Über das Buch

Im Grunde ist Solomon Reed ein normaler Teenager. Doch seit drei Jahren, zwei Monaten und einem Tag hat er das Haus nicht mehr verlassen.

Solomon muss nie aus dem Haus. Er hat zu essen. Er kann von seinem Fenster die Berge sehen, und seine Schulaufgaben macht er online, mit ungekämmten Haaren und im Schlafanzug. Ernsthafte Probleme hat er eigentlich nicht. Während andere Menschen um ihr Leben bangen, ist er bloß ein verwöhntes Vorstadtkind, das zu neurotisch ist für das Leben in der echten Welt und da draußen Panikattacken erleidet. Als seine ehemalige Mitschülerin Lisa für einen Psychologie-Aufsatz ein Studienobjekt benötigt, drängelt sie sich in sein Leben und stellt es völlig auf den Kopf.

John Corey Whaley

Hochgradig unlogisches Verhalten

Aus dem Englischen von Andreas Jandl

Carl Hanser Verlag

Für Scotty

Erster Teil
Frühling

Eins
Solomon Reed

Solomon musste sowieso nie aus dem Haus gehen. Er hatte zu essen. Er hatte zu trinken. Er konnte von seinem Fenster die Berge sehen, und seine Eltern waren immer so beschäftigt, dass er das Haus fast ganz für sich allein hatte. Jason und Valerie Reed beließen es bei diesem Zustand, denn es ging ihrem Sohn nur dann besser, wenn sie seiner Krankheit das Feld überließen. So kam es, dass er an seinem sechzehnten Geburtstag schon drei Jahre, zwei Monate und einen Tag nicht mehr vor der Tür gewesen war. Er hatte blasse Haut und war chronisch barfuß – aber er kam damit klar. Anders als mit so ziemlich allem anderen.

Seine Schulaufgaben machte er online, mit zerzausten Haaren und im Schlafanzug, den er auch noch trug, wenn seine Eltern abends nach Hause kamen. Wenn das Telefon klingelte, ließ er den Anrufbeantworter drangehen. Und wenn es mal an der Tür klopfte, was selten vorkam, guckte er so lange durch den Spion, bis der ungebetene Besuch – ein Paketbote, Versicherungsvertreter oder vielleicht ein Nachbar – aufgab und wegging. Solomon lebte in der einzigen Welt, in die er hineinpasste. Seine Welt war ruhig, eintönig und manchmal auch einsam. Aber sie geriet nie außer Kontrolle.

Die Entscheidung war ihm nicht leichtgefallen, und man muss dazusagen: Er hatte wirklich, so lange es nur irgend ging, versucht, es in der Welt draußen auszuhalten. Bis er eines Tages einfach nicht mehr konnte, sich bis auf die Unterhose auszog und im Hof der Junior-Highschool in den Brunnen setzte. Dort, vor den Augen seiner Mitschüler und der Lehrer, lehnte er sich im blendenden Licht der Morgensonne langsam immer weiter nach hinten, bis sein ganzer Körper untergetaucht war.

Nach diesem Vorfall ging Solomon Reed nicht mehr zur Upland Junior-High, und wenige Tage später wollte er noch nicht mal mehr aus dem Haus gehen. Es war besser so.

»Es ist besser so«, erklärte er seiner Mom, die ihn jeden Morgen inständig bat, sich zu überwinden.

Keine Frage, es war besser so. Seit er elf war, hatte er Panikattacken, die in den letzten zwei Jahren immer häufiger geworden waren – aus alle paar Monate wurde einmal im Monat, dann zweimal und immer so weiter. Als er an dem Punkt war, dass er wie ein Irrer in den Brunnen stieg, hatte er bis zu drei Panikattacken am Tag.

Es war die Hölle.

Nach dem Brunnen war ihm klar, was er zu tun hatte. Weg mit allem, was Panik auslöst, und die Panikattacken haben ein Ende. Die nächsten drei Jahre wunderte er sich, warum die anderen das nicht verstanden. Er wollte einfach nur ohne Todesangst leben. Manche Menschen kriegen Krebs. Manche werden verrückt. Keiner käme auf den Gedanken, einem Krebskranken die Chemo auszureden.

Solomon wurde in Upland geboren, wo er höchstwahrscheinlich auch sterben würde. Upland ist ein Vorort von Los Angeles, nur eine Stunde östlich vom Zentrum. Es liegt in einer Gegend namens Inland Empire, was Solomon genial findet, weil der Name wie aus Star Trek klingt, einer Serie, die er besser kennt, als manchmal gut für ihn ist.

Seine Eltern, Jason und Valerie, haben von Star Trek ziemlich wenig Ahnung, trotz der Beteuerungen ihres Sohnes, die Serie erforsche wie keine andere die Tiefen des menschlichen Daseins. Ihm zuliebe schauen sie manchmal eine Folge mit, und dann und wann fragen sie ihn sogar nach einem der Charaktere, um das Leuchten in seinen Augen zu sehen.

Valerie Reed ist Zahnärztin mit eigener Praxis in Upland, und Jason baut Filmkulissen auf einem Studiogelände in Burbank. Ideale Voraussetzungen, um die tollsten Dinge von der Arbeit erzählen zu können, aber weil Jason zum Beispiel Dermot Mulroney und Dylan McDermott durcheinanderbringt, sind seine Promi-Sichtungen mit Vorsicht zu genießen.

Eine Woche nach seinem sechzehnten Geburtstag musste Solomon sich mal wieder sehr zusammenreißen, als sein Vater ihm erklären wollte, wen er am Set gesehen hatte.

»Dieser Typ mit dem Schnurrbart, du weißt schon … Aus dieser Sendung … die Sendung mit der Melodie am Anfang …«

»Dad, alle Shows haben eine Titelmelodie.«

»Jetzt sag schon – der Typ mit dem Gewehr.«

»Der Typ mit dem Gewehr? Wer bitte schön soll das denn sein?«

»Na, der Typ eben. Der am Anfang immer das Gewehr hat. Den kennst du doch!«

»Keine Ahnung. Hawaii Five-O

»Das ist ein Film, kein Schauspieler«, sagte sein Dad.

»Eine Fernsehserie ist das. Echt, und du arbeitest in Hollywood?«

»Hast du deine Schulaufgaben gemacht?«, fragte Solomons Mom, als sie ins Wohnzimmer kam.

»Schon längst. Wie war die Arbeit?«

»Ich hatte heute eine neue Patientin.«

»Bald wissen wir nicht mehr, wohin mit dem ganzen Geld«, scherzte sein Dad.

Niemand lachte.

»Sie meinte, dass sie auf die Upland Junior-High geht. Lisa Praytor. Sagt dir das was?«

»Nee«, antwortete Solomon.

»Nettes Mädchen. Schöne Backenzähne. Aber in ein, zwei Jahren müssen die Weisheitszähne raus, oder sie braucht wieder eine Spange.«

»Hattest du eigentlich eine Spange?«, fragte Solomon.

»Ein ganzes Zaumzeug. Es war schrecklich.«

»Jetzt verstehe ich. Du willst andere so quälen, wie du früher selbst gequält wurdest.«

»Spiel hier nicht den Psychologen.«

»Solomon, spiel deiner Mutter gegenüber nicht den Psychologen«, sagte sein Dad, ohne von seinem Buch aufzusehen, einem dieser komischen Krimis, die er ständig las.

»Jedenfalls ist sie ein nettes Mädchen. Und hübsch. Nur eine Plombe.«

Solomon wusste genau, was sich hier gerade abspielte. Seine Mom hoffte mal wieder, von einem hübschen Mädchen zu sprechen würde bei ihrem Sohn eine Spontanheilung auslösen, sodass er geradewegs aus der Haustür und direkt in die Highschool marschierte. Ein rührend naiver Wunsch, aber er hoffte, dass sie angesichts seines Zustands nicht wirklich derart verzweifelt war. Denn falls dem so wäre, würden sich nicht all die kleinen Momente addieren und irgendwann zur Katastrophe führen?

Er hatte ein paarmal ihre Gespräche über ihn mitbekommen. Mit zehn hatte er herausgefunden, dass er, wenn er einen Plastikbecher an die Zimmerwand hielt, hören konnte, was seine Eltern im Schlafzimmer sagten. Als er sie das letzte Mal belauschte, hatte seine Mom seinen Dad gefragt, ob sie ihn wohl »für immer am Bein« haben würden. Nach dieser Frage hörte er eine ganze Weile nichts mehr. Dann verstand er, dass ihr wohl gleich nachdem sie diese Worte ausgesprochen hatte, die Tränen gekommen waren. Stunden später lag Solomon immer noch wach und überlegte, wie er die Frage seiner Mutter beantworten würde. Er landete bei einem entschiedenen Ja.

Zwei
Lisa Praytor

Manchmal schenkt das Leben einem ein Glas kühler Limonade – sogar noch mit Zitronenscheibe obendrauf. Für Lisa Praytor, Einser-Schülerin in der elften Klasse an der Upland Highschool, war die Begegnung mit Solomon Reeds Mutter dieses Glas Limonade. Und sie sollte ihr Leben verändern.

Wahrscheinlich gibt es an jeder Schule eine Lisa Praytor. Sie ist das Mädchen in der ersten Reihe, das sich bei jeder Frage des Lehrers meldet. Die nach dem Unterricht in der Schule bleibt, um noch am Jahrbuch zu arbeiten, und die sich, wenn sie dann zu Hause ist, gleich in die Hausaufgaben stürzt.

Lisa hatte schon immer einen vollen Stundenplan. Seit sie elf war, lebte sie nach dem Motto ihrer Großtante Dolores, das besagte: »Ein freier Tag im Kalender ist ein Unglückstag: vierundzwanzig Stunden verpasster Gelegenheiten.«

Nicht einmal der Vorschlag ihres Freundes, an die Küste zu fahren und gemeinsam den Sonnenuntergang anzuschauen, konnte sie von ihrem Zeitplan abbringen. Dabei hatte sie das Glück, dass ihr Freund ständig solche Sachen vorschlug. Clark Robbins sah gut aus, nicht gefährlich gut, aber Lisa hatte eine besondere Schwäche dafür, wie ihm sein kastanienbraunes Haar in die Stirn fiel. An dem Tag, als Lisa Solomons Mutter kennenlernte, waren Clark und sie schon seit einem Jahr und siebzehn Tagen zusammen. Auch in dieser Hinsicht war auf ihren Kalender Verlass.

In der achten Klasse hatte sie in der Schülerzeitung The Register einmal in einem Kommentar einen Siebtklässler verteidigt, der vor der Schule einen Anfall gehabt hatte. Ihr flammendes Plädoyer für Empathie war bei ihren Klassenkameraden auf Stirnrunzeln gestoßen, und bis zum Ende des Schuljahres hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass Lisa und der verrückte Junge im Brunnen heimlich etwas miteinander hatten.

Würden auf die Upland Junior-High nicht fast tausend Schüler gehen, hätte man sich dort an Lisas missglückten Versuch als Heldin wahrscheinlich noch bis zum Wechsel auf die Senior-Highschool erinnert. Doch in der Masse der Menschen und Ereignisse vergaßen die meisten ihrer Freunde und Klassenkameraden die Sache irgendwann einfach.

Nicht aber Lisa. Sie hatte ihn damals gesehen – diesen schlaksigen Jungen mit dem wirren Haar, wie er sich Hemd und Hose auszog, seinen langsamen, ruhigen Gang zum Wasser. Eigentlich kannte sie ihn gar nicht richtig, aber sie fand, dass er nett aussah, wie jemand, der einem anderen ganz selbstverständlich die Tür aufhält. Und sie hatte immer gehofft, ihn irgendwann wiederzusehen oder zumindest zu hören, dass es ihm gut ging.

Eines Tages sah Lisa dann in der Lokalzeitung eine Anzeige für Valerie Reeds Zahnarztpraxis. Eine kurze Recherche im Internet bestätigte, dass sie Solomons Mom war. Obwohl Lisa von Zeit zu Zeit an ihn denken musste und sich fragte, was aus ihm geworden war, hatte sie nie richtig nach dem Brunnen-Typen gesucht. Doch sobald sie ihn gefunden hatte, war ihr klar, dass sie so schnell wie möglich an ihn rankommen musste. Und der einzige Weg zu ihm führte über einen Termin bei seiner Mom. Im schlimmsten Fall konnte Lisa mit einer professionellen Zahnreinigung und einer Gratiszahnbürste rechnen. Im besten Fall mit der Erfüllung all ihrer Träume.

»Und wo gehen Sie zur Schule?«, fragte Dr. Valerie Reed, während sie Lisas Zähne untersuchte.

Es war Dienstag, der vierundzwanzigste März, und Lisa tat sich wirklich schwer, die Zahnärztin nicht mit tausend Fragen über Solomon zu löchern.

»Upland High. Sind Sie nicht die Mom von Solomon?«

»Ja«, antwortete sie, ein wenig verblüfft über die Frage.

»Ich war mit ihm auf der Junior-High. Und da hängt ein Bild von ihm«, sagte Lisa lächelnd und deutete quer durch den Raum auf ein Familienfoto an der Wand gegenüber.

»Sie haben ihn gekannt?«, fragte Valerie.

»Oh, gekannt?«, frage Lisa, »Ist er …?«

»Ogottogott, nein. Entschuldigung«, sagte Valerie. »Er geht nur nicht mehr viel unter Leute.«

»Privatschule? Western Christian?«

»Er bekommt Hausunterricht.«

»Sie machen das zusätzlich zu Ihrer Arbeit hier?«, fragte Lisa.

»Das läuft alles online. Zurücklehnen bitte. Und weit aufmachen.«

»Wissen Sie, ich war dabei«, sagte Lisa, die noch immer kerzengerade saß.

»Wobei?«, fragte Dr. Reed, die langsam ungeduldig wurde.

»An diesem Morgen, als Ihr Sohn … Ich habe gesehen, wie es passiert ist.«

»Es war eine Panikattacke. Kann ich jetzt Ihre Zähne ansehen?«

»Nur noch eins«, sagte Lisa.

»Bitte.«

»Warum geht er nicht mehr viel unter Leute?«

Dr. Reed starrte Lisa schweigend an. Ihr Mund war unter einem blauen Mundschutz verborgen, aber die Augen suchten nach der richtigen Antwort. Doch gerade als sie etwas sagen wollte, kam ihr Lisa zuvor.

»Es ist nur … plötzlich war er einfach weg. Das war irgendwie komisch. Ich dachte, er ist vielleicht im Internat oder so.«

»Auf der Western Christian war er genau einen Tag. Was soll man machen, wenn der Sohn sich weigert, das Haus zu verlassen?«

»Hausunterricht?«

»Das war unsere einzige Möglichkeit. So, jetzt bitte den Mund auf.«

Kaum war Dr. Reed fertig, knüpfte Lisa nahtlos dort an, wo sie aufgehört hatte, sogar noch ehe die Stuhllehne ganz aufgerichtet war.

»Wann hat er das letzte Mal das Haus verlassen?«

»Sie sind ziemlich neugierig, was?«

»Oh, Entschuldigung. Mist, tut mir leid, ich wollte nicht aufdringlich sein. Ich habe die letzten zwei Jahre viel über ihn nachgedacht, und als mir klar wurde, dass Sie seine Mom sind, ist es einfach so mit mir durchgegangen.«

»Schon gut. Ich bin ja froh, dass sich jemand an ihn erinnert. Drei Jahre ist das jetzt her. Genauer gesagt schon über drei Jahre.«

»Geht es ihm gut?«

»Meistens ja. Wir kriegen es irgendwie hin.«

»Er muss manchmal ganz schön einsam sein«, meinte Lisa.

»Ja, denke ich auch.«

»Hat er Freunde?«

»Jetzt nicht mehr. Früher schon. Ihr werdet alle so schnell groß. Er konnte da nicht mithalten.«

»Können Sie ihn von mir grüßen? Ich glaube, er weiß nicht, wer ich bin, aber trotzdem – wenn das nicht blöd ist.«

»Ich werde es ihm ausrichten. Und Sie, Lisa, sehe ich nächsten Dienstag, damit wir die Plombe ausbessern.«

Erwachsene anzulügen fiel Lisa wesentlich leichter als Gleichaltrige. Genau wie sie selbst traute niemand von ihren Freunden oder Klassenkameraden irgendjemandem über den Weg, sodass sie Lügen schnell entlarvten. Aber jemand wie diese Valerie Reed, Fachärztin für Zahnheilkunde, die wahrscheinlich in den 70ern als Kind liberaler Eltern in Südkalifornien aufgewachsen war, war ein leichtes Opfer – eine Person, die unbedingt jedem Glauben schenken möchte und eine Lüge auch dann nicht sieht, wenn sie ihr ins Gesicht springt.

Doch es war ja für eine gute Sache und somit berechtigt, ein notwendiger Schritt, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. Ihren genialen Plan!

Sie würde Solomon Reed heilen.

Ihr Leben hing davon ab.

Drei
Solomon Reed

Therapien brachten bei Solomon nicht viel, weil er keine wollte. Als er zwölf war, wagten seine Eltern einen ersten Versuch, nachdem sie eingesehen hatten, dass seine Trotz- und Schreianfälle mehr waren als die schlechten Manieren eines verzogenen Vorstadtkindes. Doch er wollte nicht mit der Therapeutin sprechen. Kein einziges Wort. Jason und Valerie Reed hatten ein Problem. Wie soll man jemanden maßregeln, der den ganzen Tag in seinem Zimmer verbringen will? Wenn sie ihm den Computer oder den Fernseher verbaten, las er eben den ganzen Tag. Und keiner von ihnen hätte ihm die Bücher wegnehmen wollen.

In der Schule war er schüchtern und schweigsam. Saß zusammengesunken an seinem Tisch in der hintersten Reihe und bekam trotzdem gute Noten. Im Unterricht brachte er die Kunst, unsichtbar zu sein, bis zur Perfektion. Doch zu Hause war er wie ausgewechselt, er lachte und flachste mit seinen Eltern herum. Es kam sogar vor, dass er zu laut Musik hörte oder beim Abwaschen oder Tischdecken selbst ausgedachte Lieder sang.

Als er seinen Zusammenbruch in der Schule hatte, war er immer noch in Therapie, woraufhin Jason und Valerie es mit einer neuen Therapeutin versuchten – einer, die doppelt so teuer war. Solomon ging zwar hin, sagte aber immer noch nichts. Doch er hörte zu. Er hörte sehr gut zu, und gleich nach der ersten Sitzung entwarf er einen Plan, wie er auch diese Therapeutin loswerden konnte. Und er musste sich dazu nicht einmal irgendwelche Lügen ausdenken.

»Sie glaubt, ihr misshandelt mich, oder so was.«

»Hat sie das gesagt?«, fragte sein Dad.

»Nicht direkt«, antwortete Solomon. »Aber sie wollte alles Mögliche über eure Arbeitszeiten wissen, und ob ihr viel streitet oder herumschreit. Sie will Blut sehen. Ich gehe da nicht wieder hin.«

Und dabei blieb es. Was hätten seine Eltern auch sagen sollen? Zu Hause ging es ihm besser. Er war ruhig und zufrieden, und sie kamen gut mit ihm aus. Panikattacken hatte er nur selten, und auch wenn sie es nie zugegeben hätten: Ihr Leben war jetzt viel einfacher. Keine Elternabende, kein morgendliches Zur-Schule-Bringen, kein Abholen am Nachmittag. Mit kaum dreizehn Jahren brauchte er sehr wenig von seinen Eltern, und noch weniger von der Welt. Er langweilte sich nie, war nie einsam oder traurig. Er war in Sicherheit. Er konnte die Ängste vergessen und entspannt durchatmen.

Solomon hatte in der Schule nie viele Freunde, nur Klassenkameraden, denen er auf dem Gang zunickte oder die ab und zu Hausaufgaben von ihm abschrieben oder er von ihnen. Aber irgendwie kam es, dass er beim Mittagessen immer mit Grant Larsen zusammensaß. Grant sprach die ganze Zeit über »heiße Mädchen« und Actionfilme und darüber, welche Lehrer er am meisten hasste. Wenn er nicht gerade mit dem »coolen Job« seines Vaters angab, der für einen Hersteller von Elektroautos arbeitete.

»Und warum fahrt ihr dann nicht so ein Ding?«, fragte Solomon regelmäßig.

»Zu Hause kriegt man die noch nicht gut geladen. Aber bald! Echt jetzt.«

Grant war es egal, dass Solomon nie über Mädchen sprach und auch nie damit angab, was sein Vater für einen coolen Job hatte. Für ihn kam es nur darauf an, dass jemand ihm zuhörte, und das war nun mal eine von Solomons großen Stärken. Er nickte und antwortete mit ein oder zwei Worten. So schaffte es Solomon, inmitten von Hunderten lauten Teenies dazusitzen, ohne auszuflippen. Er konzentrierte sich auf Grant und verhielt sich ruhig. Nur ein bisschen mehr Aufmerksamkeit als das, und ihm blühte eine Panikattacke vor versammelter Mannschaft. So wie die, durch die er ein für alle Mal zum Verrückten erklärt wurde.

Eins muss man Grant lassen: Nach der Sache mit dem Brunnen kam er Solomon ein paarmal zu Hause besuchen. Aber zu Hause war Solomon nicht der stumme Zuhörer wie in der Schule. Er war er selbst. Und diesen Solomon schien Grant nicht besonders zu mögen.

»Willst du vielleicht ein Spiel spielen?«, fragte Solomon ihn eines Tages, wenige Wochen nach seinem dramatischen Abgang von der Schule.

»Was für ein Spiel? Hast du ’ne PlayStation?«

»Äh, nein. Videospiele sind nicht so meins. Ich meine ein Kartenspiel oder so. Magst du Strategiespiele?«

»Du meinst so was wie Dungeons & Dragons? Nee, auf keinen Fall. Ich hab keine Lust, als Jungfrau zu sterben.«

»Was ist das denn für ein hohler Spruch?«

»Sag das meinem Onkel Eric. Der spielt ständig diese Spinner-Spiele mit seinen Spinner-Freunden, und meine Mom meint, so bleibt er bestimmt für immer alleine.«

»Und wo ist da das Problem?«, sagte Solomon halb zu sich selbst.

»Mann, bist du blöd! Ich hab jedenfalls keinen Bock auf irgendein Strategiespiel, da passiert doch nix.«

Von wegen. Dabei passierte unheimlich viel. Und Solomon begriff recht bald, dass er lieber keinen Freund hatte als so einen. Weshalb er nicht traurig war, als Grant sich nach ein paar Monaten und noch ein paar missglückten Treffen irgendwann gar nicht mehr meldete. Solomons Eltern erkundigten sich manchmal noch, was denn mit Grant sei, warum er so viel zu tun habe, aber Solomon zuckte nur mit den Schultern und sagte, er wisse es auch nicht. Dabei wusste er es ganz genau. Grant hatte jemand Neues gefunden, den er zu Tode langweilen konnte.

Solomons Welt war nämlich nicht so einsam, wie man glauben könnte. Und düster und traurig war sie auch nicht. Eine kleine Welt, das schon, aber gemütlich. Warum sollte er daran etwas ändern? Er wusste, dass seine Eltern sich Sorgen machten. Das war das Einzige, was ihn bedrückte. So gerne hätte er ihnen erklärt, wie viel besser es ihm jetzt ging. Aber aus der Tatsache, dass sie einen Bogen um das Thema machten und ihn auch nicht mehr mit Therapien behelligten, schloss er, dass sie es bereits wussten.

Vier
Lisa Praytor

Lisa hatte von ihrer Mutter einige wichtige Dinge gelernt. Wie man sich beim Autofahren schminkt, wann man weiße Schuhe tragen kann und wann nicht – solche Sachen. Aber vor allem hatte Lisa gelernt, sich im Leben nicht alles gefallen zu lassen. Sie hatte keine Lust, zu enden wie ihre Mutter: überarbeitet, leicht depressiv und in dritter Ehe unglücklich.

Lisa wollte weg aus Upland. Gut, es gab bestimmt Schlimmeres als diese kleine Stadt in Kalifornien, aber sie wusste einfach, dass sie in Upland auf Dauer nicht glücklich werden würde. Jemand wie Clark konnte hier vielleicht still und zufrieden leben, ohne je etwas zu vermissen. Doch Lisa hatte größere Pläne. Sie wollte jemand Bedeutendes werden. Nur dazu würde es im Inland Empire nicht kommen. Mit dem Ende ihrer Schulzeit auf der Junior-High taten sich für Lisa immerhin neue Perspektiven auf. Und jetzt, wo sie einen zweiten Termin bei Solomon Reeds Mutter hatte, war sie ihrem Ziel, aus Upland wegzukommen, näher als je zuvor.

Sie war sich nur noch nicht sicher, was mit Clark werden sollte. Sie liebte ihn. Wie konnte man ihn auch nicht lieben. Aber jeden Versuch, mit ihm das nächste Level zu erreichen, blockte er ab. Übers College wollte er nicht reden, sagte, er sei noch nicht so weit. Und trotz seines Aussehens und seines Selbstbewusstseins zeigte sich, dass er auch in einem gewissen anderen Punkt noch nicht so weit war.

Clark wollte warten. Lisa war nicht ganz klar, worauf, aber immer wenn sie etwas anfangen wollte, das auch nur entfernt an Sex erinnerte, fand er, es sei noch nicht der richtige Moment. Natürlich kam sie nie auf den Gedanken, dass es etwas mit ihr zu tun haben könnte.

»Er ist gläubig«, erzählte sie ihrer Freundin Janis am Telefon, »das wird’s sein, oder?«

Schon seit der ersten Klasse waren Janis Plutko und Lisa beste Freundinnen. Doch vor einem Jahr war Janis auf einmal sehr christlich geworden, und Lisa fand, dass ihre alte Schulfreundin mehr und mehr von ihr abrückte. Sie hatte an sich kein Problem mit dem neu gefundenen Glauben ihrer Freundin, aber sie fragte sich manchmal, ob Janis wirklich so gläubig war, wie sie tat.

»Oh bitte«, sagte Janis. »Ich bin schon mit drei Typen aus der Sonntagsschule ausgegangen, und alle drei wollten mir an die Wäsche. Lass mal den lieben Gott aus dem Spiel, Lisa.«

»Ja, aber was ist es dann? Und sag nicht, dass es an mir liegt!«

»Lisa … er ist im Wasserball-Team und er hat drei ältere Brüder …«, sagte Janis.

»Och nee, Janis! Nicht schon wieder! Er ist nicht schwul.«

»Alle Statistiken und Klischees sprechen aber dafür.«

»Was soll dieser Mist?«

»Es heißt, je mehr ältere Brüder man hat, umso wahrscheinlicher ist man schwul. Und ich muss dir doch nicht wirklich erklären, was an Wasserball schwul ist?«

»Lauter halb nackte Jungs, die sich im Wasser um einen Ball balgen«, sagte Lisa. »Schon klar, aber er ist nicht schwul.«

»Ich kann ja verstehen, dass du es nicht wahrhaben willst. Aber schließ die Möglichkeit nicht aus. Ich hab eine Antenne für so was.«

»Ehrlich gesagt, so wichtig ist es jetzt auch nicht.«

»Lisa … ich finde, du solltest das schon ernst nehmen.«

»Vielleicht sollten nicht alle so ein großes Ding daraus machen. Und ich hab zurzeit eh so viel um die Ohren. Sex steht auf meiner Liste ganz weit unten.«

»Gratuliere, du wärst eine vorbildliche Christin. Geh doch einfach mal zur Kirche, vielleicht ist er dann ganz scharf auf dich.«

»Ich hätte Angst, dass mich auf der Schwelle der Blitz trifft.«

»Das fürchte ich auch«, sagte Janis leicht gehässig.

»Ich liebe ihn. Und ich bin ziemlich sicher, dass er mich liebt. Also, wo ist das Problem?«

»Darf ich dich erinnern, dass wir dieses Gespräch führen, weil du sexuell frustriert bist?«

»Und wenn schon. Wie gesagt: Sex lenkt nur ab. Ich muss mich auf die Schule konzentrieren und zusehen, dass ich hier wegkomme.«

»Dann erzähl doch endlich von deiner Zahnärztin«, sagte Janis.

»Sie war supernett. Und ich hatte recht. Er war schon seit Jahren nicht mehr draußen.«

»Wahnsinn«, sagte Janis. »Aber an seiner Stelle würde ich mich auch nicht mehr aus dem Haus trauen.«

»Er konnte doch nichts dafür«, hielt Lisa dagegen.

»Mal ehrlich, ich versteh nicht, warum du dir so einen Kopf um einen Typen machst, den du gar nicht richtig kennst.«

Lisas Plan war schon einige Zeit gereift, bevor sie Solomons Mom getroffen hatte, aber sie war noch nicht bereit, Janis einzuweihen. Das Letzte, was man gebrauchen kann, wenn man etwas tut, was man lieber bleiben lassen sollte, ist eine Moralpredigt von jemandem wie Janis. Lisa kannte das Risiko, und ihr Entschluss stand fest.

Später am selben Abend, zu Hause bei Clark, schnitt Lisa wieder das Thema College an, um rauszufinden, was in seinem Kopf vor sich ging.

»Hast du noch mal über Colleges an der Ostküste nachgedacht?«, fragte sie.

»Ich hab mir mal was angeguckt«, antwortete Clark, »aber dann hab ich mich viel zu erwachsen gefühlt und lieber Videospiele gespielt.«

»Also ich hab mich jetzt endgültig entschieden. Vielleicht findest du was in der Nähe?«

»Okay, und wo?«

»Woodlawn University. Woodlawn hat den Psychologie-Studiengang mit dem landesweit zweitbesten Ranking.«

»Warum nimmst du nicht den mit dem besten Ranking?«

»Weil ich mir sicher bin, dass ich in Woodlawn Jahrgangsbeste sein kann, aber vielleicht nicht an dem anderen College.«

»Du bist wie Lady Macbeth, nur ohne Mord.«

»Danke, ich nehme das als Kompliment.«

»Und ich soll also nach einem College da in der Nähe schauen? Wo liegt das, in Oregon?«

»Maryland«, verbesserte sie. »Baltimore.«

»Ich wollte immer schon mal das Grab von Edgar Allan Poe sehen.«

»Totaler Blödsinn«, sagte Lisa. »Ich kann mit dieser Faszination für Gräber und Friedhöfe nichts anfangen. Ich finde das … morbide und einfach nur traurig.«

»Ich gehe manchmal zum Grab von meinem Opa. Ich finde es schön da.«

»Tut mir leid.«

»Braucht dir nicht leidtun«, erwiderte Clark. »Ich mag, was ich mag, und du magst, was du magst.«

»Und was machst du dann da? Du guckst es dir an und bist traurig?«

»Nein. Meistens bete ich einfach oder rede mit meinem Opa, als wäre er noch da. Ehrlich gesagt, macht es mich eher fröhlich als traurig.«

»Wir Menschen sind schon komisch, oder?«

»Bist du deswegen so scharf darauf, uns alle zu therapieren?«, fragte Clark.

»Nicht dich«, sagte sie schnell, »du bist in Ordnung, so wie du bist.«

»Danke. Also … Woodlaw …«

»Woodlawn«, korrigierte Lisa.

»Ach ja, genau. Kommst du da rein?«

»Mit links.«

»Was musst du dafür machen? Einen Aufsatz schreiben oder so?«

»Genau. Meine persönliche Erfahrung mit psychischen Erkrankungen

»Das sollte nicht schwer sein.« Clark lachte. »Du kannst einfach was über deine Mom schreiben. Oder auch über meine Mom. Die hat manchmal echt nicht mehr alle Tassen im Schrank.«

»Nein, es muss etwas Einmaliges sein. Der beste Aufsatz des Jahres. Oder der beste in der Geschichte von Woodlawn. Sie vergeben nur ein Stipendium pro Jahr. Mit allem Drum und Dran.«

Lisa wusste genau, worüber sie schreiben würde. Als sie Valerie Reeds Anzeige in der Zeitung entdeckte, war es ihr schlagartig klar geworden. Sie musste Solomon finden, einen Draht zu ihm bekommen und ihn wieder gesund machen. Dann würde sie alles in ihrem College-Aufsatz verarbeiten und wäre auf dem besten Weg, bald zu den größten Psychologen des 21. Jahrhunderts zu zählen. Vielleicht würde man in Woodlawn eines Tages sogar ein Gebäude nach ihr benennen.

Aber um garantiert Erfolg zu haben, musste sie bald loslegen. Vor allem, weil es sich bei Solomon Reed anscheinend um einen schweren Fall von Agoraphobie handelte. Mit ein paar Wochen war es da nicht getan. Lisa würde Monate brauchen, damit er die gewünschten Fortschritte machte – und ihr vorletztes Jahr an der Junior-High neigte sich schon dem Ende zu. Sie konnte gerade noch die Deadline für eine vorgezogene Bewerbung schaffen, aber viel Spielraum blieb ihr nicht. Die Warteliste kam für sie nicht infrage, und lieber würde sie sterben, als sich mit dem drittbesten Angebot zufriedenzugeben. Sie gehörte nach Woodlawn, und sie würde es dorthin schaffen, egal um welchen Preis.

»Ich werde über meinen Cousin schreiben«, sagte Lisa.

»Den in der Klapse?«

»… in der Anstalt«, verbesserte sie. »Ich habe ihn erst ein Mal getroffen. Er darf an ein, zwei Wochenenden im Jahr nach Hause. Ganz schön krass irgendwie. Ich wollte immer schon mal mit ihm reden und ihn ein bisschen kennenlernen. Hab’s aber nie gemacht.«

»Sei vorsichtig«, riet Clark. »Wird schon seinen Grund haben, dass sie ihn wegsperren.«

»Bestimmt. Aber vielleicht werde ich trotzdem versuchen, mit ihm zu reden.«

Trotz ihres Interesses für Psychologie hatte Lisa nicht die geringste Absicht, mit ihrem Cousin oder sonst irgendjemandem aus ihrer Familie zu sprechen. Sie ertrug es ja schon kaum, mit ihrer Mutter im selben Zimmer zu sein, und die letzte Geburtstagskarte von ihrem Vater hatte sie bekommen, als sie neun war. Sie brauchte nur eine gute Tarnung, damit Clark nicht von Solomon Wind bekam. Zumindest noch nicht gleich. Man sagt seinem Freund nicht einfach, dass man vorhat, die nächsten Monate viel Zeit mit einem anderen Typen zu verbringen. Vor allem nicht, wenn dieser andere Typ den Ruf hat, emotional labil zu sein und in aller Öffentlichkeit auszuticken. Sie würde den richtigen Moment schon finden. Clark war glücklich in seiner heilen Welt, also tat sie ihm damit nur einen Gefallen. Er wollte die Dinge gern langsam angehen lassen? Das konnte er haben.

Fünf
Solomon Reed

In den Augen der meisten Leute war Solomon wohl ein Verrückter. Da war natürlich die Sache mit der Agoraphobie, aber das war noch nicht alles. Die Krönung von Solomons bizarren Essgewohnheiten (er weigerte sich konsequent, Gemüse zu essen) war seine unergründliche Angst vor Kokosnüssen. Außerdem lief er die meiste Zeit mit verwuschelten Haaren und nur halb angezogen herum, was den roten Abdruck am Bauch, den sein Laptop beim Hausaufgabenmachen oder Filmegucken hinterließ, besonders gut zur Geltung brachte. Und obwohl er selbst ein völliger Versager bei Videospielen war, genoss er es, seinem Vater stundenlang dabei zuzusehen.

Ach ja, und manchmal dachte er auch laut. Seine Eltern wussten schon, dass er, wenn er alleine im Zimmer war, völlig zusammenhanglose Dinge sagte. An dem Tag, nachdem seine Mom Lisa Praytor kennengelernt hatte, kam sie mal wieder in so einem Moment zu ihm herein. Er saß an seinem Schreibtisch und sagte gerade »Johnny Depp«, ohne zu wissen, dass sie hinter ihm im Zimmer stand.

»Wer ist ein Depp?«, fragte sie.

Er drehte sich langsam auf seinem Stuhl um und schaute sie an. Seine Wangen waren leicht gerötet, bekamen aber bald wieder ihre normale Farbe. Er hatte schon so viel mit seinen Eltern erlebt, dass ihn kaum noch etwas in Verlegenheit bringen konnte.

»Weißt du noch, die neue Patientin, von der ich erzählt habe – die von deiner Schule?«

»Diese Lisa Dingsbums.«

»Praytor«, sagte seine Mom. »Die wollte ganz schön viel über dich wissen.«

»Sie scheint irgendwie gerade dein Lieblingsthema zu sein. Stimmt was nicht mit meinen Backenzähnen? Willst du mich umtauschen?«

»Das überlege ich mir noch.«

»Und sie hat viel über mich wissen wollen? Ganz schön übergriffig.«

»Ach was, sie ist vielleicht ein wenig neugierig. Aber nicht übergriffig. Ist doch schön zu wissen, dass da draußen jemand an dich denkt, oder?«

Solomon wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Da draußen dachte also jemand an ihn. Na toll. Was sollte er damit anfangen – sie zum Brunch einladen?

»Wenn du meinst.«

»Es würde dir auch nicht schaden, wenn du ein, zwei Freunde hättest, weißt du.«

»Sind wir etwa keine Freunde? Soll das heißen, dass wir keine Freunde sind?«, blödelte er mit lauter Stimme und dickem Gangster-Akzent.

»Ich meine ja nur, deine einzigen Freunde sollten nicht mehr als doppelt so alt sein wie du und ganz bestimmt nicht deine Eltern.«

»Ich seh da kein Problem«, sagte Solomon.

»O mein Gott.« Sie umfasste seinen Kopf mit beiden Händen. »Du bist ein genauso hoffnungsloser Fall wie dein Vater.«

Valerie Reed lebte mit einer älteren und einer jüngeren Ausgabe des gleichen Mannes zusammen – ein minimalistischer Eigenbrötler, der so gut wie nie über seine Gefühle redete und sich zwanghaft für irgendwelches alberne Zeug begeisterte. Sie ertrug geduldig ihre wöchentlichen Filmabende mit alten Science-Fiction-Streifen und das sich anschließende Gespräch unter Nerds. Was sie dagegen mochte, war, bissige Bemerkungen darüber zu machen, dass das Filmeschauen mit ihnen schlimmer war als eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung.

»Könntest du nicht online mit ein paar alten Schulfreunden Kontakt aufnehmen?«, bohrte sie weiter.

»Ach Mom, und was soll mir das bringen?«

»Na, Spaß, was weiß ich.«

»Ich habe viel Spaß«, sagte er.

»Okay, okay.« Sie machte eine resignierte Handbewegung und verließ den Raum. »Ich muss mich um Rechnungen kümmern.«

Solomon fragte sich, ob er irgendwann mal eigene Rechnungen bezahlen würde. Er hatte nicht vor, jemals das Haus zu verlassen. Unter gar keinen Umständen. Andererseits hatte er schon jetzt, mit sechzehn, langsam ein schlechtes Gewissen, weil er immer da war – und vorhatte, auch immer da zu bleiben. Seine Mom und sein Dad waren nicht die Sorte Eltern, die im Alter zu Hause rumsitzen und Däumchen drehen. Er wusste, dass sie nach der Pensionierung viel reisen wollten, vielleicht sogar irgendwohin umziehen. An manchen Tagen, vor allem wenn seine Mom mehr oder weniger subtile Andeutungen über eventuelle Genesungsfortschritte machte, kam er sich vor wie das größte und einzige Problem in ihrem Leben. Und er wollte nicht, dass seine Lebensweise für sie eine nicht endende Belastung war.

Nachdem seine Mom gegangen war, machte Solomon sich wieder an seine Hausaufgaben. Aber zwischendurch ging er immer mal wieder ins Netz und recherchierte.

Von der Welt da draußen vermisste er nicht viel – manchmal Target mit den akkurat bestückten Regalen und der entspannenden Kaufhausmusik. Vielleicht noch einige seiner Lieblingsrestaurants. Ach ja, und er vermisste den Geruch von Regen in der Luft. Das Gefühl von Regentropfen auf seiner Haut. Letzteres wusste er sich manchmal zu verschaffen, indem er bei Regen die Arme aus dem Fenster hielt. Wasser beruhigte ihn. Er wusste nicht, warum, aber es half. Er konnte problemlos eine Stunde oder länger mit geschlossenen Augen in der Wanne liegen und sich ganz auf das Surren des Badlüfters konzentrieren. So schirmte er sich gegen alles Störende ab, gegen die Gedanken, die sich in seinem Kopf in einer endlosen Schleife drehen konnten. Er wusste, falls es damit losging, sollte er bis zehn zählen und tief und langsam ein- und ausatmen. Aber das wirkte nie so gut wie das Wasser.