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Tim Frühling hat 1994 direkt nach dem Abitur als Moderator beim Lokalradio angefangen. Mittlerweile arbeitet er seit fast zwanzig Jahren beim Hessischen Rundfunk für verschiedene Radiowellen und als Wetterpräsentator im hr-Fernsehen und der ARD.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2017 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Sabine Lubenow/Lookphotos

Umschlaggestaltung: Franziska Emons, Tobias Doetsch

Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-294-6

Gran Canaria Krimi

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt

durch die Agentur Brauer, München.

Rache ist Eingeständnis des Schmerzes.

Seneca

In diesem Augenblick nervte Professor Dr. Norbert Fabricius so gut wie alles. Lara und Felix, seine beiden Kinder im Grundschulalter, zeigten mal wieder keinerlei Engagement, sich um den Hund zu kümmern, das Au-pair-Mädchen hatte einen freien Tag – und seine Frau war mit ihren Lions-Damen zusammen und organisierte irgendeinen Spendenquatsch. Also blieb es an ihm hängen, mit diesen entwürdigenden schwarzen Tütchen dem Mischlingsrüden hinterherzulaufen, Hinterlassenschaften einzusammeln und die Reviermarkierung abzuwarten.

Fabricius musste zugeben, dass auch er sich seinerzeit in den Welpen verliebte, den seine Kinder im Tierheim entdeckt hatten, aber die Entwicklung des Tieres war aus seiner Sicht mehr als bedenklich. Der Hund ekelte sich ganz offensichtlich vor Matsch und Schmutz, aß nur Futter mit Fisch und schmuste heimlich mit Katzen. Lara hatte das herausgefunden, fotografiert und fand es total »süß«. Ihr Vater fand es in erster Linie unmännlich, genau wie das Aussehen des gesamten Tieres: zentimeterlange Wimpern, lockige Haarpuscheln an den Ohren und dieser tänzelnde Gang. Zu allem Überfluss waren Lara und Felix nicht davon abzubringen gewesen, diese Travestie-Karikatur von einem Hund »Poppy« zu nennen.

Nun musste der femininste Rüde Nordhessens also Darm und Blase entleeren und wurde von seinem Herrchen deswegen kurzerhand an den Edersee verfrachtet. Fabricius wusste zwar, dass Poppy lieber einen Schaufensterbummel auf der Bad Wildunger Brunnenallee gemacht hätte, aber erstens wurde der Professor dort ständig von Patienten mit orthopädischen Wehwehchen belatschert, und zweitens bestand am See vielleicht doch noch die Möglichkeit, dass der Köter irgendwann einen Buddel-, Grab- oder Wühltrieb entwickelte. Außerdem bot Hessens größter Stausee in diesen Tagen mal wieder ein Naturspektakel. Nach wochenlanger Trockenheit war der Wasserstand so niedrig wie selten zuvor, direkt unterhalb des Waldecker Schlosses konnte man von der Südseite zwei gewaltige Höcker betreten, die sonst im Wasser lagen oder nur als Inseln herausragten.

Nachdem der Professor dort ein wenig in der Sonne gesessen und Poppy interessiert die Paillettentasche einer anderen Spaziergängerin beschnüffelt hatte, entschied er sich, den kleinen Umweg über den Kletterwald und die Felder zurück zu seinem Parkplatz an der Staumauer zu machen. Wer wusste schon, wie viele sonnige Tage der September noch bringen würde?

Poppy anzuleinen war völlig unnötig. Er hatte eh nicht vor, den betonierten Weg zu verlassen. Fahrradfahrern wich er grazil aus.

Genau in dem Augenblick, als Professor Fabricius den morgigen OP-Plan auf seinem Smartphone checken wollte, passierte etwas völlig Ungewöhnliches. Sein Hund schlug sich ohne Vorwarnung ins Gebüsch, hechtete den steilen Hang hinab und kam erst vor einem kleinen Felsen zum Stehen, der normalerweise metertief im Seewasser lag. Verärgert steckte Fabricius sein Handy weg, drückte ein widerspenstiges Gestrüpp beiseite und stellte sich an die Abbruchkante des Sees.

»Poppy, komm wieder hoch, hörst du? Poppy! Sei ruhig und komm hierher!«

Nichts davon tat der Mischling. Er stand vor dem Felsen und kläffte in die Restfluten des Edersees hinein. Sehr seltenes Verhaltensmuster, sonst gab der Hund so gut wie keinen Ton von sich. Deswegen fiel dem Professor auch jetzt erst wieder auf, wie hell das Gebell des Tieres in Relation zu seiner Körpergröße war.

»Poppy, bei Fuß! Das ist zu steil, Herrchen kommt da nicht runter!« Na gut, das stimmte jetzt nicht ganz, Herrchen wollte da nicht runter, und Herrchen wollte auch nicht mehr diesen albernen Namen und das Wort »Herrchen« rufen.

»Och, Poppy, jetzt hör doch auf, los, hoch mit dir!« Fabricius nestelte einen Hunderiegel aus seiner Jackentasche, packte ihn aus und fuchtelte damit herum. »Hier, Alaska Salmon, deine Lieblingssorte. Poppy! Lachs!«

Nichts zu machen. Das störrische Vieh stand, kläffte und wich nicht von der Stelle.

Seufzend steckte Professor Fabricius den Riegel wieder ein, roch angewidert an seiner Hand und begann, in kleinen Schritten die Böschung hinabzuklettern. Immer wieder musste er sich abstützen, der Hang war doch steiler als gedacht.

Zwischendurch versuchte er es noch ein paarmal mit einem halblauten »Poppy«, aber er hatte den Glauben schon aufgegeben, dass die Töle freiwillig von dem Felsen ablassen würde.

***

Gute zwei Stunden später tauchten mehrere Hochleistungsscheinwerfer die Szene in ein gespenstisches Licht. Es war mittlerweile dunkel geworden, die Wärme des Tages gewichen. Aus dem Wald drang ein Motorengeräusch, das auf ein angestrengtes Navigieren eines großen Fahrzeugs auf einem viel zu engen Weg hindeutete. Das musste der Spezialkran sein, den die Polizei aus Fritzlar angefordert hatte.

Fabricius hatte sich bei seiner Familie telefonisch abgemeldet, denn jetzt wollte er auch bis zum Schluss mitbekommen, was hier geschah. Er war es schließlich, der die Beamten verständigt hatte, nachdem sein »ausgebildeter Spür- und Fährtenhund«, wie er Poppy bei der Vernehmung bezeichnet hatte, ein rotes Stück Blech im See angebellt hatte.

»Sie können ruhig nach Hause gehen, Herr Fabricius, wir werden Sie morgen darüber verständigen, was wir aus dem See gefischt haben«, schlug ein Polizist vor, der von diesem Angebot unübersehbar am liebsten selbst Gebrauch gemacht hätte. »Ihre Aussage liegt uns ja vor.«

»Nein, nein, ich habe morgen Spätdienst, und jetzt wollen Rex und ich ja auch wissen, was wir da entdeckt haben.« Der Professor hatte sich entschieden, den Namen seines Hundes ein wenig in seine Geschmacksrichtung zu modifizieren, denn ein ausgebildeter Spür- und Fährtenhund hieß schließlich nicht Poppy.

Der Beamte zuckte kurz mit den Schultern, murmelte irgendetwas und gesellte sich zu seinen Kollegen, die auf dem schmalen Weg eine geeignete Stelle für den Kranwagen suchten. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis der Koloss die richtige Position eingenommen und seine Abstützträger ausgefahren hatte.

Fabricius schlenderte zu den Beamten, Poppy hatte sich derweil für ein Nickerchen entschieden.

»Weswegen wollen Sie das Ding denn unbedingt noch heute aus dem See ziehen? Wäre das morgen bei Tageslicht nicht wesentlich einfacher?«

Der missmutige Polizist von eben zündete sich eine Zigarette an. »Wir müssen so schnell wie möglich klären, was da genau liegt«, antwortete er, nachdem er den Rauch des ersten Zuges ausgestoßen hatte. »Es wird wohl ein Auto sein. Kleinwagen, wenn Sie mich fragen. Limousinen werden selten in Rot gekauft. Kann sein, dass der schon seit Mai im Wasser ist. Die Kollegen auf dem Revier haben eine Anzeige aus dem Frühjahr gefunden, da ist oben am Brühlfeld die Schranke beschädigt worden. Vielleicht von dem Kandidaten, den wir da gleich rausholen.«

Wie aufs Stichwort grollte ein dumpfes Brummen aus dem Autokran, gefolgt von einem Quietschen des Hakens. Der Professor und die Beamten versammelten sich neugierig an der Abbruchkante und beobachteten, wie langsam immer mehr von dem Auto auftauchte.

Ein älterer Polizist mit Schnäuzer dozierte: »Roter Honda Jazz, älteres Baujahr. Kennzeichen fehlen. Ziemlich verbeult, möglicherweise durch den Sturz in den See oder den Schrankendurchbruch. Ludger, leuchte mal in den Innenraum!«

Ein anderer Beamter richtete eine massive Taschenlampe ins Innere des Wagens. Fabricius hielt die Luft an. Bitte keine Wasserleiche. Das war in etwa das Widerlichste, was man sich vorstellen konnte.

»Auf den ersten Blick leer«, kommentierte der Schnauzbärtige, und Fabricius meinte, aus der Aussage eine gewisse Erleichterung herauszuhören.

»Bringt gar nichts, die Nummernschilder abzuschrauben«, wandte sich der wortführende Beamte an Fabricius. »Über die Fahrgestellnummer finden wir den Halter eh heraus. Aber das ist dann polizeiliche Ermittlungsarbeit, die Sie nichts angeht.« Der Polizist zwinkerte kumpelhaft. »Vielen Dank für Ihren Einsatz, Herr Professor, ich würde Sie bitten, jetzt nach Hause zu gehen. Und natürlich noch mal ein großes Lob an Ihren gut erzogenen Spürhund. Wie heißt er noch gerade?«

»Rex, mein Hund heißt Rex«, sagte Fabricius und trat mit Poppy den Heimweg an.

***

Auf Spanisch lässt es sich herrlich fluchen, meist allerdings einen ganzen Zacken derber als auf Deutsch. Viele sehr, sehr unschöne Wörter stieß Alfonso Suárez aus, der schwitzend hinter einem unaufgeräumten Schreibtisch saß und zur Nervenberuhigung gerade den dritten Honigrum in sich hineingekippt hatte.

Schon drei Kunden hatten sich bei »Don Alfonsos Pizza-Express« über die ausbleibende Lieferung beschwert, darunter ein Kindergeburtstag, der auf vier unterschiedlich belegte Pizzen in der Größe sechzig mal vierzig Zentimeter wartete. Und alles lag mal wieder an Diego, diesem unzuverlässigen Lümmel. Der Junge sah einfach zu gut aus für diesen Job, das konnte nur Ärger bringen. Blond und blauäugig, völlig untypisch für einen canario, aber mit der Bräunungsfähigkeit eines Südländers und dem Lächeln eines Zahnpasta-Models. Er war der Trinkgeldkönig unter den Auslieferungsburschen, es gab Kundinnen, die bei der telefonischen Bestellung explizit ihn als Lieferanten verlangten.

Alfonso wuchtete sich von seinem Schreibtisch hoch und wankte in die Backstube. »Juan, wann hat dieser Knilch den Laden verlassen, das ist doch jetzt schon fast zwei Stunden her, oder? Leg nicht so viel Oliven auf die Pizza, das kostet alles mein Geld, hörst du?«

Der Pizzabäcker verdrehte die Augen, warf die restlichen Oliven zurück in die Dose und kontrollierte die Bestellzettel. »Jaja, zwei Stunden sind realistisch, zwei Margherita in die Calle la Centrífuga, eine Lasagne für den Marktleiter im ›Mercadona‹, die vier Partypizzen für den Geburtstag und eine Thunfisch mit Zwiebeln in die Calle Guatemala. Alles in allem keine zehn Kilometer, auch wenn die letzte Adresse ziemlich am Stadtrand von Vecindario liegt.«

Alfonso schnappte Juan die Zettel weg und setzte seine Lesebrille auf, die, von einem dünnen Bändchen gehalten, auf dem ausufernden Bauch des Lieferservice-Inhabers ruhte. »Aber dafür kam die Bestellung aus der Guatemala zuerst rein. Und das ist der einzige Kunde, der sich noch nicht beschwert hat. Diego geht nicht ans Handy. Es wird unserem Schönling doch nichts passiert sein nach der ersten Auslieferung?«

Juan streute unter den Augen seines Chefs sparsam Käse auf zwei weitere Pizzen. »Bestimmt nicht, er ist der einzige von den Jungs, der auf dem Roller einen Helm trägt. Und er fährt wie eine Schnecke in Rente, bestimmt aus Angst um sein schönes Gesicht.«

Alfonso knurrte. »Trotzdem, das gefällt mir alles nicht. Der Kunde aus der Guatemala war auch nicht in unserer Datenbank. Wo ist Pablo?«

»Der macht eine Lieferung nach Agüimes und dann Feierabend. Es war nicht so viel los heute.«

Alfonso legte die Bestellzettel beiseite und ließ die Brille mittels einer routinierten Nasenbewegung zurück auf seinen Bauch gleiten. »Nicht viel los gefällt dem Chef nicht. Ich gehe das faule Aas jetzt suchen und ziehe ihm die Hammelbeine lang, wenn ich ihn irgendwo rumlungern sehe.«

***

Vecindario war kein Ort, in den sich Touristen auf Gran Canaria verirrten. Durch seine günstige Lage zwischen dem Flughafen und den Touristenzentren im Süden der Insel war die Urbanisation in den letzten Jahrzehnten auf fast sechzigtausend Einwohner angewachsen. Außer ein paar guten Geschäften gab es kaum Sehenswürdigkeiten zwischen dem ganzen Beton in den schachbrettartig angelegten Straßenschluchten.

Trotz seiner Größe war der Ort keine eigenständige Gemeinde, sondern wurde vom Bergdorf Santa Lucía de Tirajana aus verwaltet, das sich über die üppigen Einnahmen aus der Ebene natürlich freute und keine großen kosmetischen Auflagen beim Bau von Vecindario gemacht hatte.

»Don Alfonsos Pizza-Express« versorgte seit mehr als zwanzig Jahren Spanier, die von Tapas und Paella genug hatten – oder nach ihrem Job als Kellner, Zimmermädchen oder Busfahrer schlicht keine Lust mehr aufs Selbstkochen empfanden. Der Laden lief erfreulich krisenunabhängig, für die schnelle Sättigung im unteren Preissegment war wohl immer noch genug Geld da.

»Jetzt fahr doch endlich zu, du Lahmarsch!« Alfonso quälte sich hupend durch den Feierabendverkehr, es war mittlerweile dunkel geworden. Er hatte ein schlechtes Gefühl, was Diego anging. In der Calle Guatemala gab es nichts, was den Jungen von seiner Lieferung hätte ablenken können. Ein Unfall wäre mehr als ungünstig gewesen, schließlich beschäftigte Alfonso seine Ausfahrer in einem zwielichtigen Anstellungsverhältnis ohne Krankenversicherung. Und die Dreistigkeit, sich mit ein paar chicas im Café zu treffen, während in der Thermobox die Pizzen vor sich hin dampften, traute Alfonso nicht mal diesem Schönling mit den Flausen im Kopf zu.

Nach einer knappen Viertelstunde erreichte er die angegebene Lieferadresse. Stöhnend stieg er aus seinem Seat aus und ging auf das Haus zu. Wie in Spanien üblich, waren keine Namen an den Klingeln angebracht. Die Thunfisch mit Zwiebeln war für den zweiten Stock rechts in einem recht neuen Mehrfamilienhaus bestellt worden. Kurzerhand klingelte Alfonso.

Nichts rührte sich.

Nach einigen Sekunden drückte er den Knopf erneut und ging ein paar Schritte zurück, um zu überprüfen, ob in der betreffenden Wohnung das Licht an war.

Alles dunkel.

So langsam bekam er es mit der Angst zu tun. Er zückte sein Handy und rief im Laden an. »Juan, hast du irgendetwas gehört von Diego? Ich stehe vor dem Haus in der Guatemala, wo die erste Pizza hinsollte, aber hier ist niemand.« Während er sprach, lief er an den Autos entlang, die an der rechten Straßenseite parkten. Dahinter trennte ein rostiger Eisenzaun die Siedlung von unbebautem steinigen Ödland ab.

»Nein, Jefe, hier gibt es keine Neuigkeiten. Ich könnte die anderen Jungs mal anrufen und fragen, ob Diego derzeit ein Mädchen hat. Vielleicht weiß die …«

»Scheiße, verdammte, hier steht sein Roller. Zwischen zwei dicken Autos, den habe ich vorhin nicht gesehen. Bleib dran, Juan, ich schaue nach, ob der Rest der Ware noch in der Box ist.« Alfonso hob den Deckel der roten Warmhaltekiste hoch. Eine kleine Wolke verdampfte im gelblichen Licht der Straßenlaternen. »Alles noch drin, oh mein Gott, Juan, ich habe ein ganz schlechtes Gefühl.«

Alfonso drückte sich an Diegos Roller vorbei auf ein Kiesbett am Straßenrand, in dem vor dem Zaun ein paar gedrungene Palmen wuchsen. Er vergaß das Telefonat und blickte sich suchend um, ob hinter den Bäumen irgendetwas zu sehen war.

Was war das dahinten denn Rotes? Bitte nicht Diegos Jacke, bitte, bitte nicht.

Alfonso rannte über den knirschenden Kies und wollte nicht wahrhaben, was immer näher in sein Blickfeld kam. An einem der mächtigen Palmstämme, von der Straße abgewandt und durch Autos verdeckt, lehnte Diego, der Kopf war ihm auf die Brust gefallen, in seiner Jacke zwei blutverkrustete Einschusslöcher.

Alfonso sank auf die Knie und stieß einen markerschütternden Schrei aus.

***

Elena Jiménez zählte Geld und grinste. So gut wie in den letzten Wochen war ihre kleine Bäckerei an der Hauptstraße von Fataga noch nie gelaufen. Früher war sie an erfolgreichen Tagen knapp hundert Brötchen losgeworden, dazu ein paar süße Teilchen und einige Becher Kaffee aus der röchelnden Maschine, die sie vor ein paar Jahren aus der Insolvenzmasse einer Eisdiele in Playa del Inglés erstanden hatte. Mittlerweile lieferte sie allein die doppelte Anzahl an Vollkornbrötchen in drei Hotels am Meer und belegte danach im Akkord.

Toto hatte genau den richtigen Riecher gehabt: Fast alle Urlauber, die sich unten in den Touristenzentren einen Mietwagen nahmen, quälten sich die kurvige Straße durchs Tal von Fataga hoch ins »unentdeckte« Gran Canaria, liefen dreißig Minuten vom Parkplatz zum Roque Nublo und kamen sich danach wie die größten Abenteurer vor. Natürlich mussten sie sich vor dieser sportlichen Spitzenleistung mit dem entsprechenden Catering eindecken – und hier kam Totos Idee ins Spiel. Er hatte Elena vorgeschlagen, gefüllte Empanadas, Knusperstangen und fertig belegte Sandwiches ins Sortiment aufzunehmen, eben alles, was ein Wanderer gut gebrauchen und bequem an der Durchgangsstraße mitnehmen konnte.

Zuerst war Elena von den Leuten im Dorf verlacht worden für ihre großen Werbeschilder, die auf das neue Angebot hinwiesen. Allen voran von Gonzalo Castro, ihrem großen und einzigen Bäckerkonkurrenten im kleinen Fataga. Aber seit vor ihrem Laden kein Parkplatz mehr zu bekommen war und Gonzalo immer mehr von seinen trockenen weißen Schrippen unverkauft wegwarf, war der Spott einer gewissen Bewunderung gewichen.

Leider blieben auch Feindseligkeiten nicht aus. Allzu offensichtlich war es, dass der neue Erfolg ihres Geschäfts auf die Innovationen von Toto zurückging. El extranjero, der Ausländer, wurde er verächtlich von Gonzalo und seinen Kumpels genannt. Aber an der Seite ihres starken Freundes aus Deutschland hielt Elena die Missgunst aus und amüsierte sich mit ihm sogar darüber.

Es war gut zwanzig Jahre her, dass Toto in ihr Leben getreten war. Er hatte als junger Mann seinen Urlaub in einer der riesigen Bettenburgen an der Küste verbracht, sie war im letzten Ausbildungsjahr zur Bäckerin genau in diesem Hotel angestellt gewesen. Als Elena eines Morgens die Brötchenkörbe am Frühstücksbüfett nachfüllte, sprach der Gast aus dem fernen Deutschland sie einfach an. Beide beherrschten nur wenige Worte in der Sprache des anderen, die junge Bäckerin verstand aber, dass der große Mann mit diesen interessanten Sommersprossen in seiner Heimat wohl denselben Beruf ausübte wie sie. Kurzerhand schlug sie ihm vor, am nächsten Tag die hoteleigene Backstube zu besichtigen. Er revanchierte sich mit der Einladung zu einem Drink auf neutralem Boden außerhalb des Hotels.

Aus dem Treffen wurde eine kleine Affäre, die sechs Tage später mit Totos Heimreise recht abrupt beendet wurde. Allerdings blieben sie auch danach in Kontakt, Elena lernte ein wenig Deutsch, und Toto kam sie in den Jahren darauf drei Mal besuchen. Beide hatten in ihrer jeweiligen Heimat zwischendurch auch andere Beziehungen, aber in den Single-Phasen dazwischen sprach ja nichts dagegen, gemeinsam ein bisschen Spaß zu haben.

»Irgendwann«, sagte Toto immer zu Elena, »irgendwann komme ich zu dir in den Süden, wir backen knackiges Brot mit Sauerteig und Roggen und machen richtig Geld.«

Es hatte wie eine dieser Spinnereien geklungen, die man im Urlaub manchmal entwickelt, aber nun war er tatsächlich da! Keine Lust mehr auf seinen Job in der Großbäckerei und auf das wechselhafte Wetter in Deutschland, hatte er ihr am Telefon gesagt. Und sie hatte nicht lange gezögert, ihm anzubieten, bei ihr zu wohnen und im Geschäft mit einzusteigen.

Um ein Gespräch über den konkreten Status ihres Zusammenlebens hatten sich beide bisher erfolgreich herumgedrückt, aber Elena war momentan der Spaß wichtiger, ihre kleine Bäckerei mit familiärer Tradition aus dem Dornröschenschlaf zu wecken – und das klappte mit Toto einfach ganz hervorragend.

Die helle Türglocke unterbrach die Bäckerin beim Addieren von Scheinen und Münzen und riss sie aus ihren Gedanken. Kurz vor Feierabend, das konnte ja nur Gisela Michels sein. Die verrückte Künstlerin hatte bestimmt wieder den ganzen Tag in ihrem Atelier herumgefuhrwerkt und erst am Abend bemerkt, dass sie kaum etwas gegessen hatte. Elena mochte sie, viele andere im Dorf fürchteten sich vor der Frau, die sich als Symbiose aus ihrem künstlerischen Treiben und ihrer niederrheinischen Herkunft Gisèle von Goch nannte.

Gisèle von Goch lief meist mit rot verschmierter Schürze durch Fataga, denn ihre Bilder entstanden aus blutigen Tierorganen, die die Veganerin zornig in zackigen Linien über eine Leinwand rieb. Natürlich fand sich für diese Art der Kunst kaum ein Käufer, das war für Gisèle dank der üppigen Unterhaltszahlungen ihres vermögenden Ex-Mannes aber auch zweitrangig.

Entsetzt blickte sie auf ihre Handinnenflächen, nachdem sie am Griff von Elenas Ladentür eine massive Blutspur hinterlassen hatte. »Ach Gott, jetzt habe ich mir die Hände nicht gewaschen und komme so in dein Geschäft, entschuldige, Schätzchen, gib mir einen Lappen, und ich mache das wieder weg.«

Grinsend warf Elena ihr einen feuchten Schwamm über die Theke.

»Weißt du, ich habe heute eine frische Rinderniere bekommen, da ist die Inspiration nur so aus mir herausgeflossen«, plapperte die Deutsche mit den feuerroten Haaren in fließendem Spanisch, während sie gewissenhaft den Türgriff reinigte. »Ich werde das Bild ›Tanz mit dem Teufel‹ nennen. Du solltest es mal sehen, da steckt ganz viel Persönlichkeit von mir drin.«

Ohne zu fragen, umrundete Gisèle die Theke und wusch den Schwamm in Elenas Becken aus. Dabei hörte sie nicht auf zu reden.

»Ich habe heute eine Energie, meine Liebe, ich weiß nicht, woher das kommt. Wahrscheinlich die calima. Jaja, ihr canarios könnt diesen heißen Wind nicht leiden, ich weiß, aber ich blühe bei trockener Hitze erst richtig auf. Hast du noch Vollkornbrötchen? Ich könnte ja auch drüben in der Bar ein paar Tapas essen, aber ich will wieder nach Hause, bevor mir die Niere austrocknet.«

Nachdem der Lappen sauber war, rupfte Gisèle ein paar Einmalhandtücher aus dem Spender und setzte ihren Monolog fort.

»Mach mal drei Brötchen, Elena, dann habe ich morgen früh noch eins über. – Weißt du, worüber ich nachdenke?«, fragte sie, ohne ernsthaft eine Antwort zu erwarten. »Ob ich nicht vielleicht neue Wege gehen sollte. Tierblut schön und gut, die Message ist klar. Aber vielleicht muss ich mich noch radikaler ausdrücken in meinen Bildern. Menschenblut«, raunte Gisèle mit geheimnisvoller Miene, während sie Elena die Brötchentüte abnahm und ihr ein Zwei-Euro-Stück in die Hand drückte. »Damit hätte ich völlig neue Möglichkeiten, meine innerliche Zerrissenheit zu zeigen, verstehst du?«

Elena fand eher, dass die Künstlerin auf eine liebenswerte Art eine Schraube locker hatte, als dass sie innerlich zerrissen war, aber im Augenblick interessierte sie etwas völlig anderes. »Wo willst du denn echtes Blut von Menschen herbekommen?«, fragte sie.

»Was weiß ich? Konserven? Irgendeine Möglichkeit wird es schon geben. Oder«, in diesem Moment kam Gisèle Elena ganz nah, »wir bringen jemanden um die Ecke. Am besten Gonzalo. Dann hast du das Brotmonopol in Fataga. Das wäre doch was!« Sagte es, klemmte sich die Papiertüte unter den Arm, warf entschlossen ihren Seidenschal um den Hals und verließ unter diabolischem Lachen den Laden.

Elena schaute ihr kopfschüttelnd nach. Bislang hatte sie Gisèle nur für verschroben gehalten. Sie würde doch hoffentlich nicht gefährlich werden? Kein Wunder jedenfalls, dass viele im Dorf Gisèle la bruja, die Hexe, nannten.

***

Kommissar Daniel Rohde legte den Hörer auf. Seine Kollegin Brigitte Schilling schielte mit fragender Miene um ihren Bildschirm herum. Das, was sie vom Gespräch mitbekommen hatte, klang nach Arbeit.

»Burns war dran. Wir sollen ins Besprechungszimmer kommen. Klang geheimnisvoll«, sagte Daniel mit einem Grinsen und sperrte mit der bekannten Drei-Tasten-Kombination seinen Computer. Seit ein Kollege des Kommissars heimlich auf dessen Facebook-Seite »Ich finde, ich sehe heute ganz schön gut aus« gepostet hatte, war Daniel mit unbewachten Computern ein wenig vorsichtiger geworden.

»Hat Burns gesagt, worum es geht?«, wollte Brigitte wissen.

»Nein, nur dass ein Fall möglicherweise etwas für unsere Abteilung sein könnte. Keine Ahnung, was er damit meint.«

Die Polizeidirektion Hersfeld-Rotenburg war ein klassischer Bau der neunziger Jahre. Mintfarbene Fenster, ein paar Säulen ohne Sinn an der Außenfassade des obersten Stockwerks, kein Schmuckstück, aber praktisch. Und mit genügend Besprechungsräumen ausgestattet. In einem davon warteten schon die Kollegen Jacqueline Gölz, Gerhard Behrendt sowie Michi und Matze. Dienststellenleiter Burns hatte am Haupt der hufeisenförmig zusammengestellten Tische Platz genommen.

»Ah, Frau Schilling und Herr Rohde, sehr gut«, begrüßte er die zuletzt eingetroffenen Mitarbeiter, während er seine Unterlagen einer finalen Sortierung unterzog. »Es geht um Folgendes: Die Kollegen aus Bad Wildungen haben vorgestern ein Auto aus dem Edersee gezogen. Die Kennzeichen waren abgeschraubt, aber über die Fahrgestellnummer konnte der Besitzer ermittelt werden. Ein gewisser Wolfgang Siepe aus Heringen. Herr Bessler und Herr Rohleder waren bei ihm.«

Daniel musste kurz nachdenken, wer Bessler und Rohleder waren, weil Michi und Matze wirklich jeder auf dem Revier nur beim Vornamen nannte. Außer Burns.

»Und dabei stellte sich raus, dass Herr Siepe verschwunden ist«, schloss Burns und forderte Matze mit einem Nicken auf, weiterzuberichten.

»Ja, genau, also, der Typ ist weg. Alle Rollläden sind unten an seinem Haus, und die Nachbarn sagen, der wäre schon seit Monaten nicht mehr da gewesen. Wie vom Erdboden verschluckt, hat eine alte Frau uns erzählt.«

»Nee, das hat die Dicke gesagt«, mischte sich Michi ein. »Mit den vielen Katzen die.«

Matze schüttelte den Kopf. »Das stimmt net, Michi, die Dicke hat das mit der Mutter erzählt, das mit dem Erdboden war die Alte.«

Burns schaltete sich ein. »Also, die Herren, das ist ja jetzt auch nicht so wichtig. Vielleicht können sie das mit der Mutter für die Kollegen noch ein bisschen ausführen.«

Michi übernahm. »Ja, also, anscheinend hat der Siepe keine Frau und keine Kinder. Nur eine alte Mutter, die im Pflegeheim in Philippsthal lebt. Bei der waren wir noch nicht, aber die ist demenz.«

Die anderen Kommissare wussten, dass es keinen Sinn hatte, Michi in puncto Demenz den Unterschied zwischen Substantiv und Adjektiv zu erklären. Deswegen stellte Daniel lieber eine weiter gehende Frage. »Wissen die Nachbarn denn irgendwas darüber, wo Siepe sich aufhalten könnte?«

Michi und Matze zuckten synchron mit den Schultern. »Da hat keiner eine Idee. Er war wohl im letzten Winter in Ägypten, hat die Alte mit den Katzen gesagt, aber mehr weiß niemand.«

Brigitte zischelte Daniel ins linke Ohr: »War das mit den Katzen nicht die Dicke?«, der Kommissar versuchte, sein Lachen in einem Huster zu verstecken.

Jacqueline Gölz zeigte sich gewohnt konstruktiv: »Ich denke, wir sollten zunächst mal herausfinden, ob Siepes Verschwinden überstürzt oder geplant war. Also, zahlt er weiterhin Miete und Strom und so was? Was sagt sein Arbeitgeber? Dann wissen wir vielleicht schon eher, weswegen sein Auto im Edersee gelandet ist. In welchem Zustand ist der Wagen eigentlich?«

Burns, der die Akten bisher am besten kannte, erklärte: »Es gibt wohl einige Beulen und Schrammen. Die Kollegen in Wildungen gehen davon aus, dass er eine recht massive Metallschranke am See umgefahren hat und die Schäden daher stammen. Außerdem ist der kleine Honda einige Meter eine steile Böschung heruntergepurzelt.« Der Dienststellenleiter warf einen kurzen Blick in die Unterlagen. »Die defekte Schranke wurde im Mai gemeldet, deswegen vermuten die Wildunger, dass der Wagen seitdem im See liegt. Rund vier Monate also.«

»Darf ich einen Vorschlag machen?«, fragte Daniel, und Burns nickte. »Michi und Matze versuchen, Siepes Chef und seine Kollegen zu befragen, sofern uns die Nachbarn sagen können, wo er gearbeitet hat. Jacqueline und Gerhard fahren zur Mutter nach Philippsthal und schauen mal, inwieweit sie noch vernehmungsfähig ist. Und Brigitte und ich durchforsten die Akten, ob der verschwundene Herr schon einmal irgendwo aufgetaucht ist. Wir sollten auch die Kollegen aus Thüringen kontaktieren, Heringen liegt ja direkt an der Grenze. Vielleicht können die mit dem Namen Wolfgang Siepe etwas anfangen.«

Burns schaute in die Runde. »Wenn alle Kollegen mit der Aufgabenverteilung zufrieden sind, können sie das gern so machen.«

Niemand legte Einspruch ein, die Runde löste sich auf.

Zurück in ihrem Büro, fischte Brigitte eine Birne aus ihrer Tasche und wollte von Daniel wissen: »Weswegen hast du die Kollegen zu den Befragungen rausgeschickt? Du wohnst doch dahinten in der Gegend.«

»Wer weiß, wie lange das alles dauert. Ich will heute pünktlich Schluss machen.«

»Mhmmm«, raunte Brigitte mit gespielter Frivolität. »Wartet da etwa ein Date?« Es gelang ihr, die Frage so zu betonen, dass sich das schwer erhoffte Nein ausreichend im Deckmäntelchen der Scherzhaftigkeit verhüllte.

Daniel lächelte schief. Er hatte immer noch nicht mitbekommen, dass seine engste Kollegin seit Jahren auf ihn abfuhr. »Nee, was anderes …«, sagte er, überlegte kurz und entschied sich, Brigitte die Wahrheit zu erzählen. Eben weil sie seine vertrauteste Kollegin war.

»Du weißt doch, dass ich in Obersuhl Volleyball spiele. Und wir haben gerade ein großes Problem. Heiko ist unser bester Mann. Aber sein Bruder Andreas hat vor Kurzem Frau und Tochter verloren. Und seitdem kommt er kaum noch ins Training. Wir müssen die gesamte Mannschaft umstellen, weil Heiko sich nur noch um Andreas kümmert. Ich meine, ist ja klar und super, dass er das macht. Aber die Ligaspiele gehen halt weiter – und wir müssen dranbleiben. Na ja, ist alles nicht so einfach gerade«, schloss Daniel seine Schilderung.

Brigitte legte ihre Birne beiseite. Einerseits war sie gerührt von Daniels ungewohnter Offenheit, andererseits fand sie es unpassend, die tragische Geschichte mit einem herzhaften Biss in das Obst zu quittieren.

***

Elena hatte beschlossen, dass ihr ein kurzer Spaziergang guttun würde. Seit die Bäckerei so erfolgreich war, kam die Entspannung viel zu kurz. Einen geeigneten Weg für eine kleine Runde zu finden war im tief eingeschnittenen Tal von Fataga nicht leicht, aber am östlichen Ortsrand gab es einen schmalen Pfad, der das Dorf mit seinen knapp vierhundert Einwohnern auf halber Höhe passierte. Diesen wollte sie nehmen, obwohl auf TeleCinco das Halbfinale von »La Voz« lief, Elenas Lieblings-Castingshow. Aber sie hatte beschlossen, die Sendung aufzunehmen und nach ihrem Rundgang mitzufiebern, wer sich in die nächste Runde sang. Ein wenig Berieselung nach einem anstrengenden Arbeitstag war ja wohl erlaubt.

Toto war heute Abend unten in Maspalomas. Ein Landsmann hatte sich bei ihm gemeldet, der gerade versuchte, einen Großhandel für deutsche Backzutaten auf den Kanaren aufzubauen. Tatsächlich gab es auf nahezu allen Inseln des Archipels Bäckereien, die von Deutschen betrieben wurden und auch immer mehr spanische Kunden anzogen. Elena wollte die Entwicklung ihres kleinen Geschäfts noch ein paar Wochen beobachten, aber wenn es weiterhin so gut lief wie in den letzten Monaten, könnte sie tatsächlich über eine Expansion nachdenken. Unten an der Küste gab es ja noch viel mehr hungrige Touristen, und in den großen Einkaufszentren standen seit der Wirtschaftskrise jede Menge Ladenlokale leer.

Toto hatte sie in ihre Gedankenspiele noch nicht eingeweiht. Eine konkrete Zukunftsplanung, so fürchtete sie, würde das unkomplizierte Zusammenleben mit ihm beenden. Man müsste den Status der Geschäftspartnerschaft genauer definieren und – noch viel schlimmer – den ihrer Beziehung.

Bisher hatte ihr Beisammensein mit Toto eine zwanglose Leichtigkeit gehabt, er half Elena völlig selbstverständlich, nahm sich hin und wieder ein paar Euro aus der Kasse, schlief meistens im Gästebett, manchmal aber auch in ihrem. Er schien sich damit zu begnügen, dem deutschen Schmuddelwetter entkommen zu sein und neue Ideen für die kleine Bäckerei in Fataga zu entwickeln. Über mittel- oder langfristige Zukunftsvisionen hatte er noch nie ein Wort verloren.

Bis zum Ende ihres Rundgangs war Elena von sechs Hunden angekläfft worden, wovon sie fünf kannte. Der übrige gehörte offenbar irgendwelchen Touristen, die im Dorf ein Ferienhaus gemietet hatten. Ohne Hunde ging in den Bergen Gran Canarias gar nichts, nahezu jedes Anwesen wurde auf diese traditionelle Art bewacht. Wenn einer von ihnen zu bellen anfing, stimmten die anderen mit ein und beschallten die Canyons in manchmal schlafraubender Lautstärke.

Eine gute halbe Stunde später übertönte Elenas Fernseher jegliches Gebell im Tal, denn bei »La Voz« hatte ihr Miguel gerade seinen Auftritt. Der reichlich tätowierte Vierundzwanzigjährige aus der Nähe von Valencia weckte bei der neunzehn Jahre älteren Elena irgendetwas zwischen Begierde und Muttergefühl, jedenfalls hätte sie gern wieder für ihn angerufen, wenn sie die Sendung nicht zeitverzögert geschaut hätte.

Beim nachfolgenden Auftritt der Kandidatin Pilar genehmigte sich Elena einen Brandy. Sie fand, dass dieses blasse Mädchen aus Asturien anders nicht zu ertragen war. Überhaupt rätselhaft, wie die mit ihrer Piepsstimme so weit kommen konnte. Und immer nur mit Songs von Céline Dion!

Immerhin zog Miguel bei der anschließenden Abstimmung ins Finale ein, worauf Elena noch einen Brandy trank. Leider würde er dort nächste Woche auf Pilar treffen, die den letzten anderen Kandidaten nach dem Zuschauervoting unerklärlicherweise auf den dritten Platz verwies.

Um zwanzig nach zehn hatte Elena eine gesunde Bettschwere und ging ins Badezimmer. Seltsam, dass Toto noch nicht zurück war. Er stand normalerweise mit ihr zusammen gegen vier Uhr auf und wollte gar nicht so lange in Maspalomas bleiben.

Nachdem sie sich abgeschminkt und die Zähne geputzt hatte, las Elena im Bett unkonzentriert noch ein paar Seiten ihres Romans. So langsam fing sie an, sich um Toto Gedanken zu machen. Ihm würde doch auf der Straße mit den vielen Kurven nichts passiert sein? Im Lauf der Jahrzehnte hatte es auf der engen Piste schon einige schwere Unfälle gegeben, zum Teil von unsicheren Touristen verursacht, oft aber auch von Einheimischen, die in den Serpentinen und bei Überholmanövern ihre Fahrkünste überschätzt hatten.

Elena legte ihr Buch beiseite und ging zum Fenster. Von dort aus hatte sie einen guten Blick über das Tal und einen Teil der Straße. Es war kein Blaulicht zu sehen, was sie etwas beruhigte. Sie legte sich wieder hin. Wahrscheinlich war Toto ganz froh, mal wieder unter Deutschen zu sein, und hatte einfach die Zeit vergessen. Elena beschloss, ein letztes Mal auf ihrem Handy zu prüfen, wie spät es war, sich keine Gedanken zu machen und einzuschlafen.

Leider funktionierte ihr Plan nicht. Was, wenn Toto tatsächlich etwas zugestoßen sein sollte? Er war nicht bei ihr gemeldet, wie würde sie erfahren, was mit ihm los war, in welches Krankenhaus man ihn gebracht hatte? Es konnte natürlich auch sein, dass er mit seinen Landsleuten einen über den Durst getrunken und sicherheitshalber das Auto stehen gelassen hatte – und bei irgendjemandem im Hotel schlief. Aber hätte er dann nicht wenigstens eine SMS geschickt? Vielleicht hatte er eine Frau kennengelernt? So locker, wie sie bislang zusammenlebten, hätte Elena von Toto nicht einmal verlangen können, darüber Rechenschaft abzulegen.

Wahrscheinlich gab es für alles eine ganz einfache Erklärung. Die Batterie seines Handys war leer, er kannte ihre Nummer nicht auswendig und konnte sich gar nicht bei ihr melden.

Dieser Gedanke beruhigte Elena halbwegs, und sie fand zumindest ein paar Stunden unruhigen Schlaf.

***

Der Schatten an der Degollada de las Yeguas war meterlang. Der Mensch, der ihn warf, atmete die frische Luft in tiefen Zügen ein. Ihm war einfach danach gewesen, hierherzukommen, auf den kleinen Pass, der das Tal von Fataga vom Häusermeer der Hotelburgen an der Küste trennte. Hier wollte er den Sonnenaufgang erleben und mit dem Gefühl allein sein, seine Aufgabe bewältigt zu haben.

Der Schatten zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf die kleine Mauer, die den Parkplatz einrahmte. Im Süden schimmerten die Dünen von Maspalomas bernsteinfarben. Er inhalierte den Rauch und war mit der Lage der Dinge zufrieden. Okay, ein bisschen mehr Genugtuung hatte er sich vielleicht versprochen, andererseits war er froh, dass das Gefühl der Reue vollständig ausblieb.

Ein Greifvogel zog mit weiten Schwingen seine Runden über der felsigen Landschaft, die in der Morgensonne fast zu glühen schien. Der Schatten schaute dem Vogel nach. Wie einfach das alles gewesen war. Keinen Moment hatte er an seinem Plan gezweifelt. Er wusste, wenn er in seinem Leben wieder einigermaßen zur Ruhe kommen wollte, hatte es keine andere Lösung gegeben. Mitleid? Er stand auf, die dunkle Silhouette auf dem asphaltierten Parkplatz wurde wieder länger. Ein Schatten empfindet kein Mitleid, dachte er.

Aus dem Tal schraubten sich die ersten Autos die Serpentinen hinauf. Sogar Busse waren schon dabei. Die Gestalt in der aufgehenden Sonne warf ihre Kippe zu Boden und trat sie mit dem Schuh sorgfältig aus. Ein paar Schritte nur und der Schatten verschwand in seinem Auto. Bevor hier die ganzen Familien mit schreienden Kindern und humpelnden Omas anrückten, wollte er den Pass verlassen haben.

Der Schatten zieht weiter. Von meinem Haus zu einem anderen. Wie sinnbildlich, dachte er müde grinsend und startete den Motor.

***

Christie Burnett hatte es im Leben zu Geld gebracht, ohne viel zu arbeiten. Und genau das war auch ihr Plan gewesen. Zu verdanken hatte sie den Wohlstand ihrem Ehemann Wilson, den sie weder besonders geliebt hatte noch ihm nach seinem plötzlichen Tod übermäßig nachweinte.

Wilson Burnett aus der zugigen Grafschaft Shropshire hatte sich zeit seines Lebens auf die künstlerische Ausgestaltung von Alltagsgegenständen verstanden. Heerscharen von betonsockeligen Laternen in Schwanenhalsoptik, die die britischen Straßen säumten, gingen auf seine Pläne zurück. Außerdem hatten sich die zuständigen Behörden bei der Umstellung auf das Dezimalsystem entschieden, millionenfach Burnetts Entwurf einer siebeneckigen Zwanzig-Pence-Münze prägen zu lassen. An sehr whiskylastigen Abenden im Pub behauptete Wilson sogar, er habe das internationale Verkehrszeichen für Sackgassen erfunden.