er es am Ende doch nie sein wollte. Led Zeppelin gab es in polnischen Plattenläden nicht zu kaufen. Aber es gab eine Musiksendung im Radio, die hieß »Minimax«. Minimale Worte, maximale Musik. Zu Anfang der Sendung hörte man ein Tonsignal, mein Vater saß vor seinem Grundig TK 245 deluxe und passte den Aufnahmepegel an, dann drückte er die Taste mit dem roten Punkt. Record. Und eine ganze LP lief ohne Pause durch. Von einem Tonbandgerät kam die Musik, auf dem anderen wurde sie festgehalten. Mein Vater ist heute der festen Überzeugung, dass er damals der einzige Mensch in Danzig war, der so eine Anlage besaß.

Bis heute ist es das Erste, was er tut, wenn er in einer fremden Stadt ist: Er sucht einen Elektronikmarkt. Dieser Geruch von neuem Plastik, die Wärmeausstrahlung der Geräte. Mir macht das Kopfschmerzen. Mein Vater liebt es.

Aus Schweden kam er mit einem Plattenspieler wieder, einem Verstärker und zwei Boxen. Aus Holland mit einem Kassettendeck, Kopfhörern und einem Empfangsteil. Aus Frankreich wollte er erst gar nicht zurückkommen. So weit war er schon. Er kam dann doch, und das Geld, das er verdient hatte, sparte er, für später. Vielleicht würde er Polen irgendwann verlassen?

Aber nun war ich auf der Welt, und meine Mutter weigerte sich, einfach ins Blaue hinein auszureisen. Dafür war das Leben mit Baby zu anstrengend. Sagen beide. Wenn ich heute meinen Vater frage, wie ich denn als Kind gewesen sei, kann er sich nur an Geschrei erinnern. An ein Kind, das alle zwei Stunden wach wurde. Und da mein Vater der mit dem leichten Schlaf war, stand er auf, machte eine Flasche, um mich wieder zum Schlafen zu bringen, was ihm auch gelang, bis der Inhalt der Flasche in der Windel angekommen war und sie gewechselt werden musste. Circulus vitiosus, sagten sie zu ihren Freunden, die als Mediziner ja alle Latein konnten. Kurze Erleichterung verschaffte ihnen Richard Wagner. Immer wenn sie den Tannhäuser auflegten, wurde ich still und wiegte, auf dem Boden sitzend, meinen Oberkörper wie ein Baum im Wind. Meine Eltern verzweifelten immer mehr. Haben Sie nicht ein Schlafmittel, fragten sie einen Kinderarzt, da war ich gerade neun Monate alt. Ich bekam Luminal, das heute vor allem bei Epilepsie gegeben wird, und wachte nur noch alle vier Stunden auf.

Die Fotos dieser Zeit erzählen eine andere, eine fröhlichere Familiengeschichte. Meine Mutter, auf dem Schoß meines Vaters, lachend am Küchentisch. Mein Vater, Milchflasche in der Hand. Ich, lächelnd im Gitterbettchen.

Meine Eltern wurden immer angespannter, wie lange sollte dieses Leben im Wartemodus weitergehen? Immerhin durften sie wieder telefonieren. Im Minutentakt unterbrach sie eine automatische Stimme, die daran erinnerte, dass dies eine »rozmowa kontrolowana« sei, ein kontrollierter Anruf. Die Polen wurden abgehört, zumindest sollten sie das glauben, denn wer das glaubte, der hatte Angst.

Dann bewarb sich mein Vater bei einem Krankenhaus in Toulouse. Seine Mutter, Dekanin der medizinischen Fakultät in Danzig, hatte ihn mit ihrer Frankreichliebe angesteckt. 1968 hatte sie meinen Opa und die zwei Kinder zurückgelassen, für einen Medizineraustausch in Paris. Ein Jahr später kam sie verzaubert wieder. Die Musik, die Mode, die Menschen! In Frankreich arbeitet man, um zu leben, sagte sie zu ihrem Sohn. Nicht andersherum. Das hatte er nicht vergessen.

Meine Mutter bewarb sich mit ihm in Toulouse. Auch sie wollte ein schönes, ein besseres Leben, allerdings war sie sich weniger sicher als er, ob sie dafür auch das Land verlassen wollte. Hier waren ihre Freunde, ihre Kollegen, ihre Eltern, die sie schon selten genug sah, da sie nicht in derselben Stadt wohnten. War es das wert? Andererseits: Frankreich!

Sie bekamen beide die Stelle, auf ein Jahr befristet, zu dieser Zeit wurden in Europa Anästhesisten gesucht. Aber um auszureisen, brauchten sie einen Reisepass, den gab es in Polen damals nur auf Antrag, die Schäfchen sollten brav im Stall bleiben. Ich bekam einen, meine Mutter auch. Mein Vater nicht. Er weiß bis heute nicht, warum.

Vielleicht, weil die Partei roch, dass er nicht zurückkommen würde. Vielleicht, weil sie zu vielen Menschen von ihren Plänen erzählt hatten. Oder aber, weil meine Oma, nachdem sie die Studentenproteste in Paris gesehen hatte, Mitglied der Solidarność geworden war, wie mittlerweile zehn Millionen anderer Polen auch. Beim nächsten Mal, schwor mein Vater sich, würde er in aller Stille gehen. Und dann für immer.

 

Meine Schwester wurde geboren. Ab und an schickte ein westdeutscher Freund meines Opas ein Päckchen. Mit Kaffee, Schokolade und dem größten Schatz, den meine Mutter sich vorstellen konnte: dem Burda-Katalog. Von da an nähte sie unsere Kleider »jak w Burdzie«. Wie bei Burda. Eine Fingerübung für ein neues Leben.

Der Westen war die bessere Welt. Das große Versprechen.

Unsere Flucht bereiteten meine Eltern allein vor. Sie gingen weiter morgens zur Arbeit und abends nach Hause, sie sprachen über Alltägliches, ganz so, als würde das Leben ewig so weitergehen. Es gab keinen Austausch mit anderen, kein Wir, keine Gemeinschaft, sie handelten, wie sie auch in Zukunft handeln sollten: nur für sich.

Erst viel später, als ich schon längst erwachsen war, fielen sie mir auf: all die anderen Polen in Deutschland. Die, die mit uns ausgewandert waren, manche im selben Jahr, wie ich erfuhr, manche sogar am selben Tag, und fast alle in den 1980er Jahren. So lange hatten wir uns unsichtbar gemacht, und nun hatten wir Mühe, einander zu erkennen. Da kommst du also her. Deshalb der Name.

Meine Generation, Anfang dreißig, die im Kindesalter mit ihren Eltern eingewandert war. Top integriert, erfolgreich. Sie wirkten fast deutscher als die Deutschen. Ich war wie sie.

Wie hätte ich damals, als kleines Mädchen, ahnen können, dass es so viele waren. Dass Polen in den 1980er Jahren einer alten Scheune glich, kurz vor dem Einsturz. Die maroden Balken knarzten laut, das hörten nicht nur wir im Land. Wer irgendwie konnte, versuchte rauszukommen, ein regelrechter Exodus von Polen setzte ein, die in den Westen flüchteten.

In diesen Tagen vor unserer Flucht waren meine Eltern konzentriert, sie schwiegen viel. Sie hatten endlich einen Plan. Aber diesmal behielten sie ihn für sich.